Honoré de Balzac
Oberst Chabert
Honoré de Balzac

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Zu Anfang des Jahres 1818 stand die Restauration auf scheinbar unerschütterlichen Grundlagen da. Ihre Regierungsprinzipien, von erhabenen Geistern zusammengefaßt, schienen für das Reich eine Zeit neuer Blüte einleiten zu sollen, und in diesem Sinn änderte sich auch der Charakter der Pariser Gesellschaft. Die Gräfin Ferraud befand sich nun in dem sonderbaren Falle, zugleich eine Liebes-, eine Verstandes- und Namensehe geschlossen zu haben. Sie war noch jung und schön, sie war eine Weltdame, bewegte sich am Hofe, war reich aus eigenem Vermögen nicht weniger als durch den Besitz des Gatten, der, auserwählt und berufen unter den Männern der Königspartei, und persönlich mit dem Monarchen befreundet, wie geschaffen schien für ein Ministerium. Zu allem anderen zählte sie zur Aristokratie und genoß deren Glanz mit. Mitten in ihrem Glück traf sie eine Art moralischer Krebskrankheit. Es gibt Regungen des Gefühls, die eine Frau von weitem ahnt, mag der Mann auch alle Mühe daransetzen, sie vor ihr zu verbergen. Als der König zum erstenmal zurückkehrte, konnte sich der Graf eines leisen Bedauerns über seine Ehe nicht erwehren. Die Witwe des Obersten Chabert konnte ihm keine wichtige Verbindung schaffen, er stand allein und ohne Stütze da in einer dornenvollen, an Widersachern überreichen Laufbahn, ohne sich der sicheren Leitung eines Menschen anvertrauen zu können. Möglicherweise hatte er auch, bei näherem Zusammenleben, einige Lücken in der Erziehung seiner Frau bemerkt, die sie erst recht unfähig an einer aktiven Mitwirkung an seinen Plänen machen mußten. Ein Wort, das er zufällig einmal über die Ehe Talleyrands fallen ließ, gab der Gräfin Licht über die Lage, denn er hatte angedeutet, ohne es in Worten gradaus zu sagen, daß er, stünde er noch einmal vor der Wahl einer Gattin, anders wählen würde. Welche Frau wird jemals ein solches Bedauern verzeihen? Ist dies nicht schlimmer als alle Beleidigungen, alle Verbrechen, enthält es nicht den Keim der Zurückweisung? Aber wie tief mußte diese Wunde im Herzen der Gräfin werden, wenn sie bedachte, es könne ihr erster Gatte zurückkehren! Kann man das ermessen? Sie hatte gewußt, daß er lebte, sie hatte ihn zurückgestoßen. Dann kam eine Zeit, da hörte sie nichts mehr von ihm. Sie wiegte sich in dem Wahn, er sei bei Waterloo mit den Adlern und Standarten der kaiserlichen Garde untergegangen wie sein Freund Boutin. Trotzdem legte sie es darauf an, den Grafen durch das stärkste Band zwischen Menschen zu fesseln: durch die Kette aus Gold. Sie wollte so reich werden, daß allein schon ihr unermeßlicher Besitz die zweite Ehe unlösbar machte, falls zufällig der Oberst Chabert noch einmal auftauchen sollte. Und er war auch aufgetaucht: sie konnte es sich nicht erklären, warum der gefürchtete Zweikampf noch nicht begonnen hatte. Vielleicht hatten Kummer, Krankheit und Sorgen sie doch von diesem Manne befreit. Vielleicht war er halb irrsinnig, und nur die Irrenanstalt konnte ihn zur Vernunft bringen. Sie wollte weder Delbecq noch die Polizei auf seine Spuren hetzen, denn sie hatte Angst, einen Menschen über sich selbst zu setzen oder das Unheil noch zu beschleunigen. Es gibt in Paris nicht nur diese eine Gräfin Ferraud, die, mit einem ungeheuren moralischen Übel behaftet, dicht neben einem Abgrund nachtwandelt. Menschen wie sie bekommen eine Schwiele an der Stelle ihres Schmerzes, dann können sie noch lachen und fröhlich sein.

Es gibt einen ungelösten Punkt in der Situation des Grafen Ferraud, sagte Derville am Ende seiner langen Überlegung zu sich, als sein Wagen in der Rue de Varennes, vor dem Hause der Gräfin hielt. Wie kann es sein, daß der Graf, reich, mit dem Könige befreundet, noch nicht Pair de France geworden ist? Es ist vielleicht ein Wesentliches in der Politik des Königs, wie mir Frau de Grandlieu eröffnet hat, daß er der Pairie eine höhere Bedeutung dadurch geben will, daß er sie nicht leicht vergibt. Und schließlich ist der Sohn eines Staatsrates nicht ein Fürst Rohan. Der Graf Ferraud könnte nur durch einen besonderen Weg in die höchste Kammer kommen. So vielleicht, daß er im Falle der Scheidung seiner Ehe, sehr zur Genugtuung des Königs, mit der Hand der Tochter eines alten Senators auch dessen Sitz in der Kammer erhielte, vorausgesetzt, daß der alte Senator keine Söhne und Erben hat. Jedenfalls ein schwerer Klotz, der, vor die Füße unsrer Gräfin geworfen, ihr Schrecken einjagen kann, dachte er, indem er die Treppe emporstieg.

Derville hatte, ohne es zu wissen, den Finger an die empfindlichste Stelle der Wunde gelegt.

Nun wurde er von der Gräfin in einem hübschen Speisesaal, den man im Winter benützte, empfangen. Sie war gerade beim Frühstück und spielte mit einem Äffchen, das durch eine dünne Kette an einem mit Blech eingefaßten Ständer festgehalten war. Sie trug ein elegantes Hauskleid. Die Locken hatte sie nachlässig emporgerafft, sie sahen unter einem Häubchen hervor, dies gab ihr ein niedliches Aussehen. Silber, Email, Elfenbein glitzerten auf der Tafel. Wundervolle Blumen in kostbaren Porzellanvasen standen neben der Hausfrau. Als der Anwalt die Frau des Grafen Chabert in ihren reichen Luxus gebettet sah, sie, die sich an ihrem Mann bereichert hatte und nun auf den höchsten Höhen der Pariser Gesellschaft strahlte, während der unselige Gatte bei einem Viehzüchter Wand an Wand mit dem lieben Vieh leben mußte, da sagte der Anwalt zu sich: Was ist die Moral der Geschichte? Doch nur, daß eine Frau weder als Gatten noch als Geliebten einen Mann anerkennen wird, der in altes, verfilztes Militärzeug gekleidet ist, der eine Perücke aus Hundehaar auf seinem kahlen Schädel trägt, und der zerrissene Stiefel an den Füßen hat. Ein boshaftes, vernichtendes Lächeln war das äußere Zeichen dieser halb philosophischen, halb stichelnden Beobachtung, die einem Manne zufliegen mußte, der so wie dieser den fabelhaftesten Platz in der Gesellschaft hatte, um in ihre letzten Gründe und Untergründe hinabzuleuchten, trotz der Lüge und Heuchelei, mit der die meisten Pariser Familien ihre Familiengeheimnisse zu decken versuchen.

