Honoré de Balzac
Die Börse
Honoré de Balzac

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Für hingebungsbereite Seelen ist die Stunde, da es noch nicht Nacht und nicht mehr Tag ist, besonders reizvoll; die Beleuchtung der Dämmerung umgibt dann alle Gegenstände mit ihren weichen Tönen und eigenartigen Reflexen und begünstigt einen Traumzustand, der sich unmerklich mit dem Spiel von Licht und Schatten verknüpft. Die um diese Zeit fast immer herrschende Stille macht diese Stunde den Künstlern besonders lieb, die sich jetzt von der Arbeit erholen, einige Schritte von ihrem Werk, an dem sie nicht mehr arbeiten können, zurücktreten und es prüfen, während sie sich zugleich für das Sujet begeistern, dessen tieferer Sinn sich alsdann dem inneren Schauen des Genies offenbart. Wer nicht an der Seite eines Freundes in solchen Momenten poetischen Träumen nachgehangen hat, wird dieses unsagbare Glück schwerlich nachfühlen können. In diesem Zwielicht verschwinden die Merkmale der Kunstgriffe, mit denen die Wirklichkeit vorgetäuscht werden soll, vollständig. Handelt es sich um ein Bild, so scheinen die dargestellten Personen zu sprechen und sich zu bewegen: der Schatten wird zum wirklichen Schatten, das Tageslicht zum wirklichen Licht, das Fleisch wird lebendig, die Augen blicken umher, das Blut rollt in den Adern, und die Stoffe schillern. Die Einbildungskraft hilft der Naturwahrheit jeder Einzelheit nach, und sieht nur noch die Schönheit des Werkes. Zu dieser Stunde herrscht die Illusion unumschränkt: vielleicht wird sie gleichzeitig mit der Nacht geboren! Ist die Illusion für den Geist nicht eine Art von Nacht, die wir mit Träumen bevölkern? Die Illusion entfaltet dann ihre Flügel, trägt die Seele in das Reich der Phantasie empor, das so voll von köstlichen Einfällen ist, und in dem der Künstler die wirkliche Welt vergißt, das Gestern, das Morgen, die Zukunft, alles bis zu den erbärmlichen Nichtigkeiten hin, den guten wie den üblen. In dieser magischen Stunde war ein junger talentreicher Maler, der sich der Kunst nur um der Kunst willen gewidmet hatte, auf seine Stehleiter gestiegen, die er beim Malen eines großen, hohen, fast vollendeten Bildes benutzen mußte. Als er dort oben sein Werk prüfte, es ehrlich für gut befand und dabei sich der Flucht seiner Gedanken überließ, verfiel er in jenes tiefe Sinnen, das die Seele entzückt und erhebt, sie liebkost und tröstet. Dieser Traumzustand währte anscheinend ziemlich lange Zeit. Es wurde Nacht. Sei es nun, daß er von der Leiter heruntersteigen wollte, oder daß er eine unvorsichtige Bewegung machte, weil er schon unten auf dem Fußboden zu stehen glaubte – was auch geschehen war, er konnte sich nicht mehr erinnern, welche Ursache den Unfall veranlaßt hatte, denn er war heruntergefallen, hatte mit dem Kopfe auf ein Taburett aufgeschlagen, das Bewußtsein verloren und war bewegungslos, wie lange, wußte er selbst nicht, liegen geblieben. Aus der Ohnmacht, die ihn umfangen hatte, wurde er durch eine süße Stimme erweckt. Als er die Augen öffnete, ließ ihn ein grelles Licht sie schnell wieder schließen; aber mit seinen noch umschleierten Sinnen vernahm er das Flüstern zweier weiblicher Stimmen und fühlte zwei junge schüchterne Hände, auf denen sein Haupt ruhte. Er kam bald wieder zu Bewußtsein und konnte nun beim Scheine einer jener alten Lampen »mit doppelter Luftzuführung« den entzückendsten Kopf eines jungen Mädchens, den er jemals gesehen hatte, erkennen, einen von den Köpfen, die oft einer Laune des Pinsels zugeschrieben werden, der nun aber plötzlich die Theorien über das Schönheitsideal, das jedem Künstler vorschwebt und auf dessen Basis sein Talent sich entfaltet, für ihn zur Wirklichkeit werden ließ. Das Antlitz der Unbekannten gehörte gewissermaßen zu dem feinen zarten Typ der Prudhonschule und hatte auch den poetischen Reiz, den Girodet seinen träumerischen Gesichtern zu geben weiß. Der frische Teint der Schläfen, die regelmäßigen Augenbrauen, die reinen Linien, die aus jedem Gesichtszuge sprechende Jungfräulichkeit machten das junge Mädchen zu einem vollendeten Schöpfungswerke. Der Körper war elastisch und schlank, die Formen zart. Das einfache saubere Kleid ließ weder auf Reichtum noch auf Armut schließen. Als er wieder zu sich gekommen war, drückte der Maler sein Erstaunen durch einen Blick der Überraschung aus und stammelte verwirrt seinen Dank. Er fühlte, daß ein Taschentuch gegen seine Stirn gepreßt wurde und verspürte durch den charakteristischen Ateliergeruch hindurch einen starken Geruch nach Äther, mit dem man ihn sicher aus seiner Betäubung erweckt hatte. Schließlich erblickte er eine alte Frau, die wie eine Marquise des Ancien Regime aussah und die die Lampe hielt, während sie der jungen Unbekannten Ratschläge gab.

Auf eine der Fragen, die der Maler stellte, während er noch unter dem Eindruck der Verwirrtheit seiner Sinne sich befand, die der Sturz verursacht hatte, antwortete das junge Mädchen: »Meine Mutter und ich haben gehört, wie Sie zu Boden stürzten und glaubten dabei ein Stöhnen zu vernehmen. Die Stille, die nach dem Sturz eintrat, hat uns erschreckt, und so sind wir eilig heraufgekommen. Da wir den Schlüssel in der Tür stecken sahen, haben wir uns glücklicherweise erlaubt, einzutreten und fanden Sie bewegungslos auf dem Fußboden liegen. Meine Mutter hat dann alles Erforderliche geholt, um Ihnen eine Kompresse anzulegen und Sie wieder ins Bewußtsein zurückzurufen. Sie haben sich an der Stirn verletzt, hier, fühlen Sie es?«

»Jawohl, jetzt«, sagte er.

»Oh, es wird nichts von Bedeutung sein«, fuhr die alte Mutter fort. »Ihr Kopf ist glücklicherweise auf die Gliederpuppe hier gefallen.«

»Es geht mir schon erheblich besser,« erwiderte der Maler, »ich möchte nur einen Wagen haben, um nach Hause zu fahren. Die Portierfrau wird mir einen holen.«

Er wollte nun nochmals den beiden Unbekannten seinen Dank aussprechen, aber die alte Dame unterbrach ihn mitten im Satze: »Denken Sie daran, sich morgen Blutegel setzen oder einen Aderlaß vornehmen zu lassen, trinken Sie einige Tassen eines Heilkräutertees und schonen Sie sich, solche Stürze sind gefährlich.«

Das junge Mädchen betrachtete verstohlen den Maler und die Bilder im Atelier. Ihre Haltung und ihr Blick waren vollkommen dezent; sie sah nicht neugierig umher, sondern nur wie zerstreut, und ihr Blick schien das Interesse auszudrücken, das die Frauen mit selbstverständlicher Güte allem Unglück, das wir tragen, entgegenbringen. Die beiden Frauen schienen die Werke des Malers angesichts des leidenden Malers zu übersehen. Als er sie über sein Befinden beruhigt hatte, entfernten sie sich, nachdem sie ihn nochmals mit einer Sorgfalt untersucht hatten, die gleich weit von Übertreibung wie von Vertraulichkeit entfernt war, ohne indiskrete Fragen zu stellen und ohne ihm nahezulegen, sie kennenzulernen. Ihre Haltung zeigte eine Mischung von reiner Natürlichkeit und gutem Geschmack. Ihr vornehmes und dabei einfaches Äußere machte zuerst nur geringen Eindruck auf den Maler; aber später, als er sich aller Nebenumstände des Unfalls erinnerte, trat es ihm lebendig vor Augen. Als er bis zu dem Stockwerk, das unter dem Maleratelier lag, gekommen war, sagte die alte Dame leise: »Adelaide, du hast die Tür offen gelassen.«

»Das geschah gewiß meinetwegen«, erwiderte der Maler mit dankbarem Lächeln.

»Liebe Mutter, Sie waren ja selbst eben hinuntergegangen«, bemerkte das junge Mädchen errötend.

»Wollen Sie, daß wir Sie bis nach unten begleiten?« fragte die Mutter den Maler. »Die Treppe ist ziemlich dunkel.«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau, es geht mir viel besser.«

»Halten Sie sich nur gut am Geländer fest.«

Die beiden Frauen blieben auf dem Treppenabsatz stehen, um dem jungen Manne zu leuchten, solange sie seine Schritte hörten.

