Honoré de Balzac
Cäsar Birotteau
Honoré de Balzac

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Acht Tage nach dem Fest – das gewissermaßen das letzte Strohfeuer im Herde eines Heims war, in dem der Wohlstand achtzehn Jahre lang gehaust hatte – betrachtete Birotteau die draußen auf der Straße Vorübergehenden durch die Scheiben seines Ladens. Er dachte an seine jetzigen Geschäfte. Sie lasteten auf ihm schwer wie Blei. Bisher war alles in seinem Leben einfach gewesen. Er hatte fabriziert, verkauft oder gekauft und wieder verkauft. Jetzt brachten ihn die Terrainspekulationen, seine Teilhaberschaft am Hause »Anselm Popinot & Co.« und seine Wechselschuld von insgesamt hundertsechzigtausend Francs um seine Gemütsruhe. Diese hundertsechzigtausend Francs mußten entweder zum größten Mißfallen seiner Frau immer wieder prolongiert werden, oder Popinots Geschäft mußte derartig glänzend gehen, daß die Wechsel davon bezahlt werden konnten. Das Komplizierte seiner Interessen ging ihm auf die Nerven; er kam sich vor wie ein Kutscher, der mehr Zügel in den Händen hält, als er zu handhaben sich imstande fühlt. Und wie kutschierte indessen Popinot? Birotteau stand ihm gegenüber wie ein Gymnasialoberlehrer seinem Schüler: er traute ihm absolut nichts zu und bedauerte, daß er nicht immer hinter ihm stehen konnte. Der Fußtritt, den er ihm versetzt hatte, um ihn bei Vauquelin zum Mundhalten zu veranlassen, kennzeichnet die Befürchtungen, die der junge Kaufmann seinem früheren Prinzipal bereitete. Indessen hütete sich Birotteau gar wohl, sich von seiner Frau, seiner Tochter oder Anselm durchschauen zu lassen. Aber was nützte ihm das ? Es ging ihm nunmehr, wie es einem simplen Bootsführer von der Seine gehen würde, wenn ihn der Marineminister zum Kommandanten eines Linienschiffes machen möchte. Seine eigenen Gedanken bildeten eine Art Nebel vor seiner Intelligenz, die wirklicher Gedankenarbeit wenig gewachsen war, und so stand er da und suchte diesen Nebel zu durchleuchten.

Da erblickte er draußen auf der Straße ein Gesicht, gegen das er eine starke Abneigung hegte, das Gesicht seines zweiten Hauswirts, des kleinen Molineux. Das Leben ist wie ein Märchen, in dem es einen bösen Geist gibt. Es kam Birotteau seit einiger Zeit vor, als spiele Molineux diese Rolle in seinem Dasein. Während seines Festes hatte er beobachtet, daß Molineux mit haßerfüllten Teufelsaugen den Aufwand gemessen hatte. Als Birotteau diesen Menschen jetzt wiedersah, erinnerte er sich seiner Beobachtung.

»Herr Birotteau«, begann das Männchen mit seiner süßlichen Stimme, »in der Eile haben wir vergessen, unser kleines Abkommen durch Ihre Unterschrift zu bekräftigen.«

Birotteau nahm den Mietvertrag, um das Versäumte nachzuholen. Währenddem trat der Baumeister Grindot in den Laden, grüßte den Parfümhändler und ging um ihn herum wie die Katze um den heißen Brei. Schließlich sagte er ihm ins Ohr:

»Sie wissen: aller Anfang ist schwer! Sie sind zufrieden mit meiner Leistung und so würden Sie mich sehr verbinden, wenn Sie mich honorierten.«

Birotteau, der sich durch allerlei Zahlungen der Barmittel entblößt hatte, gab dem Kommis Cölestin Crevel den Auftrag, einen in drei Monaten fälligen Wechsel und eine Quittung vorzubereiten.

»Ich habe mich sehr gefreut«, bemerkte Molineux höhnisch lächelnd, »daß Sie die Wechselchen Ihres Herrn Nachbars diskontiert haben. Mein Hausmann hat mir heute morgen vermeldet, daß der Gerichtsvollzieher infolge des Verduftens von Herrn Cayron seine Wohnung versiegelt habe.«

Freilich! Sonst käme ich um meine fünftausend Francs! dachte Birotteau bei sich.

»Aber es hieß doch, sein Schirmgeschäft ginge brillant«, meinte Lourdois, der sich eingestellt hatte, um Birotteau seine Rechnung zu überreichen.

»Ein Kaufmann ist erst dann vor Unglück geschützt, wenn er sich zur Ruhe gesetzt hat!« predigte Molineux, indem er seinen Vertrag mit peinlicher Sorglichkeit: zusammenfaltete.

Der Baumeister sah dem alten Knirps mit dem Vergnügen zu, das jeder Künstler bei der Betrachtung einer Karikatur empfindet, die ihm seine Meinung über das Spießbürgertum bestätigt. »So einer handelt nun mit Regenschirmen und wird selber naß!« scherzte er.

Molineux warf dem Architekten einen feindseligen Blick zu; er verachtete ihn ebenso wie Grindot ihn verachtete. Er blieb nur noch, um eine Gelegenheit zu finden, ihm eine Malice anzuhängen. Durch sein stetes Zusammenleben mit seinen Katzen hatten sein Wesen und seine Augen etwas Katzenartiges angenommen.

In dem Augenblick traten Ragon und Pillerault ein.

»Wir haben wegen unserer Sache mit Popinot, dem Richter, gesprochen«, sagte Ragon leise zu Birotteau. »Er macht uns darauf aufmerksam, daß bei einer derartigen Sache ein notarieller oder gerichtlicher und von den Verkäufern unterschriebener Kaufvertrag nötig ist. Erst nach den Eintragungen in das Grundbuch seien wir wirklich Eigentümer und ...«

»Ah, Sie kaufen die Baustellen um die Madeleine?« fragte Lourdois. »Man redet viel davon. Da wird's Häuser zu bauen geben!«

Der Dekorationsmaler, der eigentlich um sofortige Zahlung hatte ersuchen wollen, fand es auf einmal in seinem Interesse, nicht zu drängen.

»Ich habe Ihnen meine Rechnung nur im Hinblick auf den Jahresabschluß überreicht«, erklärte er; »augenblicklich bedarf es keiner Zahlung.«

»Was fehlt dir denn?« fragte Pillerault, der bemerkt hatte, wie verdutzt Birotteau angesichts der Rechnung gewesen war, und daß er weder Ragon noch Lourdois Rede und Antwort gestanden hatte.

»Es ist nichts weiter«, erwiderte er. »Ich habe meinem Nachbar, dem Schirmhändler, ein paar Wechsel im Gesamtwert von fünftausend Francs diskontiert. Er hat Pleite gemacht. Wenn auf den Papieren keine guten Aussteller ständen, hätte ich das Nachsehen und wäre der Dumme.«

»Das ist eine alte Geschichte!« meinte Ragon. »Wenn einem das Wasser überm Kopf zusammenschlägt, hängt man sich an das Bein seines eigenen Vaters und ersäuft mit ihm zusammen. Das habe ich bei so manchem Geschäftszusammenbruch beobachtet. Die Not macht die anständigsten Menschen zu Schelmen.«

»Ja, ja. So ist's!« bemerkte Pillerault.

»Wenn ich jemals Abgeordneter würde oder einigen Einfluß bei der Regierung bekommen sollte«, sagte Birotteau, indem er sich auf die Fußspitzen wippte und auf die Fersen zurückfallen ließ, »so ...«

»Na, was würden Sie dann tun ?« fragte Lourdois. »Sie sind doch ein halber Gelehrter!«

Molineux, den jede Erörterung von juristischen Dingen interessierte, trat näher an Birotteau heran, indem er sich auf den Ladentisch lehnte. Pillerault und Ragon kannten zwar Cäsars Ansichten, hörten aber gleichwohl wie auf etwas Neues aufmerksam auf das, was er sagte.

»Es müßte ein ständiges Gericht geben«, dozierte er, »das die in Konkurs Geratenen öffentlich aburteilte. Nach eingehender Untersuchung durch Berufsrichter müßte der Verbrecher entweder für rehabilitierbar zahlungsunfähig oder für einen Bankerotteur erklärt werden. Im ersten Falle müßte er verpflichtet sein, alle seine Schulden zu bezahlen. Er wäre nichts als der Verwalter seines Vermögens und desjenigen seiner Frau. Seine Ansprüche, seine Erbschaften, alles gehörte seinen Gläubigern. Er müßte für ihre Rechnung und unter ihrer Aufsicht arbeiten. Kurz, er müßte sein Geschäft fortführen, jedoch bis zur völligen Befriedigung seiner Gläubiger zeichnen: ›N. N., in Konkurs‹. Im andern Falle, als Bankerotteur, müßte er dazu verurteilt werden, zwei Stunden, wie in der guten alten Zeit, die grüne Mütze auf dem Kopfe, im Börsensaal am Pranger zu stehen. Sein Vermögen sowie das seiner Frau und alle seine Ansprüche müßten seinen Gläubigem zufallen und er selbst müßte aus Frankreich verbannt werden.«

»Gewiß würde dann die Geschäftswelt solider«, meinte Lourdois; »aber man würde allzu vorsichtig werden und den Unternehmungsgeist verlieren.«

»Die heutigen Gesetze bekümmern niemanden«, fuhr Birotteau eifrig fort. »Unter hundert Kaufleuten sind mehr als fünfzig, deren Geschäfte nur auf fünfundsiebzig Prozent stehen und die ihre Waren fünfundzwanzig Prozent unter dem Inventurwerte verkaufen. Damit ruinieren sie den Handel.«

»Herr Birotteau hat vollkommen recht«, bemerkte Molineux. »Das heutige Gesetz ist zu mild. Bankerotteure müßten die bürgerlichen Ehrenrechte verlieren.«

»Unter Umständen«, sprach Birotteau weiter, »ist ein Kaufmann ein privilegierter Dieb. Mit seiner Wechselunterschrift kann er in jede Kasse langen.«

»Sie sind etwas streng, Herr Birotteau!« äußerte Lourdois.

»Er hat aber recht«, meinte der alte Ragon.

»Wer Pleite macht, ist immer ein verdächtiges Individuum!« rief Cäsar, über den erlittenen kleinen Verlust aufgebracht, dessen Nachricht ihm ins Ohr hallte, wie der erste Halali-Ruf einem gejagten Hirsch.

In dem Moment brachte der Markthelfer Chevets, des Traiteurs, die Rechnung; kurz darauf wurden weitere überreicht durch einen Kellner aus dem Café Foy und den Klarinettisten des Kapellmeisters Collinet.

»Die Viertelstunde des Rabelais!« scherzte Ragon.

»Der Ball war aber auch großartig!« meinte Lourdois.

»Ich habe augenblicklich keine Zeit!« gab Cäsar den Überbringern Bescheid, die ihre Rechnungen zurückließen.

Als Lourdois sah, daß der Baumeister einen von Birotteau unterschriebenen Wechsel zusammenfaltete, sagte er zu ihm:

»Herr Grindot, prüfen Sie bitte, meine Rechnung und unterschreiben Sie sie! Da Sie alle Posten in Herrn Birotteaus Namen mit mir akkordiert haben, braucht sie bloß noch für richtig erklärt zu werden.«

Pillerault sah die beiden an.

»Preise zwischen Baumeister und Unternehmer ausgemacht!« flüsterte er Birotteau zu. »Mensch, du bist übers Ohr gehauen worden!«

Grindot entfernte sich. Molineux folgte ihm und rief ihm in geheimnisvollem Tone zu:

»Herr Grindot, Sie haben mich gehört, aber nicht verstanden. Kaufen Sie sich ja einen Regenschirm!«

Grindot wurde ängstlich. Er hatte die Wohnung mit Liebe zur Sache umgebaut und eingerichtet; er hatte ihr viel Zeit und seine ganze Kraft gewidmet und sich für mehr als zehntausend Francs Mühe dabei gegeben. Er hatte seinen Stolz in die Sache gesetzt; aber die ausführenden Handwerker hatten ihn verführt. Auf ihre Drohungen hin, ihm durch Verleumdungen schaden zu wollen, hatte er mit ihnen paktiert. Weniger Eindruck machte die von Lourdois hingeworfene Bemerkung über die Bauspekulation an der Madeleine. In der Tat hegte Birotteau gar nicht die Absicht, daselbst auch nur ein einziges Haus zu bauen; er spekulierte einzig und allein auf das Steigen des Werts von Grund und Boden. Die Baumeister stehen sich zu den Handwerkern wie die Bühnendichter zu den Theaterdirektoren; sie hängen voneinander ab. Von Birotteau bevollmächtigt, die Preise auszumachen, hatte Grindot zu den Leuten seines Metiers gegen den Laien gehalten. Deshalb erklärten ihn auch Lourdois und seine Genossen für einen guten Kerl, mit dem sich famos arbeiten lasse. Jetzt ahnte der Baumeister, daß die Rechnungen, von deren Beträgen er Provision, erhalten sollte, auch nur mit Wechseln bezahlt werden würden. Molineux hatte ihm hinsichtlich ihrer Einlösung einen Floh ins Ohr gesetzt. Die Folge war: Grindot – grausam wie alle Künstler, wenn sie Spießbürgern gegenüberstehen – faßte den Entschluß, unerbittlich zu sein.

Gegen Ende Dezember hatten sich bei Birotteau für sechzigtausend Francs unbezahlte Rechnungen angesammelt. Mehrere der kleinen Gläubiger, die man nicht warten lassen darf, hatten schon dreimal geschickt. Einem Kaufmann schaden kleine Schulden am meisten. Sie sind die Vorboten des Ruins. Festbegrenzte Verluste tun dem Renommee nichts, aber Paniken wirken ins Grenzenlose.

Birotteau wurde ängstlich, wie er das in seiner kaufmännischen Vergangenheit noch nie gewesen war. Menschen, die nicht gewohnt sind, mit dem Leben zu kämpfen, sind Schwächlinge. Was den meisten kleinen Geschäftsleuten von Paris etwas Alltägliches ist, nahm ihm die Besinnung, Er gab seinem ersten Kommis Crevel den Befehl, Rechnungen an die Kunden zu schicken. Bevor er jedoch den unerhörten Befehl ausführte, ließ er sich ihn erst nochmals wiederholen. Diese Kunden waren reiche Leute, bei denen kein Verlust zu befürchten war; mitunter betrugen Birotteaus Außenstände bis zu sechzigtausend Francs. Der Kommis nahm das Fakturenbuch und begann, die höchsten Rechnungen auszuziehen.

Da Cäsar Angst vor seiner Frau hatte und ihr seine Niedergeschlagenheit angesichts des drohenden Unglücks nicht merken lassen wollte, schickte er sich an, auszugehen. Da erschien Grindot von neuem.

»Guten Tag, Herr Birotteau!« sagte er leichthin, wie das Künstler machen, wenn sie von Dingen reden, von denen sie so tun, als ob sie nichts davon verständen. »Ich kann mit Ihrem Papier nichts anfangen. Kein Mensch will es mir abnehmen, und so bin ich gezwungen, Sie zu bitten, es mir gegen klingende Münze umzutauschen. Es tut mir im höchsten Grade leid, aber ich kann mich doch nicht mit Wucherern abgeben. Auch wollte ich nicht mit Ihrer Unterschrift von Pontius zu Pilatus laufen. Ich verstehe genug vom Handel, um zu wissen, daß Sie dadurch in Mißkredit kämen. Es ist also in Ihrem Interesse...«

»Herr Grindot, etwas leiser, wenn ich bitten darf!« bat der verdutzte Parfümhändler. »Das ist mir eine höchst unangenehme Überraschung!«

Lourdois trat in den Laden.

»Herr Lourdois«, scherzte Birotteau, »verstehen Sie ...«

Er hielt inne. Er war im Begriff gewesen, Lourdois zu bitten, dem Baumeister den Wechsel zu diskontieren und sich vorher mit dem Selbstbewußtsein des sichern Kaufmanns über die Geschäftsunkenntnis des Künstlers lustig zu machen. Aber er bemerkte, daß Lourdois ein finsteres Gesicht zog, und so scheute er sich plötzlich vor dieser Unvorsichtigkeit. Ein zahlungsfähiger Kaufmann nimmt seinen Wechsel in solchem Falle zurück und bietet ihn nicht aus. Birotteau schwankte der Boden unter den Füßen. Es wirbelte ihm im Kopfe.

»Mein lieber Herr Birotteau«, tuschelte ihm Lourdois zu, indem er ihn in den Hintergrund des Ladens zog, »meine Rechnung ist nachgeprüft. Ich bitte Sie, morgen das Geld dafür bereitzuhalten. Ich verheirate meine Tochter mit dem jungen Crottat. Notare sind keine Kaufleute. Und übrigens habe ich meine Unterschrift noch nie in den Verkehr kommen lassen.«

»Schicken Sie übermorgen! Und auch Sie, Herr Grindot!« sagte Birotteau stolz. Er hoffte auf die Bezahlung der ausgeschickten Rechnungen.

»Warum nicht gleich?« fragte der Baumeister.

»Ich muß den Arbeitern in meiner Fabrik Lohn zahlen«, erklärte Birotteau. Er log nie. Dann nahm er seinen Hut, um mit den beiden fortzugehen. In dem Augenblick hielten ihn der Maurermeister Thorein und noch ein anderer Handwerker namens Chaffaroux auf.

»Herr Birotteau«, sagte der letztere, »wir brauchen dringend Geld!«

»Ich schüttle kein Geld von den Bäumen!« brummte Birotteau und machte sich rasch aus dem Staube.

Da steckt was dahinter, sagte er zu sich selber; dieser verfluchte Ball! Der Lourdois sah mir verdächtig aus. Da steckt was dahinter! Ziellos lief er die Rue Saint-Honoré entlang. Er sah und hörte nichts.

An einer Straßenecke stießen Birotteau und Alexander Crottat wie zwei Böcke aufeinander.

»Ah, Herr Birotteau, eine Frage!« sagte der angehende Notar. »Hat Roguin Herrn Claparon die vierhunderttausend Francs Ihres Anteils überwiesen?«

»Das Geschäft ist doch in Ihrer Gegenwart abgeschlossen worden. Claparon hat mir allerdings noch keine Quittung über den Empfang von unsern zweihundertzwanzigtausend Francs in bar ausgestellt... Die hundertvierzigtausend Francs in Wechseln wollte er diskontieren lassen ... Und die Hypothek ... Was ich sagen wollte: die Kaufverträge müssen, wie ich mich erkundigt habe, notariell gemacht werden... Richter Popinot hat mir gesagt... Die Quittung ... Aber warum fragen Sie eigentlich?«

»Warum ich frage? Um zu erfahren, ob Ihre zweihundertzwanzigtausend Francs in Roguins oder Claparons Händen sind. Sie sind ein langjähriger Freund von Roguin; vielleicht hat er deshalb Ihr Geld ordnungsgemäß an Claparon gezahlt. Wenn er diese Rücksicht gehabt hat, dann kommen Sie mit einem blauen Auge davon. Unsinn! Er ist mit Ihrem Gelde genau so durchgebrannt wie mit den Hunderttausend Claparons. Mehr hat der glücklicherweise nicht angezahlt. Roguin ist flüchtig. Von mir hat er eine Anzahlung von hunderttausend Francs für sein Notariat, worüber ich auch keine Quittung habe. Die Verkäufer Ihrer Grundstücke haben bisher keinen roten Heller bar bekommen. Auch das auf Ihre Fabrik aufgenommene Geld ist höchstwahrscheinlich verloren. Roguin war schon lange finanziell total ruiniert. Ihr ihm anvertrautes Depot von hunderttausend Francs ist längst weg; ich erinnere mich, es ihm von der Bank geholt zu haben...«

Cäsars Pupillen erweiterten sich dermaßen, daß er nur noch eine einzige rote Flamme sah. Crottat fuhr fort:

»Ihre hunderttausend Francs von der Bank, meine hunderttausend für sein Notariat und Claparons hunderttausend – diese dreihunderttausend sind zum Teufel. Über das andere bin ich nicht orientiert. Wer weiß, was für Gaunereien man noch entdecken wird! Frau Roguin ist ganz außer sich. Du Tillet hat die Nacht bei ihr zugebracht. Er ist übrigens mit heiler Haut davongekommen. Roguin hat ihm vier Wochen lang zugesetzt, er solle sich an der Spekulation beteiligen, aber zu seinem Glück saß all sein Geld im Hause Nucingen fest... Seit fünf Jahren wüstete Roguin mit den Geldern seiner Klienten, und der Grund ? Seine Mätresse war die schöne Holländerin. Vierzehn Tage vor seinem letzten Streich hat sie ihn sitzen lassen. Eine tolle Verschwenderin. Wo sie hin ist, weiß man nicht. Man sagt, sie sei ermordet worden... Von Frau Roguin wird nichts zu erwarten sein. Außer einer Hypothek, die Vorbehaltsgut von ihr ist, besitzt sie nichts. Das Haus ist über den Wert hinaus belastet... Roguins Gläubiger werden keine dreißig Prozent retten ... So ein alter Kerl von neunundfünfzig Jahren hält sich ein junges Weibsbild aus! Es ist nicht zu glauben!«

Crottat hätte noch lange schwatzen können. Aus Birotteau war alles Leben gewichen. Jedes Wort traf ihn wie ein Keulenschlag. Es war ihm, als läuteten die Totenglocken und als stände die ganze Welt in Flammen. Unbeweglich und leichenblaß stand er da. Crottat erschrak vor seinem Aussehen. Er ahnte nicht, daß Cäsar mehr als sein Vermögen verlor, daß der fromme Mann Selbstmordgedanken hatte! Wenn einen der Tod tausendfältig anstarrt, ist nichts natürlicher, als sich eine Todesart freiwillig zu wählen.

Crottat reichte Birotteau den Arm und wollte ihn fortführen. Unmöglich: die Beine versagten, sie rutschten ihm davon wie einem Betrunkenen.

»Was ist Ihnen denn ?« fragte Crottat. »Verehrter Herr Birotteau, nur Mut! Es geht ja nicht ans Leben! Übrigens sind vierzigtausend Francs gerettet. Die Hypothek ist nicht rechtsgültig. Sie ist gar nicht zur Auszahlung und gerichtlichen Eintragung gelangt, folglich wird Ihnen diese Summe zweifellos gerettet!«

»Mein Ball!« jammerte Birotteau. »Zweihunderttausend in Wechseln im Umlauf und nichts in der Kasse! Ach, wie recht hatten Ragons, Pillerault und Konstanze!«

Seine Gedanken verwirrten sich von neuem. Er war maßlos unglücklich.

»Ich wollte, ich stürzte tot zu Boden!« sagte er vor sich hin.

»Armer Herr Birotteau!« bedauerte ihn sein Begleiter; »ist es denn so schlimm?«

»Schlimm?«

»Nur Mut! Nicht werfen lassen! Kämpfen!«

»Kämpfen?« wiederholte der Unglückliche. »Wissen Sie«, sagte er nach einer Weile, »ich möchte in dem Zustande, in dem ich jetzt bin, nicht nach Hause kommen. Sie ... der Sie ... wenn es überhaupt Freunde im Leben gibt... der Sie mein Freund sind ... der Sie in meiner Familie verkehrt haben.,. fahren Sie mit mir ein Stück spazieren ... nehmen wir eine Droschke ... begleiten Sie mich...«

Der angehende Notar bugsierte den hilflosen Gegenstand, der Cäsar Birotteau hieß, mit vieler Mühe in eine Droschke.

»Alex!« sagte Birotteau mit unter Tränen erstickter Stimme. Die Tränen, die nunmehr seinen Augen entquollen, lockerten ein wenig das eiserne Band, das sein Hirn umklammert hatte. »Alex, wir wollen nach Hause fahren! Reden Sie statt meiner mit Cölestin! Lieber Freund, sagen Sie ihm, daß für mich und meine Frau die ganze Existenz auf dem Spiele steht! Meine Frau darf um Himmels willen von Roguins Verschwinden nichts erfahren. Sprechen Sie mit meiner Tochter, daß sie verhindern hilft, daß man ihrer Mutter von der Sache erzählt.«

Die Veränderung der Stimme Birotteaus ergriff Crottat tief. Er erfaßte die Schwere der Situation und erfüllte die geäußerten Wünsche. Cölestin und Cäsarine vermochten vor Schreck nicht zu sprechen, als sie Cäsar wie vom Donner gerührt in der Droschke sitzen sahen.

»Ich rechne auf Ihre Diskretion, Crottat!« stammelte Birotteau.

»Gott sei Dank, er kommt wieder tu sich! Ich dachte, er stürbe!« rief Crottat.

Man teilte Frau Birotteau mit, Cäsar habe eine Art Schlaganfall erlitten.

»Kein Wunder!« rief sie aus, ohne die Tragweite des Unglücks im geringsten zu ahnen; »seit acht Wochen arbeitet er wie ein Wilder, als ob uns das tägliche Brot fehlte! Und seine gewohnte Kur hat er dies Jahr zu Anfang des Winters auch nicht gemacht!«

Birotteau wurde zu Bett gebracht. Man schickte nach dem Doktor Haudry, dem alten Hausarzt. Das war einer aus Molières Schule, ein alter Praktikus und Freund der althergebrachten Rezepte. Er kam, untersuchte den Kranken und verordnete ihm Senfpflaster auf die Fußsohlen. Er konstatierte Blutandrang zum Gehirn.

»Wie ist das nur gekommen?« fragte Konstanze.