»Guten Tag, lieber Derville«, sagte die Gräfin und ließ sich nicht darin stören, dem Äffchen Kaffee zu verabreichen.

»Meine gnädige Frau,« sagte er schroff, denn der herablassende Ton, mit dem die Gräfin ihn angesprochen, ärgerte ihn doch, »ich habe eine ernste Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen.«

»Oh, das ist schlimm, der Graf ist nicht anwesend.«

»Oh, das ist ausgezeichnet, meine Gnädigste. Schlimm wäre es, wenn er unserer Unterredung beiwohnte. Ich weiß übrigens durch Delbecq, daß Sie Ihre Angelegenheiten selbst in Ordnung zu bringen lieben, ohne den Herrn Grafen damit zu langweilen.«

»Nun, gut, so will ich Delbecq kommen lassen.«

»Trotz seiner Klugheit könnte er uns hier nichts nützen«, sagte Derville. »Hören Sie, meine Gnädige, ein Wort wird genügen, um Sie ernster zu stimmen. Der Graf Chabert ist am Leben.«

»Mit solchen tollen Scherzen wollen Sie mich zum Ernst zwingen?« antwortete sie mit sprudelndem Lachen.

Aber sie war gebändigt durch den fremdartig kalten und durchbohrenden Blick, mit dem ihr Derville bis auf den Grund des Herzens sah.

»Meine verehrte Gräfin,« sagte er mit klarem, schneidendem Ernst, »Sie übersehen vielleicht nicht ganz die Größe der Gefahr. Ich will nicht sprechen von der absolut sicheren Echtheit der Protokolle, noch von der Sicherheit und Verläßlichkeit und Unanfechtbarkeit der Belege, die unverbrüchlich die Existenz des Grafen Chabert beweisen. Ich bin nicht der Mann, mich mit einer schlechten Sache zu befassen, Sie wissen es. Wenn Sie sich der Ungültigkeitserklärung der Todesurkunde widersetzen, verlieren Sie den ersten Prozeß. Ist aber diese Frage zu unsern Gunsten gelöst, werden alle andern im selben Sinne entschieden.«

»Wovon dann wollen Sie mit mir sprechen?«

»Weder vom Obersten, noch von Ihnen. Nicht mehr auch von Ausarbeitungen und Aktenfolgen, die ein geistreicher Advokat mit allen den seltsamen Anekdoten dieser Angelegenheit ausschmücken könnte, und wozu auch die Briefe gehören müßten, die Sie von Ihrem ersten Mann erhielten, bevor Sie die Ehe mit dem zweiten eingingen.«

»Falsch, falsch,« schrie sie mit der ganzen Zornesglut einer eleganten Dame, »ich habe nie Briefe vom Obersten Chabert erhalten. Wenn einer sich für ihn ausgibt, so kann es nur ein Intrigant, ein entsprungener Verbrecher sein. Mich schaudert es schon beim bloßen Gedanken. Kann denn der Oberst von den Toten auferstehen? Bonaparte hat mir durch einen Adjutanten sein Beileid aussprechen lassen, und ich beziehe bis zum heutigen Tage eine Pension von dreitausend Franken, die seiner Witwe von der Kammer zugesprochen ist. Ich habe recht und tausendmal recht, alle Chabert zurückzuweisen,, die sich an mich herangemacht haben und werde alle zurückweisen, die noch kommen sollten.«

»Zum Glück sind wir allein, gnädige Frau, wir können ungeniert lügen«, sagte er kalt, denn es ergötzte ihn, den Zorn der Gräfin noch heißer anzustacheln, um dann, (jeder Advokat kennt diese Methode, selbst ruhig zu bleiben und den Partner sich in tolle Wut hineinreden zu lassen), ihre wohlgehüteten Geheimnisse zu erreichen. So wollen wir es einmal auf ein Duell ankommen lassen, sagte er sich und dachte sich eine Schlinge aus, die er der Gräfin legen wollte, um ihr ihre Schwäche zu beweisen.

»Der Empfangsschein des ersten Briefes liegt noch vor, verehrte Gräfin,« sagte er mit lauter Stimme, »und dieser Brief enthielt Wertpapiere . . .«

»O nein, Wertpapiere enthielt er nicht.«

Lächelnd antwortete der Anwalt: »Sie haben also doch diesen Brief erhalten? Sie haben sich schon in der ersten Schlinge gefangen, die Ihnen ein Anwalt gelegt hat, und dabei glauben Sie noch, mit der Justiz spielen zu können?«

Die Gräfin errötete und erblaßte, sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Dann schüttelte sie alle Beschämung ab und sagte mit eiserner Stirn, wie sie Frauen ihrer Art haben: »Nun, da Sie der Anwalt des angeblichen Obersten Chabert sind, machen Sie mir doch die Freude . . .«

»Meine Gnädige,« unterbrach sie der Anwalt, »ich bin in diesem Augenblick Ihr Anwalt ebensogut wie der des Obersten Chabert. Glauben Sie, ich wollte gern eine so wertvolle Klientin wie Sie verlieren? Aber Sie hören mich ja nicht an . . .«

»Sprechen Sie, bitte«, sagte sie, nicht ohne Anmut.

»Ihr Vermögen stammt von dem Obersten, trotzdem haben Sie ihn zurückgestoßen. Ihr Vermögen ist immens, Sie lassen ihn betteln. Meine sehr verehrte Frau, die Anwälte können gut reden, besser aber noch die Tatsachen. Und es trifft sich hier ein Tatbestand, der die öffentliche Meinung sehr gegen Sie einnehmen könnte.«

»Aber, mein Herr,« sagte die Gräfin, die es nicht mehr ertrug, auf dem glühenden Rost geschmort zu werden, »zugegeben, daß Ihr Oberst Chabert am Leben ist, so werden die Behörden doch meine zweite Ehe aufrecht erhalten, denn es sind Kinder da. Meine ganze Schuld an Herrn Chabert werden dann nur zweihundertfünfzigtausend Franken sein.«

»Meine Gräfin, es steht noch gar nicht so fest, wie sich die Gerichte in Fragen des Herzens stellen werden. Wohl haben wir auf der einen Seite eine Mutter mit ihren Kindern, aber auf der andern einen Mann, dessen Unglück zum Himmel schreit. Er ist vorzeitig gealtert. Durch Sie. Durch ihr Nein. Wo soll er noch eine Frau finden? Und dann, können die Richter das Recht auf den Kopf stellen? Ihre erste Ehe ist voll und ganz legal, sie hat außerdem die Priorität. Aber noch eins, Sie tragen in dieser Sache solch dunkle, hassenswerte Farben, daß Sie einen Gegner dort finden könnten, wo Sie ihn am wenigsten vermuten. Da ist die Gefahr, vor der ich Sie warnen möchte.«

»Ein neuer Gegner? Und wer?«

»Der Herr Graf Ferraud.«

»Er hat für mich zuviel Liebe und zuviel Achtung für die Mutter seiner Kinder.«

»Ach, sprechen Sie nicht in die Luft«, unterbrach sie der Anwalt. »Heute hat der Graf durchaus keine Lust, sein Eheband zu lösen, und ich will gern glauben, daß er Sie anbetet, aber lassen Sie erst einen kommen, der ihm sagt: ›Ihre Ehe kann gelöst werden, denn Ihre Frau wird in der öffentlichen Meinung als Verbrecherin dastehen . . .‹«.