Um ganz zu verstehen, wie eigenartig und unerwartet diese Szene auf den Maler wirken mußte, ist noch zu erwähnen, daß er erst seit einigen Tagen das Atelier im Dachgeschoß dieses Hauses bezogen hatte, das in dem dunkelsten, schmutzigsten Teil der Rue de Suresne, fast direkt vor der Madeleinekirche, gelegen war, ein paar Schritte von seiner Wohnung in den Champs-Elysées entfernt, Berühmt geworden durch seine Begabung, die ihn zu einem der gefeiertsten französischen Künstler gemacht hatte, begann er der Not ledig zu werden und genoß, wie er sich ausdrückte, das Ende seiner Armut. Um nicht mehr in einem der Ateliers draußen in der Vorstadt arbeiten zu müssen, deren bescheidene Miete mit seinem bisherigen bescheidenen Einkommen in Einklang stand, hatte er einen Wunsch, der sich täglich lauter geltend machte, endlich befriedigt, indem er sich einen langen Weg und den Verlust an Zeit ersparte, die ihm kostbarer als je geworden war. Kein Mensch war mehr geeignet, Interesse zu erregen, als Hippolyte Schinner, wenn er eingewilligt hätte, in die Öffentlichkeit hinauszutreten; aber er gewährte nicht so leicht jemandem Einblick in sein Privatleben. Er war das Idol einer armen Mutter, die sich für seine Erziehung die äußersten Entbehrungen auferlegt hatte. Fräulein Schinner, die Tochter eines elsässischen Pächters, war nie verheiratet gewesen. Ihr zärtliches Empfinden wurde von einem reichen Manne, der gerade kein großes Zartgefühl in Liebesangelegenheiten besaß, grausam getäuscht. Der Tag, an dem das junge Mädchen, in der Blüte seiner Schönheit und im vollen Glanze seiner Jugend, diese Enttäuschung erfuhr – die wir alle so langsam und schnell zugleich erleben, denn wir möchten so spät als möglich an das Unglück glauben, und doch scheint es uns immer zu schnell über uns hereingebrochen zu sein – dieser Tag war mit Nachdenken ausgefüllt, das für ein Jahrhundert ausgereicht hätte, und es war auch der Tag frommer Gedanken und der Tag der Ergebung. Sie lehnte ein Almosen des Mannes, der sie betrogen hatte, ab, zog sich von der Welt zurück und machte ihren Fehltritt zu ihrem Stolz. Sie kannte nichts anderes mehr als die Mutterliebe, und suchte in ihr den Ersatz für die gesellschaftlichen Freuden, auf die sie verzichtet hatte. Sie lebte von ihrer Arbeit und zog sich in ihrem Sohn einen Schatz auf. Und eines Tages erschien die Stunde, da sie für ihre so lange andauernden Opfer und Entbehrungen entschädigt wurde. Bei der letzten Ausstellung hatte ihr Sohn das Kreuz der Ehrenlegion erhalten. Die Zeitungen, einstimmig in ihrer Anerkennung des bis dahin unbekannten Talentes, waren noch voll des ernstgemeinten Lobes. Selbst die Künstler erkannten Schinner als einen Meister an, und die Händler bezahlten seine Bilder nach ihrem Gewichte in Gold. Mit fünfundzwanzig Jahren war sich Hippolyte Schinner, der das weibliche Empfinden von seiner Mutter geerbt hatte, klar über seine Stellung in der Gesellschaft. Da er seiner Mutter die gesellschaftlichen Annehmlichkeiten, deren sie so lange Zeit beraubt gewesen war, wieder verschaffen wollte, so lebte er nur für sie und hoffte, sie vermöge seines Ruhmes und Reichtums dereinst glücklich, reich, geachtet und von berühmten Leuten umgeben zu sehen. Schinner hatte sich deshalb einen Freundeskreis von durchaus ehrenhaften und ausgezeichneten Männern gebildet. Schwer zu befriedigen bei der Auswahl seiner Beziehungen, wollte er eine noch höhere Stellung einnehmen als die, zu der ihn seine Begabung schon erhoben hatte. Die groß denkende Mutter hatte ihn genötigt, einsam zu leben, und die Arbeit, der er sich von Jugend auf gewidmet hatte, hatte ihm den schönen Glauben bewahrt, der die ersten jungen Jahre auszeichnet. Seiner Jünglingsseele war keine der tausend schamhaften Empfindungen fremd, die den jungen Mann zu einem besonderen Wesen machen, dessen Herz von Glück, von poetischen Gefühlen und von jugendfrohen Hoffnungen überfließt, die in den Augen blasierter Leute kaum etwas bedeuten, die aber in ihrer Schlichtheit tief sind. Er besaß die Liebenswürdigkeit und Höflichkeit, die das Wesen so erfreulich machen, und die selbst diejenigen verführen, die sie nicht begreifen. Er hatte ein schönes Äußere. Seine Stimme, die von Herzen kam, erweckte bei den andern edle Empfindungen, und verriet durch eine gewisse Reinheit des Ausdrucks ehrliche Bescheidenheit. Bei seinem Anblick fühlte man sich zu ihm durch eine innere Anziehungskraft hingezogen, die die Gelehrten glücklicherweise noch nicht zu analysieren verstehen, denn sonst würden sie darin ein galvanisches Phänomen oder die Wirkung irgendeines Fluidums sehen und unsere Gefühle in die Formel eines Verhältnisses von Sauerstoff und Elektrizität bringen. Diese Einzelheiten werden vielleicht auch dreiste und elegante Leute begreifen lassen, weshalb Hippolyte Schinner während der Abwesenheit des Portiers, den er an das Ende der Rue de la Madeleine nach einem Wagen geschickt hatte, an die Portierfrau keine Frage über die beiden Personen stellte, deren Gutherzigkeit sich ihm offenbart hatte. Aber obgleich er auf die bei dieser Gelegenheit natürlichen Fragen, die die Frau in bezug auf seinen Unfall und das dienstbereite Eintreten der Mieter der vierten Etage an ihn richtete, nur mit Ja oder Nein antwortete, so konnte er sie doch nicht hindern, nach der Art der Portiers zu schwatzen; und so redete sie über die beiden Unbekannten vom Standpunkte ihrer persönlichen Interessen und mit der Beurteilung, wie sie der Sphäre einer Kellerwohnung entsprach.

»Ach,« sagte sie, »das war gewiß Fräulein Leseigneur und ihre Mutter, die hier seit vier Jahren wohnen. Wir wissen immer noch nicht, was diese Damen eigentlich machen; nur von früh bis um zwölf Uhr kommt eine alte halbtaube Aufwartefrau, die so stumm ist, wie eine Mauer, zum Aufräumen; abends erscheinen zwei oder drei alte Herren, die einen Orden haben, wie Sie, Herr, und von denen einer eine Equipage und Dienerschaft hat und sechzigtausend Franken Rente haben soll, bei ihnen und bleiben häufig sehr lange. Übrigens sind es sehr ruhige Mieter, so wie Sie, Herr; und dann sparsam, sie leben rein von nichts; sobald ein Brief kommt, bezahlen sie ihn. Es ist merkwürdig, die Mutter heißt anders als die Tochter. Und wenn sie in die Tuilerien gehen, dann sieht die Tochter sehr elegant aus, und wenn sie zurückkommt, dann folgen ihr gewöhnlich junge Leute; sie schließt ihnen aber die Tür vor der Nase zu, und daran tut sie recht. Der Hauseigentümer würde nicht erlauben . . .«

Da der Wagen ankam, hörte Hippolyte nichts weiter und kehrte nach Hause zurück. Die Mutter, der er sein Abenteuer erzählte, legte ihm einen frischen Verband auf die Wunde und erlaubte ihm nicht, am nächsten Tage ins Atelier zu gehen. Ein Arzt wurde geholt, der verschiedenes verordnete, und Hippolyte blieb drei Tage zu Hause. Während dieser Abgeschlossenheit vergegenwärtigte ihm seine anderweit unbeschäftigte Einbildungskraft lebhaft und stückweise die Einzelheiten der Szene, die auf seine Ohnmacht gefolgt war. Das Profil des jungen Mädchens zeichnete sich scharf auf dem dunklen Grunde seines inneren Schauens ab: er sah wieder das welke Gesicht der Mutter vor sich und fühlte noch die Hände Adelaides, er besann sich wieder auf eine Bewegung, die ihm zuerst kaum aufgefallen war, deren wunderbarer Reiz aber in der Erinnerung hervortrat; eine Stellung oder der Klang einer wohllautenden Stimme tauchten entfernt im Gedächtnis plötzlich verschönert wieder auf, wie ins Wasser gefallene Gegenstände, wenn sie wieder an die Oberfläche kommen. An dem Tage, an dem er seine Arbeit wieder aufnehmen durfte, ging er zeitig ins Atelier; aber der wahre Grund für seine Eile war der Besuch, den er mit unzweifelhaftem Recht seinen Nachbarn machen durfte, und über dem er bereits seine Bilder vergaß. In dem Moment, da eine Leidenschaft ihre Hülle durchbricht, empfindet man ein unerklärliches Glücksgefühl, das alle die kennen, die geliebt haben. Deshalb wird mancher verstehen, weshalb der Maler die Stufen zum vierten Stock so langsam hinaufstieg, und sie werden das beschleunigte Schlagen seines Herzens mitempfinden, als er die braune Tür erblickte, die zu der bescheidenen Wohnung des Fräuleins Leseigneur führte. Dieses Mädchen, das nicht den Namen seiner Mutter trug, hatte tausend sympathische Gefühle bei dem jungen Maler wachgerufen; er glaubte zwischen ihr und sich eine gewisse Ähnlichkeit ihrer Lage zu erkennen und dachte, daß über ihrer Geburt derselbe Unglücksstern geleuchtet hätte, wie über der seinigen. Mitten bei seiner Arbeit überließ er sich gern seinen Liebesgedanken und benahm sich sehr laut, um den beiden Damen Anlaß zu geben, sich mit ihm ebenso zu beschäftigen, wie er mit ihnen. Er blieb sehr lange im Atelier und speiste dort; dann, gegen sieben Uhr, ging er zu seinen Nachbarinnen hinunter.

Kein Sittenschilderer hat es bisher, wahrscheinlich, weil er sich davor scheute, unternommen, uns das wahrhaft interessante Interieur gewisser Pariser Existenzen zu schildern und uns in das Geheimnis solcher Behausungen einzuweihen, aus denen so frische, elegante Toiletten und so glänzende Damen heraustreten, die draußen anscheinend reich, zu Hause alle Anzeichen zweifelhafter Vermögensumstände erkennen lassen. Wenn die Schilderung hier zu unverhüllt gemalt und zu lang ausgedehnt erscheint, so möge man der Darstellung keine Schuld beimessen, die sozusagen mit dieser Geschichte unlösbar verknüpft ist; denn der Anblick der von seinen beiden Nachbarinnen bewohnten Räume war von großem Einfluß auf die Gefühle und Hoffnungen Hippolyte Schinners.

Das Haus gehörte einem jener Hausbesitzer, denen ein tiefer Abscheu vor Reparaturen und Verbesserungen angeboren ist, und die den Zustand des Hausbesitzens als einen Beruf betrachten. In der langen Kette der verschiedenen Charaktere bilden sie das Mittelglied zwischen dem Geizhals und dem Wucherer. Optimisten aus Berechnung, halten sie getreu an dem Status quo Österreichs fest. Spricht man mit ihnen davon, daß ein Aufsatz oder eine Tür geändert, oder ein unentbehrliches Luftloch in Ordnung gebracht werden solle, so glühen ihre Augen, sie werden wütend und bäumen sich wie erschreckte Pferde. Wenn der Wind ein paar Ziegelsteine von ihren Schornsteinen heruntergerissen hat, werden sie krank und versagen sich, wegen der Reparaturkosten, in das Gymnase oder das Theater der Porte-Saint-Martin zu gehen. Hippolyte, der bei Gelegenheit gewisser Verbesserungen in seinem Atelier gratis eine komische Szene von dem Herrn Molineux vorgespielt bekommen hatte, war nicht überrascht von dem dunklen, fettigen Ton, der öligen Schmutzfarbe, den Flecken und sonstigen häßlichen Mängeln des Holzwerks. Diese Merkmale des Elends besitzen übrigens in den Augen eines Künstlers einen gewissen poetischen Reiz.