»Die feuchte Witterung!« meinte er. Cäsarine hatte ihn heimlich ein wenig instruiert. Bisweilen gehörte es zur Pflicht eines Arztes, zur Schonung der Angehörigen eines Kranken Komödie zu spielen. Haudry hatte so viel in seiner Praxis erlebt, daß er nach wenigen Worten im Bilde war. Cäsarine folgte ihm, als er ging, auf die Treppe und bat ihn um Verhaltungsmaßregeln.

»Ruhe und nicht reden lassen! Sobald der Kopf wieder frei ist, bekommt er kräftige Nahrung!«

Zwei Tage lang brachte Frau Birotteau am Bette ihres Gatten zu. Zuweilen glaubte sie, er sei wahnsinnig geworden. Er phantasierte von Dingen, die sie nicht verstand, von Verschwendung, Luxus, den neuen Möbeln, von übermäßigem Aufwand und so weiter. Einmal richtete er sich im Bett auf und sagte mit feierlicher Stimme Paragraphen aus dem Handelsgesetze her.

Er ist verrückt geworden! sagte sich Konstanze.

Nach drei schrecklichen Tagen siegte die starke Natur des Tourainer Bauernsohnes über die Gefahren, die seinen Verstand bedroht hatten. Seine Gedankenwelt hellte sich auf. Haudry ließ ihm kräftigere Kost geben. Nach zu rechter Zeit verabreichtem starken Kaffee war Birotteau wieder auf den Beinen.

Die ermattete Konstanze legte sich an seiner Stelle hin, um sich auszuschlafen.

»Arme Frau!« seufzte Cäsar, indem er die Schlafende betrachtete.

»Mut, Vater! Du bist ein so kluger Mann, daß du alles überwinden wirst! Anselm steht dir sicherlich auch bei!« tröstete ihn Cäsarine voll sanfter Zärtlichkeit, die ihm unsagbar wohltat.

»Ja, mein liebes Kind, ich will kämpfen! Erzähle niemandem etwas, auch nicht Popinot oder Onkel Pillerault! Ich will zuvörderst einmal an meinen Bruder schreiben. Er ist Vikar oder Kanonikus an der Kathedralkirche zu Tours. Er lebt sparsam und braucht nichts. Er muß Geld haben. Wenn er sich jährlich tausend Taler gespart hat, so muß er jetzt – nach zwanzig Jahren – hunderttausend Francs besitzen. In der Provinz haben die Priester auch Kredit.«

Cäsarine setzte einen kleinen Tisch vor Cäsar hin und holte Schreibzeug und Briefpapier. In der Eile erwischte sie von dem Rosapapier der Balleinladungen.

»Verbrenne den Kram!« rief Birotteau. »Der Teufel hat mich geritten, daß ich den Ball gegeben habe! Wenn ich den Ruin nicht aufhalten kann, wird man mich dieses Festes wegen für einen Betrüger halten. Still, Cäsarine, es ist so! Es gibt keine Entschuldigung!«

Birotteau schrieb:

Mein lieber Bruder!

Ich stecke in einer Geschäftskrise, die so mißlich ist, daß ich Dich auf das inständigste bitten muß, mir alles Geld, über das Du verfügst, zu schicken. Wenn es sein muß, leihe Dir welches!

Ganz Dein Cäsar.

Deine Nichte, die mir, während meine arme Frau schläft, beim Schreiben dieser Zeilen zusieht, läßt Dich herzlichst grüßen!«

Die Nachschrift ward auf Cäsarines Bitte hinzugefügt. Als sie den Brief hinunterschaffte, damit er auf die Post käme, trat ihr Joseph Lebas entgegen. Sie führte ihn hinauf.

»Lieber Vater, Herr Lebas wünscht dich zu sprechen!« rief sie ihrem Vater zu.

»Herr Lebas!« wiederholte Cäsar erschrocken, als ob er sich eines Verbrechens zu zeihen hätte; »ein Richter!«

»Mein lieber Herr Birotteau!« begann der Eintretende. »Ich nehme viel Anteil an Ihnen, wir kennen uns schon so lange, wir waren obendrein zusammen Richter, und so muß ich Ihnen unbedingt mitteilen, daß ein gewisser Gigonnet, ein Wucherer, Wechsel von Ihnen besitzt, die ,ohne Gewährleistung‘ von der Firma Claparon an ihn übergegangen sind. Diese beiden Wörter sind nicht allein eine Beleidigung für Sie: sie sind der Tod Ihres Kredits!«

Cölestin kam herauf.

»Herr Claparon wünscht Sie zu sprechen. Soll ich ihn heraufbringen?«

»Ja!«

»Da werden wir ja gleich die Ursache dieser Beschimpfung hören!« bemerkte Lebas.

Birotteau stellte vor:

»Herr Claparon! – Herr Handelsrichter Lebas, mein Freund ...«

»Ah, das ist Herr Lebas! Freut mich ganz außerordentlich, Herr Handelsrichter Lebas! Es gibt so viele Lebas!« unterbrach ihn Claparon geschwätzig.

Birotteau fuhr fort:

»Herr Lebas hat die Wechsel zu Gesicht bekommen, die Sie von mir haben und die, wie Sie mir versprochen haben, nicht in Umlauf kommen sollten. Er hat sie mit dem Vermerk ,ohne Gewährleistung‘ gesehen.«

»Na ja«, entschuldigte sich Claparon, »sie sind auch nicht im Umlauf! Sie befinden sich in den Händen eines Mannes, mit dem ich viel Geschäfte mache. Es ist der alte Bidault. Deshalb habe ich Sie auch ,ohne Gewährleistung‘ weitergegeben. Hätten die Wechsel in den Verkehr kommen sollen, dann hätten Sie sie direkt auf seine Order ausstellen müssen. Der Herr Richter wird mich verstehen! Was repräsentieren diese Akzepte? Den Preis von Immobilien. Von wem zu bezahlen? Von Herrn Birotteau. Wie komme ich dazu, ihm durch meine Unterschrift zu bürgen? Jeder von uns trägt seinen Teil zu dem Gesamtankaufspreis dazu bei. Mehr tue ich nicht. Ich übernehme prinzipiell ebensowenig eine Bürgschaft wie ich Quittungen über Gelder aus der Hand gebe, ehe ich das Geld habe. Man muß heutzutage mit allem rechnen. Wer Wechsel unterschreibt, muß zahlen! Mir fällt es nicht ein, dreimal zu blechen!«

»Wieso dreimal ?« fragte Birotteau.

»Jawohl, Herr Birotteau«, erwiderte Claparon. »Ich bürge für Birotteau einmal bereits unsern Verkäufern gegenüber. Warum soll ich das nun auch noch dem Bankier gegenüber tun? Wir befinden uns in den schwierigsten Umständen. Roguin ist mir mit hunderttausend Francs durchgebrannt. Meine Hälfte an den Baustellen kostet mich damit fünfhunderttausend statt ehedem vierhunderttausend Francs! Roguin hat Herrn Birotteau um bare zweihundertsechzigtausend Francs erleichtert. Sagen Sie, Herr Richter, was täten Sie an meiner Stelle! Denken Sie sich mal in meine Haut hinein! Ich bin mit Herrn Birotteau nicht intimer bekannt, als ich die Ehre habe, mit Ihnen bekannt zu sein! Nehmen Sie mal an: wir machen zusammen ein Geschäft auf Halbpart. Sie bringen bares Geld, ich zahle mit Wechseln. Sie diskontieren sie mir aus reiner Gefälligkeit. Nun erfahren Sie, daß ich vor dem Konkurs mit einer halben Million Passiva stehe... Ich frage Sie: Würden Sie von dem Moment ab in noch größerem Umfange mit Ihrer Unterschrift für mich bürgen? Dann wären Sie verrückt! Sehen Sie, Herr Lebas: Herr Birotteau befindet sich in der Lage, die ich mir eben angedichtet habe. Wenn ich für Herrn Birotteau noch mehr bürgte, müßte ich schließlich auch noch seinen Anteil zahlen...«

»An wen ?« unterbrach ihn Cäsar.

Claparon fuhr fort, ohne auf die Zwischenfrage zu achten.

»... und zwar ohne damit seine Hälfte an den Baustellen zu erwerben. Die müßte ich erst aus der Konkursmasse erstehen. Somit zahlte ich am Ende zum drittenmal!«

»An wen müßten Sie zahlen?«

»Na, an den dritten Inhaber der Wechsel, wenn ich seinen Namen drauf setzte und Sie gingen pleite!«

»Ich gehe nicht pleite, Herr Claparon!« versetzte Cäsar.

»Desto besser!« war Claparons Antwort. »Sie sind Handelsrichter gewesen und haben Erfahrung. Sie wissen also, daß man auf alles gefaßt sein muß. Wundern Sie sich somit nicht, wenn ich auf meine Prinzipien beharre!«

»Herr Claparon hat recht«, entschied Lebas.

»Natürlich habe ich recht«, begann Claparon von neuem, »kaufmännisch recht! Unser Geschäft ist ein Terrainhandel. Wir brauchen Geld. Die Verkäufer unserer Grundstücke wollen bezahlt sein. Lassen wir mal die zweihundertsechzigtausend Francs beiseite. Ich bin überzeugt, Herr Birotteau wird wenigstens einhundertvierzigtausend Francs für seine Wechsel schaffen...« Claparon warf dem Richter einen bezeichnenden Blick zu. »Ich bin heute nur gekommen, Herr Birotteau, um mir von Ihnen die Kleinigkeit von fünfundzwanzigtausend Francs auszubitten!«

»Fünfundzwanzigtausend Francs!« wiederholte Birotteau, den es eiskalt überlief. »Aber, Herr Claparon, wozu denn?«

»Wir sind gezwungen, die einzelnen Verträge mit den Vorbesitzern der Grundstücke notariell zu machen. Dazu kommen die Grundbucheinträge. Der Fiskus will natürlich bar Geld dafür sehen! Prosit Mahlzeit! Wir müssen ihm noch im Laufe dieser Woche vierundvierzigtausend Francs auf den Tisch des Hauses legen!«

»Was Sie sagen!« jammerte Cäsar laut auf.

»Es ist ein Elend, na freilich!« meinte Claparon. »Ich will Ihnen mal einen Vorschlag machen. Von den Wechseln, die mir Roguin von Ihnen gegeben hat, will ich für fünfundzwanzigtausend Francs nehmen und sie Ihnen zur Begleichung der Grundbucheinträge und sonstigen Kosten diskontieren. Ich werde Ihnen noch eine ins einzelne gehende Rechnung darüber schicken. Sie werden mir alsdann in der Sache noch sechs- bis siebentausend Francs schulden.«

»Das scheint mir alles seine Ordnung zu haben«, bemerkte Lebas. »An der Stelle dieses Herrn, der solche Sachen aus dem Effeff zu verstehen scheint, würde ich einem Fremden gegenüber ebenso verfahren.«

»Herr Birotteau begreift das nicht so schnell!« spottete Claparon. »Ein Elefant fällt nicht auf einen Schuß!«

»Ja, wer kann Schuftereien, wie sie Roguin begangen hat, voraussehen?« sagte Lebas. Er war überrascht und bestürzt, daß sich Birotteau in so riesige Spekulationen eingelassen hatte, die mit seinem Parfürneriengeschäfte gar nichts zu tun hatten.

»Wenn Sie meiner bedürfen«, sagte er zu ihm, »so stehe ich Ihnen ganz und gar zur Verfügung.«

»Herr Birotteau bedarf niemandes«, entgegnete ihm der unermüdliche Schwätzer, dem du Tillet die Schleusen aufgezogen hatte, nachdem er Wasser auf seine Mühle geleitet. Claparon betete nämlich nur nach, was ihm du Tillet geschickt eingetrichtert hatte. »Seine Sache ist klar. Wie mir der junge Crottat gesagt hat, wird Roguins Konkurs eine Dividende von fünfzig Prozent ergeben. Außer der ihm auf die unterschlagenen Gelder zufließenden Dividende rettet Herr Birotteau die vierzigtausend Francs der nicht rechtsgültig abgeschlossenen Hypothek. Er kann also eine Hypothek auf sein Eigentum irgendwo anders aufnehmen. In vier Monaten müssen wir eine erste Rate von bar Zweihunderttausend Francs an die Vorbesitzer unserer Grundstücke zahlen. Bis dahin wird Herr Birotteau schon Geld zu seinen Wechseln haben. Die von Roguin ohne Quittung unterschlagenen zweihundertzwanzigtausend Francs braucht er gar nicht. Wenn er aber wirklich ein wenig in der Klemme wäre... na, mit ein paar weiteren Wechseln wird er sich schon herausfitzen.«

Als Birotteau seine Lage derartig beurteilt und sozusagen den Plan zu seinem Verhalten vorgeschrieben sah, faßte er von neuem Mut. Er benahm sich fest und entschlossen. Der ehemalige Kommis dünkte ihn ein heller Kopf zu sein.

Du Tillet hatte es für Zweckmäßig erachtet, sich in Claparons Augen als ein Opfer Roguins hinzustellen. In Wirklichkeit war das keineswegs der Fall. Aber der geschwätzige Claparon spielte die ihm angewiesene Rolle vorzüglich, indem er jedem, der es hören wollte, vorpredigte, du Tillet habe an Roguin hunderttausend Francs eingebüßt. Du Tillet hielt Claparon nicht für sicher oder verdorben genug, um ihn in seine Pläne in ihrem vollen Umfange einzuweihen. Er wußte, daß er unfähig war, ihn zu durchschauen.

Lebas und Claparon gingen zusammen fort.

Ich kann mich herausfitzen, sagte Birotteau bei sich. Meine Passiven betragen vierhundertsechzigtausend Francs; die schon frühere Belastung meines Fabrikgrundstücks will ich mal nicht rechnen. Zur Deckung dieser Schulden habe ich die Dividende Roguins, etwa hunderttausend. Dazu die vierzigtausend. In Summa hundertvierzigtausend Francs! Es handelt sich also nur darum, hunderttausend aus dem Kephalol herauszuschlagen und mich mit ein paar Wechseln oder einem Bankkredit so lange zu halten, bis ich den Schaden wieder gutmache oder bis die Baustellen ausgenutzt werden können...

Vielen Menschen ersetzt die Zuversicht, die der Selbsttäuschung entquillt, die Energie. Hoffnung ist halber Mut. Deshalb macht der Katholizismus eine Tugend aus ihr. Die Hoffnung hilft manchem Schwachen durch die Wirren des Lebens hin in bessere Zeiten.

Entschlossen, den Onkel seiner Frau aufzusuchen und ihm seine Lage auseinanderzusetzen, ehe er anderwärts Hilfe erheischte, ging Birotteau nach der Rue des Bourdonnais. Ein bisher nie gekanntes Angstgefühl machte ihn richtig krank. Die Eingeweide brannten ihm. Man hatte ihm zwei Tage lang zusetzen müssen, ehe er den Gang endlich antrat. Noch vor der Haustür Pilleraults empfand er jene innerliche Ohnmacht, die Kinder befällt, wenn sie zum Zahnarzt müssen. Mangelnder Mut wirkt auf den gesamten Organismus, Birotteau vermochte sich kaum die Treppe hinaufzuschleppen.

Er fand den alten Mann am Kamin vor einem runden Tischchen, wie er den »Constitutionnel« las. Vor ihm stand sein frugales Frühstück: ein Brötchen, Butter, Käse und eine Tasse Kaffee.

»Da sieht man einen wahren Weisen!« rief Birotteau. Pillerault kam ihm in dem Augenblick über alles beneidenswert vor.

»Na«, meinte Pillerault, indem er seine Lesebrille abnahm, »man hat mir gestern im Café David die Geschichte von Roguin und seiner schönen Holländerin erzählt. Ich hoffe, du hast dir von dem Kerl ordnungsmäßige Quittungen geben lassen ...«

»Lieber Onkel, das ist ja das Malheur! Ich habe keine Quittung!«

»Zum Teufel, das ist dein Ruin!«

Er ließ vor Schreck die Zeitung fallen, Birotteau hob sie auf, obgleich es der »Constitutionnel« war. Pillerault war erschüttert. Er starrte durch die Fensterscheiben auf die Mauer des gegenüberliegenden Hauses, ohne sie zu sehen. Er hörte auf Birotteaus lange Rede. Er hörte, sann nach und wägte das Für und Wider ab. Allmählich kehrte ihm seine in einem langen kaufmännischen Leben erworbene Objektivität zurück.

»Sag mal, lieber Onkel«, schloß Birotteau, »darf ich dich um sechzigtausend Francs bitten?«

»Nein, mein lieber Neffe, ich kann dir nicht helfen.« Er hätte seine Renten verkaufen müssen. »Du sitzt zu tief drinnen. Ragons und ich, wir verlieren jedes unsere fünfzigtausend Francs. Die Biederleute haben sich auf meinen Rat an der Geschichte beteiligt und sichere Papiere verkauft. Im Falle, daß sie ihr Geld einbüßen, halte ich mich verpflichtet, sie, meine Nichte und Cäsarine zu unterstützen. Wer weiß, ob euch eines Tages nicht allen das tägliche Brot fehlt. Ihr werdet es bei mir finden ...«

»Das tägliche Brot, Onkel?«

»Ja! Ich will dir sagen, wie die Sache steht! Du wirst dir nicht aus der Klemme helfen können! Von meinen fünftausendsechshundert Francs jährlicher Rente werde ich viertausend nehmen und sie zwischen euch und Ragons teilen. Ist dein Ruin da, dann wird Konstanze – ich kenne sie – arbeiten, was sie kann. Ebenso du und Cäsarine ...«

»Es ist doch noch nicht alle Hoffnung umsonst!« warf Cäsar ein.

»Ich sehe die Dinge anders als du!« wehrte Pillerault ab.

»Ich will dir das Gegenteil beweisen.«

»Nichts würde mir mehr Freude bereiten.«

Birotteau wagte nichts zu sagen. Er ging. Er hatte sich Trost und Mut holen wollen und bekam hier einen neuen Schlag, der zwar nicht so wuchtig war wie der erste, aber anstatt den Kopf das Herz traf. Und im Herzen hatte das Leben Birotteaus seinen Angelpunkt.

Nachdem er ein paar Stufen hinabgegangen war, kehrte er wieder um.

»Pillerault!« sagte er in kühlem Tone. »Meine Frau weiß noch nichts. Ich ersuche dich, bewahre wenigstens das Geheimnis! Bitte auch Ragons, daß sie mir meinen häuslichen Frieden nicht rauben. Ich bedarf seiner, um mein Unglück ertragen zu können.«

Pillerault nickte bejahend und erwiderte: »Mut, Cäsar! Ich sehe, du bist böse auf mich. Die Zeit wird kommen, wo du mir Gerechtigkeit widerfahren lassen wirst!«

Entmutigt durch die Meinung Pilleraults, dem er einen besonders weiten Blick zutraute, stürzte Birotteau von der Höhe seiner Hoffnungen in den tiefsten Abgrund der Ungewißheit: hinab. Wer in solchen finanziellen Krisen nicht eine Seele von Stahl besitzt, wird ein Spielball der Begebnisse. Er rennt jedem Lichtblick nach wie ein vom Wege geratener Wanderer einem Irrlicht.

Zunächst suchte Birotteau seinen Rechtsanwalt Derville in der Rue Vivienne auf. Er trug ihm die Angelegenheit mit den vierzigtausend Francs vor. Nachdem Derville ihn angehört hatte, sagte er:

»Wenn wir nachweisen können, daß sich die Sache so verhält, dann bürge ich für den Prozeß, soweit man überhaupt für einen Prozeß bürgen kann. Es gibt keinen im voraus gewonnenen Prozeß!«

Das Gutachten eines so tüchtigen Juristen verlieh Birotteau wieder ein wenig Mut. Er bat Derville, die Sache zu beschleunigen und binnen vierzehn Tagen zu erledigen. Der Anwalt erwiderte, er hoffe, noch vor Ablauf eines Vierteljahres ein Urteil zu erlangen, das die Hypothek für ungültig erkläre.

»In einem Vierteljahr?« wiederholte der Parfümhändler enttäuscht.

»Selbst wenn wir es erreichen«, erklärte Derville, »daß der Prozeß rasch geführt wird, so sind wir doch nicht imstande, die Gegenpartei so eilig zu machen, wie wir sind. Der Gegner wird vielleicht sogar versuchen, die Sache hinzuschleppen. Es geht nicht alles so, wie man es haben möchte, lieber Herr Birotteau.«

»Aber das Handelsgericht...«

»Gewiß, gewiß!« meinte der Anwalt lächelnd. »Es geht alles seinen Gang. Die Justiz hat Formalitäten, und diese Formalitäten sind die Schutzengel der Gerechtigkeit. Möchten Sie denn ein übereiltes Urteil, durch das Sie um Ihre vierzigtausend Francs kämen? Ihr Gegner kämpft ebenso um das Geld wie Sie! Die Termine sind die Folterkammern der modernen Justiz.«

»Sie haben recht!« sagte Birotteau und empfahl sich, den Tod im Herzen.

Alle haben sie recht! sagte er zu sich selbst. Geld ist die Losung! Geld! Geld! Laut mit sich redend ging er durch die Straßen, durch das brandende, brodelnde Leben von Paris.

Als er heimkam, meldete ihm der Lehrling, der die Rechnungen ausgetragen hatte, daß man allerorts angesichts des nahen Jahresabschlusses die Quittungen zurückgewiesen und nur die Rechnungen behalten habe.

»Es gibt also nirgends Geld!« stöhnte Cäsar laut. Er biß sich auf die Lippen, als er sah, wie die Kommis alle auf ihn blickten.

So vergingen fünf Tage, während welcher Zeit Braschon, Lourdois, Thorein, Grindot, Chaffaroux, alle die unbefriedigten Gläubiger, jene chamäleonfarbigen Phasen durchmachten, die Gläubigern beschieden sind, ehe sie sich resigniert in ihr Schicksal ergeben. In Paris ist die abtötende Bewegung des Mißtrauens genau so hastig, wie die Leben spendende Bewegung des Vertrauens langsam vor sich geht. Ist der Gläubiger einmal in die Strömung der Besorgnisse und kaufmännischen Vorsichtsmaßregeln geraten, so verfällt er den übelsten Niederträchtigkeiten und sinkt moralisch tiefer als sein Schuldner. Von sauersüßer Höflichkeit gingen die Gläubiger zu roter Ungeduld, zu dem dumpfen Geräusch der Belästigung, zu den lauten Ausbrüchen getäuschter Erwartung, zu der blauen Kälte harter Entschlüsse und endlich zu der schwarzen Grobheit gerichtlicher Vorladungen über. Der reiche Tapezierer Braschon aus der Vorstadt Saint-Antoine, der seinerzeit keine Balleinladung bekommen hatte, schlug, in seiner Eitelkeit gekränkt, zu allererst Lärm. Er verlangte, binnen vierundzwanzig Stunden bezahlt zu werden; er begehrte eine Sicherheit, und zwar eine hypothekarische auf das Fabrikgrundstück in der Vorstadt.

Birotteau kam inmitten all der Behelligungen kaum zum Verschnaufen. Anstatt aber dem ersten Ansturm feste Entschlossenheit entgegenzusetzen, verbrauchte Cäsar seine Intelligenz, um zu verhindern, daß seine Frau, die einzige Person, die ihm hätte raten können, von der Lage erführe. Cäsar stand fortwährend auf Posten im Laden. Dagegen hatte er Cölestin in das Geheimnis seiner »momentanen« Geschäftsverlegenheit eingeweiht. Crevel musterte ihn mit einem ebenso neugierigen wie erstaunten Blick, Der Prinzipal schrumpfte in seinen Augen arg zusammen. Erst im Unglück verrät sich die wahre Größe eines Menschen. Die ganze Kraft mittelmäßiger Köpfe im Glück beruht lediglich auf ihrer geschäftlichen Routine. Ohne die zu einer planmäßigen Verteidigung auf so vielen gleichzeitig bedrohten Punkten erforderliche Energie und Überlegenheit zu besitzen, hatte Cäsar doch wenigstens den Mut, seine Lage ernstlich zu betrachten. Ultimo Dezember und zum 15. Januar brauchte er für die fälligen Wechsel, für Miete, für Haus und Geschäft insgesamt sechzigtausend Francs, für den letzten Dezember allein dreißigtausend. Alle seine Hilfsmittel ergaben indessen kaum zwanzigtausend. Es fehlten ihm zunächst somit zehntausend Francs. Cäsar taxierte seine Lage durchaus noch nicht für hoffnungslos. Mit einem gewissen abenteuerlichen Optimismus sah er nicht weiter als auf das Nächstkommende. Er beschloß daher, noch ehe sich das Gerücht von seinen Zahlungsschwierigkeiten allgemein verbreitete, einen grand coup – wie er sich sagte – zu wagen, nämlich: sich an den berühmten und berüchtigten Franz Keller zu wenden. Dieser Bankier und Politiker galt als großer Wohltäter und Menschenfreund und als ein Mann, der bestrebt war, sich um die Pariser Kaufmannschaft verdient zu machen. Er war ein Liberaler, während Birotteau, wie wir wissen, Royalist war; aber Cäsar beurteilte jenen nach seinem Herzen und fand in der politischen Gesinnungsverschiedenheit nur einen Grund mehr, Kredit von dem Bankier erhoffen zu dürfen. Für den Fall, daß eine Bürgschaft verlangt werden würde, rechnete er bestimmt auf die Gefälligkeit Popinots, von dem er mindestens ein Akzept von dreißigtausend Francs erhoffte. Damit dachte er die Prozeßkosten und die gierigsten der kleineren Gläubiger zu bezahlen.