»Er wird mich verteidigen.«

»Nein, das wird er nicht.«

»Und aus welchem Grunde sollte er mich preisgeben?«

»Um die einzige Tochter eines Pair de France zu heiraten. Denn dann könnte er durch eine königliche Ordonnanz selbst Pair werden.«

Die Gräfin wurde sehr bleich.

Jetzt haben wir sie, dachte der Anwalt. Schön, nun halte ich dich, und die Sache des armen Obersten gewinnt.

»Und dann,« setzte er laut fort, »der Graf Ferraud hätte um so weniger mit Gewissensbissen zu kämpfen, als ein Mann, mit Ehre gekrönt, General, Graf, Großritter der Ehrenlegion, kein schlechter Ersatz für den Grafen Ferraud sein müßte. Und wenn dieser Mann seine Frau zurückverlangt . . .?«

»Genug, genug, mein Herr! Sie sind und bleiben mein Anwalt«, sagte sie. »Was nun?«

»Vergleichen«, sagte Derville.

»Liebt er mich noch?« antwortete sie.

»Kann es anders sein?«

Bei diesem Wort hob die Gräfin den Kopf. Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in ihren Augen. Sie rechnete vielleicht darauf, die Zärtlichkeit des ersten Mannes irgendwie auszuspielen und durch Weiberlist den Prozeß zu gewinnen.

»Ich werde Ihre Befehle erwarten, Frau Gräfin. Ich muß wissen, ob Sie unsere Akte unterzeichnen wollen, oder ob Sie zu mir kommen wollen, um die Grundlagen eines Vergleichs zu bestimmen.« Nun grüßte er und ging.

Acht Tage nach diesen zwei Besuchen, an einem schönen Junimorgen, kamen die zwei Gatten, die ein fast übernatürliches Geschick geschieden, von den entgegengesetztesten Punkten von Paris einander entgegen, um sich im Bureau ihres gemeinsamen Anwalts zu begegnen. Der reichlich gegebene Vorschuß Dervilles hatte es Chabert gestattet, sich nach seinem Rang zu kleiden. Der Tote kam in einem sehr anständigen Wagen angefahren. Seinen Kopf bedeckte eine Perücke, die seinem Gesichtsschnitt angepaßt war, sein Anzug war von schönem Blau. Er hatte weiße Wäsche an und trug unter seiner Weste das rote Band der Großritter der Ehrenlegion. Während er seine alten Gewohnheiten des Wohlstands auffrischte, fand er auch seine Soldateneleganz wieder. Sein Gesicht, ernst und voller Geheimnisse, aber mit Spuren von Glück und Hoffen, schien jünger und voller, er ähnelte nicht mehr dem alten Militärfilz, so wenig ein alter Pfennig einem frisch geprägten Goldstücke ähnelt. Leicht hätten die Leute auf der Straße in ihm eine der schönsten Ruinen der alten Armee erkannt, einen Helden, in dessen Gestalt sich unsere nationale Ehre widerspiegelt und in dem sie ganz zur blendenden Erscheinung geworden ist, wie noch ein Stück Eis alle Sonnenstrahlen funkelnd bricht. Er hielt sich aufrecht. Die alten Soldaten sind alle wie aus Büchern oder Bildern geschnitten. Als der Graf seinen Wagen verließ, um zu Derville zu gehen, bewegte er sich mit dem leichten Schwung der kräftigsten Jugend. Kaum hatte er sein Coupé gewendet, als ein schöner Wagen mit einem großen Wappen ankam. Die Gräfin Ferraud entstieg ihm in einer einfachen Toilette, die aber vorteilhaft ihre schlanke Taille offenbarte. Sie hatte einen hübschen rosa unterfütterten Hut auf, der scharmant ihr Gesicht umrahmte, die Konturen dämpfte und alles verjüngte.

Wenn sich auch die Klienten verjüngt hatten, das Bureau blieb dasselbe und zeigte das gleiche Bild, mit dem diese Erzählung begonnen hat. Simonnin war beim Frühstück, seine Schultern lehnten am Fensterrahmen, er sah sich durchs Fenster das Himmelsblau an, das von vier Mauern des Hofes düster eingerahmt war.

»Ah,« rief der Laufbursche, »wer will um einen Sitz im Theater wetten, daß der Oberst Chabert General und Ordensritter ist?«

»Der Chef ist ein fabelhafter Hexenmeister«, sagte Godeschal.

»Können wir ihm also heute keinen Streich spielen?« fragte Desroches.

»Seine Frau tut es, die Gräfin Ferraud«, sagte Boucard.

»So kommt's,« meinte Godeschal, »daß eine Frau zwei Männern wird dienen müssen . . .«

»Hier sind sie«, antwortete Simonnin.

In diesem Augenblick trat der Oberst ein und verlangte Derville.

»Er erwartet Sie, Herr Graf«, sagte Simonnin.

»Du bist also nicht taub, kleiner Schelm«, sagte Chabert und ergriff den Hans Dampf in allen Gassen am Ohr und beutelte ihn tüchtig, sehr zur Freude der Schreiber, die mitten im Lachen den Obersten nicht aus den Augen verloren, sondern mit einer Neugierde betrachteten, die einer so sonderbaren Persönlichkeit gebührte.

Der Graf Chabert war schon bei Derville, als seine Frau ins Bureau trat.

»Sagen Sie doch, Boucard, jetzt wird sich eine einzigartige Szene beim Chef abspielen. Die Dame kann dann alle geraden Tage zu dem Grafen Chabert gehen und sich an den ungeraden ihrem andern Gatten widmen.«

»An den Schalttagen, wer ist dann an der Reihe?«

»Schweigt doch! Man kann uns hören«, sagte ernst der Bureauvorstand. »Ich habe nie ein Bureau gesehen, wo man sich so über die Klienten lustig gemacht hat wie hier.«

Derville hatte den Grafen in sein Schlafzimmer geführt, als die Gräfin eintrat.