Fräulein Leseigneur öffnete selbst die Tür. Sie erkannte den jungen Maler und begrüßte ihn; gleichzeitig wandte sie sich mit der Pariser Gewandtheit und der Geistesgegenwart, die der Stolz verleiht, um und schloß die Tür eines Glasververschlages, durch den Hippolyte an einer Wäscheleine aufgehängte Wäsche über einem Sparherde, ein altes Gurtbett, ein Kohlenfeuer, Plätteisen, einen Wasserausguß, Geschirr und all die andern Gegenstände kleiner Haushaltungen hätte sehen können. Ziemlich saubere Musselinvorhänge verbargen sorgfältig dieses »Kapernaum«, wie die vulgäre Bezeichnung für diese Art von Laboratorium lautet, das an trüben Tagen auch noch mangelhaftes Licht von einem Nachbarhofe empfing. Mit dem schnellen Blick des Künstlers umfaßte Hippolyte den Charakter, die Möbel, den Gesamteindruck und den Zustand dieses ersten Zimmers, das in zwei Teile geteilt war. Der bessere Teil, der gleichzeitig als Vorzimmer und als Eßzimmer diente, hatte eine alte rosafarbene Tapete mit einer sammetartigen Borte, zweifellos aus der Fabrik von Reveillon stammend, deren Löcher und Flecken sorgfältig mit Oblaten überklebt waren. Stiche nach den Alexanderschlachten von Lebrun in Rahmen, von denen das Gold abgegangen war, waren symmetrisch an den Wänden aufgehängt. In der Mitte stand ein massiver Mahagonitisch von altmodischer Form mit abgestoßenen Kanten. Ein kleiner Ofen, dessen gerades, knieloses Rohr man kaum bemerkte, stand vor dem Kamin, dessen Öffnung einen Schrank bildete. In eigenartigem Kontrast hiermit wiesen die Stühle Spuren vergangenen Glanzes auf, sie waren aus geschnitztem Mahagoniholz; aber das rote Maroquinleder der Sitze, die vergoldeten Nägel und der Golddraht wiesen so viele Narben auf wie ein alter Sergeant der kaiserlichen Garde. Das Zimmer war eine Art Museum von Dingen, die man nur in diesen widerspruchsvollen Haushaltungen findet, von solchen schwer zu benennenden Sachen, die ebenso an Luxus wie an Elend gemahnen. Unter andern merkwürdigen Dingen fiel Hippolyte ein kostbar verziertes Fernrohr auf, das über einem kleinen grünlichen Spiegel, mit dem der Kamin geschmückt war, hing. Zu diesem eigenartigen Mobiliar paßte ein zwischen dem Kamin und dem Verschlage stehendes schlechtes Büfett, das in der Farbe des Mahagonis gemalt war, eines Holzes, das sich von allen am schlechtesten nachahmen läßt. Aber der rote schlüpfrige Fußboden, die elenden kleinen Teppiche vor den Stühlen, die Möbel – alles war sauber abgerieben, was den alten Sachen einen falschen Glanz verlieh und ihre Mängel, ihr Alter und ihren langen Gebrauch noch deutlicher hervortreten ließ. Ein undefinierbarer Geruch herrschte in dem Zimmer, ein Gemisch von Ausdünstungen des Kapernaums, des Speisezimmers und der Treppe, obgleich das Fenster geöffnet war und die Straßenluft die Perkalvorhänge bewegte, die sorgfältig zugezogen waren, um die Fensternischen zu verhüllen, wo die früheren Mieter ihre Anwesenheit mit verschiedenen Schmutzüberzügen, einer Art häuslicher Fresken, verewigt hatten. Adelaide öffnete schnell die Tür zu dem andern Zimmer, in das sie den Maler mit einem gewissen Vergnügen hineinführte. Auf Hippolyte, der früher bei seiner Mutter die gleichen Zeichen der Bedürftigkeit gesehen hatte, machten sie den eigenartigen lebhaften Eindruck, der unsre frühesten Gedächtnisbilder kennzeichnet, und mehr als jedem anderen wurden ihm alle Einzelheiten dieses Milieus deutlich. Da er die Umgebung seiner Kindheit wiedererkannte, empfand der edeldenkende junge Mann weder Verachtung über diese verschämte Armut, noch Stolz bei dem Gedanken an den Reichtum, den er seiner Mutter zu verschaffen im Begriff war.

»Nun, lieber Herr? Ich hoffe, Sie spüren nichts mehr von den Folgen Ihres Sturzes«, sagte die Mutter, erhob sich von einem alten Sofa, das in der Kaminecke stand und bot ihm einen Sessel an.

»Nein, gnädige Frau. Ich komme, um Ihnen für die freundlichen Dienste, die Sie mir geleistet haben, zu danken, und besonders dem Fräulein, die mich hat hinfallen hören.«

Während er diese Worte mit der reizenden Unbehilflichkeit äußerte, mit der die erste Verwirrung echter Liebe den Geist zu trüben pflegt, betrachtete Hippolyte das junge Mädchen. Adelaide zündete die Lampe mit der doppelten Luftzuführung an, um ein Licht nicht sehen zu lassen, das in einem großen kupfernen Handleuchter steckte, an dem an mehreren Stellen die Kerzenmasse stark herabgeflossen war. Sie verbeugte sich leicht, brachte den Leuchter in das Vorzimmer, stellte die Lampe auf den Kamin und setzte sich neben ihre Mutter, etwas von dem Maler entfernt, um ihn nach Belieben betrachten zu können, während sie sich anscheinend eifrig an der Lampe zu schaffen machte, deren Flamme, von der Feuchtigkeit des beschlagenen Zylinders getrübt, hin und her flackerte und im Kampfe mit einem verkohlten, schlecht beschnittenen Docht war. Als Hippolyte den großen Spiegel über dem Kamin wahrnahm, benutzte er ihn, um seinerseits sofort Adelaide bewundernd zu betrachten. Die kleine List des jungen Mädchen diente daher nur dazu, sie beide verlegen zu machen. Während er mit Frau Leseigneur – Hippolyte nannte sie unbefangen mit diesem Namen – plauderte, sah er sich unauffällig und verstohlen in dem Salon um. Die ägyptischen Figuren der eisernen Feuerböcke in der Feuerstelle waren kaum zu erkennen; diese lag voll Asche, und zwei Feuerbrände versuchten vergeblich, sich vor einem imitierten Holzkloben aus Terrakotta zu vereinigen, der ebenso sorgfältig vergraben war wie der Schatz eines Geizhalses. Ein alter, stark ausgebesserter, sehr fadenscheiniger und wie der Rock eines Invaliden abgenutzter Aubussonteppich bedeckte den Fußboden nicht ganz, dessen Kälte man an den Füßen verspürte. Die Wände waren mit einer rötlichen Tapete, die einen gelbgemusterten Stoff vorstellen sollte, versehen. In der Mitte der dem Fenster gegenüberliegenden Wand entdeckte der Maler einen Riß und Brüche in der Tapete, die von den Türen eines Alkovens verursacht waren, in dem jedenfalls Frau Leseigneur schlief, und die ein Sofa, das vor diese versteckte Öffnung gestellt war, nur schlecht verbarg. Dem Kamin gegenüber, oberhalb einer Kommode aus Mahagoni mit reichen und geschmackvollen Verzierungen, hing das Porträt eines hohen Offiziers, das der Maler bei der schlechten Beleuchtung nicht erkennen konnte; aber das Wenige, was er davon sah, ließ ihn annehmen, daß dieses schauderhafte Stück in China gemalt sein müsse. Die rotseidenen Vorhänge an den Fenstern waren ebenso verblaßt wie die gelben und roten Möbelbezüge dieses Salons mit zwei Ausgängen. Auf der Marmorplatte der Kommode trug ein kostbares Tablett aus Malachit ein Dutzend Kaffeetassen mit prächtiger Malerei, die sicher aus Sèvres stammten. Auf dem Kamin stand die unvermeidliche Uhr im Empirestil, ein Krieger, der am Zügel die vier Pferde eines Wagens führte, dessen Räder an jeder Speiche eine Stundenziffer trugen. Die Kerzen auf dem Armleuchter waren vom Rauch gelb geworden, auf den beiden Ecken des Gesimses sah man Porzellanvasen mit Moos und künstlichen Blumen voller Staub. In der Mitte des Zimmers bemerkte Hippolyte einen aufgeschlagenen Spieltisch mit neuen Karten. Für einen Beobachter lag eine gewisse Trostlosigkeit in dem Bilde dieses geschminkten Elends, wie wenn ein alles Weib mit ihrem Gesicht Jugend vortäuschen will. Dieses Schauspiel hätte jeden gesunden Menschenverstand im stillen sofort vor ein Dilemma gestellt: entweder waren die beiden Frauen die Anständigkeit selbst, oder sie lebten von Intrigen und vom Spiel. Beim Anblick Adelaides aber mußte ein so rein empfindender junger Mann wie Schinner an die vollkommenste Unschuld glauben und für dieses widerspruchsvolle Interieur nur ehrenhafte Gründe annehmen.

»Mein Kind, mir ist kalt,« sagte die alte Dame zu dem jungen Mädchen, »mach etwas Feuer und gib mir meinen Schal.«

Adelaide ging in das anstoßende Zimmer, in dem sie gewiß schlief, und brachte der Mutter einen Kaschmirschal, der neu sehr kostbar gewesen sein mußte, denn er hatte ein indisches Muster; aber alt, abgenutzt und vielfach ausgebessert, wie er war, paßte er zu dem übrigen. Frau Leseigneur umhüllte sich damit sehr kunstvoll und mit der Geschicklichkeit einer alten Frau, die an die Wahrheit ihrer Worte glauben machen will. Dann eilte das junge Mädchen in das Kapernaum und kehrte mit einer Handvoll kleingemachten Holzes zurück, das sie ungesäumt ins Feuer warf, um es wieder anzufachen.