So mitteilsam Cäsar sonst war – er pflegte seiner geliebten Konstanze die leisesten Regungen seines Ichs zu offenbaren, bei ihr Mut zu holen und sich durch ihre Gegenreden zu erleuchten –, in seiner jetzigen Lage konnte er sich mit seiner Frau nicht aussprechen. Seine Gedanken und Überlegungen drückten ihn doppelt, aber er wollte lieber allein leiden, als die Qual auch auf seine Frau übertragen. Er kam sich wie der edelste Märtyrer vor, wenn er daran dachte, daß er seiner Frau sein Unglück erst mitteilen würde, wenn es vorüber wäre. Vielleicht brauchte er es ihr nie zu erzählen. Die Angst, die er vor seiner Frau hatte, gab ihm Mut. Alle Morgen ging er in die Kirche des heiligen Rochus zur Messe und machte Gott zu seinem Vertrauten.

Wenn ich unterwegs von Saint-Roch nach Hause keinem Soldaten begegne, sagte er sich abergläubisch nach dem Gebet, wird mein Gebet Erhörung finden. Das soll mir eine Antwort Gottes sein! Und er war glücklich, keinem Krieger zu begegnen.

Aber sein Herz war zu bedrückt. Er brauchte jemanden, dem er vorjammern durfte. Und so ward Cäsarine, der er sich schon bei jener verhängnisvollen ersten Nachricht anvertraut hatte, die Mitwisserin aller seiner Geheimnisse. Fortan wechselten die beiden verstohlene Blicke, Blicke voller Verzweiflung und heimlicher Hoffnungen. Es gab zwischen ihnen ein stummes Fragen und Antworten, ein stilles Verständnis von Seele zu Seele.

Vor seiner Frau spielte Birotteau den Heitern. Er scherzte mit ihr, und wenn sie zuweilen eine geschäftliche Frage tat, antwortete er ihr gleichgültig.

Popinot, an den Cäsar gar nicht mehr dachte, machte brillante Geschäfte mit dem Kephalol. In allen Straßen erblickte man, ob man wollte oder nicht, rote Riesenplakate mit den Worten:

KEPHALOL

Während die »Rosenkönigin« vom Unglück umnachtet wurde, leuchtete die Firma »Anselm Popinot« im Morgenrot des kaufmännischen Glückes auf. Von Gaudissart und Finot beraten, hatte Popinot sein Öl keck in die weite Welt geschleudert. Kein Mensch entging dem Kephalol und gewissen von Finot erfundenen stereotypen Phrasen und Schlagworten, wie: Kephalol ist das Beste für das Haar! oder: Verlorene Haare wachsen nicht wieder! Man pflege das Haar mit Kephalol! Ebenso verfolgte einen das »Gutachten des berühmten Professors Vauquelin« förmlich von Straße zu Straße, eine wahre Beschwörung toter Haare zu neuem Leben, allen denen zugesichert, die sich des Kephalol bedienen würden. Alle Friseure, Coiffeure,

Perückenmacher, Parfumhändler und Drogisten hatten auf ihren Ladentüren vergoldete Rahmen, die einen hübschen Druck auf Velinpapier umschlossen: »Hero und Leander«; unter dem Bilde stand in deutlichen Lettern:

Die Völker des Altertums pflegten ihr Haar nur mit

KEPHALOL!

Auf einem Gange durch die Stadt in Cäsarines Begleitung bemerkte Birotteau die neue Reklame.

»Die ewige Wiederholung! Die stereotype Annonce! Das ist keine üble Erfindung des Popinot!« meinte er verblüfft.

»Hast du denn in unserm Schaufenster das Bild im Rahmen, nicht bemerkt?« fragte Cäsarine. »Anselm hat es uns selbst gebracht, als die ersten dreihundert Flaschen Kephalol ankamen.«

»Nein!«

»Wir haben bereits hundert Flaschen an unsere festen Kunden und fünfzig an andere Leute verkauft.«

»So so!«

Er versank wieder in seine Grübeleien.

Am Abend vorher hatte Anselm eine volle Stunde lang auf ihn gewartet und war wieder gegangen, nachdem er mit Konstanze und Cäsarine geplaudert hatte. Man erzählte ihm, Cäsar sei ganz und gar in sein »großes Geschäft« vertieft.

»Ach ja«, meinte Popinot, »die Grundstücksgeschichte.«

Popinot war seit vier Wochen nicht aus der Rue des Cinq-Diamants herausgekommen. Er verbrachte die Nächte in seiner Fabrik und war sogar an den Sonntagen tätig. Er hatte in der Zeit weder Ragons noch Pillerault, noch seinen Onkel gesehen. Er begnügte sich mit sechs Stunden Schlaf. Zuerst hatte er nur zwei Kommis; nachdem sein Geschäft in Schwung gekommen war, benötigte er sehr bald deren vier. Im Handel ist die Gelegenheit alles. Wer das Glück nicht am Schopfe zu packen versteht, wird nicht Erfolg haben.

Popinot wußte nichts von Roguins Flucht und Cäsars geschäftlicher Kalamität. Somit konnte er auch Frau Birotteau nichts verraten. Seine Gedanken, seine Existenz gehörten lediglich seinem Kephalol.

Er versprach Finot fünfhundert Francs für jede erstklassige Zeitung – es gab damals deren zehn – und dreihundert Francs für jedes Blatt zweiter Güte – es gab deren ebenfalls zehn –, wenn darin jeden Monat dreimal von dem Kephalol die Rede wäre. Der Journalist rechnete von diesen achttausend Francs dreitausend auf sich und fünftausend auf die Unkosten seiner Propaganda. Die dreitausend Francs gedachte er für seine Rechnung auf das riesige grüne Tuch der Spekulation zu werfen. Er stürzte sich wie ein hungriger Löwe auf alle seine Freunde und Bekannten. Aus den Redaktionen kam er gar nicht mehr heraus. Abends setzte er seine Tätigkeit in den Foyers der Theater fort. Er schmuggelte Artikel und Annoncen in die Zeitungen, indem er den Redakteuren Geld gab, ihnen schmeichelte, ihnen Dienste und Gefälligkeiten erwies, sie zu Diners einlud, kleine Niederträchtigkeiten für sie vollbrachte und so weiter. Er ruhte und rastete nicht, erfand alle möglichen Tricks und war in seiner Leidenschaft zu allem fähig. Er bestach die Drucker, die gegen Mitternacht den Satz der Tageszeitungen vollendeten, mit Theaterbilletts, damit sie an Stelle des stets bereitliegenden »Vermischtes« Artikel und Notizen mit Hinweisen auf das Kephalol einschoben. Finot erschien in den Druckereien, als habe er Korrekturen zu besorgen. Jedermanns Freund, verschaffte er auf die Weise dem Kephalol den Sieg über alle Konkurrenzerfindungen, seihst über solche, die sich ebenfalls des genialen Mittels der Zeitungsreklame bedienten. Damals, in der paradiesischen Epoche des Zeitungswesens, waren die meisten Journalisten noch wahre Idioten; sie kannten ihre eigene Macht nicht und vertrödelten sich bei hübschen Schauspielerinnen und Tänzerinnen. Sich gegenseitig schulmeisternd, kamen sie auf keinen grünen Zweig.

Finot fiel es gar nicht ein, Schauspielerinnen die Wege zu ebnen, Theaterstücken zum Erfolg zu helfen, seine eigenen Vaudevilles zur Aufführung zu bringen oder sich seine Artikel bezahlen zu lassen. Im Gegenteil, er bot zur rechten Zeit Geld oder lud zum Déjeuner ein. Dadurch erreichte er, daß alle Zeitungen vom Kephalol sprachen, Vauquelins Gutachten abdruckten und sich über die Dummheit derer lustig machten, die noch glaubten, man könne neue Haare sprossen lassen, wo keine mehr da sind, oder sich das Haar färben, ohne die Gesundheit zu schädigen.

Bewaffnet mit den Artikeln und Anzeigen der Tagespresse wanderte Gaudissart durch die Provinzen, um Vorurteile niederzukämpfen, wo er auf welche stieß. Er vollbrachte das, was man »grobes Geschütz auffahren« oder »mit verhängten Zügeln Attacke reiten« nennt. Damals gab es noch keine Provinzzeitungen; die Pariser Journale beherrschten auch die Departements. Man studierte die Pariser Blätter höchst ernsthaft und las sie vom ersten bis zum letzten Buchstaben. Auf die Presse gestützt, hatte Gaudissart allerorts glänzende Erfolge. Die Ladenbesitzer der Provinzen rissen sich um die gerahmten Reklamebilder von »Hero und Leander«.

Finot verdiente sich die dreitausend Francs. In späteren Tagen pflegte er lachend zu erzählen, ohne jenes Geld wäre er vor Not und Elend umgekommen. Die tausend Taler begründeten sein Glück. Ein Vierteljahr später war er Chefredakteur einer kleinen Zeitung. Er war der erste, der die Macht der Zeitungsreklame ahnte. Er schuf die bezahlte Annonce und leitete damit eine ungeheure Revolution im Zeitungswesen ein.

Birotteau, der »Anselm Popinot & Co.« an allen Ecken und Enden prunken sah, war unfähig, die Tragweite dieser Reklame zu ermessen; er begnügte sich damit, zu seiner Tochter zu sagen: »Der kleine Popinot hat viel von mir gelernt!« ohne den Wandel der Zeiten zu begreifen und ohne die Macht der modernen Reklamemittel zu würdigen, die durch ihre Schnelligkeit und Verbreitung viel prompter wirken als die von Anno dazumal.

Seit seinem Ball hatte Cäsar keinen Fuß in seine Fabrik gesetzt. Er wußte gar nicht, welche Regsamkeit und Tätigkeit Popinot dort entfaltete. Anselm hatte nach und nach alle Arbeiter Birotteaus in seine Dienste genommen. Er schlief in der Fabrik. In seiner Phantasie sah er seine geliebte Cäsarine auf allen Kisten sitzen, über allen Arbeitstischen schweben und ihren Namen auf allen Rechnungen gedruckt. Sie muß meine Frau werden! sagte er sich, wenn er in Hemdsärmeln in Abwesenheit seiner irgendwohin geschickten Leute froh und munter selber eine Kiste zunagelte.

Nachdem sich Cäsar die ganze Nacht hindurch hin und her überlegt hatte, was er zu dem großen Manne der Hochfinanz sagen oder nicht sagen solle, ging er am Vormittag des neuen Tages nach der Rue du Houssaye. Als er sich dem Palaste des liberalen Bankiers näherte, überfiel ihn gräßliches Herzklopfen. Es kam ihm in den Sinn, daß Keller einer politischen Partei angehörte, die man mit Recht beschuldigte, den Sturz der Bourbonen im Auge zu haben. Wie alle kleinen Pariser Kaufleute hatte Birotteau keine Ahnung, wie die Leute der Hochfinanz leben.

Es gibt zwischen der Bank von Frankreich und der Handelswelt gewisse kleinere Banken, nützliche Zwischenanstalten, welche die Sicherheit der großen Bank noch erhöhen. Birotteau und Konstanze, die nie über ihre Kräfte hinausgegangen waren, deren Kasse nie leer gewesen, hatten ihre Zuflucht niemals zu diesen Banken zweiter Klasse zu nehmen brauchen, waren damit aber auch in den höheren Regionen der Finanz um so unbekannter. Vielleicht ist es kaufmännisch falsch, sich nicht überhaupt eines wenn auch unnötigen Bankkredits zu bedienen. Die Meinungen hierüber sind geteilt. Wie dem aber auch sei, Birotteau bedauerte jetzt, in guten Tagen niemals Wechsel mit seiner Unterschrift ausgegeben zu haben. Da er aber als früherer Handelsrichter, Stadtverordneter und Royalist immerhin bekannt war, glaubte er, sich nur anmelden lassen zu brauchen. Er hatte keine Ahnung davon, wie überlaufen der Bankier war und daß Keller wie ein Fürst Audienzen zu halten pflegte.

Als Cäsar im Salon vor dem Kabinett des in so vieler Hinsicht berühmten Mannes saß, sah er sich zu seinem Erstaunen mitten in einer großen Gesellschaft von Abgeordneten, Journalisten, Wechselagenten, Großkaufleuten, Ingenieuren und so weiter; dazu kamen allerlei Intime des Hauses, die die andern übergingen und außer der Reihe gleichsam als Vorberechtigte in das Kabinett traten.

Was bin ich angesichts dieses Räderwerks? dachte Birotteau, ganz betäubt von dem Riesengange der intellektuellen Maschine, die vor seinen Augen arbeitete. Hier wurde das tägliche Brot der Opposition gebacken. Hier wurden die Rollen der großen von der parlamentarischen Linken gespielten Tragikomödien einstudiert. Sich zur Rechten hörte Cäsar eine Diskussion über die von der Regierung beabsichtigte Anleihe zum Ausbau der Kanallinien, wobei es sich um Millionen handelte. Zu seiner Linken unterhielt man sich über die gestrige Kammersitzung. Während zweistündigen Wartens beobachtete Birotteau dreimal, wie der große Bankier bedeutenden Persönlichkeiten ein paar Schritte aus seinem Kabinett heraus das Geleit gab. Den letzten, den General Foy, begleitete Franz Keller bis in das Vorzimmer.

Ich bin verloren! seufzte Cäsar. Sein Herz krampfte sich zusammen.

Die Schar von Freunden, Schmeichlern und Bittstellern umdrängte den Bankier jedesmal, wenn er sichtbar ward. Er wurde belagert wie eine läufische Hündin. Die einzelnen Konferenzen währten fünf, zehn, fünfzehn Minuten. Manche der Angenommenen kamen sichtlich niedergeschlagen heraus, andere mit zufriedener Miene, wieder andere sich wichtig tuend.

Die Zeit verstrich. Birotteau blickte ängstlich nach der Standuhr. Niemand beachtete den stillen Unglücklichen, der auf seinem vergoldeten Stuhl im Winkel am Kamin an der Tür des Allerweltsarztes, des Kredits, heimlich seufzte. Mit Schmerzen dachte Cäsar daran, daß er in seinem Hause ebenso ein König gewesen war, wie es dieser Mann alle Morgen vor aller Welt war. Dieser Gedanke ließ ihn so recht die Tiefe des Abgrundes ermessen, in den er gestürzt war. Wie bitter war die Erkenntnis! Wieviel Tränen hielt er in den zwei Stunden mühselig zurück! Wievielmal flehte er zu Gott, er möge den Mann da drinnen für ihn günstig stimmen. Er hatte in der kurzen Zeit die Wahrnehmung gemacht, daß der Bankier hinter der nachlässigen Maske leutseliger Gutmütigkeit viel Unverschämtheit, cholerische Tyrannei und brutale Herrscherlaunen verriet. Birotteaus sanfte Seele erschrak davor.

Endlich wartete nur noch etwa ein Dutzend Personen. Birotteau faßte den Entschluß, sobald die Tür des Kabinetts wiederum knarren würde, aufzustehen, sich dem großen Bankier vorzustellen und ihm zu sagen: Mein Name ist Birotteau! Jener Grenadier, der die Moskwaschanze als erster gestürmt, war nicht mutiger als der Parfümhändler, als er seinen Entschluß wirklich ausführte.

Franz Kellers Gesicht ward freundlich. Offenbar wollte er liebenswürdig sein. Sein Blick fiel auf das rote Ordensbändchen Birotteaus. Er trat zurück, öffnete die Tür des Kabinetts und bedeutete ihm den Weg. Eine Weile blieb er noch zurück, um mit zwei Personen zu sprechen, die eben erst angekommen waren und eifrig auf ihn eindrangen.

»Decazes möchte Sie sprechen!« sagte die eine Person. Die andere flüsterte ihm etliche Worte zu.

»Ich werde in die Sitzung kommen!« erklärte der Bankier. Dann betrat er sein Kabinett mit dem Gebaren des Frosches, der für einen Ochsen gelten will.

Wie kann er an Bankgeschäfte denken, wenn die Politik ihn beschäftigt! jammerte Cäsar bei sich. Er war außer Fassung, geblendet wie ein Insekt, das gegen ein Leuchtturmfeuer fliegt. Auf einem riesigen Tisch sah er Stöße von gedruckten Sitzungsberichten der Kammer, das Budget, Nummern des »Moniteur« mit rotangestrichenen Stellen, die gewiß zu Hilfe genommen werden sollten, um einem Minister frühere vergessene Worte wieder vorzuhalten und damit den Beifall der albernen Menge zu ernten, die nie zu begreifen fähig ist, daß neue Ereignisse die alten über den Haufen werfen. Auf einem andern Tisch waren Akten aufgehäuft, Denkschriften, Anschläge, all die tausenderlei Nachweise, die man einem Manne anvertraut, aus dessen Kassen aufblühende Unternehmungen schöpften oder schöpfen wollten. Der fürstliche Luxus des mit Gemälden, Bronzen und anderen Kunstwerken angefüllten Raumes, die Menge der geradezu in Ballen aufgeschichteten nationalen und fremdländischen Interessen, alles das übte auf Birotteau eine niederdrückende Wirkung aus. Er kam sich ganz klein vor. Dieses Gefühl vermehrte seine Angst und lahmte ihn geradezu.

Auf dem Schreibtisch des Bankiers lagen Bündel von Briefen, Wertpapieren, Wechseln, Zirkularen. Keller setzte sich und begann Briefe, die keiner Prüfung durch ihn bedurften, hastig zu unterzeichnen.

»Welchem Anlaß verdanke ich die Ehre Ihres Besuches?« fragte er.

Die Worte, hingeworfen, während die Hand des Fragers hastig über das Papier glitt, von einer Stimme, die zu ganz Europa zu sprechen vermochte und in dem Momente nur zu Cäsar Birotteau sprach – diese Worte drangen dem zaghaften Manne wie glühendes Eisen durch das Herz. Er zog eine freundliche Miene, wie sie Franz Keller seit einem Jahrzehnt zu erblicken gewohnt war, wenn ihn jemand in eine Angelegenheit ziehen wollte, die lediglich für den Sprecher von Wichtigkeit war, bei der somit von vornherein dem Bankier die Überlegenheit zufiel.

Franz Keller warf auf Birotteau einen Blick, der ihm durch und durch ging – einen napoleonischen Blick. Die Nachahmung von Äußerlichkeiten Napoleons war eine kleine Lächerlichkeit, die sich damals viele Parvenüs erlaubten, die nicht den kleinen Finger von Napoleon hatten. Der große Royalist Birotteau antwortete demütig:

»Herr Keller, ich will Ihnen Ihre Zeit nicht rauben und mich kurz fassen. Ich komme in rein geschäftlicher Angelegenheit ... um Sie zu fragen, ob ich einen Kredit bei Ihnen eröffnet bekommen kann. Als ehemaliger Handelsrichter bin ich der Bank bekannt. Ich habe noch nie Kredit beansprucht und noch nie meine Wechselunterschrift gegeben. Es ist somit das erstemal, und Sie wissen, wie schwer gerade das erstemal ist...«

Der Bankier schüttelte mit dem Kopfe. Birotteau hielt diese Bewegung für ein Zeichen von Ungeduld. Er fuhr fort:

»Die Sache liegt so. Ich habe mich in ein Terraingeschäft eingelassen, das mit meinem eigentlichen Geschäft nichts zu tun hat...«

Keller, der immer weiter las und unterzeichnete, ohne daß es aussah, als höre er auf Birotteau, wandte den Kopf und nickte beifällig. Cäsar glaubte, seine Sache verlaufe günstig, und atmete etwas auf.

»Weiter! Ich höre!« ermunterte Keller gutmütig.

Birotteau fuhr fort:

»Ich bin zur Hälfte Erwerber der Grundstücke um die Madeleine...«

»Hm! Ich habe bei Nucingen von der großen, durch die Firma Claparon angebahnten Spekulation gehört.«

»Ein durch meinen Anteil an diesem Geschäft gedeckter Kredit würde genügen, mich imstande zu halten, die Früchte dieses Unternehmens abwarten zu können. Ich .gehe auch in meinem Parfümgeschäft einem sichern Erfolg entgegen. Wenn es erforderlich ist, steht mir auch noch die Bürgschaft eines jungen Hauses, der Firma Anselm Popinot, zur Seite, einer Firma, die ...«

Keller war offenbar die Firma Anselm Popinot höchst gleichgültig und Birotteau merkte, daß er in ein falsches Fahrwasser steuere. Betroffen fuhr er fort:

»Über die Zinsen würden wir uns ...«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Keller, »die Sache ließe sich schon machen. Aber ich bin so beschäftigt.., ich leite Finanzoperationen in ganz Europa und meine politische Tätigkeit nimmt mir meine ganze Zeit. Wundern Sie sich also, bitte, nicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich eine Menge Geschäfte durch meine Leute prüfen lasse. Bemühen Sie sich hinunter zu meinem Bruder Adolf und setzen Sie ihm auseinander, welche Sicherheiten Sie bieten. Wenn er Ihr Unternehmen für gut befindet, dann kommen Sie mit ihm morgen oder übermorgen zu mir, und zwar früh fünf Uhr; das ist die Zeit, die ich lediglich den Geschäften widme. Wir werden es uns zur ganz besonderen Ehre anrechnen, Ihr Vertrauen erlangt zu haben. Sie sind durch und durch Royalist, Herr Birotteau. Wenn man der politische Gegner eines Mannes ist, so schmeichelt einem seine Achtung um so mehr.«

Von dieser rednerischen Phrase erwärmt, erwiderte Cäsar:

»Herr Keller, ich bin der Ehre würdig, die Sie mir bezeigen, ebenso würdig wie der allerhöchsten königlichen Auszeichnung, deren ich mich als ehemaliger Handelsrichter und Mitkämpfer auf den Stufen von Saint-Roch...«

»Gewiß! Gewiß!« unterbrach ihn der Bankier. »Ihr Ruf ist Ihr bester Geleitsbrief! Sie brauchen uns nur ein akzeptables Geschäft anzubieten und Sie können unserer Mitwirkung sicher sein!«

Eine Dame erschien in einer Tür, die Birotteau nicht bemerkt hatte.

»Lieber Franz«, sagte sie, »ich hoffe dich zu sehen, ehe du in die Kammer gehst.«

»Es ist zwei Uhr!« entgegnete ihr der Bankier. »Die Schlacht hat begonnen. Entschuldigen Sie, Herr Birotteau! Es gilt, ein Ministerium zu stürzen! Sprechen Sie also mit meinem Bruder!«

Er geleitete den Parfümhändler bis an die Tür zum Salon und gab einem Diener den Befehl:

»Führen Sie den Herrn zu Herrn Adolf!«

Birotteau folgte dem Lakaien durch ein Labyrinth von Treppen nach einem weniger prunkvollen, aber praktischer als das des Chefs des Hauses eingerichteten Kabinett. Er ritt den besten Gaul aus dem Stalle der Hoffnung. Die Liebenswürdigkeiten des berühmten Mannes umschmeichelten ihn noch. Er hielt sie für ein gutes Vorzeichen. Er bedauerte, daß ein Feind der Bourbonen so gütig, so geistreich, ein so großer Redner war.

Im Bann dieser Täuschungen betrat er das mit zwei Rollpulten, gewöhnlichen Sesseln, einem schlichten Teppich und sehr abgenutzten Gardinen ausgestattete Kabinett.

In diesem kahlen Räume wurden Bank- und Handelsgeschäften die Eingeweide herausgenommen, industrielle Pläne auf Herz und Nieren geprüft und für profitabel erachteten Unternehmungen die Besitzermarke aufgebrannt. Hier wurden die kühnen Coups erdacht und eingeleitet, die das Haus der Gebrüder Keller berühmt machten und ihm immer wieder neue Beute beispiellos rasch zubrachten. Hier wurden die Lücken der Gesetzgebung konstatiert und die sogenannten »Freßanteile«, das heißt die für die geringsten finanziellen Hilfeleistungen zu zahlenden Provisionen schamlos ausbedungen; oft gab das Bankhaus zur Kreditierung eines Unternehmens nichts weiter als den Namen. Hier entspannen sich die schrecklichen Manöver, deren Opfer so viele Aktionäre immer wieder werden, Manöver, die darin bestehen, daß man ein voraussichtlich prosperierendes Unternehmen zuerst unterstützt, das Aufblühen abwartet, ihm aber in einem kritischen Moment das Kapital wieder entzieht, um es zu erdrücken und sich seiner zu bemächtigen.

Die beiden Brüder Keller hatten die Rollen geschickt unter sich verteilt. Oben spielte Franz, ein glänzender Diplomat, den König, verteilte Gnadenbezeigungen und Versprechen und machte sich allgemein beliebt. Um ihn wehte eine leichte Luft. Er ließ sich voll Urbanität auf die Geschäfte ein, berauschte die Neulinge und angehenden Spekulanten mit dem Weine seiner Liebenswürdigkeit und seiner doppelzüngigen Phrasen, mit denen er ihnen ihre eigenen Ideen pries. Unten entschuldigte Adolf seinen Bruder damit, daß ihm seine politische Betätigung ein genaues Eingehen auf die Sache unmöglich mache, und klopfte selber tüchtig auf den Busch. Mit ihm war nicht gut Kirschen essen. Er nannte alle Dinge beim rechten Namen und nahm kein Blatt vor den Mund. Man mußte selber eine Doppelnatur sein, um mit diesem perfiden Bankhaus etwas erreichen zu können. Häufig wurde dem honigsüßen »Ja« im Prunkkabinett von Franz ein trockenes »Nein« in der Kanzleistube von Adolf entgegengesetzt. Dieses hinhaltende Verfahren gewährte dem Hause Zeit zu Überlegungen und war sehr oft ein Mittel, ungeschickten Konkurrenten eins auszuwischen.