»Meine gnädige Gräfin, ich wußte nicht,« sagte er, »ob es Ihnen genehm sein wird, den Herrn Grafen Chabert zu sehen, und so habe ich Sie beide separiert. Aber wenn Sie wünschen . . .«

»Mein Herr, ich danke Ihnen für Ihre Zuvorkommenheit!«

»Ich habe eine Reinschrift vorbereitet, die alle Bedingungen eines Vergleichs enthält, der sofort zwischen den Parteien geschlossen werden kann. Ich werde abwechselnd von einem zum anderen gehen, um beiden Interessen alternativ gerecht zu werden.«

»Nun, mein Herr, lassen Sie uns sehen«, sagte die Gräfin mit einigen Spuren Ungeduld.

Derville las:

Zwischen den Endesgefertigten

Herrn Hyacinth, genannt Chabert, Graf, Feldmarschall und Großordensritter der Ehrenlegion, wohnhaft in Paris, Rue du Petit-Banquier, einerseits

Und der Frau Rose Chapotel, Ehefrau des oben erwähnten Herrn Grafen, geborenen . . .«

»Ach, lassen wir diese Einleitungen, wir wollen zu den Bedingungen kommen.«

»Meine Gnädigste,« sagte der Anwalt, »diese Einleitung entwickelt Punkt für Punkt die Lage, in der Sie und er sich augenblicks befinden. Sodann müssen Sie in Punkt eins in Gegenwart dreier Zeugen, und zwar zweier Notare und eines Viehzüchters, des früheren Wirtes Ihres Mannes, die ich alle ins Vertrauen gezogen habe, und die tiefstes Schweigen über alles bewahren werden, anerkennen, daß das Individuum, das in den Akten und den Beilagen näher bezeichnet wird und dessen Standeszugehörigkeit sich übrigens in einer Notariatsakte Ihres Notars Alexander Crottat durchgeführt vorfindet, daß dieses Individuum identisch ist mit dem Grafen Chabert, Ihrem ersten Mann.

Punkt zwei, verpflichtet sich der Graf Chabert mit Rücksicht auf Ihr Glück, von seinen Rechten keinen Gebrauch zu machen, ausgenommen die Fälle, die das Schriftstück selbst vorsieht. Und diese Fälle«, sagte Derville gleichsam in Klammern, »sind nichts anderes als die Ausführung der Klauseln dieses geheimen Vertrages. Seinerseits«, setzte er fort, »wird sich Oberst Chabert einverstanden damit erklären, Zug um Zug ein Verfahren anzustreben und durchzuführen, das seine Todeserklärung als ungültig und seine Ehe mit Ihnen als geschieden erklärt.«

»Das paßt mir ganz und gar nicht, ich will keinen Prozeß«, sagte die Gräfin. »Sie wissen warum.«

Ohne sich aus seiner Ruhe bringen zu lassen, fuhr der Anwalt fort: »Durch Punkt drei verpflichten Sie sich, unter dem Namen Hyacinth, Graf Chabert eine lebenslängliche Rente von achtzigtausend Franken zu stiften, im Grundbuch eingetragen, deren Kapital nach dem Tode des Grafen an Sie zurückfällt.«

»Viel zu teuer!« rief die Gräfin.

»Wollen Sie sich auf eine niedrigere Summe vergleichen?«

»Vielleicht.«

»Was wollen Sie also, gnädige Frau?«

»Ich will, ich will keinen Prozeß, ich will . . .«

»Daß er tot bleibt«, sagte zornig Derville, indem er sie unterbrach.

»Mein Herr, wenn es achtzigtausend kosten soll, werden wir lieber klagen.«

»Ja, wir werden Klage führen«, schrie mit heiserer Stimme der Oberst, riß die Tür auf und stand in seiner ganzen Größe vor seiner Frau, die eine Hand an der Brust, die andere gegen den Estrich gesenkt, eine Gebärde, der das Gedenken an sein Abenteuer furchtbare Wucht verlieh.

»Er ist es«, sagte die Gräfin zu sich.

»Zu teuer!« wiederholte der alte Soldat. »Ich habe Ihnen fast eine Million gegeben, und nun schachern Sie um mein Unglück. Aber gerade jetzt will ich Sie und Ihr Vermögen. Noch ist die Gütertrennung nicht erfolgt, unser Ehebund ist nicht gelöst.«

»Aber der Herr ist doch nicht Oberst Chabert«, schrie die Gräfin und spielte Komödie.

»Aber nein,« sagte der Alte mit prachtvoller Ironie, »wollen Sie Beweise? Ich habe Sie im Palais Royal aufgezwickt . . .«

Die Gräfin wurde blaß wie die Wand. Als er sie unter ihrer Schminke erblassen sah, kam dem alten Soldaten zu Bewußtsein, daß er eine Frau beleidige, für die er einst Feuer und Flamme gewesen, er faßte sich und hielt inne. Aber er empfing einen so giftgetränkten Blick, daß er fortfuhr: »Sie waren damals bei der . . .«

»Ich bitte Sie sehr, Herr Anwalt,« sagte die Gräfin, »Sie werden es entschuldigen, wenn ich Sie verlasse. Ich bin nicht hergekommen, um mir solche Scheußlichkeiten anzuhören.«

Sie erhob sich und ging. Derville stürzte ihr nach, aber sie war wie fortgeflogen. Als er in sein Kabinett trat, fand der Anwalt den Obersten in einem Wutanfall mit Riesenschritten hin und her gehen.

»Damals nahm man sich seine Frau, wo man sie fand. Ich hätte besser wählen sollen, es ist meine Schuld. Was soll mir das schöne Gesicht? Sie hat kein Herz.«

»Aber, Herr Oberst, hatte ich nicht recht, als ich Sie bat, nicht zu kommen? Wohl bin ich jetzt überzeugt von Ihrer Identität. Als Sie da hervorkamen, ging in der Gräfin eine Bewegung vor sich, die alles sagte. Aber Sie haben Ihren Prozeß verloren, denn jetzt weiß Ihre Frau, daß Sie nicht wiederzuerkennen sind.«

»Ich schlage sie tot.«

»Unsinn! Dann faßt man Sie und köpft Sie wie einen Halunken. Übrigens würden Sie den Todesstreich verfehlen. Und man darf nie seine Frau verfehlen, wenn man sie töten will. Das wäre nicht zu verzeihen. Sie großes Kind, lassen Sie mich Ihre Tolpatschigkeiten wieder gutmachen. Gehen Sie jetzt. Aber passen Sie gut auf. Sie wäre durchaus imstande, Ihnen Fallstricke zu legen und Sie ins Irrenhaus zu bringen. Ich will ihr unsere Akten vorlegen, das schützt uns am besten vor jeder unliebsamen Überraschung.«

Der arme Oberst gehorchte seinem jungen Wohltäter und entfernte sich, Entschuldigungen stotternd. Langsam stieg er die Stufen der dunklen Treppe hinab, verloren in düstere Gedanken, unter der Last neuer Sorgen, mit einer frischen Wunde, die ihn um so schmerzlicher traf, als sie die innerste Wurzel seiner Seele verletzt hatte. Da hörte er das Rascheln eines Frauenkleides, und an der untersten Stufe der Treppe erschien seine Frau.