Es wäre ziemlich schwierig, die Unterhaltung, die sich zwischen den drei Personen entspann, wiederzugeben. Mit dem Takt, der alle die kennzeichnet, die von ihrer Kindheit an das Elend durchgemacht haben, wagte Hippolyte nicht, sich irgendeine Bemerkung über die Lage seiner Nachbarinnen zu erlauben, wenn er auch rings um sich die Anzeichen schlecht verhehlter Not sehen mußte. Auch die harmloseste darauf bezügliche Frage wäre indiskret und erst einer lang erprobten Freundschaft gestattet gewesen. Trotzdem war der Maler tief ergriffen von dieser verschämten Armut und sein großmütiges Empfinden litt darunter; da er aber wußte, daß jede, selbst die liebevollste Spur von Mitleid als etwas Beleidigendes empfunden werden konnte, so fühlte er sich infolge des Mißverhältnisses zwischen seinen Gedanken und seinen Worten unbehaglich. Die beiden Damen sprachen zuerst über Malerei, denn die Frauen kennen recht gut die heimliche Verlegenheit, die bei einem ersten Besuche verspürt wird; sie fühlen sie vielleicht selber, aber ihre Natur besitzt tausend Hilfsquellen, um sie verschwinden zu lassen. Indem sie den jungen Mann über die Technik seiner Kunst und über seine Studien befragten, verstanden es Adelaide und ihre Mutter, ihn zum Plaudern zu bringen. Unmerkliche kleine Wendungen ihrer von Liebenswürdigkeit belebten Unterhaltung brachten Hippolyte von selbst zu Bemerkungen und Darlegungen, die ein Bild seiner Lebensweise und seines Denkens gaben. Kummer hatte das Antlitz der alten Dame, das früher schön gewesen sein mußte, frühzeitig welk gemacht; jetzt hatte es nur noch scharfe Züge und Umrisse, es war, kurz gesagt, nur noch das Skelett einer Physiognomie, im ganzen aber von großer Feinheit und voller Anmut im Blick der Augen, die den besonderen unbeschreibbaren Ausdruck der früheren Hofdamen besaßen. Hinter diesen so feinen und so beweglichen Zügen konnten sich ebensowohl in hohem Maße schlimme Gefühle, Verschlagenheit und weibliche List verbergen, wie die zarten Empfindungen einer schönen Seele. Das weibliche Antlitz ist in der Tat für den gewöhnlichen Beobachter schwer zu beurteilen, weil er den Unterschied zwischen Freimütigkeit und Doppelzüngigkeit, zwischen dem Wesen der Intrige und dem der reinen Empfindung des Herzens nicht zu erkennen vermag. Nur wer einen scharfen Blick besitzt, hat eine Ahnung von diesen fast ungreifbaren Nuancen, die eine mehr oder weniger gekrümmte Linie, ein mehr oder weniger tiefes Grübchen, ein mehr oder weniger hervortretender Vorsprung anzeigt. Die Würdigung dieser Anzeichen gehört ganz in das Reich der Intuition, die allein das aufzudecken vermag, was jeder zu verstecken bemüht ist. Mit dem Gesicht der alten Dame verhielt es sich ebenso wie mit ihrer Wohnung: es war ebenso schwer, zu wissen, ob hinter diesem Elend Lasterhaftigkeit oder höchste Ehrenhaftigkeit versteckt war, ebenso schwer zu erkennen, ob Adelaides Mutter eine alte Kokette war, die alles erwog, alles berechnete, alles verkaufte, oder eine Frau voll Liebe, Adel und trefflichen Eigenschaften. Aber in dem Alter, in dem Schinner stand, besteht die erste Regung des Herzens darin, an das Gute zu glauben. Und wenn er die vornehme, fast abweisend stolze Stirn Adelaides betrachtete und ihre Augen voll Geist und Seele, so atmete er sozusagen den süßen reinen Duft der Tugend ein. Mitten in der Unterhaltung ergriff er die Gelegenheit, von Porträts im allgemeinen zu sprechen, um das Recht zu haben, das schreckliche Pastellbild zu betrachten, dessen Töne völlig verblaßt und dessen Farben zum größten Teil abgefallen waren.

»Sie hängen gewiß an diesem Bilde wegen seiner Ähnlichkeit, meine Damen, denn die Ausführung ist abscheulich«, sagte er mit einem Blick auf Adelaide.

»Es ist in Kalkutta gemacht worden, und zwar in großer Eile«, erwiderte die Mutter mit bewegter Stimme.

Sie betrachtete die unförmliche Skizze mit der vollen Hingebung, die die Erinnerungen an glückliche Zeiten hervorrufen, wenn sie wieder erwachen und sich über das Herz ergießen, wie die erfrischende Wirkung eines wohltätigen Taus, der man sich gern überläßt; aber der Gesichtsausdruck der alten Dame zeigte auch die Spuren unauslöschlicher Trauer. So wenigstens wollte sich der Maler die Haltung und die Miene der alten Dame erklären, neben der er jetzt Platz nahm.

»Gnädige Frau,« sagte er, »es wird nur noch kurze Zeit dauern, dann werden die Farben dieses Pastells vollkommen verschwunden sein. Dann wird das Bild nur noch in Ihrem Gedächtnisse weiter existieren. Dort, wo Sie noch ein Ihnen teures Antlitz sehen werden, werden die andern nichts mehr wahrnehmen können. Wollen Sie mir gestatten, die Ähnlichkeit der Züge auf die Leinwand zu übertragen? Dort wird sie dauerhafter festgehalten sein als auf diesem Papier. Gewähren Sie mir freundschaftlich als Nachbarin diese Gunst und das Vergnügen, Ihnen einen Dienst leisten zu können. Es gibt Stunden, in denen ein Künstler sich gern von den Anstrengungen bei seinen großen Kompositionen an weniger wichtigen Arbeiten erholt; es wird für mich eine Zerstreuung sein, diesen Kopf nachzubilden.«

Bei diesen Worten fing die alte Dame an zu zittern, und Adelaide warf auf den Maler einen nachdenklichen Blick, der wie aus der Tiefe der Seele hervorbrach. Hippolyte wollte sich ein Band schaffen, das ihn mit seinen beiden Nachbarinnen verknüpfte und ihm das Recht gab, sich mit ihren Angelegenheiten zu befassen. Sein Anerbieten, das sich an die wärmsten Gefühle des Herzens richtete, war das einzige, das er machen durfte: es lag Künstlerstolz darin, und es hatte nichts Verletzendes für die beiden Damen. Frau Leseigneur nahm es an, nicht begeistert und nicht widerwillig, sondern mit dem Bewußtsein großer Seelen von der Bedeutung des Bandes, das solche Verpflichtungen knüpfen, und worin ein warmes Lob und ein Beweis von Hochachtung enthalten sind.

»Mir scheint,« sagte der Maler, »daß dies die Uniform eines Marineoffiziers ist.«

»Jawohl,« sagte sie, »es ist die eines Schiffskapitäns. Herr von Rouville, mein Mann, ist in Batavia an den Folgen einer Verwundung gestorben, die er beim Kampfe gegen ein englisches Schiff erhalten hat, dem er an der asiatischen Küste begegnete. Er befehligte eine Fregatte von sechsundfünfzig Kanonen, und der ›Revenge‹ war ein Schiff von sechsundneunzig. Der Kampf war also sehr ungleich; aber er verteidigte sich so tapfer, daß er, bis es Nacht wurde, durchhielt und entrinnen konnte. Als ich nach Frankreich zurückkehrte, war Bonaparte noch nicht an der Regierung, und man verweigerte mir eine Pension. Als ich letzthin von neuem darum einkam, sagte mir der Minister mit harten Worten, daß, wenn der Baron von Rouville sich den Emigranten angeschlossen hätte, er mir erhalten geblieben wäre; daß er heute sicherlich Konteradmiral sein würde; und Seine Exzellenz schloß die Unterredung damit, daß er auf ich weiß nicht welches Gesetz über den Pensionsverlust hinwies. Ich habe diesen Schritt, zu dem mich Freunde gedrängt hatten, nur um meiner armen Adelaide willen getan. Ich habe immer einen Widerwillen dagegen empfunden, wegen eines Verlustes, bei dem einer Frau die Stimme und die Kräfte versagen, die Hand auszustrecken. Ich liebe eine Geldentschädigung für unrettbar vergossenes Blut nicht . . .«

»Liebe Mutter, dieser Gesprächsgegenstand ist immer so schmerzlich für Sie.«

Bei diesem Worte Adelaidens neigte die Baronin Leseigneur von Rouville das Haupt, und versank in Schweigen.

»Ich dachte, Herr Schinner,« sagte das junge Mädchen zu Hippolyte, »daß die Arbeit des Malers im allgemeinen wenig Geräusch mache.«

Bei dieser Frage errötete Schinner in Gedanken an den Lärm, den er gemacht hatte. Aber Adelaide vollendete nicht und ersparte ihm eine Ausrede, indem sie sich plötzlich beim Geräusch eines Wagens, der vor der Tür stillhielt, erhob und in ihr Zimmer ging, aus dem sie gleich wieder mit zwei vergoldeten Armleuchtern mit frischen Kerzen zurückkehrte, die sie anzündete; und ohne das Anschlagen der Glocke abzuwarten, öffnete sie die Tür des ersten Zimmers, in dem sie die Lampe stehen ließ. Das Geräusch eines empfangenen und erwiderten Kusses verspürte Hippolyte bis in sein Herz. Die Ungeduld des jungen Mannes, denjenigen zu sehen, der sich gegen Adelaide so vertraut benahm, wurde nicht so schnell befriedigt, denn die Angekommenen hatten mit dem jungen Mädchen eine leise geführte Unterhaltung, die er ziemlich lange dauernd fand. Endlich erschien Fräulein von Rouville wieder, gefolgt von zwei Männern, deren Kleidung, Gesicht und Erscheinung eine ganze Geschichte für sich bedeuteten. Der erste, ein Mann im Alter von etwa sechzig Jahren, trug einen Anzug, wie er, wie ich glaube, für Ludwig XVIII., der damals regierte, erfunden worden war, und durch den das schwierigste Bekleidungsproblem von einem Schneider gelöst war, der sich damit sicher unsterblich gemacht hat. Dieser Künstler verstand unzweifelhaft die Kunst der Übergänge, die ja auch das Wesen dieser politisch so beweglichen Zeit ausmachten. Und ist es nicht ein sehr seltenes Verdienst, wenn man seine Epoche richtig zu beurteilen versteht? Dieses Kleid, das die jungen Männer von heute für eine Fabel halten werden, war weder ein Zivil- noch ein Militärrock und konnte abwechselnd bald für das eine, bald für das andere angesehen werden. Aufgestickte Lilien schmückten die Aufschläge der beiden rückwärtigen Schöße. Die vergoldeten Knöpfe zeigten ebenfalls das Lilienmuster. Auf den Schultern verlangten die beiden leeren Stege nach nutzlosen Epauletten. Diese beiden militärischen Abzeichen wirkten da wie eine Petition ohne die erforderliche Nachschrift. Das Knopfloch des königsblauen Rockes des alten Herrn war mit mehreren Ordensbändern geschmückt. Seinen Dreispitz mit goldener Schnur trug er sicherlich immer in der Hand, denn die schneeweißen Flügel seines gepuderten Haars zeigten keine Spur eines Huteindrucks. Er sah nicht älter aus als fünfzigjährig und schien sich einer robusten Gesundheit zu erfreuen. Wiewohl sie den loyalen und freimütigen Charakter eines alten Emigranten anzeigte, verriet seine Physiognomie doch auch die lockeren, leichtfertigen Sitten, die lustigen Passionen und die Unbekümmertheit jener Musketiere, die einst in den Annalen der galanten Welt so berühmt gewesen waren. Seine Bewegungen, seine Haltung, seine Manieren zeigten deutlich, daß er weder auf seine royalistische Gesinnung, noch auf seine Religion, noch auf seine Liebesabenteuer verzichten wollte.