Als Birotteau seine Sache vorgebracht hatte, warf Adolf, ein richtiger schlauer Fuchs, den Kopf senkend einen Blick über seine Brille hinweg auf den Sprecher und sah ihn mit seinen scharfen Augen an. Cäsar kam dieser Blick wie der eines Geiers vor: gierig und herzlos, funkelnd und finster.

»Schicken Sie mir, bitte, Unterlagen, die einen Überblick über Ihre Terrainspekulation gewähren«, sagte er. »Wir müssen zunächst die Grundlage prüfen, ehe wir Ihnen den Kredit eröffnen und über den Zinsfuß konferieren. Ist die Sache gut, dann würden wir uns unter Umständen statt des Diskonts mit einer Dividende am Reingewinn begnügen.«

Ich sehe schon, wie der Hase läuft, sagte sich Birotteau, als er heimging. Wie der verfolgte Biber muß ich ein Stück von meiner Haut fahren lassen... Aber, es ist immerhin besser, ein Schaf zu sein, das geschoren, als eins, das gebraten wird!

Er kam höchst vergnügt nach Hause.

»Ich bin gerettet!« frohlockte er vor Cäsarine. »Ich werde bei Kellers einen Kredit bekommen!«

Erst am 29. Dezember gelang es Birotteau, abermals mit Adolf Keller zu sprechen. Als es Birotteau das erstemal versuchte, war der Bankier ausgefahren, um sechs Stunden vor Paris ein Landgut zu besichtigen, das sein Bruder kaufen wollte. Das zweitemal waren beide Brüder geschäftlich verhindert, Audienzen zu erteilen; man beriet über die Übernahme einer in der Kammer debattierten Staatsanleihe. Birotteau wurde ersucht, am kommenden Freitag wieder vorzusprechen. Verzögerungen, die Cäsar zu Boden drückten.

Endlich war es Freitag. Abermals saß Birotteau in Adolfs kahlem Kabinett. Das volle Tageslicht fiel durch das Fenster auf ihn. Der Bankier begann zu fragen:

»Die Papiere sind in Ordnung, Herr Birotteau. Was haben Sie aber auf den Kaufpreis der Grundstücke angezahlt?«

»Hundertvierzigtausend Francs!«

»Bar?«

»In Wechseln!«

»Sind sie bezahlt?«

»Der Fälligkeitstag ist nahe.«

»Sagen Sie mal, wo bleibt für uns eine Sicherheit, wenn Sie die Grundstücke zu teuer gekauft hätten? Sie haben sie zum Zeitwert erworben. Wir hätten im Grunde keine andere Garantie als die Ihres guten Namens. Aber mit Gefühlen lassen sich keine Geschäfte machen! Wenn Sie zweihunderttausend Francs bezahlt hätten, könnten Sie ruhig hunderttausend zuviel für die Grundstücke bezahlt haben: wir würden Ihnen hunderttausend geben können, ohne dabei etwas zu riskieren. Übrigens ist es noch gar nicht gesagt, daß die ganze Sache gut ist. Man muß einfach fünf Jahre warten. Vielleicht verdoppelt sich der Wert bis dahin. Aber in dieser Zeit können wir mit dem Gelde in andern Geschäften viel machen. Es bietet sich alle Tage was. Klar gesagt: sollen wir zunächst Ihre bald fälligen Wechsel bezahlen! Das ist eine faule Geschichte. Das Geschäft ist nichts für Sie!«

Birotteau war sprachlos. Er verlor den Kopf.

»Wir wollen mal sehen!« fuhr Adolf fort. »Mein Bruder interessiert sich lebhaft für Sie. Er hat mir das extra gesagt. Erzählen Sie mir noch was von der Sache!«

Birotteau fiel auf diesen grausamen Scherz hinein. Er berichtete dem Bankier alle seine Geschäftsgeheimnisse. Er schwatzte von »Sultaninnen-Creme« und »Venus-Wasser«, von Roguins Flucht, von seinem Prozeß um die Hypothek, für die er kein Geld bekommen hatte, und so fort.

Adolf Keller machte eine nachdenkliche Miene und lächelte vor sich hin, Cäsar bildete sich ein, er interessiere sich für alles das. Ich bekomme meinen Kredit! frohlockte er. In Wirklichkeit hatte der Bankier seinen Spaß an dem einfältigen Kaufmann. Fortgerissen durch seine eigene Geschwätzigkeit – im Banne des Unglücks reden sich Leute seines Schlages in eine Art Rausch hinein – verriet Cäsar den wahren Birotteau. Es war durchaus charakteristisch für seine Geistesgröße, daß er einem großen Bankhause als Sicherheit sein »Kephalol« (seinen letzten Spieleinsatz!) und die Firma Popinot vorschlug. Auf dem Irrwege seiner Hoffnung ließ er sich examinieren und sondieren. Der schlaue Bankier zog das Resümee: Dieser royalistische Hohlkopf steht vor der Pleite! Er hatte seine Freude daran, einen Günstling der Regierung, einen jüngst Dekorierten vor dem Bankerott zu sehen.

Nunmehr sagte er ihm ins Gesicht, er könne ihm weder einen Kredit eröffnen noch ihn seinem Bruder empfehlen, schon allein aus politischen Rücksichten.

Der erbitterte Parfümhändler war nahe daran, eine Bemerkung über die angebliche Menschenfreundlichkeit der Herren Keller zu machen, aber der Schmerz über sich selbst übermannte ihn derart, daß er nur die Worte »Bank von Frankreich« stammelte.

»Ich glaube nicht«, bemerkte Adolf Keller kühl, »daß da, wo schon eine einfache Bank streikt, die Bank von Frankreich Kredit gewähren wird.«

»Es ist mir schon immer so vorgekommen«, jammerte Birotteau, »daß die Einrichtung der Bank von Frankreich verfehlt ist. Sie sollte Pariser Kaufleuten ...«

Der Bankier erhob sich mit der Gebärde des gelangweilten Menschen.

»Wenn sich die Bank damit befassen wollte«, warf er hin, »auf dem kaufmännisch schlüpfrigsten Platze der Welt in Geldverlegenheit geratene Leute zu kommanditieren, dann würde sie binnen eines Jahres die Bude zumachen müssen. Sie hat schon so Mühe genug, sich gegen Wechselreiterei und faule Kunden zu schützen. Was würde aus ihr werden, wenn sie sich auch noch mit Firmen abgeben sollte, die sich durch sie über Wasser halten wollen?«

Wo soll ich die zehntausend Francs hernehmen, die ich morgen, Sonnabend, den 30. Dezember, brauche und nicht habe? fragte sich Birotteau, als er das Bankhaus verließ.

Der Gewohnheit gemäß zahlt man am dreißigsten, wenn der einunddreißigste ein Feiertag ist.

Als Cäsar, die Augen voll Tränen, aus dem Portal trat, fiel sein Blick auf einen schönen englischen Vollblüter vor einem hübschen Kabriolett, das gerade vor dem Hause zum Halten kam. Am liebsten hätte sich der Parfümhändler von diesem Fahrzeug überfahren lassen. Dann wäre er just im rechten Augenblick gestorben und die Unordnung in seinem Geschäfte wäre mit auf die Rechnung des Unfalls geschrieben worden. In seiner innern Verwirrung erkannte er du Tillet gar nicht, der, geschniegelt und gebügelt, vom Wagen absprang, dem Diener die Zügel zuwarf und das warmgewordene Pferd mit einer Decke einhüllte.

»Was führt Sie hierher?« fragte der Bankier seinen ehemaligen Prinzipal. Er kannte die Veranlassung sehr wohl. Die Gebrüder Keller hatten bei Claparon Erkundigungen eingezogen und dieser hatte, unter Bezugnahme auf du Tillet, den alten guten Ruf des Parfümhändlers zunichte gemacht.

Die vergeblich unterdrückten Tränen des armen Kaufmannes gaben die deutlichste Antwort.

»Sie waren doch nicht etwa hier bei diesen Halsabschneidern, diesen herzlosen Börsenjobbern ? Sie ahnen ja gar nicht, was das für Gauner sind! In Le Havre, Bordeaux und Marseille weiß man davon ein Lied zu singen. Aber ich ziehe den Kerlen die Hosen straff ... Gehen wir ein Stück zusammen, mein lieber Herr Birotteau! – Joseph, bewegen Sie den Gaul im Schritt! Er ist warm geworden... Ich sage Ihnen, Herr Birotteau, in dem Vollblüter stecken tausend Taler Kapital!«

Sie gingen zusammen nach den Boulevards zu.

»Hören Sie mal, verehrter Gönner – das waren Sie mir ja einmal! – brauchen Sie Geld? Die Schufte haben Garantien verlangt! Aber ich kenne Sie. Ich biete Ihnen Geld auf Ihren bloßen Wechsel an. Wissen Sie, wie ich mein Glück gemacht habe? Auf anständige Weise. Aber so einfach war die Sache nicht. Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen! Ich habe in Deutschland Schuldtitel des Königs mit sechzig Prozent Verdienst aufgekauft. Die Kaution, die Sie damals für mich gestellt haben, war mir dabei sehr nützlich. Ich bin Ihnen auch dankbar. Also, wenn Sie zehntausend Francs brauchen, so stehen sie Ihnen zu Diensten!«

»Was? Du Tillet!« rief Cäsar aus. »Ist das wahr? Ist das kein Scherz von Ihnen? Ich will's nur gestehen: ich bin ein wenig in der Klemme, aber es ist nicht schlimm.«

»Weiß schon! Die Geschichte mit Roguin! Ich verliere auch zehntausend Francs, um die der alte Gauner mich auf Nimmerwiedersehen angepumpt hat. Seine Frau will sie mir zwar von ihrem Eingebrachten zurückzahlen. Ich habe ihr aber den guten Rat gegeben, nicht so dumm zu sein und von ihrem Vermögen die Schulden zu bezahlen, die ihr Mann eines liederlichen Weibes wegen gemacht hat. Ich ließe mir's noch gefallen, sie wäre in der Lage, alles zu bezahlen. Aber wozu ein paar Gläubiger befriedigen unter Benachteiligung der übrigen ? Wenn ich so bedenke: Sie! Sie sind ein anderer Mann als dieser Roguin! Sie würden sich eher aufhängen, als mich um einen roten Heller bringen! Da sind wir ja an der Rue de la Chaussée-d'Antin. Kommen Sie mit zu mir hinauf!«

Der Parvenü machte es sich zum Vergnügen, seinem ehemaligen Prinzipal seine Wohnung zu zeigen, anstatt ihn in sein Kontor zu führen. Er geleitete ihn langsam durch ein üppiges Eßzimmer mit in Deutschland gekauften Gemälden und durch zwei Salons von einem Luxus und einer Eleganz, wie sie Birotteau bisher nur im Hause des Herzogs von Lenoncourt zu sehen Gelegenheit gehabt hatte. Seine kleinbürgerlichen Augen wurden geradezu geblendet durch den vergoldeten Stuck, die sinnlosen Nippsachen, die Kunstwerke, die kostbaren Vasen und durch tausend Einzelheiten, vor denen die Herrlichkeiten seines eigenen Heimes verblichen. Da er sich erinnerte, was ihn die eigenen Torheiten gekostet hatten, sagte er sich: Der Mann muß Millionen haben!

Du Tillet zeigte ihm sodann sein Schlafzimmer, im Vergleich zu dem das von Konstanze gar nichts war. Wände und Decke waren von violetter Seide mit weißseidener Ausschmückung bedeckt; der orientalische Teppich war veilchenfarbig und kontrastierte zu dem Hermelin der Bettvorhänge. Die Möbel, wie alles Gerät im Zimmer, waren im neuesten Geschmack und raffiniert ausgesucht. Besonders gefiel Birotteau eine herrliche Standuhr: »Amor und Psyche«, die nur in zwei Exemplaren existierte.

Zuletzt kamen sie in ein kokettes kleines Dandyzimmer, das mehr nach galanten Erlebnissen denn nach Finanzoperationen roch. Auf dem Boden lag ein wundervoller Brüsseler Teppich.

Du Tillet bat den überraschten und verwirrten Parfümhändler, am Kamin Platz zu nehmen.

»Wollen Sie mit mir frühstücken?«

Er klingelte. Der Kammerdiener erschien. Er war besser angezogen als Birotteau.

»Sagen Sie Legras, er solle mal heraufkommen! Joseph, den Sie vor dem Kellerschen Hause finden, soll einrücken! Dann gehen Sie zu Herrn Adolf Keller. Richten Sie ihm aus, ich käme nicht zu ihm, ich erwartete ihn noch vor der Börse hier bei mir! Lassen Sie das Frühstück servieren, und zwar bald!«

Birotteau war ganz starr:

Dieser du Tillet befiehlt den gefürchteten Adolf Keller zu sich, wie man einen Jagdhund zu sich heranpfeift!

Ein Groom, winzig wie ein Zwerg, stellte einen niedlichen kleinen Tisch auf, servierte eine Leberpastete, eine Flasche Bordeaux und allerlei Delikatessen, wie sie im Hause Birotteau im Jahre keine dreimal, etwa an den hohen Festen, auf den Tisch kamen. Du Tillet freute sich teuflisch. Sein Haß gegen den einzigen Mann, der das Recht hatte, ihn zu verachten, wärmte sich an dieser Freude, Er kam sich vor wie ein Löwe, der mit einem Schaf spielt.

Ich habe die Macht, diesen Mann kaufmännisch zu vernichten, sagte er sich. Ich habe Leben und Tod in der Hand, von ihm, seiner Frau, die mich verschmäht hat, und von seiner Tochter, deren Hand mich einst ein großes Glück dünkte. Ich habe ihm sein Vermögen genommen. Es soll mir genug sein, den armen Schlucker an einem Fädchen tanzen zu lassen, das ich in der Hand halte!

Er kam sich in der Beschränkung edelmütig vor. Sein Haß schlief ein. Aber biedere Naturen sind wenig sensibel. Das war Birotteaus Unglück. Ahnungslos reizte er den Löwen. Durch seine biedern Herzensergießungen machte er ihn unversöhnlich.

Du Tillets Kassierer erschien.

»Herr Legras, bringen Sie mir zehntausend Francs und bereiten Sie einen Wechsel über die Summe vor, auf meine Order und auf drei Monate, von diesem Herrn hier auszustellen. Sie kennen doch seine Adresse? Es ist Herr Cäsar Birotteau.«

Du Tillet legte seinem Gaste von der Pastete vor und schenkte ihm ein Glas Wein ein. Birotteau, der sich gerettet sah, lachte vergnügt vor sich hin und spielte mit seiner Uhrkette. Erst als sein ehemaliger Kommis ihn erinnerte: »Sie essen ja nicht!« begann er zu essen.

Der Kassierer kam wieder. Birotteau unterschrieb den Wechsel. Jetzt, wo er die zehn Scheine in der Tasche hatte, verlor er seine Selbstbeherrschung. Noch vor einer halben Stunde war er zahlungsunfähig gewesen. Das war überwunden. Das Glücksgefühl, gerettet zu sein, kam an Intensität den überstandenen Qualen angesichts des Ruins gleich. So sehr es gegen seinen Willen war: seine Augen wurden tränenfeucht. Damit verriet er dem Bankier, aus welchem tiefen Abgrund er ihn eben gezogen hatte, ohne zu ahnen, daß ihn dieser Mann wieder hinabstoßen konnte.

»Was ist Ihnen denn, verehrter Prinzipal?« fragte du Tillet. »Würden Sie nicht morgen für mich das tun, was ich heute für Sie tue? Was ist da weiter dabei?«

»Du Tillet«, versetzte Birotteau überschwenglich, indem er aufstand und die Hand seines ehemaligen Kommis ergriff, ,.ich schenke Ihnen meine ganze Achtung wieder!«

Du Tillet verstand diese Worte. Er vergaß sein Glück und ward rot.

»Dann hatte ich die also verloren?«

»Verloren ... gerade nicht«, erwiderte der Parfümhändler im Gefühl, etwas Dummes gesagt zu haben. »Man munkelt so mancherlei über Ihr Verhältnis zu Frau Roguin. Mein Gott! Die Frau eines andern ...«

Du kümmerst dich um Dinge, die dich den Teufel angehen! dachte du Tillet bei sich. Warte nur, alter Knabe! Von neuem erwachte in ihm die Lust, diesen Tugendbold zu vernichten und den Biedermann, der ihn ehedem bei einem Kassendiebstahl erwischt hatte, vor ganz Paris an den Pranger zu stellen. Er haßte diesen Mann bis in den Grund seiner Seele. Der Zweikampf zwischen einem Verbrecher und dem Zeugen seiner Untat endet nur mit dem Tode eines der beiden Kämpfer.

»Frau Roguin!« meinte er lachend. ,,Du mein Gott! Auf die Eroberung braucht ein junger Mann nicht besonders stolz zu sein ... Aber ich verstehe Sie, verehrter Gönner! Man wird Ihnen erzählt haben, sie hätte mir Geld geliehen. Gerade das Gegenteil ist der Fall: ich habe ihr Vermögen, das in die Affäre ihres Mannes bedenklich verstrickt war, wieder auf die Beine gebracht. Der Ursprung meines Wohlstandes ist rein. Ich habe Ihnen bereits davon erzählt. Sie wissen, ich war arm. Junge Leute geraten mitunter in gräßliche Klemmen. Manche schicken sich in das Elend. Wenn man aber wie die Republik eine Zwangsanleihe macht – mein Gott! – und zahlt sie später zurück: dann steht man genau so rechtschaffen da wie Frankreich!«

»Ja, ja«, stotterte Birotteau, »mein Lieber... Gott ja!... Hat nicht Voltaire einmal gesagt: Gott machte aus der Reue eine Tugend der Sterblichen!«

Das Zitat ging du Tillet von neuem sozusagen an die Nieren.

»Allerdings«, entgegnete er, »darf man seinen Nächsten nicht aus Niedertracht, aus Gemeinheit an seinem Vermögen schädigen – wie das zum Beispiel der Fall wäre, wenn Sie vor der Fälligkeit Ihres Wechsels pleite machten und mich um meine zehntausend Francs prellten!«

»Ich pleite machen?« echote Birotteau, der drei Gläser Wein getrunken hatte und in eitel Wonne schwamm. »Meine Ansichten über den Bankerott sind allbekannt. Der Konkurs ist der Tod eines Kaufmanns. Und bloß als Mensch möchte ich nicht weiterleben!«

»Auf Ihre Gesundheit!« sagte du Tillet, indem er Cäsar zutrank.

»Prosit! Auf Ihr Wohl! – Sagen Sie mal, du Tillet, warum kaufen Sie eigentlich Ihren Bedarf nicht bei mir?«

»Ich will Ihnen gestehen: aus Angst vor Ihrer Frau! Sie hat mir immer gefallen, und wenn Sie nicht mein Gönner wären ... weiß der Teufel!«

»Na ja. Sie sind nicht der erste, der sie schön findet. Es hat ihr mancher nachgestellt. Doch sie liebt mich! Aber was ich sagen wollte, mein lieber du Tillet, mein Junge: man soll nichts halb tun!«

»Wieso?«

Birotteau setzte ihm nun seine Baustellenspekulation auseinander. Du Tillet machte große Augen und schnitt dem Parfümhändler Komplimente über seinen Scharfblick.

»Zukunftsmusik!« sagte er. »Aber ihr macht mal ein Bombengeschäft!«

»Das Lob gerade von Ihnen zu hören, das freut mich wirklich!« schmunzelte Birotteau. »Sie haben in Finanzkreisen ein großartiges Renommee als klarer Kopf! Mein lieber du Tillet, Sie sollten mir bei der Bank von Frankreich einen Kredit verschaffen, bis mein ,Kephalol‘ Gewinn abwirft!«

»Ich will Sie an das Haus Nucingen empfehlen«, erwiderte der Bankier, indem er sich vornahm, sein Opfer alle Touren des Pleitekonter durchtanzen zu lassen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb folgenden Brief an Nucingen:

»Mein lieber Baron!

Der Überbringer dieses Briefes, Herr Cäsar Birotteau, Stadtverordneter, einer der angesehensten Parfümhändler von Paris, wünscht mit Ihnen in Geschäftsverbindung zu treten. Gewähren Sie ihm jeden erbetenen Kredit! Was Sie ihm tun, tun Sie Ihrem Freund

Ferdinand du Tillet.«

Du Tillet setzte über das i in seinem Namen keinen Punkt. Das war für seine Geschäftsfreunde ein verabredetes Zeichen, Alsdann hatten die wärmsten Empfehlungen, die angelegentlichsten Fürbitten keine Bedeutung. Er sah sich gezwungen, den Empfehlungsbrief zu schreiben, aber in Wirklichkeit war er nicht geschrieben. Wenn sein Freund das i ohne Punkt sah, gab er dem Überbringer keinen Pfifferling. Mit diesem Kniff war schon mancher gefoppt worden.

»Du Tillet, Sie sind mein Retter! rief Cäsar nach der Lektüre des Briefes aus.

»Ach was! Zu meinem Bedauern verfüge ich gerade in diesen Tagen über keine baren Gelder. Sonst schickte ich Sie nicht erst zu diesem Bankfürsten. Die Kellers sind Knirpse gegen Nucingen. Er ist ein zweiter Law! Mit dem Briefe da bekommen Sie von ihm, was Sie verlangen. Vorläufig können Sie sich also am 15. Januar halten. Später werden wir schon sehen. Nucingen und ich sind die besten Freunde. Und wenn es eine Million gälte, er würde nicht ungefällig gegen mich sein!«

Voll tiefer Dankbarkeit für du Tillet verabschiedete sich Birotteau von ihm. Unterwegs sagte er zu sich: Ja, ja! Jede gute Tat bringt: ihre Früchte! Er philosophierte ins Blaue hinein, aber trotzdem trübte ein Gedanke seine frohe Zuversicht.

In den letzten Tagen hatte er seine Frau daran gehindert, ihre Nase in die Geschäftsbücher zu stecken, und die Kasse Cölestin aufgehalst. Er wollte wohl, daß sich Konstanze und Cäsarine der neuen Wohnungseinrichtung erfreuen sollten, aber er wußte ebensogut, daß seine Frau eher gestorben wäre, als daß sie darauf verzichtet hätte, sich weiterhin um die Einzelheiten des Geschäftes selber zu kümmern. Sie ließ sich nicht so ohne weiteres das Heft aus den Händen nehmen. Birotteau war mit seinem Latein zu Ende. Er hatte alles mögliche getan, um ihr die Symptome seiner Geschäftsklemme zu verbergen. Jedoch auf die Dauer ging das nicht. Konstanze hatte das Ausschicken der Rechnungen höchlichst mißbilligt; sie hatte die Kommis ausgezankt und Cölestin den Vorwurf gemacht, er ruiniere den Ruf der Firma. Sie war der Meinung, er habe eigenmächtig gehandelt. Cölestin ließ sich, treu der Weisung seines Prinzipals, ruhig ausschelten. In den Augen des Personals hatte ja Frau Birotteau die Hosen an. Man kann wohl die Fernstehenden, niemals aber die Leute im Hause darüber täuschen, wer das Regiment führt, der Mann oder die Frau. Kurzum, Cäsar mußte seiner Frau seine Lage beichten. Die Anleihe bei du Tillet, die in die Bücher eingetragen werden mußte, erforderte allein eine Erklärung.

Als er heimkam, saß Frau Konstanze gerade über dem Hauptbuche. Offenbar machte sie Kassenabschluß. Birotteau fuhr der Schreck in die Glieder. Er setzte sich neben das Pult, an dem sie stand.

»Höre mal, Cäsar, mit was willst du denn morgen zahlen ?« fragte sie leise.

»Mit dem Gelde hier!«

Er zog die zehn Tausendfrancsscheine aus der Tasche, winkte Cölestin heran und händigte sie ihm ein.

»Wo kommen denn die her?«

»Das will ich dir heute abend erzählen, liebe Konstanze. Cölestin, tragen Sie ein: ultimo März, ein Wechsel, zehntausend Francs, Order du Tillet!«

»Du Tillet!« rief Konstanze erschrocken.

»Ich muß wieder gehen. Will mal Popinot aufsuchen. Es ist wirklich nicht recht von mir, daß ich noch immer nicht bei ihm war. Geht das Kephalol übrigens?«

»Die dreihundert Flaschen, die uns Anselm geschickt hat, sind verkauft... Cäsar, bleibe da! Ich habe mit dir zu reden!«

Konstanze packte ihn am Arm und zog ihn in ihr Zimmer. Ihre Hast wirkte lächerlich. Als sie oben allein waren, nur in Gegenwart von Cäsarine, sagte sie:

»Du Tillet! Der uns tausend Taler gestohlen hat! Mit dem machst du mit einemmal Geschäfte! Mit dem Scheusal, dem Menschen, der mich verführen wollte!«

Die letzten Worte sprach sie leise aus.

»Eine Jugendeselei!« meinte Birotteau, als ob er urplötzlich Weltmann geworden wäre.

»Du bist aus deinem Geleise! Du gehst nicht mehr in die Fabrik. Da ist irgendwas los! Und das wirst du mir sagen. Ich muß alles wissen!«

»Na, weißt du, es hat nicht viel gefehlt und wir wären pleite gegangen! Heute früh waren wir es noch. Aber nun ist alles wieder gut...«

Nun erzählte er ihr die ganze schreckliche Geschichte.

»Das also war die Ursache deiner Krankheit!« rief Konstanze.