»Kommen Sie, mein Herr«, sagte sie und nahm seinen Arm mit einer Gebärde unbeschreiblicher Vertraulichkeit, wie sie nur Menschen kennen, die einmal sehr gut miteinander gewesen sind.

Diese Bewegung der Gräfin, der Tonfall ihrer Stimme, der wieder anmutig und fein geworden war, war das nicht genug, um dem Obersten die Ruhe wiederzugeben? Und so ließ er sich zu ihrem Wagen führen.

»Bitte, steigen Sie ein«, sagte sie, als der Bediente den Wagentritt herabgelassen hatte.

»Wohin, gnädigste Gräfin?« fragte der Diener.

»Nach Groslay«, sagte sie.

Die Pferde setzten sich in Gang und nun ging es quer durch ganz Paris.

»Mein Herr«, sagte die Gräfin zum Obersten und der bloße Klang ihrer Stimme ließ Gefühle in ihm wach werden, die im Leben eines solchen Mannes sich nie wiederholen und um derentwillen man lebt.

In diesen Stunden bebt alles: Herz, Nerven, Fibern, Gesicht, Seele und Körper, alles zittert, alles ist in tiefster Bewegung. Das Leben, das Dasein scheint nicht mehr in unserem Innern beschlossen, es strömt aus uns reich hervor, sprudelt und sprüht, es teilt sich mit wie ein Hauch, es setzt sich fort, im Blick, in der Betonung eines Wortes, in jeder Gebärde, so wirkt unser Wollen bestimmend, zwingend auf den andern neben uns. Der alte Soldat zitterte wie Espenlaub bei dieser schrecklichen Anrede: mein Herr! Aber bedeutete dies denn nicht auch eine Bitte, einen Vorwurf, ein Hoffen und Verzweifeln, Fragen und Antworten? Man konnte alles mit diesem einen Worte sagen. Nur eine Komödiantin konnte so viel Überredung in ein paar Silben fassen, so viel Gefühle in einen Ton zwingen. Die Wahrheit, die Echtheit ist nicht so reich in ihrer Ausdrucksfähigkeit, sie kann nicht alles nach außen umsetzen, aber sie läßt ahnen, was im Innern vorgeht.

Der Oberst schämte sich tief seines Verdachtes, seiner Forderungen, seines Zornes gar, er senkte seine Blicke, damit man seine Verwirrung nicht erkenne.

»Mein Herr,« sagte die Gräfin nach einer kaum wahrnehmbaren Pause, »ich habe Sie wohl erkannt.«

»Rosine,« sagte der alte Soldat, »dieses eine Wort schüttet den reinsten Balsam auf meine Wunden.« Zwei dicke Tränen rollten heiß in die Hände seiner Frau. Er zog sie an sich, er wollte ihr seine väterliche Zärtlichkeit beweisen.

»Mein Herr,« begann sie wieder, »haben Sie es denn nicht gefühlt, wie furchtbar schwer es mich ankam, in einer so falschen Situation mich vor einem Fremden zu zeigen? Muß ich schon über mich erröten, dann sei es wenigstens im Kreise der Meinen. Sollte dies Geheimnis nicht in unserm Herzen begraben bleiben? Sie werden mich entschuldigen, wenn ich dem Unglück eines Menschen gegenüber kalt blieb, an dessen Existenz ich zu glauben nicht vermochte. Ich habe Ihre Briefe erhalten,« sagte sie mit Lebhaftigkeit, als auf den Zügen ihres Mannes seine Gedanken klar lesbar erschienen, »ich habe sie erhalten, aber erst dreizehn Monate nach der Schlacht bei Eylau. Sie waren offen, schmutzbedeckt, die Schrift kaum zu entziffern, und da dachte ich, da schon die Unterschrift Napoleons auf meinen neuen Heiratskontrakt gesetzt war, da habe ich gedacht – es treibe ein geschickter Betrüger sein Spiel mit mir. Um nicht die Ruhe des Grafen Ferraud zu stören und die Bande der Familie zu lockern, habe ich mich gegen einen falschen Chabert zu schützen versucht. War das nicht recht, sagen Sie!«

»Ja, das war recht«, sagte er. »Ich bin der dumme Lümmel, ein Tier, eine plumpe Bestie, daß ich nicht besser die Folgen einer solchen Lage voraussehen konnte. Aber wohin führst du mich«, rief er aus, als er die Barriere von la Chapelle vor sich erblickte.

»Auf mein Landgut, bei Groslay, im Tale von Montmorency. Dort wollen wir in Ruhe darüber nachdenken, welchen Weg wir aus unseren Schwierigkeiten suchen können. Ich kenne meine Pflichten. Ich gehöre Ihnen nach dem Gesetz, aber nicht de facto. Es kann Sie doch unmöglich reizen, daß wir das Gespött von ganz Paris werden. Lassen wir die Öffentlichkeit im Dunkeln über eine Lage, die mich ein wenig lächerlich macht, und setzen wir unsere Würde obenan. Sie lieben mich noch,« sagte sie mit einem traurigen, milden Blick, »aber war ich nicht berechtigt, ein anderes Band zu knüpfen? In all diesen Widrigkeiten sagte mir eine innere Stimme, ich solle mich auf Ihre nur zu bekannte Güte verlassen. Und habe ich unrecht daran getan, Sie als einzigen und ersten Richter über mein Los entscheiden zu lassen? Seien Sie Richter und Partei in einem! Ich überliefere mich ganz dem Adel Ihres Charakters. Sie müssen mir in Ihrer Güte alles verzeihen, was aus unschuldigem Irren erwachsen ist. Ich will Ihnen nämlich gestehen, ich liebe den Grafen Ferraud. Ich glaubte, ich dürfte es. Ich erröte bei diesem Geständnis nicht vor Ihnen. Es mag Sie kränken, aber es macht Ihnen keine Schande. Tatsachen kann ich Ihnen nicht verbergen. Als das Schicksal mich zur Witwe machte, hatte ich Mutterfreuden noch nicht erfahren.«

Der Oberst machte seiner Frau mit der Hand Zeichen, um sie um Stillschweigen zu bitten, und so fuhren sie eine halbe Meile, ohne zu sprechen. Chabert glaubte die zwei Kinder vor sich zu sehen.