Ein wahrhaft phantastisches Gesicht erschien hinter diesem anspruchsvollen »Voltigeur Ludwigs XVI.« (das war der Spitzname, den die Bonapartisten diesen adligen Überbleibseln der Monarchie gegeben hatten); aber um es deutlich zu zeichnen, müßte man es zum Hauptgegenstand des Gemäldes machen, in dem es nur eine Nebenfigur ist. Man stelle sich eine vertrocknete magere Person vor, die wie der erste Besucher gekleidet, aber sozusagen nur sein Abglanz war, oder, wenn man will, sein Schatten. Der Rock, bei dem einen neu, war bei dem andern alt und abgebraucht. Der Haarpuder schien bei ihm weniger weiß, das Gold der Lilien weniger glänzend, die Epaulettenstege hoffnungsloser und zusammengeschrumpfter, die Intelligenz schwächer und das Leben dem verhängnisvollen Ende näher zu sein, als bei dem andern. Kurz, er schien Rivarols Wort über Champcenetz wahr zu machen: »Das ist mein Mondschein.« Er war nur eine Dublette des andern, eine matte, erbärmliche Dublette, denn es bestand zwischen ihnen der volle Unterschied wie zwischen dem ersten und dem letzten Abdruck einer Lithographie. Dieser stumme Alte war ein Geheimnis für den Maler und blieb es auch beständig. Dieser Chevalier, er war Chevalier, redete nicht, und es sprach auch niemand mit ihm. War es ein Freund, ein armer Verwandter, ein Mann, der sich neben dem alten Galan wie ein Gesellschaftsfräulein neben einer alten Dame hielt? War er ein Mittelding zwischen einem Hunde, einem Papagei und einem Freunde? Hatte er seinem Wohltäter sein Vermögen oder auch nur das Leben gerettet? War er der »Trim« eines anderen Kapitäns Tobias? Überall erregte er, wie bei der Baronin von Rouville, Neugier, die niemals befriedigt wurde. Wer konnte sich unter der Restauration an das Verhältnis erinnern, das vor der Revolution den Chevalier mit der Frau seines Freundes, die vor zwanzig Jahren verstorben war, verbunden hatte?

Die Persönlichkeit, die von diesen beiden Trümmern vergangener Zeit als die noch neuere erschien, näherte sich galant der Baronin von Rouville, küßte ihr die Hand und nahm neben ihr Platz. Der andere verbeugte sich und stellte sich neben sein Vorbild, zwei Stühle von ihm entfernt. Adelaide lehnte sich mit den Ellbogen auf die Rücklehne des Sessels, in dem der alte Edelmann saß, wobei sie unbewußt die Haltung annahm, die Guérin auf seinem berühmten Bilde Didos Schwester gegeben hat. Obgleich die Vertraulichkeiten des Edelmanns wie die eines Vaters waren, schienen die Freiheiten, die er sich erlaubte, dem jungen Mädchen in diesem Moment unangenehm zu sein.

»Nun, schmollst du mit mir?« sagte er. Dann warf er auf Schinner einen anzüglichen Blick voll Schlauheit und Listigkeit, einen Diplomatenblick, der die ängstliche Vorsicht und höfliche Neugier wohlerzogener Leute verriet, die beim Anblick eines Unbekannten zu fragen scheinen: »Gehört er in unsern Kreis?«

»Sie sehen hier unsern Nachbarn,« sagte die alte Dame und wies auf Hippolyte, »der Herr ist ein berühmter Maler, dessen Name Ihnen bekannt sein muß, wie wenig Sie sich auch um die Künste kümmern.«

Der Edelmann merkte die boshafte Anspielung seiner alten Freundin, die absichtlich keinen Namen genannt hatte, und verbeugte sich vor dem jungen Manne.

»Ich habe sicherlich von seinen Bildern auf der letzten Ausstellung viel reden hören«, sagte er. »Das Talent genießt große Vorrechte«, fügte er hinzu, während er auf das rote Band des Künstlers blickte. »Diese Auszeichnung, die wir uns mit unserm Blut und nach langem Dienst verdienen mußten, Sie erhalten sie schon als junger Mann; aber alle solche Auszeichnungen muß man als gleichberechtigt ansehen«, schloß er, indem er die Hand an sein Sankt Ludwigskreuz legte.

Hippolyte stammelte einige Worte des Dankes und verfiel wieder in Schweigen, indem er sich damit begnügte, mit wachsender Begeisterung den schönen Kopf des jungen Mädchens, das ihn entzückte, zu betrachten. In diese Betrachtung versank er bald so sehr, daß er die elende Behausung ganz vergaß. Adelaides Antlitz hob sich für ihn wie vor einem Hintergrunde voller Glanz ab. Er antwortete nur kurz auf an ihn gestellte Fragen, die er glücklicherweise verstand, dank der merkwürdigen Elastizität unseres Geistes, dessen Aufnahmefähigkeit sich zuweilen gewissermaßen zu verdoppeln vermag. Wem ist es nicht schon passiert, daß er, in Nachdenken über Freudiges oder Trauriges versunken, auf die Stimme seines Inneren gehört und sich dabei doch an einer Unterhaltung beteiligt oder eine Lektüre fortgesetzt hat? Ein wunderbarer Dualismus, der uns oft hilft, die Gesellschaft langweiliger Leute geduldig zu ertragen! Verheißungsvoll lächelnd trug ihm die Hoffnung tausend Gedanken glückversprechender Erwartungen zu, und er mochte auf nichts anderes, was ihn umgab, mehr achten. Und wie einem vertrauensvollen Kinde schien es ihm verächtlich, über sein Glücksgefühl nachzudenken. Nachdem eine gewisse Zeit so vergangen war, bemerkte er, daß die alte Dame und ihre Tochter mit dem alten Edelmanne Karten spielten. Sein Trabant, seiner Rolle als Schatten getreu, hielt sich aufrecht hinter seinem Freunde, dessen Spiel er verfolgte, und antwortete auf die stummen Fragen, die der Spieler an ihn richtete, nur mit leichten zustimmenden Grimassen, die die fragenden Bewegungen des andern Gesichts nachmachten.

»Du Halga, ich verliere immer«, sagte der Edelmann.

»Sie legen schlecht heraus«, erwiderte die Baronin von Rouville.

»Seit drei Monaten habe ich keine einzige Partie gewinnen können«, begann er wieder.

»Haben Sie Asse, Herr Graf?« fragte die alte Dame.

»Ja, ich habe sie schon angesagt«, erwiderte er.

»Wollen Sie, daß ich Ihnen helfe?« sagte Adelaide.

»Nein, nein, bleib nur mir gegenüber. Heiliges Kreuz! Das wäre ein zu großer Verlust, wenn ich auch noch dich nicht vor mir sehen sollte.«

Endlich war die Partie zu Ende. Der Edelmann zog seine Börse, warf zwei Louisdor auf den, Tisch und sagte ein wenig ärgerlich »Vierzig Franken, vollwichtiges Gold. Aber, Donnerwetter, es ist ja elf Uhr.«

»Es ist elf Uhr«, wiederholte die stumme Person und sah den Maler an.

Da dem jungen Mann diese Worte etwas deutlicher ins Ohr klangen, als die sonst gesprochenen, so merkte er, daß es Zeit war, sich zurückzuziehen. Indem er so wieder in die Welt des Alltäglichen sich zurückfand, äußerte er einige Gemeinplätze, empfahl sich bei der Baronin, ihrer Tochter und den beiden Unbekannten und entfernte sich, ganz durchdrungen von dem ersten Glücksgefühl echter Liebe und ohne den kleinen Vorfällen dieses Abends weiter nachzusinnen.

Am andern Morgen empfand der junge Maler das heißeste Verlangen, Adelaide wiederzusehen. Wäre er seiner Sehnsucht gefolgt, so hätte er seine Nachbarinnen schon um sechs Uhr früh, als er in seinem Atelier anlangte, aufgesucht. Er hörte aber doch noch soweit auf seine Vernunft, daß er damit bis zum Nachmittag wartete. Sobald er aber meinte, bei Frau von Rouville vorsprechen zu dürfen, ging er hinunter und klingelte, nicht ohne starkes Herzklopfen; und während er wie ein junges Mädchen errötete, bat er Fräulein Leseigneur, die ihm öffnete, um das Porträt des Barons von Rouville.

»Aber kommen Sie doch herein«, sagte Adelaide, die ihn jedenfalls aus seinem Atelier herunterkommen gehört hatte.

Der Maler folgte ihr schüchtern, verwirrt und ohne zu wissen, was er sagen sollte, so sehr hatte ihn sein Glücksgefühl überwältigt. Adelaide zu sehen und das Rauschen ihres Kleides zu hören, nachdem er sich den ganzen Vormittag gesehnt hatte, bei ihr sein zu dürfen, nachdem er hundertmal aufgesprungen war und sich gesagt hatte: »Ich gehe hinunter« und doch nicht gegangen war, das bedeutete für ihn ein so reiches Hinströmen von Leben, daß er, wenn solche Erregungen allzulange gedauert hätten, geistig Schaden genommen hätte. Das Herz besitzt die eigenartige Fähigkeit, auch den unbedeutendsten Dingen den größten Wert beizulegen. Welche Freude empfindet nicht ein Reisender, dem es gelingt, einen Grashalm, eine unbekannte Pflanze zu pflücken, wenn er auf der Suche danach sein Leben gewagt hat! So steht es auch mit diesen Nichtigkeiten bei der Liebe. Die alte Dame befand sich nicht im Salon. Da das junge Mädchen mit dem Maler allein war, so holte sie einen Stuhl, um das Porträt herunterzunehmen; weil sie aber sah, daß sie es nicht losmachen konnte, ohne auf die Kommode zu steigen, so wandte sie sich an Hippolyte und sagte errötend: »Ich bin nicht groß genug. Wollen Sie es nicht herabnehmen?«

Ein Gefühl der Scham, das im Ausdruck ihres Gesichts und im Klange ihrer Stimme deutlich wurde, war der wahre Grund für ihre Frage, und der junge Mann, der sie wohl verstand, warf ihr einen verständnisvollen Blick zu, in dem sich die zärtlichste Liebe aussprach. Adelaide, die empfand, daß er sie verstanden hatte, schlug die Augen mit einer stolzen Bewegung nieder, die ein Geheimnis jungfräulicher Wesen ist. Da er nichts zu sagen wußte und fast ganz verschüchtert war, nahm der Maler das Bild, prüfte es, ans Fenster tretend, eingehend und entfernte sich, ohne daß er Fräulein Leseigneur etwas anderes zu sagen vermochte, als: »Ich werde es Ihnen bald wiederbringen.« Während dieses flüchtigen Moments empfanden beide die tiefe Erregung, deren Eindruck auf die Seele sich mit der Wirkung eines in einen See geworfenen Steines vergleichen läßt. Die süßesten Empfindungen entstehen und folgen unmerklich aufeinander, vervielfacht, ohne Ziel, und bewegen das Herz, wie die kreisrunde Bewegung, die von dem Punkte, wo der Stein hinabgesunken ist, ausgeht, lange Zeit die Welle schwanken macht. Bewaffnet mit dem Porträt kehrte Hippolyte in sein Atelier zurück. Auf der Staffelei war schon eine Leinwand zurechtgestellt, die Farben auf der Palette gemischt, die Pinsel gereinigt, der Platz und das Licht gewählt. So arbeitete er bis zur Dinerstunde an dem Porträt mit dem Eifer, den die Künstler ihren Liebhabereien zuwenden. An demselben Abend erschien er wieder bei der Baronin von Rouville und blieb von neun bis elf Uhr. Abgesehen von verschiedenen Gegenständen der Unterhaltung, glich dieser Abend ganz genau dem vorhergegangenen. Die beiden alten Herren erschienen zur gleichen Stunde, dieselbe Partie Pikett wurde gespielt, dieselben Redensarten beim Spiel gewechselt, und die von Adelaides Freund verlorene Summe war ebenso beträchtlich, wie die am Abend vorher; nur Hippolyte, ein wenig kühner geworden, wagte es, sich mit dem jungen Mädchen zu unterhalten.