»Ach, Mutter«, mengte sich Cäsarine ein, »Vater ist ein Held! Ich wünschte, ich würde auch so geliebt! Er hat dir keinen Kummer verursachen wollen!«

»Mein Traum ist also doch in Erfüllung gegangen!« jammerte die arme Frau und sank bleich und entsetzt auf das Sofa am Kamin. »Ich habe alles vorhergesehen! Ich habe es dir in jener verhängnisvollen Nacht in unserm alten Schlafzimmer, das du hast wegreißen lassen, gesagt. Wir werden nichts mehr haben als unsere Augen zum Weinen. Arme Cäsarine!«

»Ja, so bist du nun!« brummte Birotteau. »Du wirst mir den guten Mut nehmen, den ich so nötig habe.«

»Verzeih mir, Lieber!« sagte Konstanze, indem sie Cäsars Hand ergriff und zärtlich an ihr Herz drückte, daß es ihm ganz rührselig zumute wurde. »Es war nicht recht von mir. Ich will stumm, ergeben und stark sein. Das Unglück ist nun da. Du sollst mich niemals klagen hören!«

Sie warf sich in seine Arme. Weinend fuhr sie fort:

»Mut, lieber Freund, Mut! Ich werde Mut für zwei haben, wenn es nötig sein sollte!«

»Liebe Konstanze! Unser Kephalol wird uns retten!«

»Gott wird uns schützen!«

»Wird denn Anselm dem Vater nicht helfen?« fragte Cäsarine.

»Ich werde ihn aufsuchen«, entgegnete Cäsar, gerührt durch die Wehmut seiner Frau. Er kannte sie nach neunzehn Jahren immer noch nicht völlig. »Ängstige dich nicht mehr, Konstanze! Hier, lies diesen Brief Tillets an Nucingen! Ein Kredit bei ihm ist uns sicher. Bis dahin werde ich meinen Prozeß gewonnen haben. Übrigens ...«, fügte er mit einer Notlüge hinzu, »... ist ja auch noch Onkel Pillerault da! Wir müssen nur Mut haben!«

»Wenn es nur darauf ankäme!« meinte Konstanze.

Einer großen Last ledig, ging Birotteau fort. Er kam sich frei vor wie ein aus der Gefangenschaft Entlassener, wenngleich er sich unbeschreiblich erschöpft fühlte, wie das nach übermäßigen seelischen Leiden der Fall ist, wenn mehr Nerven- und Willenskräfte verbraucht werden, als vorrätig sind, so daß gewissermaßen das Kapital einer Menschenexistenz angegriffen wird. Birotteau war tatsächlich dabei gealtert.

Seit vier Wochen hatte sich das Haus Anselm Popinots in der Rue des Cinq-Diamants recht verändert. Der Laden war vorgerichtet worden. Den Kundigen grüßten gewisse Merkmale des guten Geschäftsganges.

Popinot stand im Hintergrunde seines Ladens an einem Schreibpult, das durch eine Vitrage abgesondert war. Wie gewöhnlich trug er eine Schürze aus Serge und Schutzärmel aus grüner Leinwand; die Feder hinter dem rechten Ohr, war er in allerhand Geschäftspapiere vertieft.

Als er die Worte: »Na, mein Junge!« hörte, mit denen sein ehemaliger Prinzipal in den Laden trat, wandte er den Kopf, verschloß das Pult und kam ihm mit freudiger Miene entgegen. Er hatte eine rote Nasenspitze, denn er ließ den Laden nicht heizen, und die Ladentür stand immer offen.

»Ich fürchtete bereits, Sie würden niemals hierher kommen«, sagte er in ehrerbietigem Tone.

Die drei Kommis staunten den berühmten Parfümhändler, Stadtverordneten und Ritter der Ehrenlegion an, den Kompagnon ihres Prinzipals. Ihre stumme Huldigung schmeichelte Cäsar. Vor wenigen Stunden, bei den Gebrüdern Keller, klein und gedemütigt, verspürte er jetzt das Bedürfnis, jene Geldgrößen zu imitieren. Er griff sich an das Kinn, spreizte sich überlegen und ließ ein paar Phrasen los.

»Hier ist ja alles auf dem Damm!« meinte er.

»Freilich! Wenn man sich aufs Ohr legt, kommt kein Erfolg!«

»Na ja! Mein Kephalol wird aus dem Laden eine Goldgrube machen!«

»Gewiß, Herr Birotteau! Zunächst heißt's aber, Geld in die Sache stecken! Ich kann sagen, ich habe Ihr Gold fein zupacken lassen!«

»Wie steht's damit ? Geht das Zeug gut?«

»Wie können Sie das nach drei Wochen schon verlangen?« sagte Popinot im Flüstertone. »Freund Gaudissart ist erst dreizehn Tage unterwegs. Er hat sich eine Extrapost genommen, ohne es mir zu sagen. Ja, das ist ein flinker und zuverlässiger Kerl! Wir verdanken somit indirekt meinem Onkel viel... Die Annoncen werden uns ungefähr Zwölftausend Francs kosten ...«

»Die Annoncen?«

»Gewiß! Sie haben wohl die Zeitungen nicht in den Händen gehabt?«

»Nein!«

»Ja, dann wissen Sie ja noch nichts. Zwanzigtausend Francs für Annoncen, Plakate und Prospekte! Wir stellen hunderttausend Flaschen fertig! Großfabrikation!

Wenn Sie einmal in die Fabrik gekommen wären, hätten Sie was gesehen! Vorderhand haben wir, wie gesagt, große Ausgaben!«

»Donnerwetter!« meinte Birotteau.

Es traten Käufer in den Laden.

»Auf Wiedersehen!« sagte Cäsar. »Wir sind nächsten Sonntag bei der Tante Ragon zu Tisch. Da sehen wir uns wohl?«

Das ist ein Kerl! dachte er bei sich, als er den Laden verließ. Kaum noch Kommis und jetzt schon ein großer Kaufmann!

Der Sonntag im Hause Ragon sollte für Birotteau und seine Frau die letzte ungetrübte Freude während der neunzehn glücklichen Jahre ihrer Ehe sein.

Ragon wohnte in der Rue du Petit-Bourbon-Saint-Sulpice im zweiten Stock eines altmodischen Hauses. An den alten Wänden tanzten noch die Schäferinnen seliger Rokokotage mit Körben auf dem Rücken und weideten ihre Schäflein. Ragons waren kuriose Nachzügler jenes Jahrhunderts, dessen Bürger, würdevoll und steif, voll Respekt vor dem Adel, devot vor dem Souverän und der Kirche, alles in allem so urkomisch waren. Die Möbel, die Standuhren, das Leinenzeug, das Tischgerät, alles war patriarchalisch und antik-eigenartig. In dem mit altem Damast ausgeschlagenen und mit brokatbesetzten Vorhängen geschmückten Salon prangte über allerhand Antiquitäten ein großartiger Popinot im Schöffenornat, von Latour gemalt, der Vater von Frau Ragon, im Bilde ein Grandseigneur mit der selbstzufriedenen Miene des Parvenüs. Das lebendige Pendant dazu war Frau Ragon mit ihrem kleinen englischen Hunde von der Rasse des Lieblingshundes König Karls des Zweiten. Wenn sie auf dem hartpolstrigen Rokokosofa saß, das sicherlich nie die Rolle des Sofas von Crebillon gespielt hatte, sah sie süperb aus.

Unter allen den archaischen Vorzögen der Ragons war ihr bester der Besitz eines Kellers alter Weine und Liköre. Deshalb hatten auch ihre kleinen Diners einen großen Ruf. Zu dem alten Hausstande der beiden alten Leute gehörte eine alte Köchin von altertümlichster Ergebenheit.

An Gästen waren erschienen: Kreisrichter Popinot, Onkel Pillerault, Anselm Popinot, die drei Birotteaus, die drei Matifats und der Abbé Loraux.

Diese zehn Personen waren um fünf Uhr vollzählig. Im Hause Ragon pflegte man zur erbetenen Zelt zu kommen; hier galt die neumodische, vom guten Ton angenommene Unpünktlichkeit nicht.

Cäsarine Birotteau wußte schon vorher, daß ihr Frau Ragon Anselm zum Tischnachbar geben würde; in puncto Liebe verstehen sich alle Frauen einschließlich der Betschwestern und Originale. Die Tochter des Parfümhändlers hatte sich so gekleidet, daß sie dem armen Anselm den Kopf vollends verdrehte. Ihre Mutter, die nur ungern auf einen Notar als Schwiegersohn verzichtete, hatte ihr nicht ohne anzügliche Bemerkungen bei der Toilette geholfen; sie zupfte am züchtigen Halstuch herum, bis Cäsarines Schultern und ihre wirklich elegante Halslinie gehörig zu sehen waren. Die griechische Korsettage durfte nicht ganz schließen und einen Blick auf den köstlichen kleinen Busen gestatten. Ihr blaugraues Merinokleid verriet eine graziöse feine Figur, und das à la chinoise frisierte Haar hielt die frische Haut des Genickes frei. Kurzum, Cäsarine sah zum Anbeißen hübsch aus. Sogar Frau Matifat konnte nicht umhin, dies einzugestehen, allerdings ohne zu wissen, daß sich Mutter und Tochter darin einig waren, den kleinen Popinot zu umgarnen.

Kein Mensch störte die verliebte Plauderei, die das verliebte Paar in einer winterkalten Fensternische führte. Die Unterhaltung der übrigen war lebhaft geworden, nachdem der Richter Popinot Roguins Flucht erwähnt hatte.

Bei dem Namen Roguin hatte Frau Ragon ihren Bruder auf den Fuß getreten, und Pillerault hatte dem Richter durch einen Wink nach Frau Birotteau hin bedeutet, zu schweigen. Aber Konstanze bemerkte mit traurig-sanfter Resignation:

»Ich weiß alles!«

»Na«, fragte Frau Matifat den kleinlaut dasitzenden Birotteau, »mit wie viel ist er Euch denn durchgebrannt? Wenn man auf den Klatsch hören wollte, dann pfifft Ihr auf dem letzten Loche!«

»Zweihunderttausend Francs hatte er von mir. Wegen vierzigtausend, einer ihm von einem seiner Klienten anvertrauten Summe, die er in Wirklichkeit gar nicht mehr besaß, die er mir aber angeblich als Hypothek verschaffen wollte, habe ich einen Prozeß begonnen.«

»Er kommt in dieser Woche zur Verhandlung«, bemerkte der Richter Popinot. »Es muß zunächst festgestellt werden, wie lange das Depositum des angeblichen Darleihers bereits unterschlagen war.«

»Werden wir den Prozeß gewinnen?« fragte Konstanze.

»Das kann ich nicht sagen«, entgegnete der Jurist.

»Kann denn in einer so einfachen Sache ein Zweifel obwalten?« fragte Pillerault. »Das Geld ist niemals ausgezahlt worden. Roguin würde ins Zuchthaus kommen, wenn man ihn hätte.«

»Was, Fräulein Cäsarine, Roguin ist durchgebrannt?« fragte Anselm Popinot, als er hörte, von wem die Rede war. »Ihr Herr Vater hat mir kein Wort davon gesagt und ich gäbe doch mein Blut für ihn ...«

Cäsarine verstand, daß mit diesem »für ihn« die ganze Familie Birotteau gemeint war. Anselms Augen verrieten es ihr deutlich genug. Sie wurde über und über rot.

»Ich habe es gewußt«, flüsterte sie, »und habe es Vater auch gesagt. Er hat sich nur mir entdeckt und Mutter alles verhehlt.«

»Sie haben ihm von mir gesprochen!« sagte Anselm. »Sie lesen in meinem Herzen! Lesen Sie aber auch alles darin?«

»Wer weiß?« lachte sie schelmisch.

»Ich bin überglücklich! Wenn Sie mir alle Furcht nehmen wollten, Fräulein Cäsarine, dann will ich in einem Jahre so reich sein, daß mich Ihr Vater nicht mehr schlecht behandelt, wenn ich um Ihre Hand bitte. Ich werde fortan nachts nicht mehr als fünf Stunden schlafen.«

»Überanstrengen Sie sich nicht, Herr Anselm«, warnte ihn Cäsarine mit einem Blick, in dem ihre ganze Seele lag.

»Konstanze!« bemerkte Cäsar, »ich glaube, die beiden Leutchen lieben sich.«

»Desto besser!« sagte Konstanze ernst. »Dann wird unser Kind die Frau eines klugen und willensstarken Mannes. Das Können ist die beste Aussteuer eines Mannes!«

Sie eilte aus dem Salon in Frau Ragons Zimmer. Während des Essens hatte Birotteau Reden vom Stapel gelassen, die eine derartige Ignoranz bewiesen, daß Pillerault und der alte Popinot laut aufgelacht hatten. Die unglückliche Frau wurde dadurch zu ihrem Schmerz daran erinnert, wie wenig Kraft und Geist ihr Mann gegen das Unglück ins Feld zu führen hatte. Die Tränen übermannten sie, und schluchzend sank sie Frau Ragon in die Arme, ohne die Ursache ihres Kummers gestehen zu wollen.

»Es ist Nervenschwäche!« entschuldigte sie sich.

Den Rest des Abends verbrachten die Alten mit Kartenspiel, während sich die Jugend harmlosen Gesellschaftsspielen überließ.

Auf dem Heimwege sagte Konstanze zu ihrem Manne:

»Cäsar, geh am Dritten zu Nucingen, damit du dich lange vor dem Fälligkeitstage sicherst. Wenn die Sache einen Haken haben sollte, findest du anderweitige Hilfe nicht von heute auf morgen!«

»Ich werde es tun, liebe Frau!« versprach Birotteau, indem er die Hände seiner Frau und seiner Tochter drückte. »Ich habe euch kein hübsches Neujahrsgeschenk beschert!«

»Nur Mut, Cäsar!« tröstete Konstanze.

»Es wird alles gut werden, Väterchen!« fügte Cäsarine hinzu. »Herr Anselm hat mir gesagt, er würde sein Blut für dich geben...«

»Für mich ?« scherzte Birotteau. »Für mich mit, meinst du wohl?«

Cäsarines heimlicher Händedruck gestand dem Vater, daß sie Anselms Braut war.

In den ersten drei Tagen des neuen Jahres liefen zweihundert Neujahrskarten ein. Eine solche Flut von echten und falschen Gunst- und Freundschaftsbezeigungen ist für Leute, die sich dicht vor einem Unglücke sehen, eine wahre Qual.

Birotteau versuchte dreimal vergeblich, eine Unterredung mit dem berühmten royalistischen Bankier, dem Baron von Nucingen, zu erlangen. Der Jahresbeginn und seine Festlichkeiten rechtfertigten das. Beim letztenmal erhielt er den Bescheid, der Baron wäre erst um fünf Uhr früh von einem Ball heimgekehrt und sei nicht vor einhalb zehn zu sprechen.

Cäsar verstand es, den ersten Buchhalter für seine Sache zu interessieren, indem er fast eine halbe Stunde mit ihm plauderte. Noch an demselben Tage schrieb ihm dieser Minister des Hauses Nucingen, der Bankier wolle ihn am nächsten Tage mittags zwölf Uhr empfangen. Obwohl jede Stunde einen Tropfen Wermut brachte, verging der Tag doch schrecklich schnell.

Als Birotteau aus der Droschke stieg, ward ihm angesichts des Glanzes dieses Bankhauses beklommen zumute.

Dieser Nucingen hat schon zweimal liquidiert, sagte er bei sich, als er die prächtige mit Blumen garnierte Treppe hinaufging und dann durch die Prunkgemächer schritt, durch die die Baronin Delphine von Nucingen mit den reichsten ihr noch verschlossenen Häusern der Vorstadt Saint-Germain rivalisieren wollte.

Der Baron frühstückte mit seiner Frau. Obgleich in den Wartezimmern eine Menge Leute saßen, ließ der Bankier Birotteau sagen, Freunde du Tillets hätten jederzeit Zutritt. Cäsar bebte vor Hoffnung, als er die Veränderung; wahrnahm, die diese Worte auf dem erst unverschämten Gesichte des Kammerdieners hervorriefen.

»Verzeihe, Liebste!« sagte der elsässische Baron, dessen Vater ein geadelter Jude gewesen war, der sich aus Streberei hatte taufen lassen, zu seiner Frau, indem er sich erhob und sich vor dem Eintretenden leicht verbeugte. »Der Herr, Herr Birotteau, ist ein guter Royalist und der intimste Freund des du Tillet. Übrigens is der Herr Stadtverordneter und gibt Bälle von orientalischer Pracht. Ohne Zweifel wirst du dich freun, seine Bekanntschaft zu machen!«

»Ich würde mich sehr geschmeichelt fühlen«, setzte die Baronin liebenswürdig hinzu, »wenn ich Ihre Frau Gemahlin kennenlernte. Ferdinand hat mir nämlich ...«

Allerliebst! dachte Birotteau bei sich, sie nennt ihn schlechtweg Ferdinand!

»... voll höchster Bewunderung von Ihrem Balle erzählt. Er bewundert eigentlich nie etwas! Ferdinand ist ein strenger Kritiker. Der Ball muß also tadellos gewesen sein. Werden Sie bald wieder einen Ball geben, Herr Birotteau?«

»Gnädige Frau«, erwiderte Cäsar, der nicht wußte, ob er einem gewöhnlichen Kompliment oder einem argen Hohn gegenüberstand, »arme Leute wie wir gönnen sich so ein Vergnügen nur sehr selten!«

»Nicht wahr, Herr Grindot hat die Dekoration Ihrer Wohnung arrangiert?« fragte der Baron.

»Grindot ? Ach ja! Der nette kleine Architekt, der kürzlich aus Rom zurückgekehrt ist!« bemerkte Delphine. »Ich bin ganz vernarrt in Ihn. Er hat mir eine wundervolle Zeichnung in mein Album gemalt.«

Birotteau kam sich wie in einer Folterkammer vor. Aus jedem Worte meinte er Spott herauszuhören.

»Wir geben auch mal 'n kleinen Ball«, sagte Nucingen mit einem Inquisitorenblick auf Birotteau.

»Ist es Ihnen angenehm, Herr Birotteau«, fragte die Baronin, indem sie auf den reichbesetzten Tisch hinwies, »mit uns ohne Umstände zu frühstücken?«

»Gnädige Frau, ich bin in Geschäften gekommen!«

»Ja!« fügte Nucingen hinzu. »Erlaubst du, Delphine, daß wir von Geschäften reden?«

Die Baronin nickte bejahend.

»Willst du Parfümerien kaufen?«

Der Baron zuckte mit den Achseln und wandte sich dem halbverzweifelten Cäsar zu.

»Herr Birotteau, du Tillet nimmt lebhaftes Interesse an Ihrem Geschick!«

Gott, sei Dank! dachte Cäsar, jetzt kommen wir endlich zur Sache.

»Mit einem Brief von ihm an mein Haus haben Sie bei mir Kredit, dem nur mein Vermögen Grenzen setzt.«

Der durchtriebene Bankier hielt an seinen Floskeln beharrlich fest, die so übertriebene Hoffnungen erwecken mußten. Das war ihm ein Mittel, gewisse Naivitäten an den Mann zu bringen.

»Sie werden einen laufenden Kredit bekommen. Na sehen Sie, wir verstehen uns!« meinte er elsässisch gutmütig.

Birotteau zweifelte an nichts mehr. Als Kaufmann wußte er, daß man sich nicht in Details einläßt, wenn man sich überhaupt in eine Sache nicht einzulassen geneigt ist.

»Sie werden also ein Wechselchen ausstellen auf Order von unserm Freund du Tillet, und ich wer' das Wechselchen noch am selben Tag mit meiner Unterschrift an die Bank von Frankreich schicken und um vier gibt's das Geld für Sie, nach dem Zinsfuß der Bank. Ich nehm weder Provision noch andre Gebühr, kein‘ roten Heller, mir genügt das Glück, Ihnen 'ne Gefälligkeit getan zu haben. Aber nur unter einer Bedingung ...«

»Herr Baron!« beeilte sich Birotteau zu sagen, »sie ist Ihnen im voraus zugestanden!« Er dachte, es handle sich um eine Dividende am späteren Gewinn.

»Eine Bedingung, sag ich, auf die ich größten Wert lege: daß Madame von Nucingen die Bekanntschaft macht von Madame Birotteau, wie sie es gewünscht.«

»Ach, Herr Baron, spotten Sie doch meiner nicht! Ich bitte Sie!«

»Mein Herr Birotteau«, fuhr der Finanzmann ernsthaft fort, »abgemacht! Sie werden uns einladen zu ihrem nächsten Ball. Meine Frau is so eifersüchtig. Sie will Ihre Einrichtung sehn, von der man an allen Ecken und Enden wunder was erzählt...«

»Herr Baron!«

»Wenn's Ihnen nich paßt, gibt's keinen Kredit. Sie sind ein berühmter Mann, Herr Birotteau. Ich weiß, daß bei Ihnen zehn Oberbürgermeister zugegen war'n!«

»Herr Baron!«

»Herr de la Billardière und den Kammerherrn Seiner Majestät, Herrn von Fontaine, der wie Sie auf den Stufen von Saint-Roch blessiert ward ...«

»Am 13. Vendémiaire, Herr Baron!« sagte Birotteau stolz.

Einer von Nucingens Leuten trat ins Zimmer.

»Na gut, abgemacht!« sagte der Bankier, der sich daran erinnerte, daß er erwartet wurde. »Gehen Sie zu du Tillet, und das Geschäft is in Ordnung!«

Als Cäsar seiner Frau und seiner Tochter seine Erlebnisse berichtete, war er überrascht, daß ihm Konstanze, die sonst bei der geringsten Mißlichkeit im Geschäft die Unglücksraben fliegen sah, milden Trost zusprach und ihm versicherte, es würde noch alles gut gehen.

Am andern Morgen stand er bereits früh um sieben Uhr Posten in du Tillets Straße. Er bat den Hausmeister, ihn mit du Tillets Kammerdiener in Verbindung zu bringen, und gab ihm zehn Francs Trinkgeld. Dadurch gelang es ihm, zu dem Diener vorzudringen, dem er zwei Goldstücke in die Hand drückte. Er erreichte damit seinen Zweck.

Halb neun Uhr, als der Bankier eben verschlafen und sich räkelnd den Schlafrock anzog, stand Birotteau diesem rachegierigen Tiger gegenüber, in dem er seinen letzten Freund zu sehen wähnte.

»Es ist die höchste Zeit!« rief ihm Birotteau zu.

»Na, was ist denn los, mein lieber Cäsar?« erwiderte ihm sein früherer Kommis gähnend.

Unter furchtbarem Herzklopfen berichtete er ihm den Bescheid und die Bedingung Nucingens. Du Tillet hörte kaum darauf; er suchte nach dem Blasebalg und schimpfte auf den Diener, der kein ordentliches Feuer im Kamin gemacht hätte. Birotteau hatte die Anwesenheit des Dieners nicht bemerkt; als er ihn endlich erblickte, hielt er verwirrt inne, fuhr aber in seiner Rede fort, als ihm du Tillet einen Spornschlag gab.

»Weiter! Weiter! Ich höre ja!«

Birotteau war in Schweiß gebadet; aber sein Schweiß gefror zu Eis, als er du Tillets Blick – diesen starren Blick aus silbernen Augäpfeln, in denen Goldäderchen schimmerten – auf sich gerichtet sah. Der Teufelsblick ging ihm durch Mark und Bein.

»Verehrter Gönner, die Bank von Frankreich hat von Ihnen ausgestellte Wechsel, die durch die Firma Claparon ohne Gewährleistung an Gigonnet gelangt sind, zurückgewiesen. Ist das meine Schuld? Wie können Sie als ehemaliger Handelsrichter solche Geschichten machen? Ich bin in erster Linie Bankier! Ich gebe Ihnen gern, mein Geld, aber ich habe keine Lust, meine Wechselunterschrift der Gefahr auszusetzen, von der Bank zurückgewiesen au werden. Ich existiere einzig und allein durch den Kredit. So geht es uns allen! Sie wollen Geld?«

»Können Sie mir so viel geben, wie ich brauche?«

»Das hängt von der Höhe der nötigen Summe ab. Wieviel müssen Sie haben?«

»Dreißigtausend!«

»Mehr nicht?«

Du Tillet lachte. Birotteau, den der Luxus der Umgebung narrte, hielt das Lachen für das Lachen eines Mannes, dem dreißigtausend Francs eine Kleinigkeit sind.

Du Tillet klingelte.

»Der Kassierer soll mal raufkommen!«

»Er ist noch nicht da!«

»Bummelei! Die Kerle tanzen mir auf der Nase nun! Es ist dreiviertel neun! Um die Zeit könnten schon für eine Million Geschäfte erledigt sein!«

Fünf Minuten später erschien Legras.

»Wieviel haben Sie bar in der Kasse?«

»Nur zwanzigtausend Francs! Der Herr haben befohlen, für dreißigtausend Francs Staatspapiere gegen bar zu kaufen, zahlbar am Fünfzehnten.«

»Es ist ja wahr! Ich bin noch halb im Schlaf.«

Der Kassierer schielte Birotteau an und ging wieder.

Nach einer qualvollen Pause, während der dem Parfümhändler die Schweißperlen auf die Stirn traten, tat du Tillet die Frage:

»Sind Sie nicht Teilhaber an dem neugegründeten Geschäft des kleinen Popinot?«

»Ja!« gab Cäsar treuherzig zur Antwort. »Glauben Sie, daß ich auf einen Wechsel von ihm eine namhafte Summe bekomme?«

»Bringen Sie mir ein Akzept von ihm auf fünfzigtausend! Ich will es Ihnen gegen ein kleines Damnum bei einem gewissen Gobseck unterbringen, einem guten Kerl, wenn er bei Gelde ist, und das ist er!«

Ganz niedergeschmettert kam Birotteau nach Hause. Er merkte immer noch nicht, daß sich ihn die Geldleute einander zuwarfen wie einen Ball beim Tennisspiel. Konstanze war überzeugt, daß es für ihn keinen Kredit mehr gab. Da sich bereits drei Bankiers geweigert hatten, so lag es auf der Hand, daß man sich gegenseitig informiert hatte, zumal Cäsar eine stadtbekannte Persönlichkeit war. An die Bank von Frankreich als Hilfsquelle war gar nicht mehr zu denken.