»Rosine?«

»Mein Herr?«

»Die Toten haben also unrecht, wiederzukommen?«

»Nein, nein, nein! Undankbar bin ich nicht. Glauben Sie das nicht! Nur vergessen Sie nicht, Sie finden eine liebende Gattin, eine Mutter, wo Sie eine Ehefrau verlassen haben. Es geht über meine Kraft, Sie zu lieben, aber ich weiß, wie unendlich viel ich Ihnen schulde, alle Neigung einer Tochter will ich Ihnen widmen.«

»Rosine,« sagte der Alte mit sanfter Stimme, »ich denke nicht mehr im Bösen an dich. Wir wollen alles vergessen«, flüsterte er mit einem Lächeln, dessen mildes Licht immer der Abglanz einer großen Seele ist. »Ich bin nicht so brutal, um Zeichen von Liebe bei einer Frau zu suchen, die mich nicht mehr liebt.«

Die Gräfin warf ihm einen Blick voll von Dankbarkeit zu, so dankbar, daß der arme Chabert am liebsten wieder in seine Totengrube zu Eylau zurückgekehrt wäre. Nur wenige Menschen haben die Kraft zu solchen Entschlüssen, aber sie werden durch das Gefühl belohnt, alles für die geliebte Person getan zu haben.

»Mein Freund,« antwortete die Gräfin, »von all dem später und mit ruhigerem Sinn.«

Das Gespräch nahm eine andere Wendung, denn es war unmöglich, noch weiter über das alte Thema zu sprechen. Obwohl die Ehegatten oft auf ihre bizarre Situation zurückkamen, sei's durch Anspielungen, sei's ganz im Ernst, hatten sie doch eine reizende, kleine Reise, während deren sie einander gegenseitig die Ereignisse ihrer gemeinsamen Vergangenheit und auch die Zeiten des großen Kaisers ins Gedächtnis zurückriefen. Wie fein verstand es die Gräfin, den Erinnerungen etwas Holdes, Zartes zu geben, und um jedes Wort einen Mantel von Melancholie und Wehmut zu breiten, und dabei doch ihre Würde nie zu vergessen. Sie ließ die Liebe wieder aufleben, ohne die Begier zu wecken, ließ den ersten Gatten alle seelischen Schätze sehen, die sie inzwischen erworben, und ihr einziger Wunsch schien, ihn daran zu gewöhnen, er möge sein Glück darin suchen, in ihr die geliebte und liebende Tochter zu sehen. Der Graf hatte eine Gräfin des Kaiserreichs verlassen, er fand eine Gräfin der Restaurationszeit in ihr wieder. Endlich kamen die Gatten quer durchs Gelände auf einen schmaleren Weg, und dann zu einem mächtigen Park, tief in dem kleinen Tal, das die Hügel von Margency von dem hübschen Städtchen Groslay trennt. Die Gräfin besaß hier ein wundervolles Haus, in dem der Graf, als er ankam, alle Vorbereitungen für sich und für sie getroffen fand. Das Unglück ist ein Talisman, der die natürlichen Kräfte unserer Seele verstärkt. Er erhöht die Bosheit und das Übelwollen bei den Bösen, bei den Guten aber steigert er den Edelgehalt der reinen Herzen. Das schlimme Geschick hatte den Obersten noch mehr hilfsbereit und gütig gemacht, als ers gewesen, er konnte daher tiefer in die Falten einer leidenden Frauenseele dringen, als sonst die Männer meist. Und doch, so wenig mißtrauisch er war, konnte er einen Gedanken nicht unterdrücken: »Sie waren also sicher, mich hierher mitzubekommen?«

»Ja,« sagte sie, »wenn es der Oberst Chabert war, der mir als Kläger gegenüberstand.«

Sie wußte dieser Antwort allen Schein der Wahrheit zu geben, und so verscheuchte sie das leise Mißtrauen, dessen sich der Oberst jetzt sogar schämte. Während der ersten drei Tage war die Gräfin bezaubernd und anbetungswert gegen ihren ersten Mann. Zarte Vorsorge, immerwährende Freundlichkeit waren ihre Mittel, alle Spuren von Kummer auszulöschen, so wollte sie die Verzeihung für alles Schwere erbitten, das, nach ihrem Geständnis, ohne böse Absicht, durch sie über ihn gekommen war. Sie entfaltete für ihn, ohne den Schleier von Melancholie zu heben, der alles umgab, unbeschreiblichen Reiz, dem er, wie sie ihn kannte, nicht zu widerstehen vermochte. Denn wir können alle in gewissen Dingen nicht widerstehen, es gibt eine Art Herzenstakt oder geistige Grazie, gegen die wir machtlos sind. Er mußte Anteil an ihrem Geschick nehmen, sie wollte ihn ganz weich, ganz ihren Wünschen gefügig, um rücksichtslos über ihn herrschen, mit ihm schalten und walten zu können. Sie war zu allem entschlossen, ihr Ziel mußte sie erreichen, sie wußte noch nicht, was sie aus diesem Menschen machen wollte, aber aus der Gesellschaft sollte und mußte er verschwinden und ausgelöscht werden für immer. Am Abend des dritten Tags fühlte sie, daß sie, aller Anstrengung ungeachtet, nicht die Unruhe verbergen konnte, die sie diese fragwürdigen Schleichwege kosteten. Sie wollte sich einen Augenblick lang erholen und stieg zu ihren Zimmern herauf, setzte sich an den Schreibtisch. Jetzt warf sie die Maske der Ruhe und der Freundlichkeit ab, die sie vor Chabert trug, nun glich sie einer Komödiantin, die todmüde nach einem schweren fünften Akt sich in ihre Garderobe schleppt, wie leblos niedersinkt. Noch lebt sie im Publikum unter einem Bilde weiter, das sie selbst nicht mehr ist. Schnell beendete sie ein Schreiben an Delbecq, worin sie ihn aufforderte, in ihrem Namen zu Derville zu gehen, sich alle Akten, die den Oberst Chabert betrafen, zur Kopierung vorlegen zu lassen und dann sofort nach Groslay zu kommen. Kaum hatte sie den Brief beendigt, als sie auf dem Korridor den Schritt des Obersten hörte, welcher, unruhig geworden, sie aufsuchte.

»Mein Gott,« sagte sie laut, »ich möchte sterben. Wer kann so weiterleben . . .«

»Aber nein, was haben Sie?« fragte der gute Mann.

»Ach nichts.«

Sie stand auf, ließ den Obersten allein und ging herab, um ungestört mit ihrer Kammerfrau sprechen zu können. Sie schickte sie nach Paris und gab ihr den Brief an Delbecq mit, den sie eben geschrieben und der nach der Lektüre wieder abzuliefern war. Dann setzte sie sich auf eine Bank, wo sie der Oberst sehen konnte. Und in der Tat suchte er sie bereits, eilte herbei und setzte sich zu ihr.