So verflossen acht Tage, während deren die Empfindungen des Malers und Adelaides alle die köstlichen, langsam sich entwickelnden Veränderungen erfuhren, die die Gemüter zu vollem Einverständnis zusammenführen. Und so wurde von Tag zu Tag Adelaides Blick, mit dem sie ihren Freund empfing, herzlicher, vertrauensvoller, heiterer und freier, ihre Stimme und ihr Wesen anschmiegsamer und vertraulicher. Schinner wollte das Pikettspiel lernen. Als unwissender Neuling machte er natürlich Fehler über Fehler und verlor, wie der alte Herr, fast alle Partien. Ohne sich ihre Liebe gestanden zu haben, wußten die beiden Liebenden doch, daß sie einander gehörten. Beide lachten, plauderten, teilten sich ihre Gedanken mit und redeten von sich selbst mit der Naivetät zweier Kinder, die im Verlaufe eines Tages so bekannt miteinander geworden sind, als ob sie sich schon seit drei Jahren gesehen hätten. Hippolyte gefiel sich darin, seine Macht gegenüber seiner furchtsamen Geliebten geltend zu machen. Adelaide gab ihm meistens nach und litt, schüchtern und hingebend, wie sie war, unter dem gemachten Schmollen, das auch der ungeschickteste Liebhaber und das naivste junge Mädchen zu gebrauchen verstehen, und dessen sie sich fortdauernd bedienen, wie verwöhnte Kinder die Vorrechte, die ihnen die mütterliche Liebe zugesteht, mißbrauchen. So hatten auch alle Vertraulichkeiten zwischen dem alten Grafen und Adelaide aufgehört. Das junge Mädchen verstand die trübe Stimmung des Malers und die Gedanken, die sich hinter den Falten seiner Stirn und hinter dem scharfen Ton der wenigen Worte, die er sprach, verbargen, sobald der alte Herr Adelaide die Hand oder den Hals küßte. Ihrerseits verlangte Fräulein Leseigneur bald genaue Rechenschaft über alles, was er tat: sie war sehr unglücklich und besorgt, wenn Hippolyte nicht erschien; sie verstand es so gut, ihm wegen seiner Abwesenheit Vorwürfe zu machen, daß der Maler bald darauf verzichten mußte, seine Freunde zu sehen und Gesellschaften zu besuchen. Adelaide ließ sich die den Frauen angeborene Eifersucht deutlich anmerken, wenn sie hörte, daß der Maler manchmal, wenn er Frau von Rouville verlassen hatte, noch um elf Uhr Besuche machte und in den glänzendsten Salons von Paris erschien. Nach ihrer Meinung war solch eine Lebensweise ungesund; und mit der tiefen inneren Überzeugung, der der Ton, die Geste und der Blick einer geliebten Person so viel Kraft verleiht, behauptete sie, daß ein Mann, der gleichzeitig mehreren Frauen seine Zeit und den Reichtum seines Geistes opfern müsse, nie der Gegenstand einer wahrhaft warmen Zuneigung sein könne. Und so wurde der Maler ebensosehr durch den despotischen Zwang seiner Leidenschaft wie durch das Verlangen eines liebenden jungen Mädchens dahin gebracht, sein Leben nur noch in der kleinen Wohnung zu verbringen, wo ihm alles gefiel. Nie war eine Liebe reiner und heißer. Und auf beiden Seiten ließ das gleiche Vertrauen, das gleiche zarte Empfinden die Leidenschaft noch größer werden, ohne daß Opfer gebracht zu werden brauchten, durch die viele glauben, dem andern ihre Liebe beweisen zu müssen. Der ständige Austausch ihrer zärtlichen Empfindungen war so gleichmäßig, daß sie nicht wußten, wer von beiden mehr gab und wer mehr empfing. Ungewollt wurden sie zu einander so hingezogen, daß ihre Seelen sich immer enger zusammenschlossen, und das Fortschreiten hierin war so schnell vor sich gegangen, daß zwei Monate nach dem Unfall, dem der Maler die Bekanntschaft mit Adelaide zu verdanken hatte, ihrer beider Leben eins geworden war. Wenn das junge Mädchen frühmorgens seinen Schritt hörte, konnte sie sich sagen: »Er ist da!« Wenn Hippolyte zur Essensstunde sich zu seiner Mutter begab, verfehlte er niemals, seine Nachbarinnen zu begrüßen; und am Abend eilte er zur gewohnten Stunde mit der Pünktlichkeit des Liebenden herbei. Auch die in der Liebe tyrannischste und anspruchsvollste Frau hätte dem jungen Maler nicht den leisesten Vorwurf machen können. Adelaide empfand daher ein ungetrübtes grenzenloses Glück und sah das Ideal, von dem man in ihrem Alter zu träumen pflegt, uneingeschränkt verwirklicht. Der alte Edelmann ließ sich jetzt seltener sehen, und der eifersüchtige Hippolyte war an seine Stelle am Spieltische getreten, auch darin, daß er beständig Unglück im Spiel hatte. Dabei quälte ihn, mitten in seinem Glück, im Hinblick auf die traurige Lage der Frau von Rouville, von der er mehr als einen Beweis erfahren hatte, ein lästiger Gedanke. Mehrmals schon hatte er sich, wenn er nach Hause ging, gefragt: »Wie ist das möglich? An jedem Abend zwanzig Franken!« Aber er wagte es nicht, einem häßlichen Verdacht nachzuhängen. Zwei Monate verwandte er auf die Fertigstellung des Porträts, und als es vollendet, gefirnißt und gerahmt war, da hielt er es für eins seiner besten Werke. Die Baronin von Rouville hatte niemals wieder mit ihm davon gesprochen. War das Gleichgültigkeit oder Stolz? Der Maler wollte sich über dieses Schweigen keine Gedanken machen. Er hatte mit Adelaide freudig ein Komplott geschlossen, daß sie das Porträt während der Abwesenheit der Frau von Rouville aufhängen wollten. Eines Tages, als die Mutter ihren gewöhnlichen Spaziergang im Tuileriengarten machte, begab sich daher Adelaide zum erstenmal allein in Hippolytes Atelier hinauf, unter dem Vorwande, das Porträt in dem günstigen Lichte, bei dem es gemalt worden war, sehen zu wollen. Stumm und unbeweglich blieb sie davor stehen, in entzückte Betrachtung versunken, in der alle ihre weiblichen Empfindungen sich auflösten. Flossen sie nicht alle zusammen in der Bewunderung des geliebten Mannes? Als der Maler, beunruhigt durch dieses Schweigen, sich vorbeugte und das junge Mädchen ansah, reichte sie ihm die Hand, ohne ein Wort hervorbringen zu können; nur zwei Tränen lösten sich von ihren Augen; Hippolyte ergriff die Hand, bedeckte sie mit Küssen, und einen Augenblick lang sahen sie einander stillschweigend an; alle beide wollten sich ihre Liebe gestehen, aber sie wagten es nicht. Der Maler behielt Adelaides Hand in der seinen, und die gleiche Glut und die gleiche Erregung verriet ihnen, daß ihre Herzen gleich stark pochten. In tiefster Bewegung machte sich das junge Mädchen sanft von Hippolytes Hand los und mit einem Blick voll Unschuld sagte sie: »Sie werden meine Mutter sehr glücklich machen.«

»Nur Ihre Mutter?« fragte er.

»Ach, ich, ich bin es ja schon allzusehr.«

Der Maler senkte das Haupt, überrascht von der Gewalt der Gefühle, die der Ton dieser Worte in seinem Herzen aufrührte. Da sie beide das Gefährliche dieser Situation erkannten, so gingen sie hinunter und hängten das Porträt an seinem alten Platze auf. Hippolyte speiste zum erstenmal bei der Baronin, die, zu Tränen gerührt, ihn umarmen wollte. Am Abend machte der alte Emigrant, ein alter Kamerad des Barons von Rouville, seinen beiden Freundinnen einen Besuch, um ihnen mitzuteilen, daß er eben zum Vizeadmiral ernannt worden war. Seine Schiffsreisen zu Lande durch Deutschland und Rußland waren ihm als Feldzüge zur See angerechnet worden. Als er das Porträt betrachtet hatte, drückte er dem Maler herzlich die Hand und rief aus: »Wahrhaftig, wenn auch mein altes Gerippe nicht wert ist, verewigt zu werden, so würde ich doch gern fünfhundert Pistolen bezahlen, um mich ebensogut getroffen zu sehen wie meinen alten Rouville.«

Bei diesem Vorschlag sah die Baronin ihren Freund an und lächelte ihm zu, während sich zugleich auf ihrem Gesichte alle Zeichen der Dankbarkeit malten. Hippolyte glaubte zu merken, daß der alte Admiral mit dem Preise für sein Porträt ihm beide Bilder bezahlen wollte. Sein Künstlerstolz, vielleicht auch seine Eifersucht fühlten sich bei diesem Gedanken verletzt, und er erwiderte: »Herr Graf, wenn ich Porträtmaler wäre, hätte ich dieses Bild nicht gemalt.«

Der Admiral biß sich auf die Lippen und setzte sich zum Spiel nieder. Der Maler nahm neben Adelaide Platz, die ihm eine Pikettpartie vorschlug, worauf er einging. Während er spielte, beobachtete er bei der Frau von Rouville eine Spielwut, die ihn in Erstaunen setzte. Noch niemals hatte die alte Baronin einen so brennenden Wunsch, zu gewinnen, deutlich werden lassen, noch nie eine so lebhafte Freude bezeigt, wenn sie die Goldstücke des Edelmanns in der Hand fühlte. Ein böser Verdacht begann während des Abends Hippolytes Glück zu trüben und machte ihn mißtrauisch. Lebte Frau von Rouville vom Spiel? Spielte sie jetzt so, um eine Schuld zu begleichen, oder von der Not getrieben? Vielleicht hatte sie ihre Miete nicht bezahlen können. Dieser alte Herr schien doch klug genug zu sein, um sich nicht ungestraft sein Geld wegnehmen zu lassen. Welches Interesse zog ihn, den reichen Mann, in dieses arme Haus? Warum benahm er sich früher so vertraulich gegen Adelaide, und warum hatte er plötzlich auf diese Freiheiten verzichtet, auf die er vielleicht ein Recht hatte, und die man ihm gewähren mußte? Solche Gedanken trieben ihn unwillkürlich dazu, mit erneuter Aufmerksamkeit den Alten und die Baronin zu beobachten, deren Zeichen des Einverständnisses und deren anzügliche, auf Adelaide und ihn geworfenen Blicke ihm mißfielen. »Sollte man mich betrügen wollen?« Das war der letzte, fürchterliche, vernichtende Gedanke Hippolytes, dem er gerade genug Glauben schenkte, um davon gepeinigt zu werden. Er wollte noch, nachdem die beiden alten Herren gegangen waren, bleiben, um seinen Verdacht zu bekräftigen oder zu zerstreuen. Er hatte seine Börse gezogen, um Adelaide seine Schuld zu bezahlen; aber in seine bohrenden Gedanken versunken, legte er die Börse auf den Tisch und verfiel in eine kurze Träumerei; darauf erhob er sich, ärgerlich über sein Stillschweigen, beantwortete eine gleichgültige Frage der Frau von Rouville und näherte sich ihr, um, während er sprach, ihr altes Gesicht schärfer zu prüfen. Dann entfernte er sich, tausendfachen Ungewißheiten ausgeliefert. Als er einige Stufen hinabgegangen war, drehte er wieder um und kehrte zurück, um seine Börse zu holen, die er vergessen hatte.