»Sieh zu, daß du die alten Wechsel prolongiert bekommst!« riet Konstanze. »Geh zunächst mal zu Claparon, dann zu den übrigen, die Akzepte von dir zum Fünfzehnten haben! Bitte sie um Prolongation! Dann ist es immer noch Zeit, mit einem Papier von Popinot zu einem »Wucherer zu gehen.«

»Morgen ist schon der Dreizehnte!« jammerte Birotteau hilflos.

Wie es auf dem Prospekt des Venus-Wassers hieß, erfreute sich Cäsar des sanguinischen Temperaments. Sanguiniker überanstrengen ihre Gefühls- und Gedankenkräfte; deshalb bedürfen sie sehr der Ruhe und des Schlafes, um den Kräfteverlust immer wieder zu ersetzen. Die beiden Frauen kannten ihn. Cäsarine geleitete ihren Vater in den Salon und spielte ihm, um ihn aufzuheitern, etwas auf dem Klavier vor, den »Traum Rosseaus«, ein. ganz niedliches Stück von Herold. Konstanze setzte sich mit einer Handarbeit neben ihn. Der arme Mann lehnte den Kopf an die Sofalehne. Jedesmal, wenn er zu seiner Frau hinsah, erntete er ein sanftes Lächeln, und so nickte er ein.

»Armer Cäsar!« flüsterte Frau Birotteau. »Welches Leid wartet seiner! Wenn er nur nicht zusammenbricht!«

»Liebe Mutter, was hast du?« fragte Cäsarine, als sie ihre Mutter weinen sah.

»Mein liebes Kind, ich halte den Ruin unseres Geschäftes für unabwendbar. Wenn sich Vater gezwungen sehen sollte, seinen Konkurs anzumelden, dann dürfen wir niemandes Mitleid anflehen. Wir müssen uns selber durchhelfen! Liebe Cäsarine, mach dich gefaßt, ein einfaches Ladenmädchen zu werden! Wenn ich sehe, daß du dich mutig in dein Schicksal fügst, dann werde auch ich die Kraft haben, ein neues Leben anzufangen! Ich kenne den Vater. Er wird keinen roten Heller unterschlagen. Ich werde nichts beanspruchen, und so wird man alles verkaufen, was wir besitzen. Du, mein liebes Kind, trage deinen Schmuck und deine Garderobe morgen zum Onkel Pillerault! Du bist zu nichts verpflichtet.«

Cäsarine erschrak grenzenlos. Es fuhr ihr durch den Sinn, ob sie nicht Anselm aufsuchen solle, aber ihre Schamhaftigkeit brachte sie davon ab.

Am andern Morgen ging Birotteau, von wiederum andern Ängsten gequält als den bereits ausgestandenen, nach der Rue de Provence. Einen Kredit erbitten, das ist im Geschäftsleben nichts Besonderes. Wenn man etwas unternimmt, braucht man unbedingt Geld dazu. Aber um Prolongation von Wechseln bitten müssen, das ist immer der Anfang vom Ende. Damit gelangt das Geständnis unserer Ohnmacht und Bedrängnis an fremde Mächte. Ein Kaufmann unterwirft sich dann einem andern mit gebundenen Händen und Füßen, und Menschenfreundlichkeit gehört nicht zu den an der Börse geübten Tugenden.

Von Zweifeln geplagt, zauderte der einst so zuversichtliche Cäsar, Claparons Haus zu betreten. Er begriff endlich, daß bei Geldleuten das Herz nichts weiter als ein Muskel ist. Er kannte Claparons brutales Wesen und seine schlechten Manieren und so zitterte er vor der Berührung mit ihm. Dann aber sagte er sich wieder: Dieser Claparon ist ein Kind des Volkes. Er muß doch Gefühl haben!

Birotteau schöpfte das letzte bißchen Mut aus der Tiefe seiner Seele und stieg die Treppe zu dem elendiglichen Zwischenstock hinauf, in dem Claparon wohnte. An den kleinen Fenstern hatte er von der Straße aus verschossene grüne Vorhänge bemerkt. An der Tür las er auf einem Kupferschild schwarz graviert das Wort »Bureau«. Er klopfte an. Da niemand kam, trat er ein.

Die mehr als bescheidene Behausung roch nach Armseligkeit, Geiz und Unsauberkeit. Birotteau sah sich einer nicht angestrichenen Holztafel gegenüber, auf der bis zur Brusthöhe ein Messinggitter hinlief, das zwei Schreibpulte aus dunklem Holz einfriedigte. Auf den Pulten lagen Tintenfässer mit verschimmelter Tinte, unbrauchbare Federn und allerlei wahrscheinlich zweckloses Papier umher. Der Fußboden war abgetreten, schmutzig und feucht. Personal gab es offenbar nicht.

Das zweite Zimmer, an dessen Tür das Wort »Kasse« prangte, machte den nämlichen Eindruck wie das erste. In der einen Ecke war ein Holzverschlag mit einem Messinggitter und einem Schalter. In einer andern Ecke stand ein Riesenkoffer, der zweifellos Ratten und Mäusen zum Tanzplan diente. In dem Verschlag war ein phantastisches Schreibpult zu erblicken und ein ordinärer Sessel mit löcherigem grünen Polstersitze, aus dem das Roßhaar in Korkzieherlocken heraushing. Mitten in diesem Zimmer, das augenscheinlich einstmals der Salon der Wohnung gewesen war, ehe sie in ein Bankbureau verwandelt wurde, stand ein runder Tisch mit grünem Tuch beschlagen und um ihn herum vier alte Stühle mit schwarzen Lederpolstern und ehedem vergoldeten Nägeln. Der von Fliegen geschändete Spiegel sah sehr dürftig aus und paßte zu der Standuhr in einem Mahagonigehäuse, die offenbar aus dem Nachlaß eines alten Notars erstanden war. Zwei verstaubte Leuchter ohne Kerzen stimmten den Betrachter auch nicht fröhlicher. In dem an und für sich nicht häßlichen Kamin gähnte an Stelle des Feuers ein schwarzes Loch. Und all die langweilige Öde umrahmte die mausgraue verräucherte Tapete des Zimmers.

Der höfliche Birotteau klopfte mit drei kurzen Schlägen an die Tür des dritten Gemaches, die der gegenüberlag, durch die er eingetreten war.

»Herein!« rief eine Stimme, die Claparons. Nach dem Klang zu urteilen, schien er sich im übernächsten Raum aufzuhalten. Birotteau hörte das Knistern eines lebhaften Kaminfeuers.

Der Raum, den Cäsar nunmehr betrat, sah im Vergleich zu dem pompösen Empfangszimmer Kellers wie der Wigwam eines Indianers aus. Dort hatte der Parfümhändler den Gott Mammon in seiner Herrlichkeit gesehen; hier sah er ihn in seiner Armseligkeit. Ursprünglich wohl beinahe elegant, sahen alle Möbel abgenutzt, beschmutzt, verwahrlost und ruiniert aus. Das Bett stand in einem Alkoven. Als Birotteau eintrat, zog Claparon die Bettvorhänge hastig zu und hüllte sich in einen schmutzigen Schlafrock. Seine Tabakspfeife hatte er beiseite gelegt.

»Setzen Sie sich, Herr Birotteau!«

Birotteau fand Claparon ohne Perücke höchst häßlich, besonders als der Schlafrock des Bankiers auseinanderging, wodurch ein wollenes Trikothemd sichtbar ward, das ursprünglich weiß, durch den überlangen Gebrauch aber bräunlich geworden war.

»Wollen Sie mit mir frühstücken?« fragte Claparon, indem er sich des Balles erinnerte, für den er sich durch diese Aufforderung revanchieren wollte.

In der Tat erblickte Birotteau auf dem runden Tische des Zimmers ein verlockendes Stilleben: eine Pastete, Austern, eine Flasche Sekt, eine Platte mit in Champagner geschmorten Nieren und ein Omelett mit Trüffeln. Es war für zwei Personen gedeckt. Die Servietten, die beide sichtlich bereits am Abend vorher einmal benutzt worden waren, verrieten auch dem unschuldigsten Gemüt die Situation.

Trotzdem Cäsar abgelehnt hatte, hörte Claparon, der sich für wunder wie weltmännisch hielt, nicht auf, ihn zu nötigen.

»Es wollte jemand zum Frühstück kommen«, log er, »aber der Jemand hat nicht Wort gehalten.« Er sprach absichtlich laut, damit ihn die im Bett verborgene Person verstehen könne.

»Herr Claparon«, entgegnete Birotteau, »ich bin lediglich in Geschäften gekommen und will mich gar nicht lange aufhalten.«

»Ich hab kolossal zu tun«, sagte Claparon, indem er auf ein Rollpult und einen Tisch zeigte, auf denen eine Menge Papiere lagen. »Für mich bleibt auch kein bißchen Zeit übrig. Eigentlich nehme ich nur sonnabends Besuche an, aber für Sie, Herr Birotteau, ist man immer zu Hause. Zum Bummeln und zu Liebesgeschichten habe ich keine Zeit mehr. Da wird man dann auch in geschäftlichen Dingen abgestumpft. Der Mensch bedarf eben hin und wieder einer Erholung. Auf die Boulevards komme ich gar nicht mehr. Ich sage Ihnen, die Geschäfte ekeln mich an. Ich möchte am liebsten gar nichts mehr davon hören. Geld genug habe ich, aber genug Glück werde ich nie haben! Ach, ich möchte nach Italien reisen! Cara Italia, selbst schön in deinen Schattenseiten, wie sehne ich mich nach dir! Und die Italienerinnen, diese süßen und himmlischen Geschöpfe! Von jeher schwärme ich für die Italienerinnen. Haben Sie schon einmal eine Italienerin gehabt? Nein! Dann reisen Sie mit mir gen Italien! Wir wollen Venedig besuchen, die stolze Stadt der Dogen! Lassen wir die Geschäfte, die Spekulationen, die Geldgeschichten! Hol mich der Teufel! Wir reisen zusammen!'«

»Eine Frage, Herr Claparon, und ich belästige Sie nicht weiter. Haben Sie meinen Wechsel an Herrn Bidault weitergegeben?«

»Sie wollen sagen: an Gigonnet, an den lieben kleinen Gigonnet! Ein Goldjunge!«

»So! Ich ... ich wollte ... ganz unter uns und im Vertrauen ...« stammelte Birotteau.

»Na?«

»Ich möchte den Wechsel prolongiert haben!«

»Unmöglich!« meinte der Geldmann barsch. »Ich bin in der Sache nicht selbständig. Wir sind sozusagen ein Konsortium. Keiner kann was ohne den andern tun. Alles wird gemeinsam beraten – wie im Landtag. So wahr ich hier stehe! Sehen Sie, die Grundstücke um die Madeleine, die taugen nichts. Wir spekulieren in ganz anderer Gegend! Um die Madeleine... das ist miserables Terrain! Fauler Zauber! Auf den fallen wir nicht rein!« Er klopfte dem Bittsteller kordial auf den Bauch. »Na, Verehrtester, jetzt frühstücken wir mal erst! Was?« Und um seine Weigerung etwas zu versüßen, fügte er hinzu: »Dabei plaudern wir ein bißchen ... also los!«

»Gern!« versetzte Cäsar.

»Aloisia!«

Auf diesen Ruf erschien die Wirtschafterin; sie sah wie ein Fischweib aus.

»Aloisia, sag den Kommis, daß ich für niemand zu Hause bin, für niemanden!«

»Bis jetzt ist nur Herr Lempereur da.«

»Gut! Er soll die lieben Leute abfertigen!« befahl Claparon. »Der Krüppel soll aber im vordersten Zimmer bleiben! Sagen Sie, ich hätte mordsmäßig zu tun... bei Sekt und Austern!«

Birotteau nahm sich vor, Claparon ein wenig beim Wein auszuhorchen, wer eigentlich hinter ihm stand.

»Roguin steht mit Ihnen noch immer in Verbindung«, begann er. »Wollen Sie ihm nicht einmal schreiben, er solle seinen alten Freund doch nicht sitzen lassen, bei dem er zwanzig Jahre lang jeden Sonntag zu Tisch gewesen ist!«

»Roguin? Der Esel! – Verzagen Sie nur nicht, Verehrtester, es wird sich schon alles machen! Bezahlen Sie erst mal prompt am Fünfzehnten, und dann werden wir weiter sehen...« Er goß ein Glas Sekt hinunter; aber Birotteau verrechnete sich, wenn er meinte, Claparon würde sich einen antrinken, Claparon, der ehemalige Geschäftsreisende! »... Das heißt, mich geht der Wechsel wirklich nichts an. Wenn Sie ihn nicht bezahlen, bin ich Ihnen auch nicht böse. Ich mache die Geschäfte nur auf Kommission. Gott ja, ein bißchen was verdiene ich schon dabei... Sie verstehen! Aber haben Sie keine Angst, Verehrtester. Unser Konsortium besteht aus lauter anständigen und soliden Leuten! Wie das heutzutage so ist: einer allein macht kein Geschäft mehr. Die Geschäfte werden immer komplizierter. Das erfordert allerhand Einzelkenntnisse! Halt! Wie war's? Treten Sie ein in unsere Geschäfte! Lassen Sie endlich Ihren Handel mit Haaröl und Pomadenbüchsen ganz! Dabei kommt nichts heraus. Plunder! Werden Sie Spekulant!«

»Spekulant? Was heißt das kaufmännisch?«

»Wie der geniale Nucingen, der Napoleon der Finanziers, sagt: Die Spekulation ist das Kaufmannstum in abstracto, vorläufig noch Jahrzehnte hindurch etwas Inoffizielles. Durch die Spekulation umfaßt ein Mensch das Universum des Handels, umzirkelt er Einkünfte, ehe sie existieren. Die Spekulation ist eine gigantische Konzeption, die Kunst, Träume unter Dach und Fach zu bringen, mit einem Wort: eine neue Geheimwissenschaft... Zu unserem großartigen Geheimbund gehören bis jetzt erst etwa ein Dutzend Leute...«

Birotteau sperrte Augen und Ohren auf. Diese Phraseologie ging über seine Begriffe.

»Ich sage Ihnen«, fuhr Claparon fort, »wir brauchen nur ganze Männer! Es gibt Menschen, die haben Ideen, aber kein Geld. Na, überhaupt die Menschen mit Ideen! Die haben alle kein Geld! Sie denken und denken, und vor lauter Denken verpassen sie die schönen Gelegenheiten. Sie verdenken sich. Stellen Sie sich mal vor; ein Schwein schnüffelt durch ein Trüffelgehölz. Ein Schelm folgt ihm, das ist der Geldmann, der auf das beim Fund erfolgende Grunzen lauert. Wenn der Ideenmann ein gutes Geschäft ausschnüffelt, dann gibt ihm der Geldmann einen Klaps auf den Buckel und fragt: ,Was gibt's? Sie bringen die Trüffeln nicht bis auf die Tafel. Weil Sie keinen Mammon haben. Hier sind tausend Francs, Lassen Sie mich mal ran!‘ Schön! Der Geldmann alarmiert seine Leute. Ans Werk! Auf Leben und Tod! Man tutet in die Hifthörner: ,Hunderttausend Francs für fünf Dreier!‘ oder ,Fünf Dreier für hunderttausend Francs! Goldminen! Kohlenaktien!‘ Man erkauft das Gutachten von Professoren, Autoritäten und Bücherwürmern. Hallo! Der Parademarsch beginnt. Das Publikum beißt an. Es zieht die Beutel. Das Schwein wird in den Stall gesperrt und kriegt Kartoffeln. Wir aber schmausen die Trüffeln: die braunen Lappen. So ist es, Verehrtester! Treten Sie ein ins Geschäft! Was wollen Sie sein? Schwein oder Schelm? Narr oder Millionär? Überlegen Sie sich's! Ich habe Ihnen die Theorie der modernen Goldmacherkunst doziert. Kommen Sie zu mir! Sie haben es mit einem guten und immer fidelen Kerl zu tun. Die gallische Lebenslust, ernst und leichtsinnig zugleich, schadet den Geschäften nichts. Im Gegenteil, beim Becher versteht man sich am besten. Schnell, noch ein Glas Sekt! Gute Marke! Direkt aus Epernay! Ich bin Kenner. Prosit!«

Erstaunt über den Leichtsinn und die Sorglosigkeit dieses Mannes, der als ernster und gründlicher Fachmann allgemein bekannt war, wagte Birotteau keine weiteren Fragen. Bei allem Wirrwarr der Sektstimmung kam ihm jener Name nicht aus dem Sinn, den ihm du Tillet beim Abschied genannt hatte. Er erkundigte sich bei Claparon, wer der Bankier Gobseck sei und wo er wohne.

»Dahinaus wollen Sie, Verehrtester ? Na, Gobseck ist unter den Bankiers, was der Scharfrichter unter den Ärzten ist. Sein erstes Wort ist: ,Fuffzig Prozent!‘ Er stammt aus der Schule Harpagons. Hat ein wundervolles Warenlager zu Ihrer Verfügung. Und welche Sicherheiten werden Sie ihm bieten? Wenn er Ihr bloßes Akzept nimmt, dann müssen Sie ihm Ihre Frau Gemahlin, Ihre Tochter, Ihren Regenschirm, Ihr Hutfutteral, Ihre Pantoffeln, das Holz in Ihrem Keller und was Sie sonst noch haben, verpfänden. Gobseck! Gobseck! Der Teufel soll mich holen! Wer hat Sie denn an den Halsabschneider gewiesen?«

»Du Tillet!«

»Das sieht dem Halunken ähnlich! Na, den kenne ich! Bis vor kurzem sind wir noch Freunde gewesen, und wenn wir uns so miteinander überworfen haben, daß wir uns nicht einmal mehr grüßen, so können Sie sich denken, daß ich meine guten Gründe habe, mich von ihm loszusagen. Ich habe ihm bis auf den Grund seiner Dreckseele geblickt. Ich kann den Fatzken nicht riechen! Er bildet sich wunder was darauf ein, daß er eine Notarsfrau zur Liebsten hat. Ich, ich könnte Hofdamen haben, wenn ich wollte! Mir wird er niemals imponieren. Meine Hochachtung ist eine Prinzessin, die in sein Bett niemals krauchen wird ... Übrigens, Sie sind ein Witzbold, alter Junge! Sie geben uns einen großartigen Ball, und drei Wochen später sollen wir Ihnen Ihre Wechsel prolongieren! Sie werden es noch einmal weit bringen! Wir wollen Geschäfte zusammen machen! Sie haben Renommee, das wird uns dabei zugute kommen... Du Tillet ist der geborene Spießgeselle dieses Gobseck. Er wird mal ein übles Ende finden. Man munkelt, der alte Gobseck habe ihn in seinen Klauen. Eines schönen Tages bricht ihm dieser Wucherer das Genick. Na, meinetwegen. Mich hat er gemein hineingelegt...«

Nach derartigem anderthalbstündigem Gerede ohne Sinn und Verstand wollte sich Birotteau entfernen.

»Ich empfehle mich, Herr Claparon!« sagte er.

»Na, Sie werden schon wiederkommen!« entgegnete ihm Claparon. »Die Geschäfte werden das mit sich bringen.«

Birotteau fühlte sich durch die burschikose Vertraulichkeit dieses Menschen ebenso verletzt wie durch die Härte Kellers und die Maskerade Nucingens. Er kam sich in seiner Biederkeit durch Claparons Schmierigkeit und seine weinseligen grotesken Ideen moralisch besudelt vor.

Wieder auf der Straße, lief Birotteau planlos dahin. Er schlenderte die Boulevards entlang und kam in die Rue Saint-Denis. Da fiel ihm Molineux ein, und er lenkte seine Schritte nach dem »Holländischen Hofe«. Auf der schmutzigen Wendeltreppe jedoch, die er noch vor kurzem so stolz hinaufgegangen war, erinnerte er sich der filzigen Rauhbeinigkeit des alten Mannes. Als Bittsteller zu ihm zu kommen war ihm gräßlich.

Wie bei dem ersten Besuche des Parfümhändlers saß der Greis auch diesmal am Kamine, aber er verdaute sein Frühstück bereits.

Cäsar trug sein Ansuchen vor.

»Ich soll einen Wechsel von zwölfhundert Francs prolongieren ?« meinte Molineux in ironischer Ungläubigkeit. »Sie machen wohl Spaß, Herr Birotteau! Wenn Sie am Fünfzehnten keine Zwölfhundert Francs zur Bezahlung Ihres Wechsels haben, dann wollen Sie mir wohl auch die Mietquittung unbezahlt zurückschicken? Das wäre eine schöne Schweinerei! In puncto Geld kenne ich nicht die geringste Höflichkeit. Die Mietzinsen sind meine Einkünfte. Davon bezahle ich, was ich andern schuldig bin. Als Kaufmann wissen Sie, wie das ist. Das Geld kennt keine Rücksichten. Das Geld hat kein Herz. Der Winter ist heuer kalt. Das Holz ist teuer geworden ... Wenn Sie am Fünfzehnten nicht bezahlen, bekommen Sie am Sechzehnten mittags eine kleine Vorladung. Der Gerichtsvollzieher wird sie Ihnen mit der Ihrer hohen Stellung gebührenden Diskretion zustellen...«

»Herr Molineux, ich habe mich noch nie in meinem Leben verklagen lassen.«

»Ein jedes Ding hat seinen Anfang!«

Birotteau ward ob der Härte des alten Mannes bestürzt und tief bekümmert. Im Geiste las er seine Konkurserklärung ...

»Eben fällt mir ein«, sagte Molineux, »daß Sie auf den Wechsel zu setzen vergessen haben: ,Wert für Miete erhalten‘. Dadurch wäre mir das Vorrecht gesichert.«

»Es tut mir leid«, erwiderte Birotteau, »nichts tun zu können, was meine übrigen Gläubiger benachteiligt.« Der Blick in den Abgrund, der sich ihm mit einemmal auftat, verblödete ihn geradezu.

»Schön! Schön! Schön! Herr Birotteau. Ich habe mir bisher eingebildet, durch meine Praxis als Hauswirt im Mietwesen erfahren zu sein. Die Mieter bringen einem so allerlei bei. Von Ihnen aber lerne ich wirklich was Neues: daß man keine Wechsel als Mietzahlung annehmen darf. Na, ich reiche Klage ein. Ihre Antwort sagt mir klar und deutlich, daß sie ihr Akzept nicht einlösen wollen. Der Fall wird alle Hausbesitzer von Paris interessieren.«

Lebensmüde ging Birotteau von dannen. Es ist eine Eigentümlichkeit nichtenergischer Naturen, daß sie bei dem leisesten Mißerfolg sofort die Flinte ins Korn werfen. Cäsar hatte nun keine andere Hoffnung mehr als die auf die Dankbarkeit des kleinen Popinot. Zu ihm ging er jetzt.

Es war ungefähr vier Uhr, also um die Zeit, da die Juristen vom Gericht kommen. Als Birotteau Popinots Laden betrat, fand er den Kreisrichter bei seinem Neffen. Der alte Mann war ein vorzüglicher Seelenkenner; er hatte einen Blick, mit dem er die geheimsten Absichten der Menschen, den Sinn der gleichgültigsten Handlungen und die Wurzeln der großen und kleinen Verbrechen zu erkennen vermochte. Er betrachtete Birotteau, ohne daß der es merkte. Der Parfümhändler, dem die Anwesenheit von Anselms Onkel lästig war, kam ihm befangen, bedrückt und versonnen vor. Der immer beschäftigte junge Popinot, die Feder hinter dem Ohr, war wie immer gegen Cäsar die Höflichkeit selbst. Der Richter ahnte sofort, daß die banalen Phrasen, die Birotteau seinem Kompagnon auftischte, die Maske waren, hinter der ein wichtiges Anliegen stak. Anstatt sich zu entfernen, blieb er listigerweise. Er wußte genau, daß Birotteau weggehen würde, in der Hoffnung, ihn dadurch ebenfalls zum Weggang zu veranlassen. In der Tat ging Cäsar. Der Richter verabschiedete sich nach ihm; er beobachtete, daß Birotteau in vorsichtiger Weise, die Rue des Cinq-Diamants nach der Rue Aubry-le-Boucher hinschlenderte. Nach einer Weile sah er ihn umkehren und von neuem zu Popinot gehen.

»Lieber Popinot«, sagte der Wiedergekommene zu seinem Kompagnon, »ich bitte Sie um einen Dienst.«

»Der wäre?« entgegnete Popinot herzlich.

»Sie können mir das Leben retten, wenn Sie mir einen Wechsel von fünfzigtausend Francs als Vorschuß auf meinen Anteil am Reingewinn unseres Kompaniegeschäfts geben! Über die Zahlung werden wir uns schon einig werden...«

Popinot sah den Parfümhändler starr an. Cäsar senkte den Blick. In dem Augenblick erschien Popinots Onkel von neuem.

»Ah, verzeihen Sie, Herr Birotteau!« sagte er und wandte sich dann an seinen Neffen. »Lieber Neffe, ich habe vergessen, dir etwas zu sagen!« Damit zog er ihn barhäuptig, wie er war, hinaus auf die Straße.