»Rosine,« sagte er, »was haben Sie?«

Sie antwortete nicht. Der Abend war wundervoll ruhig. Er strömte eine himmlische Ruhe aus, die Luft der Juninacht war süß und rein, tief das Schweigen ringsum, ferne konnte man im Park die Stimmen von Kindern hören, eine zarte Melodie zu der überirdischen Schönheit der Landschaft.

»Sie antworten nicht?« fragte der Oberst seine Frau.

»Mein Gatte . . .,« sagte die Gräfin, dann konnte sie nicht weiter, machte eine Pause und fuhr errötend fort, »wie soll ich ihn denn nennen, den Grafen Ferraud?«

»Nenne ihn ruhig deinen Gatten, mein armes Kind,« sagte er in seiner ganzen Güte, »ist er doch der Vater deiner Kinder.«

»Nun raten Sie mir,« begann sie von neuem, »wenn er mich fragt, was ich hier getan, wenn er erfährt, daß ich mich mit einem Unbekannten eingeschlossen habe, was ihm dann sagen? Hören Sie, mein Herr,« wiederholte sie mit ihrer ganzen Würde, »entscheiden Sie mein Los, ich bin zu allem entschlossen.«

»Meine Liebe,« sagte der Oberst und ergriff die Hände seiner Frau, »ich habe mich entschieden, mich ganz Ihrem Glück zu opfern.«

»Aber das ist unmöglich«, sagte sie mit einer krampfhaften Bewegung. »Denken Sie doch daran, daß Sie durch eine authentische Unterschrift auf sich selbst verzichten müßten . . .«

»Wie das?« sagte der Oberst, »genügt Ihnen nicht mein Wort?«

Die Bezeichnung »authentisch« hatte im Herzen des Alten, fast gegen seinen Willen, Mißtrauen erweckt. Er blickte seine Frau ernst an, und sie errötete unter diesem Blick. Sie mußte die Augen senken. Er hatte Angst, er müsse sie verachten. Seine Frau fürchtete, sie hätte sein Gefühl naiver Scham verletzt, die erprobte Ehrlichkeit eines Mannes, dessen edlen Charakter, dessen primitive Tugend sie kannte. Zwar hatten nun diese Gedanken leichte Wolken in den Seelen zusammengezogen, doch bald verbreitete sich wieder das Gefühl der Eintracht zwischen ihnen. Und zwar so. Ein Kinderruf ertönte in der Ferne.

»Julius, lasse deine Schwester in Frieden«, rief die Gräfin.

»Wie? Ihre Kinder sind hier?«

»Ja, aber ich habe ihnen verboten, Sie zu stören.«

Der alte Soldat wußte das hohe Maß von Zartgefühl und Takt zu würdigen, das die Gräfin in ihr Benehmen gelegt, und nahm ihre Hand, um sie zu küssen.

»Lassen Sie doch die Kinder kommen«, sagte er. Das kleine Mädchen eilte herbei, um sich über den Bruder zu beklagen.

»Mama!«

»Mama!«

»Er hat . . .«

»Sie hat . . .«

Die Kinderhände streckten sich gegen die Mutter aus, und die hohen Stimmen mischten sich miteinander. Wie schön war diese Szene anzusehen!

»Arme Kinder,« rief die Gräfin und konnte ihren Tränen nicht mehr Halt gebieten, »ich muß euch verlassen. Wem wird das Gericht sie zusprechen? Eine Mutter wird sich nie auf einen Vergleich einlassen. Ich will sie haben, ich, ich allein.«

»Sind Sie es, der unser Mütterchen weinen macht?« sagte Julius und warf zornige Blicke auf den Obersten.

»Ruhe, Julius«, sagte die Mutter gebieterisch.

Die Kinder blieben still und sahen ihre Mutter und den Unbekannten mit einer Neugierde an, die Worte nicht schildern können.

»Oh, oh,« sagte sie, »wenn man mich vom Grafen Ferraud scheidet, dann lasse man mir nur meine Kinder, und ich will zu allem ja sagen.«

Das war das entscheidende Wort, das den ersehnten Effekt machte.

»Ja«, rief der Oberst, als beende er einen Satz, den er innerlich längst zu Ende gedacht »unter die Erde! Unter die Erde muß ich. Ich habe es mir schon einmal gesagt.«

»Kann ich ein solches Opfer annehmen?« antwortete die Gräfin. »Haben früher Menschen ihr Leben darangegeben, um die Ehre ihrer Geliebten zu retten, so haben sie es doch nur ein einziges Mal getan. Sie aber würden Tag für Tag Ihr Leben dahingeben. Nein, nein, das ist unmöglich. Würde es nur um Ihre Existenz gehen, dann wäre es nicht so schlimm. Aber unterzeichnen: ›Ich bin nicht Chabert‹, anerkennen: ›ich bin ein Betrüger‹, die Ehre opfern, jede Stunde des Tages eine Lüge sagen, das geht über Menschenkraft. Denken Sie es doch aus! Nein. Hätte ich nicht meine armen Kinder, ich wäre mit Ihnen längst geflohen ans andere Ende der Welt.«

»Aber,« sagte Chabert, »kann ich denn nicht hier leben, in Ihrem kleinen Pavillon, wie einer Ihrer Verwandten. Ich bin verbraucht wie eine ausgeschossene Kanone, was brauche ich mehr als ein wenig Tabak und den Constitutionel?«

Die Gräfin verlor sich in Tränen. Und nun begann zwischen ihr und dem Obersten ein Wettstreit in Edelmut, wobei der Oberst Sieger blieb. Als er nun eines Abends diese Mutter mitten unter ihren Kindern sah, konnte er dem rührenden Zauber dieses Familienbildes nicht widerstehen, hier auf dem Lande, im Dämmer, im Schweigen wirkte der Frieden besonders stark. Er faßte den Entschluß, unter den Toten zu bleiben, er scheute nicht mehr ein »authentisches« Protokoll, er fragte nur, was soll ich tun, um auf immer das Glück der kleinen Familie sicher zu gründen.

»Tun Sie, was Sie wollen,« antwortete die Gräfin, »ich erkläre Ihnen, ich will mich nicht mehr in diese Angelegenheit einmischen. Ich darf es nicht.«

Seit einigen Tagen war Delbecq da. Er war wörtlich den Befehlen der Gräfin gefolgt, und so hatte er völlig sich das Vertrauen des alten Soldaten zu erwerben gewußt. Und so machte sich denn am nächsten Morgen zu früher Stunde der Oberst mit dem abgetanen Anwalt auf den Weg nach Saint Leu-Taverny, wo Delbecq bei dem Notar hatte einen Schriftsatz ausfertigen lassen. Dieses Protokoll war aber in derart wüsten Ausdrücken abgefaßt, daß der Oberst die Kanzlei schroff verließ, nachdem er das Schriftstück überflogen.