»Habe ich meine Börse hier liegen lassen?« sagte er zu dem jungen Mädchen.

»Nein«, antwortete sie und wurde rot.

»Ich glaubte, ich hätte sie dort hingelegt«, fuhr er fort und zeigte auf den Spieltisch. Er schämte sich für Adelaide und die Baronin, daß er sie nicht mehr dort sah, blickte sie mit so fassungsloser Miene an, daß sie lachten, erblaßte und sagte, indem er seine Weste befühlte: »Ich habe mich geirrt, ich werde sie gewiß bei mir haben.«

In der einen Hälfte der Börse befanden sich fünfzehn Louisdors, in der andern einiges Kleingeld. Der Diebstahl war so handgreiflich und mit so kecker Stirn abgeleugnet, daß Hippolyte keine Zweifel mehr über die Moral seiner Nachbarinnen hatte; er blieb auf der Treppe stehen und konnte nur mit Mühe weiter gehen: seine Beine zitterten, es schwindelte ihm, kalter Schweiß brach ihm aus, und er konnte kaum vorwärts, in bitterster Aufregung über das Zusammenbrechen aller seiner Hoffnungen. Jetzt tauchten in seiner Erinnerung eine Menge scheinbar unerheblicher Beobachtungen auf, die nun aber seinen schrecklichen Verdacht bestärkten und die, indem sie die Wahrheit des zuletzt Geschehenen bewiesen, ihm die Augen über den Charakter und das Leben der beiden Frauen öffneten. Hatten sie etwa erst die Übergabe des Porträts abgewartet, um ihm dann seine Börse zu stehlen? So überlegt, erschien der Diebstahl noch abscheulicher. Zu seinem Unglück erinnerte sich der Maler, daß seit zwei oder drei Abenden Adelaide, während sie scheinbar mit der Neugierde eines jungen Mädchens die eigenartige Arbeit des abgenutzten Netzwerks untersucht hatte, wahrscheinlich feststellte, wieviel Geld in der Börse war, indem sie mit gespielter Unschuld darüber scherzte und nur den geeigneten Moment erspähen wollte, wo die Summe, die sie enthielt, groß genug war, um die Unterschlagung zu lohnen. ›Der alte Admiral hat wahrscheinlich genügend gute Gründe, um Adelaide nicht zu heiraten, deshalb wird die Baronin versucht haben, mich . . .‹ Bei dieser Erwägung stand er still und brachte den Gedanken nicht zu Ende, denn dieser wurde durch das sehr vernünftige Räsonnement widerlegt: »Wenn die Baronin mich mit ihrer Tochter hätte verheiraten wollen, dann würden sie mich doch nicht bestohlen haben.« Dann suchte er, um nicht auf jede Illusion über seine schon so stark erschütterte Liebe verzichten zu müssen, nach einer Rechtfertigung durch irgendeinen Zufall. »Die Börse wird auf die Erde gefallen sein,« sagte er sich, »sie wird auf meinem Stuhl liegen geblieben sein. Oder vielleicht habe ich sie bei mir, ich bin ja so zerstreut!« Eiligst durchsuchte er alle Taschen, aber die verdammte Börse wollte sich nicht finden. Seine Erinnerung zeigte ihm mit grausamer Schärfe die fatale Wahrheit. Deutlich sah er die Börse auf dem Tische liegen; und da er nun nicht länger an dem Diebstahl zweifeln konnte, so versuchte er, Adelaide zu entschuldigen, indem er sich sagte, daß man über unglückliche Menschen nicht so schnell den Stab brechen dürfe. Sicherlich müsse hinter dieser anscheinend so niedrigen Tat irgendein Geheimnis stecken. Er wollte nicht zugeben, daß dieses stolze, edle Antlitz lügen könne. Trotzdem erschien ihm jetzt die elende Wohnung von dem poetischen Zauber der Liebe, der alles verschönert, entblößt: er sah sie vor sich, schmutzig und abgenutzt, und sie erschien ihm als das Sinnbild eines häuslichen Lebens, das ohne jede Vornehmheit, untätig und lasterhaft war. Drückt sich unser Empfinden nicht gewissermaßen den Dingen auf, die uns umgeben? Am nächsten Morgen erhob er sich, ohne ein Auge geschlossen zu haben. Sein Seelenschmerz, dieses schwere geistige Leiden, hatte furchtbare Fortschritte gemacht. Ein erträumtes Glück verlieren, auf alle Zukunftshoffnungen verzichten müssen, darunter leidet man schwerer als unter dem Zurückdenken an ein zerstörtes Glück, wie vollkommen es auch gewesen sein mag: denn bedeutet die Hoffnung nicht mehr als die Erinnerung? Das Nachdenken, in das unsre Seele plötzlich versinkt, ist dann wie ein uferloses Meer, in dem wir wohl eine Weile schwimmen können, in dem aber unsere Liebe untergeht und ertrinkt. Und das ist ein furchtbarer Tod. Sind diese Empfindungen nicht der köstlichste Teil unseres Lebens? Ihre Vernichtung führt bei manchen zarten wie bei manchen starken Naturen zu einer furchtbaren Zerstörung, die auf Enttäuschungen und betrogenen Hoffnungen und Liebesleidenschaften beruht. So ging es auch dem jungen Maler. Er eilte frühmorgens fort, um in dem erfrischenden Schatten der Bäume des Tuileriengartens herumzuwandeln, tief in Gedanken versunken und alles um sich her vergessend. Da begegnete ihm zufällig einer seiner intimsten Freunde, ein Kamerad von der Schule und dem Kunstunterricht her, mit dem er näher als mit einem Bruder verbunden war.

»Nun, Hippolyte, was ist dir denn?« sagte Franz Souchet, ein junger Bildhauer, der eben den Grand Prix davongetragen hatte und in Kürze nach Italien gehen sollte.

»Ich bin sehr unglücklich«, antwortete Hippolyte traurig.

»Dann kann es nur eine Herzenssache sein, die dir Kummer macht. Denn Geld, Ruhm, Ansehen, alles das hast du.«

Unmerklich begann der Maler sein Herz auszuschütten und erzählte von seiner Liebe. Sobald er die Rue de Suresne erwähnte und die junge Person, die dort im vierten Stock wohnte, rief Souchet lachend aus: »Halt, das ist ja die Kleine, die ich jeden Morgen in der Kirche de l'Assomption sehe und der ich den Hof mache. Aber die kennen wir ja alle, mein Lieber. Ihre Mutter soll eine Baronin sein? Und du glaubst an Baroninnen, die im vierten Stock wohnen? Brrr! Du lebst wohl noch im goldenen Zeitalter. Alle Tage treffen wir hier in dieser Allee die alte Mutter; ihr Gesicht und ihr Aussehen sagen doch alles. Wie? Hast du denn nicht schon an der Art, wie sie ihren Beutel trägt, gemerkt, was das für eine ist?«

Die beiden Freunde gingen lange Zeit auf und ab, und mehrere junge Männer, Bekannte Souchets und Schinners, schlossen sich ihnen an. Das Abenteuer des Malers, das ihm wenig zu bedeuten schien, wurde ihnen von dem Bildhauer mitgeteilt.

»Er hat die Kleine auch gesehen!« sagte er.

Es wurden nun Bemerkungen darüber gemacht, man lachte und spottete mit der unbekümmerten zwanglosen Art der Künstler, die aber Hippolyte fürchterliche Qualen verursachte. Eine gewisse Keuschheit des Empfindens bereitete ihm Schmerz, wenn er sah, wie leichtfertig sein Herzensgeheimnis behandelt, sein leidenschaftliches Gefühl in Fetzen gerissen und über ein fremdes junges Mädchen, das ein so bescheidenes Leben zu führen schien, wahr oder falsch mit solcher Ungeniertheit abgeurteilt wurde. Er stellte sich, als ob ihn das zum Widerspruch reizte und fragte jeden Einzelnen ernsthaft, welche Beweise er für seine Behauptungen hätte; aber da begannen die Spöttereien von neuem.

»Aber, lieber Freund, hast du denn den Schal der Baronin nicht gesehen?« sagte Souchet.

»Bist du der Kleinen mal nachgegangen, wenn sie morgens in die l'Assomption trippelt?« sagte Joseph Bidau, ein junger Atelierschüler von Gros.

»Die Mutter besitzt, außer anderen Vorzügen, ein gewisses graues Kleid, das ich geradezu für typisch halte«, sagte der Karikaturzeichner Bixiou.

»Höre, Hippolyte,« begann der Bildhauer wieder, »komm doch mal gegen vier Uhr hierher und sieh dir Mutter und Tochter genau an, wenn sie vorbeigehen. Wenn du dann noch Zweifel hast, dann ist dir nicht zu helfen: dann bist du imstande, die Tochter deiner Portierfrau zu heiraten.«

Von den widersprechendsten Empfindungen durchwühlt, verließ der Maler seine Freunde. Adelaide und ihre Mutter schienen ihm über solche Anschuldigungen erhaben zu sein, und im Innersten seines Herzens verspürte er Gewissensbisse, daß er die Reinheit dieses jungen, so schönen und so schlichten Mädchens beargwöhnt hatte. Er begab sich in sein Atelier, ging an der Tür vorbei, hinter der sich Adelaide befand, und fühlte im Herzen einen Schmerz, über den keine Täuschung möglich war. Er liebte Fräulein von Rouville so leidenschaftlich, daß er sie, trotz des Diebstahls der Börse, immer noch anbetete. Seine Liebe glich der des Chevaliers des Grieux, der seine Geliebte noch verehrte und für rein halten wollte, als sie schon in dem Karren saß, der sie in das Gefängnis für liederliche Frauenzimmer brachte. ›Warum sollte meine Liebe sie nicht zur reinsten aller Frauen machen können? Warum soll ich sie dem Bösen und dem Laster überlassen, ohne ihr die rettende Freundeshand zu reichen?‹ Eine solche Aufgabe erschien ihm verlockend. Die Liebe weiß alles zu ihren Gunsten zu wenden. Nichts ist für einen jungen Mann so verführerisch wie die Aussicht, bei einer Frau die Rolle des guten Genius zu spielen. Es steckt eine gewisse Romantik in einem solchen Vorhaben, das leidenschaftliche Seelen gut kleidet. Ist das nicht die vollkommenste Hingebung in ihrer höchsten und holdesten Form? Liegt nicht eine gewisse Größe darin, daß man stark genug liebt, um auch da noch zu lieben, wo die Liebe bei andern erlischt und erstirbt? Hippolyte setzte sich in seinem Atelier hin, betrachtete sein Bild, ohne etwas daran zu machen, denn er sah die Gesichter darauf nur durch die Tränen hindurch, die seine Augen verschleierten, während er beständig den Pinsel in der Hand hielt, sich der Leinwand näherte, um einen Ton zu mildern, und doch nicht daran rührte. In dieser Stellung überraschte ihn die Nacht. Die Dunkelheit weckte ihn aus seiner Träumerei, er ging hinunter, begegnete dem alten Admiral auf der Treppe, warf ihm beim Grüßen einen traurigen Blick zu und flüchtete davon. Er hatte die Absicht gehabt, zu seinen Nachbarinnen hinein zu gehen, aber der Anblick des Beschützers Adelaides verursachte ihm ein eisiges Gefühl und ließ ihn sein Vorhaben aufgeben. Zum hundertsten Male fragte er sich, welches Interesse diesen reichen alten Mann mit achtzigtausend Franken Renten in diesen vierten Stock hinaufführen konnte, wo er jeden Abend gegen vierzig Franken verlor; und er glaubte dieses Interesse zu ahnen.