»Lieber Neffe, es wäre nicht unmöglich, daß sich dein ehemaliger Prinzipal in Zahlungsschwierigkeiten befände und vor dem Konkurs stände. Unter solchen Umständen verlieren die ehrlichsten alten Kaufleute den Kopf. Darauf versessen, Ihre Ehre zu retten, werden sie halbverrückt und zu allem fähig. Sie verschachern ihre Frau, verkuppeln ihre Töchter, kompromittieren ihre besten Freunde, verpfänden Dinge, die ihnen gar nicht gehören. Sie werden Spieler, Komödianten, Lügner und wer weiß was. Ich sage dir, ich habe hierin die seltsamsten Sachen erlebt. Erinnere dich bloß an Roguin, dem wir doch alle nichts Schlechtes zugetraut hätten. Alles das sage ich keineswegs in bezug auf deinen Kompagnon. Ich halte ihn für einen ehrlichen Mann. Aber wenn er dich um etwas bitten sollte, das den Handelsgesetzen zuwider ist, etwa um einen Gefälligkeitswechsel... so versprich mir, ohne nochmalige Rücksprache mit mir nichts zu unterschreiben. Gefälligkeitswechsel sind meiner Ansicht nach gefälschtes Papiergeld, also schon halbe Gaunerei! Ich weiß, du liebst Birotteaus Tochter; aber selbst wenn es deine Liebe zu erheischen scheint, darfst du doch deshalb deine eigene Zukunft nicht vernichten. Wenn Birotteau zugrunde gehen muß, so wird es Ihm gar nichts nützen, wenn du mit zugrunde gehst! Im Gegenteil, Du kannst ihm lieber später Hilfe gewähren.«

»Ich danke dir, lieber Onkel, es bedarf keiner Worte mehr!« sagte Popinot. Mit sorgenvoller Stirn kehrte er in seinen finstern Laden zurück. Birotteau bemerkte die Veränderung an ihm sofort.

»Erzeigen Sie mir die Ehre, mit in mein Zimmer hinaufzugehen! Es läßt sich dort besser reden. Wenn meine Kommis auch viel zu tun haben, könnten sie doch vielleicht hören, was wir sprechen.«

Birotteau folgte seinem Kompagnon in dem qualvollen Zustande eines zum Tode Verurteilten, der Berufung gegen das Urteil eingelegt hat und die Verwerfung seiner Berufung vor Augen sieht.

»Mein teurer Wohltäter«, sagte Popinot, »ich bin Ihnen blind ergeben. Zweifeln Sie nicht daran! Erlauben Sie mir nur die eine Frage: Werden Sie mit dieser Summe gänzlich gerettet oder verzögern Sie damit nur die Katastrophe? Was für einen Zweck hätte es, mich mit hineinzuziehen ? Sie brauchen einen Vierteljahreswechsel... ich kann ihn in drei Monaten unmöglich bezahlen ...«

Birotteau wurde leichenblaß. Zeremoniell stand er auf und sah Popinot an. Erschrocken rief der aus:

»Wenn Sie es verlangen, stelle ich den Wechsel aus ...«

»Undankbarer!« sagte Birotteau. Er hatte seine letzten Kräfte zusammengerafft, um dieses Wort wie einen Bannfluch gegen Anselm zu schleudern.

Dann ging er zur Tür und entfernte sich.

Als sich Popinot von der Bestürzung, In die ihn das schreckliche Wort versetzt hatte, ein wenig erholte, eilte er die Treppe hinunter und lief hinaus auf die Straße. Aber Birotteau war nicht mehr zu sehen.

Dem Liebenden wollte das furchtbare Wort nicht aus den Ohren. Er hörte es wieder und wieder. Und dazu erschien ihm vor seinen geistigen Augen das verhärmte Gesicht Cäsars und wich nicht.

Birotteau taumelte wie ein Trunkener durch die Straßen. Schließlich gelangte er an die Seine, an der er hinlief bis nach Sèvres, wo er in einem Gasthause übernachtete. Er war sinnlos vor Schmerz.

Seine Frau wagte es vor lauter Angst nicht, ihn suchen zu lassen. Unter solchen Umständen verdirbt ein unbedachtsamer Alarm nur noch mehr. Die kluge Konstanze opferte daher ihre Ruhe dem kaufmännischen Interesse. Die ganze Nacht hindurch wartete sie, bald weinend, bald betend.

War Cäsar in den Tod gegangen? Oder machte er, einem letzten Hoffnungsstrahl nachrennend, irgendwo außerhalb von Paris einen Versuch seiner Rettung ?

Am folgenden Vormittag benahm sie sich so, als kenne sie den Anlaß seiner Abwesenheit. Als Cäsar aber um fünf Uhr nachmittags noch nicht heimgekehrt war, schickte sie zu ihrem Onkel und ließ ihn bitten, nach der Morgue zu gehen. Währenddem saß sie gefaßt im Kontor; ihre Tochter, mit einer Stickerei beschäftigt, neben ihr. Voll Selbstbeherrschung, weder traurig noch freundlich, bedienten sie beide die Kunden.

Endlich kam Pillerault und brachte Birotteau mit. Er hatte ihn – als er von der Börse kam – im Palais Royal erwischt, gerade, als er in eine Spielhölle treten wollte. Es war der Vierzehnte. Bei Tisch vermochte Cäsar nichts zu essen. Er war zu angegriffen, als daß sein Magen Speisen hätte vertragen können. Die Stunden nach der Mahlzelt waren wiederum schrecklich. Der Parfümhändler machte zum hundertstenmal jenes gräßliche Hangen und Bangen zwischen Hoffnung und Verzweiflung durch, die ganze Tonleiter der Gefühle von der höchsten Freude bis zum tiefsten Kummer. Schwache Naturen wie er werden dabei zu Tode erschöpft.

Da stürzte Derville, Birotteaus Rechtsanwalt, in den luxuriösen Salon, in dem Konstanze ihren Mann mit aller Gewalt zurückhielt. Am liebsten hätte er sich oben in irgendeiner Dachkammer aufgehalten, nur um »die Denkmäler seiner Torheit« – wie er sagte – gar nicht mehr zu sehen.

»Der Prozeß um die vierzigtausend Francs ist gewonnen!« verkündete der Anwalt.

Bei dieser Meldung glättete sich das faltenreiche Gesicht Birotteaus. Pillerault und Derville erschraken vor seinem Stimmungsumschwung. Die beiden Frauen verließen den Salon und gingen in Cäsarines Zimmer, um dort zu weinen.

»Ich habe also neuen Kredit ?« fragte Cäsar.

»Ich halte es aber für unvernünftig, ihn in Ansprach zu nehmen«, entgegnete Derville, »Die Verurteilten können Berufung einlegen. Die zweite Instanz könnte anders entscheiden. In vier Wochen werden wir das Endurteil haben.«

»In vier Wochen!«

Birotteau verfiel in einen tiefen Schlaf, aus dem ihn niemand zu wecken wagte. Dieser Zustand, in dem sein Körper lebte und litt, während die Gehirnfunktion aussetzte, diese vom Zufall gewährte Ruhepause erschien den vier anwesenden Personen wie eine Gnade Gottes. Auf die Weise kam Birotteau über die Seelenqualen der Nacht.

Er schlief in einem Lehnstuhl neben dem Kamin. Bei ihm wachte seine Frau, die ihn aufmerksam beobachtete. Um ihre Lippen schwebte ein sanftes Lächeln, eins jener Merkmale, die beweisen, daß die Frauen dem Wesen der Engel näher sind als die Männer. In ihre grenzenlose Zärtlichkeit mischt sich das innigste Mitgefühl. Solchen Frauen verdankt ja nur die menschliche Phantasie die wundervolle Legende von der Existenz jener himmlischen Geschöpfe!

Cäsarine hockte auf einem niedrigen Sessel zu Füßen ihrer Mutter. Von Zeit zu Zeit streifte sie mit ihrem Haar die Hände des Schlafenden. Sie erwies ihm die stumme Liebkosung, weil sie sich einbildete, daß in den Krisen des Lebens die Stimme unerträglich sei.

Auch Pillerault kauerte in einem Lehnstuhl. Der kluge Lebenskünstler unterhielt sich leise mit Derville. In der Überzeugung, daß man sich auf die Diskretion des Anwalts verlassen könne, hatte Konstanze ihn um seinen Rat gebeten. Sie kannte die Bilanz des Geschäftes auswendig und so hatte sie dem Rechtsfreunde die Situation flüsternd dargelegt. Nach einer einstündigen Beratung in Gegenwart des unbeteiligten Parfümeurs äußerte der Anwalt achselzuckend seine Meinung.

»Frau Birotteau«, sagte er mit der schrecklichen Kaltblütigkeit des Geschäftsmannes, »der Konkurs muß eröffnet werden! Gesetzt auch, es gelänge noch durch irgendeinen Kniff, morgen zahlungsfähig zu sein, so müßten doch mindestens dreihunderttausend Francs gezahlt werden, ehe man auf die Baustellen neue Hypotheken aufnehmen könnte. Den Passiven von fünfhundertfünfzigtausend Francs steht ein vorzügliches, vielversprechendes, aber vorläufig nicht realisierbares Aktivum gegenüber. Folglich können Sie in absehbarer Zeit einfach nicht weiter! Mein Rat ist nun der: lieber zum Fenster hinausspringen als sich die Treppe hinunterwerfen lassen!«

»Das ist auch meine Meinung, liebes Kind!« äußerte Pillerault.

Derville empfahl sich und ward von Frau Birotteau und ihrem Onkel hinausbegleitet.

»Armer Vater!« rief Cäsarine aus, indem sie sich erhob und einen leisen Kuß auf die Stirn des Schlafenden drückte.

»Anselm hat also nicht helfen können ?« fragte sie, als ihre Mutter und Pillerault wieder ins Zimmer kamen.

»Der Undankbare!« rief Birotteau aus. Jener Name hatte die nicht schlummernde einzige Stelle seines Bewußtseins berührt.

Das Wort »Undankbarer!« das wie ein Fluch auf den jungen Popinot geschleudert worden war, ließ ihn keinen Augenblick zur Ruhe und Schlaf kommen. In diesem unglücklichen Zustande suchte er seinen Onkel auf. Er wollte den erfahrenen alten Juristen zur Kapitulation bringen. Unter Aufbietung der herzinnigsten Beredsamkeit hoffte er einen Mann für sich zu gewinnen, an dem Menschenworte hinzugleiten pflegten wie Wasser über einen Stein.

»Nach kaufmännischem Brauch ist es durchaus statthaft«, sagte er, »daß der geschäftsführende Teilhaber eines Geschäftes dem stillen Teilhaber eine gewisse Summe als Vorschuß auf den künftigen Gewinn zahlt. Unser Geschäft wird diese Summe in der Tat auch abwerfen. Ich habe unsere Bücher auf das genaueste daraufhin geprüft und ich kann mit bestem Gewissen eine Zahlung von vierzigtausend Francs in einem Vierteljahr versprechen. Birotteaus Redlichkeit bürgt mir dafür, daß er die vierzigtausend wirklich auch zur Deckung seiner Wechsel verwendet. Wenn es zum Konkurs kommt, dann können uns die Gläubiger keinen Vorwurf hieraus machen. Übrigens will ich lieber vierzigtausend Francs als meine Cäsarine verlieren! In dem Augenblick, wo ich das zu dir sage, lieber Onkel, weiß sie wahrscheinlich bereits von meiner Weigerung und verachtet mich. Ich habe versprochen, mein Leben für meinen Wohltäter zu lassen, Ich bin in der Lage eines jungen Matrosen, der an der Seite seines Kapitäns untergeht, oder eines Soldaten, der seinen Offizier in Todesgefahr nicht verlassen darf!«

»Sei ein guter Mensch und ein schlechter Kaufmann und du wirst meine Hochachtung nie verlieren!« gab der Richter zur Antwort, indem er die Hand seines Neffen drückte. »Ich habe mir wegen der Sache auch schon den Kopf zerbrochen. Ich weiß ja, du bist in Cäsarine bis über die Ohren verliebt. Ich denke, du kannst sowohl den Gesetzen des Herzens wie des Handels genügen!«

»Mein lieber Onkel, wenn du mir dazu den Weg zeigen könntest, so rettest du mir meine Ehre!«

»Zahle Birotteau fünfzigtausend Francs in einem Wechsel, indem du ihm seinen Anteil auf euer Kephalol vertragsmäßig abkaufst! Ich will dir die Urkunde aufsetzen.«

Anselm umarmte seinen Onkel, ging in seine Wohnung und stellte für fünfzigtausend Francs Wechsel aus. Dann eilte er von der Rue des Cinq-Diamants nach der Place Vendôme und betrat den Salon gerade in dem Moment, als Birotteau zum Schrecken der Anwesenden den Ausruf »Der Undankbare!« tat.

»Mein teurer hochverehrter Gönner!« rief er aus, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Hier ist das Gewünschte!« Er reichte Cäsar die Wechsel. »Ich habe meinen Geschäftsstand genau geprüft. Haben Sie keine Befürchtungen! Ich werde die Wechsel einlösen. Retten Sie Ihre Ehre!«

»Ach, ich war seiner gewiß!« rief Cäsarine aus, indem sie Popinots Hand ergriff und leidenschaftlich drückte.

Frau Birotteau fiel Popinot um den Hals. Cäsar richtete sich auf wie ein Gerechter beim Schalle der Posaunen des Jüngsten Gerichts. Er bewegte sich, als stände er von den Toten auf. In halbwahnsinniger Hast griff er dann nach den Papieren.

»Einen Augenblick!« sagte Onkel Pillerault. Er kam Birotteaus Bewegung zuvor und riß Popinots Wechsel an sich.

Die vier Personen, die diese Familie ausmachten – Cäsar, Konstanze, Cäsarine und Popinot – sahen, starr ob Pilleraults Ton und Tat, wie er die Papiere zerriß und in das Feuer des Kamins warf, wo sie aufloderten, ohne daß es jemand hinderte.

»Onkel!«

»Onkel!«

»Onkel!«

»Herr Pillerault!«

Vier Stimmen, vier Herzen ertönten in schreckdurchzittertem Einklang.

Pillerault nahm den kleinen Popinot beim Kopfe, drückte ihn an sein Herz und küßte ihn auf die Stirn.

»Du bist der Liebe aller wert, die ein Herz haben!« rief er aus. »Wenn du eine Tochter von mir liebtest und sie hätte eine Million und du nichts als das« – er zeigte auf die verkohlten Papiere im Kamin – »und sie liebte dich: in vierzehn Tagen solltet ihr Hochzeit feiern! Dein Kompagnon ist verrückt!« Dann wandte er sich an Birotteau: »Mein lieber Neffe! Wir wollen offen und ehrlich sein! Geschäfte macht man mit Talern, nicht mit Gefühlen! Die sind großartig, aber nutzlos! Ich war heute zwei Stunden lang auf der Börse. Du genießt nicht mehr für einen roten Heller Kredit! Alle Welt sprach von deinem Ruin, von den dir verweigerten Prolongationen, von deinen mißglückten Versuchen bei verschiedenen Bankiers, von deiner Torheit, daß du sechs Treppen hinaufgestiegen bist, um einen schwatzhaften Hauswirt himmelhoch um die Prolongation eines Wechsels von zwölfhundert Francs zu betteln, von deinem Balle, der nur deine mißliche Lage hätte verdecken sollen. Ja, man munkelte sogar, du hättest gar kein Depot bei Roguin gehabt. Das sei alles bloß Flunkerei gewesen, behaupten deine Feinde. Einer meiner Freunde, den ich beauftragt habe, alles das festzustellen, hat mir dasselbe berichtet. Daß dir Popinot mit Wechseln helfen wird, erwartet man allgemein. Man sagt, du habest ihn nur etabliert, um mit ihm Wechsel zu reiten. Kurz und gut, alle Verleumdungen und Klatschereien, die man einem auf der sozialen Leiter vorwärts Strebenden nur anhängen kann, laufen in der Kaufmannschaft über dich um. Du würdest mit deinen Popinotschen Wechseln umsonst von Kontor zu Kontor gelaufen sein; du hättest überall demütigende Antworten bekommen und kein Mensch hätte sie dir diskontiert. Wer hätte denn gewußt, wieviel Wechsel du in den Verkehr bringen wolltest? Man glaubt eben, Popinot wäre dein Opferschaf. Du hättest bloß auch noch nutzlos den Kredit des Hauses Popinot zugrunde gerichtet! Und weißt du, wieviel dir der kühnste Wucherer auf alle die Wechsel gegeben hätte? Zwanzigtausend! Zwanzigtausend! Hörst du? Im Geschäftsleben gibt es eben Augenblicke, wo man coram publico drei Tage zu fasten imstande sein muß. Am vierten wird man dann in die Speisekammer des Kredits eingelassen. Du hältst diese drei Fasttage nicht aus. Da liegt der Hase im Pfeffer! Mein armer Kerl, Mut! Du mußt deinen Konkurs ansagen! Hier ist Popinot und hier bin ich! Los! Sobald deine Kommis im Bette sind, machen wir uns an die Arbeit, um dir den Jammer zu ersparen!«

»Lieber Onkel!« sagte Birotteau und faltete seine Hände.

»Cäsar, du wirst es doch nicht zu einem gemeinen Konkurs kommen lassen wollen, bei dem es keine Aktiva mehr gibt! Dein Anteil am Hause Popinot rettet dir deine Ehre!«

In dieser fatalen Beleuchtung erkannte Birotteau endlich die schreckliche Wahrheit in ihrer vollen Ausdehnung. Er fiel in seinen Lehnstuhl zurück, dann sank er in die Knie. Seine Gedanken verwirrten sich und wurden kindisch blöde. Konstanze glaubte, er stürbe. Sie kauerte sich nieder, um ihn aufzuheben. Aber da sie sah, daß er die Hände faltete und seine Augen gen Himmel richtete, tat sie desgleichen. In demütiger Zerknirschung betete er das wunderbare Gebet der Gläubigen:

»Vater unser, der du bist im Himmel! Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel! Unser täglich Brot gib uns heute! Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern! Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel! Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!«

Dem Stoiker Pillerault traten Tränen in die Augen. Tiefunglücklich und weinend lehnte Cäsarine ihr Haupt an Popinots Schulter, starr und bleich wie aus Marmor.

»Komm mit hinunter!« sprach der alte Kaufmann zu dem jungen und nahm ihn am Arm. Es war halb zwölf, als die beiden Cäsar der Pflege seiner Frau und Tochter überließen.

In dem Augenblick kam Cölestin Crevel die Treppe herauf, der erste Kommis, der während der geheimen Krise das Geschäft leitete. Als Cäsarine seine Schritte hörte, lief sie ihm entgegen vor die Tür, damit er den jämmerlichen Zustand seines Prinzipals nicht sähe.

»Mit der heutigen Abendpost«, berichtete er, »ist auch ein Brief aus Tours gekommen. Wegen seiner mangelhaften Adresse ist er verspätet eingegangen. Ich glaube, er ist vom Bruder des Herrn Birotteau. Deshalb habe ich ihn nicht geöffnet!«

»Lieber Vater!« rief Cäsarine aus. »Ein Brief vom Onkel aus Tours!«

»Ach, ich bin gerettet!« frohlockte Cäsar. »Mein Bruder! Mein lieber Bruder!« Er drückte einen Kuß auf den Brief. Dann las er ihn laut vor:

»Tours, den 11. Januar.

Mein heißgeliebter Bruder!

Dein Brief hat mich auf das tiefste betrübt. Nachdem ich ihn gelesen, bin ich in die Kirche gegangen, um dem lieben Gott zu Deinem Frieden eine heilige Messe darzubringen. Bei dem Blute, so unser himmlischer Erlöser für uns vergossen, habe ich gebetet, er möge seine Blicke gnädig und barmherzig auf Deine Not richten. Während ich das Gebet pro rneo fratre Caesare sprach, habe ich die Augen voller Tränen gehabt, dieweil ich Deiner gedachte, der ich Dir unglücklicherweise in den Tagen, da Du der brüderlichen Freundschaft so bedarfst, fern sein muß. Aber ich hoffe zu Gott, daß mich der verehrungswürdige treffliche Onkel Pillerault gewißlich vertritt. Mein lieber Cäsar, mitten in Deinen Kümmernissen vergiß nicht, daß das Leben hienieden nichts ist als ein Gang durch Prüfungen, eine Vorschule, und daß wir dereinst reichlich belohnt werden, wenn wir für den heiligen Namen Gottes und seine heilige Kirche gelitten, die Lehren der Heiligen Schrift befolgt und die Tugend geübt haben! Anders lassen sich die Dinge dieser armseligen Welt nicht erklären. Wenn ich Dir, von dem ich weiß, wie gut und fromm Du bist, diese heiligen Gebote wiederhole, so geschieht dies, weil sich die Menschen, die wie Du durch die Stürme dieser Welt fahren und gegen die tückische Brandung der menschlichen Interessen steuern – weil sich solche Menschen, von ihrem Schmerze überwältigt, in ihrem Unglücke zu Gotteslästerungen verleiten lassen können. Fluche aber weder den Menschen, die Dich beleidigen, noch Gott, wenn er es für recht befindet, Bitternis in den Kelch Deines irdischen Lebens zu träufeln! Schau nicht auf die Erde, sondern erhebe Dein Angesicht gen Himmel! Von da droben kommen dem Schwachen die Tröstungen! Dort sind die Reichtümer der Armen, dort die Schrecknisse der Reichen ...«

»Überspring das doch, lieber Cäsar«, unterbrach ihn Konstanze, »und sieh mal zu, ob er uns was schickt!«

»Liebe Konstanze, wir werden diesen Brief noch oftmals lesen!« sagte er ergriffen und wischte sich die Tränen aus den Augen. Um den Brief schnell zu überfliegen, schlug er ihn auf. Da fiel ein Tausendfrancsschein zur Erde.

»Ich war ja deiner gewiß, lieber armer Bruder!« flüsterte Birotteau, indem er den Schein aufhob.

Und mit vor Weinen schluchzender Stimme las er weiter:

»Ich bin zu Frau von Listomère gegangen und habe sie im Namen des Barmherzigen gebeten, mir alles zu leihen, was ihr gerade zur Verfügung stehe, um meine Ersparnisse zu vergrößern. Den Zweck habe ich ihr nicht erzählt. Ihr Edelmut hat mir das Meine auf tausend Francs erhöht, die ich hiermit mit dem Segen des Heilands in Deine Hände lege...«

»Eine kolossale Summe!« bemerkte Konstanz« bitter. Birotteau las weiter:

»Wenn ich etliche überflüssige Dinge in meiner Lebensweise weglasse, so werde ich Frau von Listomère die mir geliehenen vierhundert Francs in drei Jahren zurückerstatten können. Mache Dir also keine Sorgen hierüber, mein lieber Cäsar! Ich schicke Dir alles, was ich in dieser Welt besitze, mit dem Wunsche, daß Dir diese Summe aus Deiner hoffentlich nur augenblicklichen Geschäftsverlegenheit glücklich heraushelfe. Ich kenne Dein Zartgefühl und will daher Deinen Einwendungen zuvorkommen. Denke ja nicht daran, mir Zinsen zu zahlen! Auch brauchst Du mir das Geld in glücklichen Tagen, die Dir, wenn der liebe Gott meine tagtäglichen Bitten gnädiglich erhört, gewiß bald wieder beschieden sind, nicht zurückzuerstatten. Nach Deinem letzten Briefe, den ich vor zwei Jahren erhielt, glaubte ich, Du wärest reich, und daher habe ich über meine Ersparnisse zugunsten der Armen verfügt. Nun aber gehört alles Dir! Wenn Du diesen vorübergehenden Sturm auf Deiner Fahrt durch das Leben überstanden haben wirst, dann behalte die Summe für meine Nichte, damit sie sich einmal bei ihrer Verheiratung etwas kauft, was sie an ihren alten Onkel erinnern soll, dessen Hände sich täglich zu Gott erheben, um ihn zu bitten, er möge auf sie und all ihre Lieben die Fülle seines Segens ausschütten.

Zu guter Letzt, mein lieber Bruder, bedenke, daß ich ein armer Priester bin, der auf Gott vertraut wie die Lerchen auf dem Felde und still seine Wege wandelt im Dienste unseres göttlichen Erlösers. Ich brauche für mich nur wenig. Ängstige Dich daher nicht um mich in der Mißlichkeit, in der Du Dich befindest, und denke nur an mich als an einen, der Dich zärtlich liebt! So leb denn wohl, teurer vielgeliebter Bruder. Gott möge Dich, Deine Frau und Deine Tochter durch alle Fährnisse führen und Dich gesund und wohl erhalten! Ich wünsche Dir Mut und Geduld in Deinem schweren Leiden!

Franz Birottea«,

Priester und Vikar an der Kathedral- und Parochialkirche des Heiligen Gation von Tours.«

»Tausend Francs!« brummte Konstante wütend.