»Tausend Donner! Da wäre ich ja ein Lump! Bin ich denn ein Fälscher?« schrie er.

»Mein Herr,« sagte Delbecq, »ich rate Ihnen, sich nicht zu übereilen. Ich würde an Ihrer Stelle eine Rente von mindestens dreißigtausend Franken aus dem Prozeß herausschinden, denn die Gräfin würde sie zahlen.«

Aber der Ehrenmann blitzte den ausgedienten Schuft nur mit einem zornigen Blick an, dann eilte er fort, die Brust von tausend widerstrebenden Empfindungen zerrissen. Mißtrauen, Wut, Mitleid und Groll gingen durcheinander, bis er sich etwas beruhigte. Er trat durch eine Mauerlücke in den Park von Groslay, ging langsamen Schrittes weiter, um sich auszuruhen und endlich alles ungestört durchdenken zu können, er suchte ein kleines Zimmer auf, das oben in einem Gartenpavillon gelegen war, mit der Aussicht auf den Weg nach Saint-Leu.

Die Allee war mit feinem gelben Sande hoch bestreut, und die Gräfin, die sich zufällig in dem Gartenpavillon aufhielt, hörte nicht den Obersten kommen. Sie war zu gespannt auf den Ausgang der Unternehmung, um auch nur die mindeste Aufmerksamkeit den sachten Schritten ihres Mannes auf dem Sande zu widmen. Er aber bemerkte von seiner Seite die Gräfin erst dann, als er fast vor ihr stand.

»Nun, mein lieber Delbecq, hat er unterzeichnet?«, fragte die Gräfin ihren Intendanten, den sie jenseits der Hecke allein daherkommen sah.

»Nein, Frau Gräfin. Ich weiß nicht, was in den Kerl gefahren ist. Der alte Klepper ist in die Höhe gegangen.«

»Wir müssen ihn also ins Narrenhaus sperren,« sagte sie, »wir lassen ihn nicht los, da wir ihn einmal haben.«

Der Oberst fand plötzlich seine ganze Jugendkraft wieder, er setzte in einem kühnen Sprung über die Hecke, stand in Blitzesschnelle vor dem Intendanten und knallte ihm ein so saftiges Paar Ohrfeigen auf die Backen, wie sie nur je ein Sachwalter eingesteckt hat.

»Schreibe es dir hinter die Ohren, daß die alten Klepper noch ausschlagen können!« sagte er.

Als der erste Zorn verraucht war, fühlte der Oberst nicht mehr die Kraft, über die Hecke zurückzuspringen. Er hatte die Wahrheit in ihrer ganzen abstoßenden Nacktheit gesehen. Das Wort der Gräfin und die Antwort des Intendanten hatten das Komplott entschleiert, dem er zum Opfer hatte fallen sollen. Alle Liebe und Freundschaft war nur der Köder gewesen, sich daran zu fangen. Dieser Vorfall wirkte wie ein Tropfen des schärfsten Giftes, jetzt kamen die schweren seelischen und körperlichen Leiden des Obersten wieder.

Er kehrte auf Umwegen durch das Gartentor zu dem Kiosk zurück, er kam nur mühselig weiter, ein gebrochener Mann. Es gab keinen Frieden für ihn, keine Atempause, keine Gnade. Er mußte, und zwar ohne Zögern, mit dieser Frau einen ihm von Herzensgrund verhaßten Kampf aufnehmen, von dem ihm Derville gesprochen, er mußte sich in die Ränke und Schliche der Gerichtsschikane einlassen, sich von Galle nähren, jeden Morgen seinen Kelch Bitternis trinken. Und dann, welch schrecklicher Gedanke, woher das Geld nehmen, das man für die ersten Instanzen brauchte? Das Leben ekelte ihn an, hätte er Pistolen gehabt, so hätte er sich den Schädel zertrümmert. Dann verfiel er wieder in das Schwanken und Zaudern, das seit der Unterredung mit Derville auf dem Hofe des Viehzüchters seine moralische Kraft gebrochen hatte. Endlich kam er vor dem Kiosk an, stieg in das obere Zimmer empor, aus dessen Fenstern man einen so zauberhaften Ausblick auf die schöne Landschaft hatte. Dort traf er seine Frau.

Die Gräfin sah mit vollendeter Ruhe auf die Landschaft hinaus, die Starrheit ihres Gesichtes war nicht zu durchdringen. Solche eiserne Züge haben alle Frauen, die zum Letzten entschlossen sind. Sie trocknete die Augen, als hätte sie geweint, sie spielte wie verträumt mit einem langen rosenfarbigen Bande ihres Gürtels. Und doch, trotz ihrer scheinbaren Sicherheit, konnte sie ein Zittern nicht unterdrücken, als sie ihrem verehrungswürdigen Wohltäter unter die Augen kam, der aufrecht, mit gekreuzten Armen, bleich, mit düsterer Stirn vor ihr stand.

»Gnädige Frau,« sagte er und blickte sie so scharf an, daß sie erröten mußte, »gnädige Frau, ich verdamme Sie nicht. Ich verachte Sie. Jetzt danke ich dem Zufall, der uns auseinandergebracht hat. Ich spüre keine Rachsucht in mir, ich liebe Sie auch nicht mehr. Sie können nun ruhig leben, auf mein Wort und meine Ehre bauen, dies ist sicherer als alles Gekritzel aller Notare von Paris. Ich will von Ihnen nichts. Ich werde nie den Namen zurückverlangen, den ich berühmt gemacht habe. Ich bin nur ein armer Teufel jetzt, genannt Hyacinth, er will nichts als sein Plätzchen an der Sonne. Adieu . . .«

Die Gräfin warf sich ihm zu Füßen, wollte ihn an den Händen zurückhalten, aber er stieß sie mit Schauder zurück und sagte: »Rühren Sie mich nicht an!«

Wer könnte die Haltung der Gräfin beschreiben, als sie die Schritte ihres Mannes verklingen hörte. Aber dann sah sie, eisklar, wie alle starken Verbrecher oder wie alle unzähmbaren Egoisten der hohen Gesellschaft, sie sah, daß sie von heute an den Frieden ihres Hauses auf dem Wort eines ehrlichen Offiziers aufbauen konnte und auf seiner Verachtung.

Der Oberst Chabert verschwand. Der Viehzüchter sagte Bankrott an und wurde Droschkenkutscher. Vielleicht betrieb der Oberst zu dieser Zeit ein ähnliches Gewerbe. Vielleicht auch stürzte er, einem fallenden Stein im Abgrund vergleichbar, mit unaufhaltsamer Schnelligkeit in die Tiefe, um endlich unter dem elenden Moder und Lumpenflickwerk zu enden, das auf den Straßen von Paris wuchert.

*


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