Am nächsten und an den folgenden Tagen stürzte sich Hippolyte in die Arbeit und versuchte, seine Leidenschaft durch die eifrige Beschäftigung mit seinen künstlerischen Ideen und durch das Versenken in ihre Konzeption zu bekämpfen. Aber es gelang ihm nur halb. Die Arbeit gewährte ihm Trost, aber er vermochte nicht, die Erinnerung an die vielen süßen Stunden, die er mit Adelaide verbracht hatte, auszulöschen. Eines Abends, als er sein Atelier verließ, fand er die Tür zur Wohnung der beiden Damen offen. Eine Person stand in der Fensternische. Die Tür und die Treppe lagen so, daß er nicht vorbeigehen konnte, ohne Adelaide zu sehen; er grüßte kühl und richtete einen gleichgültigen Blick auf sie; da er aber den Kummer des jungen Mädchens nach dem seinigen beurteilte, erbebte er innerlich, wenn er bedachte, welche Bitterkeit dieser Blick und diese Kühle einem liebenden Herzen verursachen mußten. Sollte er das süßeste Glück, das jemals zwei reine Seelen genossen hatten, mit der Vernachlässigung in diesen acht Tagen und der tiefsten völligen Verachtung beendigen? . . . Was für eine schreckliche Lösung! Vielleicht hatte sich die Börse doch gefunden, und vielleicht hatte Adelaide ihren Freund an jedem Abend erwartet? Dieser so einfache und so natürliche Gedanke verursachte dem Liebenden neue Gewissensbisse; er fragte sich, ob die Beweise der Zuneigung, die ihm das junge Mädchen gegeben, ob das reizende Geplauder voller Liebe, das ihn entzückt hatte, nicht wenigstens eine Untersuchung verdienten und eine Rechtfertigung wert waren. Er schämte sich, daß er eine Woche lang seinem Herzenswunsche Widerstand geleistet hatte und sah in diesem Kampfe fast ein Verbrechen; und so begab er sich noch an demselben Abende zu Frau von Rouville. All sein Verdacht, alle seine schlimmen Gedanken verflüchtigten sich, als er das blasse, abgemagerte Mädchen erblickte.

»Mein Gott, was fehlt Ihnen denn?« sagte er, nachdem er die Baronin begrüßt hatte.

Adelaide antwortete nicht, aber sie warf ihm einen Blick voll von Melancholie, einen traurigen, hoffnungslosen Blick zu, der ihm weh tat.

»Sie haben gewiß viel zu arbeiten gehabt«, sagte die alte Dame, »man sieht es Ihnen an. Wir sind wohl die Ursache für Ihre Zurückgezogenheit. Das Porträt wird Arbeiten, die wichtig für Ihren Ruf sind, verzögert haben.«

Hippolyte war glücklich, eine so gute Entschuldigung für seine Unhöflichkeit gefunden zu haben. »Jawohl,« sagte er, »ich war sehr beschäftigt, aber ich war auch leidend . . .«

Bei diesen Worten erhob Adelaide den Kopf, sah den Geliebten an, und in ihrem beunruhigten Blicke war kein Vorwurf mehr zu lesen.

»Haben Sie denn angenommen, daß das, was Sie Gutes oder Böses erleben, uns ganz gleichgültig ist?« sagte die alte Dame.

»Es war nicht recht von mir. Immerhin gibt es Kummer, den man niemandem, wer es auch sei, anvertrauen kann, selbst einer weniger jungen Freundschaft, als die ist, mit der Sie mich beehren . . .«

»Echte und warme Freundschaft sollte man nicht nach der Zeit bemessen. Ich habe gesehen, daß alte Freunde im Unglück nicht eine Träne für den andern übrig hatten«, sagte die Baronin kopfschüttelnd.

»Aber was fehlt Ihnen denn?« fragte der junge Mann Adelaide.

»Ach, nichts«, antwortete die Baronin. »Adelaide ist mehrere Nächte aufgeblieben, um eine wirkliche Arbeit fertig zu machen, und hat nicht auf mich hören wollen, wenn ich ihr sagte, daß es dabei auf einen Tag mehr oder weniger nicht ankäme . . .«

Hippolyte hörte nicht, was sie sagte. Wenn er diese beiden vornehmen, ruhigen Gesichter ansah, dann schämte er sich seines Verdachtes und schrieb den Verlust der Börse irgendeinem unbekannten Zufall zu. Es wurde für ihn und vielleicht auch für sie ein köstlicher Abend. Es gibt Geheimnisse, die junge Seelen so gut zu durchschauen vermögen. Adelaide ahnte Hippolytes Gedanken. Ohne sein Unrecht eingestehen zu wollen, erkannte der Maler es doch an und wandte sich seiner Geliebten wieder mit heißerer, leidenschaftlicherer Liebe zu, indem er dadurch stillschweigende Verzeihung zu erlangen versuchte. Und Adelaide genoß nie ein so vollkommenes, so süßes Glück, daß es ihr mit dem Kummer, der sie so grausam gepeinigt hatte, nicht zu teuer bezahlt erschien. Aber die vollkommene Übereinstimmung ihrer Seelen, dieser geheimnisvolle Einklang, wurde durch ein Wort der Baronin von Rouville wieder erschüttert.

»Wollen wir nicht unsere kleine Partie machen?« sagte sie, »mein alter Kergarouet läßt mich im Stiche.«

Dieser Satz ließ alle Befürchtungen des jungen Malers wieder wach werden, der errötete und Adelaides Mutter scharf ansah; aber er konnte auf ihrem Gesicht nur den Ausdruck des Wohlwollens ohne jede Falschheit erkennen: kein Hintergedanke störte den harmonischen Reiz, und die Klugheit hatte nichts von Listigkeit; das Spöttische war harmlos, und keine Gewissensbisse trübten die Ruhe der Züge. Er setzte sich nun an den Spieltisch. Adelaide wollte sich an seinem Spiel beteiligen, indem sie behauptete, er verstände das Pikettspiel noch nicht und brauche die Hilfe eines Partners. Während des Spiels machten sich Frau von Rouville und ihre Tochter Zeichen des Einverständnisses, die Hippolyte um so mehr beunruhigten, als er gewann; aber zum Schluß machte ein letzter Umschwung die beiden Liebenden zu Schuldnern der Baronin. Als der Maler nach Geld in seiner Tasche suchen wollte und die Hände vom Tische nahm, sah er plötzlich vor sich eine Börse liegen, die Adelaide, ohne daß er es gemerkt, hingeschoben hatte; in der Hand hielt das arme Kind die alte Börse und tat, als ob sie darin nach Geld suche, um ihre Mutter zu bezahlen. Alles Blut strömte Hippolyte so gewaltsam zum Herzen, daß er beinahe die Besinnung verloren hätte. Die neue Börse, die die alte ersetzen sollte, und in der die fünfzehn Louisdors lagen, war aus Goldperlen hergestellt. Die Ringe, die Quasten, alles zeugte von dem guten Geschmack Adelaides, die sicher ihren Sparschatz für die Ausschmückung dieser reizenden Arbeit erschöpft hatte. Man konnte unmöglich mit mehr Zartheit ausdrücken, daß das Geschenk des Malers nur durch eine solche Bezeugung liebevollen Empfindens erwidert werden dürfte. Als Hippolyte, überwältigt von seinem Glücksgefühl, seine Augen auf Adelaide und die Baronin richtete, sah er sie vor Freude und entzückt darüber, daß ihre freundschaftliche List gelungen war, erzittern. Er kam sich kleinlich, niedrig, nichtig vor; er hätte sich zur Strafe das Herz zerreißen mögen. Tränen traten ihm in die Augen, von unwiderstehlichem Drange getrieben erhob er sich, umarmte Adelaide, preßte sie an sein Herz und raubte ihr einen Kuß; dann rief er mit dem Freimut des Künstlers, indem er die Baronin ansah, aus: »Ich erbitte mir ihre Hand von Ihnen.«

Adelaide warf dem Maler einen etwas erzürnten Blick zu, und Frau von Rouville suchte etwas erstaunt nach einer Antwort, als diese Szene durch den Ton der Klingel unterbrochen wurde. Der alte Vizeadmiral erschien, gefolgt von seinem Schatten und von Frau Schinner. Da sie die Ursache des Kummers, den ihr Sohn vergeblich vor ihr zu verbergen suchte, ahnte, hatte Hippolytes Mutter bei mehreren Freunden Erkundigungen über Adelaide eingezogen. Weil sie nun durch die Verläumdungen, die über das junge Mädchen ohne Wissen des Grafen von Kergarouet, dessen Namen sie von der Portierfrau erfahren hatte, ausgesprengt waren, in Unruhe versetzt worden war, hatte sie den Vizeadmiral aufgesucht und ihm alles mitgeteilt; in seinem Zorn hatte dieser ausgerufen, er wolle hingehen »und diesem Bettelvolk die Ohren abschneiden«. In seinem Ärger teilte der Admiral Frau Schinner das Geheimnis seiner absichtlichen Spielverluste mit; es war die einzige, von ihm ausgedachte Möglichkeit, sie zu unterstützen, die der Stolz der Baronin zuließ.

Als Frau Schinner Frau von Rouville begrüßt hatte, sah diese der Reihe nach den Grafen von Kergarouet, den Chevalier du Halga, den alten Freund der seligen Gräfin von Kergarouet, Hippolyte und Adelaide an und sagte dann mit dankbarem Herzen:

»Mir scheint, daß wir uns heute abend im Kreise der Familie befinden.«

 


 


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