»Hebe sie auf!« erwiderte Cäsar ernst. »Mehr besitzt er nicht! Übrigens sind sie Cäsarines Eigenturn. Wir müssen unsern Unterhalt bestreiten, ohne unsern Gläubigern Kosten zu verursachen.«

»Sie werden denken, er habe dir mehr geschickt und du verheimlichst es.«

»Ich werde den Leuten diesen Brief zeigen.«

»Sie werden meinen, er sei nur zum Schein so geschrieben.«

»O du mein Gott!« rief Cäsar sterbensunglücklich aus. »Ehedem habe ich auch so schlecht gedacht von meinen Gläubigern, wenn sie in derselben elenden Lage waren, in der ich mich nun selber befinde!«

Mutter und Tochter widmeten sich schweigend ihrer Nadelarbeit. Cäsars Zustand bekümmerte sie tief. Frühmorgens um zwei Uhr öffnete Popinot leise die Tür und winkte Frau Birotteau zu, hinunterzukommen. Als ihr Onkel sie in das Kontor eintreten sah, nahm er seine Brille ab und sagte:

»Mein liebes Kind, die Sache steht nicht ganz hoffnungslos. Noch ist nicht alles verloren. Nur müssen wir deinen Mann vorläufig ausschalten. Anselm und ich, wir werden morgen Unterhandlungen anzuknüpfen versuchen. Verlaß morgen den Laden nicht und nimm alle Geschäftsbriefe an dich! Wir haben bis vier Uhr nachmittags Zeit. Ragons und ich sind als Gläubiger nicht zu fürchten. Gesetzt den Fall, die Roguin von Cäsar anvertrauten hunderttausend Francs seien den Vorbesitzern der Grundstücke wirklich gezahlt worden, so ständen sie euch heute auch nicht zur Verfügung. Die hundertundvierzigtausend Francs bei Claparon fälligen Wechsel müßtet ihr auf jeden Fall einlösen. Somit ist es nicht Roguins Bankerott, der euch ruiniert. Ich denke, daß früher oder später zur Deckung eurer Verpflichtungen vierzigtausend Francs auf euer Fabrikgrundstück aufgenommen werden können. Sechzigtausend Francs ist außerdem euer Anteil am Hause Popinot wert. Mit Mühe und Not kommen wir somit schon durch. Später können die Baustellen an der Madeleine belastet werden. Wenn euer Hauptgläubiger einwilligt, euch zu helfen, so will ich mein Vermögen nicht schonen, meine Renten verkaufen, und trocken Brot essen. Popinot wird auch tüchtig zu kämpfen haben, und was den Fortgang eures Geschäftes anbelangt: ihr seid auch vom kleinsten Ereignis abhängig. Aber das Kephalol wird zweifellos einen vorzüglichen Ertrag bringen. Wir haben uns miteinander beraten, Popinot und ich: wir wollen euch in diesem Kampfe unterstützen. Wenn wir in unsern Bemühungen Erfolg und Glück haben, will ich mir gern Entbehrungen auferlegen. Wie gesagt, es liegt alles bei Gigonnet und Claparon & Co. Popinot und ich, wir wollen gleich früh zwischen sieben und acht Uhr zu Gigonnet gehen und sehen, was wir von ihm zu erwarten haben.«

Ganz außer sich warf sich Konstante in des Onkels Arme. Ihre Sprache war nur noch Tränen und Schluchzen.

Popinot wie Pillerault konnten beide nicht wissen, daß Bidault, genannt Gigonnet, und Claparon & Co. nur Strohmänner für du Tillet waren und daß du Tillet unter den Handelsnachrichten lesen wollte: »Der Parfümhändler Cäsar Birotteau, wohnhaft in Paris, Rue Saint-Honoré Nr. 397, hat beim Handelsgericht seinen Konkurs angemeldet, Eröffnung: 16. Januar 1819. Beauftragter Richter: Herr Gobenheim-Keller. Konkursverwalter: Herr Molineux.«

Bis zum Morgengrauen arbeiteten Popinot und Pillerault an den Geschäftsbüchern Birotteaus. Um acht Uhr vormittags machten sich die beiden opfermutigen Freunde auf den Weg nach der Rue Grenétat, beide schweigsam und seelisch leidend. Pillerault strich sich mehrmals über die Stirn.

Die Rue Grenétat ist eine häßliche Geschäftsstraße mit gräßlichen Häusern und ziemlich unsauber. Der alte Gigonnet wohnte in einem dritten Stockwerk, dessen Schiebefenster kleine schmutzige Scheiben hatten. Die Treppe begann unmittelbar an der Straße. Die Hausmannsfrau wohnte im Zwischenstock in einem Käfige, der kaum Licht hatte. Mit Ausnahme von Gigonnet betrieben sämtliche Mieter im Hause ein Gewerbe. Es herrschte ein fortwährendes Gelaufe, so daß die Treppenstufen je nach der Witterung mit hartem oder weichem Schmutz und Unrat bedeckt waren. Auf jedem Absatz dieses stinkenden Aufganges zeigten rotlackierte Blechschilder in goldenen Buchstaben die Namen der Handwerker; hier und da hingen daneben Proben ihrer Kunst. Zumeist standen die Türen offen, so daß man die seltsamste Verquickung von Werkstatt und Haushalt erblicken konnte. Es lärmte, schrie, sang, pfiff und grunzte dem Besucher entgegen, so daß er sich unwillkürlich an die Fütterungsstunde im Zoologischen Garten erinnerte. Im ersten Stock verfertigte man in einem wahren Schweinestalle die schönsten Hosenträger von ganz Paris. Im zweiten Stock entstanden im widerlichsten Dreck die elegantesten Kartonagen. Gigonnet hauste in der dritten Etage. Obgleich er bei seinem Tode eine Million achthunderttausend Francs Kapital hinterlassen haben sollte, ließ er sich bei Lebzeiten durch nichts bewegen, diese Wohnung mit einer besseren zu vertauschen.

»Mut!« sagte Pillerault, als er an der graugestrichenen saubern Tür Gigonnets stand und an der Rehpfote des Klingelzugs zog.

Der Wechsler öffnete selber. Die beiden Vorkämpfer des in Zahlungsschwierigkeiten Geratenen durchschritten zunächst ein reinliches kahles Zimmer, dessen Fenster keine Gardinen hatte. Das zweite Zimmer war des Wucherers Wohnstube. Hier nahmen alle drei Platz vor einem Kamin, in dem inmitten eines Aschenhaufens ein Holzklotz glühte. Popinot stand das Herz still, als er die Unmenge von Aktenfaszikeln und die mönchische Armseligkeit des ganzen wie von Kellerluft erfüllten Raumes erblickte. Verdutzt sah er auf das dreifarbige Blumenmuster der dünnen bläulichen Tapete, die seit einem Menschenalter an den Wänden kleben mochte. Dann fielen seine betrübten Augen auf den Kamin, wo eine Standuhr in Lyraform und zwei blaue länglich geformte Sèvresvasen mit viel vergoldetem Kupferzierat standen. Sie waren eine Art Strandgut und stammten aus dem Boudoir von Marie-Antoinette aus dem Versailler Schlosse, wo sie Gigonnet gerettet hatte, als der Mob alles kurz und klein schlug. Daneben blinkten zwei häßliche Leuchter aus schlechtem Metall.

»Ich weiß«, begann Gigonnet, »Sie kommen nich für sich, sondern für den berühmten Birotteau! Na, sagen Sie schon, was wolln Sie?«

»Ich denke, wir brauchen es Ihnen nicht erst mitzuteilen«, erwiderte Pillerault. »Wir können uns daher kurz fassen. Sie sind im Besitze von Wechseln des Herrn Birotteau?«

»Die sind heut fällig!«

»Wollen Sie die ersten fünfzigtausend gegen Akzepte von Herrn Popinot, den Sie hier vor sich sehen, eintauschen, versteht sich, gegen ordentlichen Diskont?«

Gigonnet nahm die abscheuliche grüne Kappe ab, mit der er geboren zu sein schien, ließ seinen buttergelben haarlosen Schädel sehen und entgegnete mit einer spöttischen Grimasse: »Das heißt, Sie wolln mir mit Haaröl zahlen?«

»Wenn Sie Witze machen wollen, können wir uns ja wieder empfehlen!« bemerkte Pillerault.

»Sie sprechen wie 'n Weiser und Sie sind 'n Weiser!« meinte der Wucherer mit einem schmeichlerischen Lächeln.

»Also zur Sache!« forderte Pillerault auf, indem er den letzten Sturm wagte. »Wie wäre es, wenn ich Popinots Wechsel als Aussteller mit unterschrieb?«

»Herr Pillerault, Sie sind mir wert wie bar Gold, aber was brauch ich Ihr Gold, wo ich nur mein Silber haben will!«

Pillerault und Popinot grüßten und gingen. Unten an der Haustür zitterten Popinots Knie immer noch.

»Ist das ein Mensch ?« fragte er.

»Man behauptet's. Anselm, vergiß diese kurze Unterhaltung nie! Das war der Mammon ohne die Maskerade der verbindlichen Form! Die unvorhergesehenen Ereignisse sind die Presse, wir sind die Weintrauben und die Bankiers die Fässer. Die Terrainspekulation ist zweifellos gut. Dieser Gigonnet will Birotteau das Fell über die Ohren ziehen, um es dann selber zu tragen. Wir haben einen letzten Versuch gemacht. Mehr läßt sich nicht tun. Einen weiteren Ausweg gibt es nicht. So sind die Geldleute! Verlaß dich niemals auf sie!«

An diesem Unglücksvormittag mußte Frau Birotteau zum erstenmal in ihrem Leben Leute abweisen, die ihr Geld holen wollten. Auch den Bankboten schickte sie ohne Geld wieder weg. Die mutige Frau war glücklich, ihrem Manne diese Schmerzen ersparen zu dürfen. Um elf Uhr kamen Pillerault und Popinot, auf die sie mit sich steigernder Angst gewartet hatte, endlich zurück. Die Entscheidung stand auf ihren Gesichtern. Der Konkurs war unvermeidlich.

»Den Schlag wird mein Mann nicht überleben!« rief die arme Frau aus.

»Ich möchte es ihm beinahe wünschen«, versetzte Pillerault ernst. »Er ist ein frommer Mensch, und so wird ihn aus dieser Krise allein sein Beichtvater, der Abbé Loraux zu retten imstande sein.«

Pillerault, Popinot und Konstanze warteten, bis einer der Kommis den Abbé geholt hatte. Dann erst legten sie Birotteau die Konkurserklärung, die Cölestin vorbereitete, zur Unterschrift vor. Das Geschäftspersonal, das den Prinzipal liebte, war in Verzweiflung.

Um vier Uhr kam der Priester, Frau Birotteau machte ihn mit dein Unglück, das über das Haus hereingebrochen war, bekannt. Der Abbé stieg die Treppe hinauf.

»Ich weiß, warum Sie kommen!« rief ihm Cäsar entgegen.

»Mein lieber Sohn, Ihre Gottergebenheit kenne ich und doch sage ich Ihnen: denken Sie allezeit an die Demütigungen und bitteren Leiden, die unser Heiland erduldet hat! Dann werden auch Sie die Demütigungen ertragen können, die Gott Ihnen sendet...«

»Mein Bruder hat mich vorbereitet!« unterbrach Birotteau die Rede des Beichtvaters und zeigte ihm den Brief, den er soeben zum zweitenmal gelesen hatte. Der Abbé fuhr fort:

»Sie haben einen guten Bruder, eine tugendhafte, sanfte Gattin, eine zärtliche Tochter, zwei echte Freunde, Ihren Onkel und den trefflichen Anselm, zwei nachsichtige Gläubiger, Ragons – alle die guten Herzen werden unaufhörlich Balsam in Ihre Wunden träufeln und Ihnen helfen, Ihr Kreuz zu tragen. Versprechen Sie mir, den festen Mut eines Märtyrers haben zu wollen und dem Unglück ins Auge zu sehen, ohne zu wanken!«

Der Abbé hustete, um Pillerault, der im Salon wartete, zu benachrichtigen.

»Ich bin völlig gefaßt!« erklärte Birotteau ruhig. »Die Schande ist da; ich werde an nichts denken, als sie wieder gutzumachen.«

Seine Stimme und seine Miene überraschten alle. Nichts war indessen natürlicher. Die Menschen ertragen leichter ein entschiedenes Unglück als das schreckliche Hangen und Bangen, das sie wieder und wieder aus der höchsten Freude in den tiefsten Schmerz stürzt.

»Zweiundzwanzig Jahre lang habe ich in einem Traume gelebt«, sagte Birotteau, »und nun erwache ich wieder, den Wanderstab in der Hand.« Er war wieder der Bauernsohn der Touraine.

Bei diesem Ausspruche schloß Pillerault seinen Verwandten in die Arme. Jetzt bemerkte Cäsar seine Frau, Popinot und Cölestin. Die Urkunde in der Hand des letzteren sagte ihm genug; aber voller Ruhe betrachtete er die fünf Menschen vor sich, die ihn alle traurig und doch so treu und freundschaftlich anblickten.

»Sofort!« sagte er, indem er dem Abbé sein Kreuz der Ehrenlegion einhändigte. »Geben Sie es mir wieder, wenn ich wieder würdig bin, es zu tragen! – Cölestin, bereiten Sie mein Entlassungsgesuch als Stadtverordneter vor! Der Herr Abbé wird so freundlich sein, es Ihnen zu diktieren. Datieren Sie es vom Vierzehnten und schicken Sie es an Herrn de la Billardière!«

Cölestin und der Abbé gingen hinunter in das Kontor. Während der Viertelstunde, die sie unten waren, herrschte in Cäsars Zimmer tiefes Schweigen. Als die beiden zurückkamen, unterschrieb Birotteau mit fester Hand das Entlassungsgesuch. Als ihm aber Onkel Pillerault die Konkurserklärung vorlegte, überfiel den armen Mann ein Nervenschock, den er nicht zu meistern vermochte.

»Mein Gott, erbarme dich meiner!« rief er aus, nachdem er das ihm furchtbare Aktenstück unterzeichnet hatte.

»Herr Birotteau!« begann in dem Moment Popinot, dessen umdüsterten Sinn ein heller Lichtstrahl durchleuchtete, »Ihre Frau Gemahlin erweist mir die Ehre, einverstanden zu sein, daß ich bei Ihnen um die Hand von Fräulein Cäsarine werben darf.«

Allen Anwesenden traten die Tränen in die Augen. Nur Birotteaus Augen blieben trocken. Er stand auf, erfaßte Popinots Hand und sagte mit erhobener Stimme zu ihm:

»Lieber Sohn, nie sollst du die Tochter eines Bankerotteurs heiraten!«

Anselm sah ihn fest an und erwiderte: »Herr Birotteau, verpflichten Sie sich in Gegenwart Ihrer ganzen Familie – vorausgesetzt, daß mich Ihr Fräulein Tochter sonst zum Manne haben will –, an dem Tage in unsere Heirat einzuwilligen, an dem Sie den Bankerott wieder überwunden haben?«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Ein jeder war angesichts der Empfindungen gerührt, die sich auf dem traurigen Gesichte des Kaufmanns spiegelten. Endlich sagte er:

»Ja!«

Anselm ergriff Cäsarines Hand und küßte sie.

»Willigen Sie ein, Fräulein Cäsarine?«

»Ja!« gab sie zur Antwort.

»So gehöre ich endlich zur Familie und darf mich Ihren Angelegenheiten widmen!«

Mit diesen Worten entfernte er sich rasch, um nicht eine Freude zu zeigen, die mit dem Schmerz seines künftigen Schwiegervaters zu wenig im Einklang stand. Selbstverständlich war er über den Konkurs nicht glücklich, aber die Liebe ist ein Ding ganz für sich und purer Egoismus. Auch Cäsarine empfand in ihrem Herzen eine Regung, die im Kontrast zu ihrer bitteren Traurigkeit stand.

»So weit wären wir nun«, unterbrach Pillerault die feierliche Stimmung. »Jetzt wollen wir die Angelegenheit ganz zu Ende bringen!«

Frau Birotteau seufzte vor Schmerz tief auf.

»Was gedenkst du nun anzufangen, mein lieber Neffe?«

»Ich führe mein Geschäft weiter!« erwiderte Cäsar.

»Dieser Meinung bin ich nicht!« versetzte Pillerault. »Liquidiere und überlaß dein Aktivvermögen deinen Gläubigern! Verschwinde dann aus Paris! Ich habe mich oft in eine der deinigen ähnliche Lage hineingedacht. Mein Gott, ein Geschäftsmann muß an alles vorher denken! Einer, der nie an das Fallissement denkt, wäre wie ein Feldherr, der niemals damit rechnete, geschlagen zu werden. Er wäre gar kein rechter Geschäftsmann! – Ich würde an deiner Stelle das Geschäft nicht fortsetzen. Ich könnte die mißtrauischen Blicke, die stummen Vorwürfe derer nicht ertragen, die ich geschädigt habe. Lieber weit fort! Gewiß: viele Leute beginnen ihr Geschäft von neuem, als ob gar nichts vorgefallen wäre. Wohl ihnen! Sie sind kräftigere Naturen als Joseph Pillerault! Hast du bares Geld in deinem neuen Geschäft – und das mußt du haben! – so heißt es, du hättest dir Geldquellen gesichert! Fängst du ohne Geld wieder an, so kannst du nie wieder aufs Trockene kommen! Ich danke schön! Gib also hin, was du hast! Mag dein Geschäft kaufen, wer es will, und du ergreifst etwas Neues!«

»Aber was ?«

»Na, kümmere dich um eine Anstellung! Hast du nicht Protektionen? Den Herzog und die Herzogin von Lenoncourt, Frau von Mortsauf, Frau von Vandenesse? Schreibe an sie, such sie auf! Sie werden dich bei Hofe schon irgendwie mit etlichen tausend Talern Gehalt unterbringen. Deine Frau könnte ebensoviel verdienen, desgleichen deine Tochter! Cäsar, deine Lage ist gar nicht so hoffnungslos. Ihr drei bringt jährlich an die zehntausend Francs zusammen. Na, und dann bin ich ja auch noch da! Es wird sich schon machen!«

Dieser kluge Vorschlag regte Konstanze zum Nachdenken an; ihren Mann nicht, Pillerault begab sich nach der Börse.

Die bereits ruchbar gewordenen Zahlungsstockungen des bekannten und bisher vielbeneideten Parfümfabrikanten erregten allgemeines Aufsehen unter der besseren Kaufmannschaft, die damals konservativ gesinnt war. Den liberalen Geschäftsleuten aber war Birotteau ein Dorn im Auge. Die Oppositionellen meinten, die Beliebtheit im Lande für sich gepachtet zu haben; sie gestatteten den Royalisten wohl, königstreu zu sein, aber die wahre Vaterlandsliebe war nach ihrer Ansicht ein Privilegium der Linken; ihr und niemandem andern gehörte das Volk. Der Ruin eines Schützlings des Hofes, eines Konservativen, eines unverbesserlichen Royalisten, der am 13. Vendémiaire die Freiheit beschimpft und gegen die glorreiche französische Revolution gekämpft hatte, dieser Fall erregte die Freude und den Beifall der Börsenmenschen.

Pillerault wollte die Stimmung bis auf den Grund kennenlernen. So gesellte er sich zu einer der belebtesten Gruppen. Da standen zusammen: du Tillet, Gobenheim-Keller, Nucingen, Guillaume senior und sein Schwiegersohn Joseph Lebas, Claparon, Gigonnet, Mongenod, Camusol, Gobseck, Adolf Keller, Palma, Chiffreville Matifat, Lourdois und andere mehr.

»Man muß hinter allen her sein wie der Teufel!« bemerkte Gobenheim gerade zu du Tillet. »Es hat gar nicht viel gefehlt und mein Schwager hätte dem Birotteau Kredit gewährt.«

»Ich bin mit zehntausend Francs interessiert«, meinte du Tillet. »Birotteau hat mich vor vierzehn Tagen darum angegangen, und ich habe sie ihm auf seine bloße Unterschrift hin gegeben. Er ist mir früher einmal gefällig gewesen. Ich werde das Geld bei ihm ohne Bedauern einbüßen.«

»Er hat's getrieben wie alle andern«, sagte Lourdois zu Pillerault. »Er hat große Feste gegeben! Natürlich! Der Schelm wollte den Leuten Sand in die Augen streuen. Das macht vertrauensselig. Aber ein Mann, der zur Elite der anständigen Leute zählen will, hätte seine Zuflucht nicht zu so einer abgedroschenen Bauernfängerei nehmen sollen! Ja, ja, die Leute fallen eben immer wieder darauf hinein!«

»Wie die Hammel!« lachte Gobseck.

»Man darf den Leuten nich übern Weg traun, wenn sie nicht in alten Buden wohnen wie Claparon!« brummelte Gigonnet.

»Sagen Se mal, du Tillet«, sprudelte der dicke Nucingen, »wollten Se sich 'n Witz erlauben, als Se mir den Birotteau schickten?« Zu Gobenheim gewandt fuhr er fort: »Warum hat er von mir nich fuffzigtausend Francs holen lassen? Er hätt' se auf der Stelle gekriegt!«

»Nein, nein, Herr Baron, das hätten Sie nicht getan«, widersprach ihm Joseph Lebas. »Sie werden sehr wohl wissen, daß die Bank seine Akzepte zurückgewiesen hat. Haben Sie nicht selbst im Diskont-Ausschuß diesen Antrag gestellt? In der Angelegenheit des armen Birotteau, für den ich nach wie vor hohe Achtung hege, sind ganz sonderbare Umstände zu konstatieren ...«

Pillerault drückte ihm die Hand.

»Ich kann mir die Sache nicht gut anders erklären«, fuhr Lebas fort, »als daß man annehmen muß: hinter Gigonnet stecken Geldleute, die das Geschäft mit den Grundstücken um die Madeleine in einer ganz bestimmten Absicht vereiteln wollen ...«

Claparon äußerte sich zu Mongenod: »Die alte Geschichte: Schuster, bleib bei deinem Leisten! Hätte Birotteau sein Haaröl weiter fabriziert, anstatt uns die Baustellen in die Höhe zu treiben, so wäre er nicht pleite gegangen, selbst wenn er die hunderttausend Francs bei Roguin verloren hätte. Man sagt, er wird nunmehr unter der Firma Popinot weitermachen ...«

»Müssen wir dem Popinot auf die Finger sehen!« hetzte Gigonnet.

Als Gigonnet die Börse verließ, nahm er seinen Weg durch die Rue Perrin-Gasselin und ging in den Laden der Frau Madou.

»Na, Mutter«, sprach er sie in seiner heuchlerisch-gutmütigen Art an, »geht denn Ihr Gurkenhandel?«

»So so! Man muß die Zeiten nehmen wie sie sind, bester Herr!« versetzte die Alte gottergeben, als ob der liebe Herrgott vor ihr stände, und bot dem Wucherer ehrerbietig ihren Schemel an. Sie hatte eine Heidenangst vor diesem Manne. Die Leute aus dem Volk haben vor niemandem mehr Respekt als vor dem Henker. Und dieser Wucherer war ein Henker der kleinen Geschäftsleute.

»Wollen Sie was von mir wissen ?« fragte die Alte ängstlich, die sonst vor niemandem zitterte.

»Es is ein Unglück. Es wäre die Möglichkeit, daß Sie selber den Wechsel des Herrn Birotteau einlösen müßten. Der gute Mann is hops gegangen.«

Frau Madous Augen wurden ganz schmal wie die einer Katze; dann aber spien sie Flammen.

»So ein Lump! So ein Saujunge! Er ist selber zu mir gekommen und hat mir gesagt, er sei Stadtverordneter, also bloß um mich zu beschummeln! Hol mich der Teufel! Das bringt einem der ganze Handel ein! Solche Gauner regieren nun die Stadt! Man zieht uns noch das Fell über die Ohren...«

»Jeder sieht, wo er bleibt!« war die Antwort.

»Freilich! Warten Sie nur! Ich werde schon zu meinem Gelde kommen! Der Kerl soll sich gratulieren! Ich werd ihm das Schuldenmachen schon besorgen!«

Die is angeheizt! sagte Gigonnet vergnügt bei sich. Nu setzt sie die ganze Gasse in Brand. Tillet wird mit mir zufrieden sein. Morgen pfeifen sich's im ganzen Viertel de Spatzen von den Dächern zu, daß der Birotteau pleite is... Eigentlich hat mir der gute Mann nichts zu Leid getan. Er dauert mich fast... Sei's drum! Er is 'n Waschlappen!

Abends um sieben Uhr erschien Frau Madou fuchsteufelswild vor Birotteaus Haus. Sie riß die Tür auf, als käme der Teufel hinter ihr her.

»Verfluchte Schweinerei!« rief sie in den Laden hinein. »Ich will mein Geld haben! Her mit dem Zaster, oder ich nehme mir für meine zweitausend Francs, was mir in die Quere kommt! Ist das schon mal dagewesen, daß ein Stadtverordneter eine arme Bürgersfrau bestiehlt, die er beschützen sollte! Wenn ich mein Geld nicht auf der Stelle kriege, gehe ich zu einem Anwalt und verklag den Herrn Stadtverordneten beim Gericht! Ins Zuchthaus muß so ein Betrüger! Ich gehe nicht eher von der Stelle, als bis ich mein Geld habe!«

Sie schickte sich an, einen der Glasschränke zu öffnen, in dem teure Parfümerien standen.

»Ich glaube, die Alte faßt zu!« meinte Cölestin leise zu einem seiner Kollegen.

Frau Madou vernahm die Worte, und die kräftigste Maulschelle, die je in einem Parfümladen ausgeteilt worden ist, brannte auf Cölestins Ohr.

»Achte die Frauen, mein Jungchen!« setzte sie hinzu. »Und mach keine Witze mit ehrlichen Leuten, die ihr beschummelt!«

Konstanze trat aus dem Hinterladen, wo auch Birotteau war. Er hatte eben eine Auseinandersetzung mit Pillerault, der gekommen war, ihn zu sich abzuholen. Der arme Cäsar wollte die Selbstdemütigung so weit treiben, sich dem Schuldgefängnis zu stellen. Frau Birotteau bat die lärmende Alte:

»Um Himmels willen, liebe Frau, machen Sie die Vorübergehenden nicht aufmerksam!«

»Gerade! Ich werde die Sache aller Welt erzählen. Die Geschichte ist zum Lachen! Ich rackere mich im Schweiße meines Angesichts ab und opfere meine sauer erworbenen Taler, damit Ihr protzige Bälle gebt! Ihr geht in Samt und Seide, und mir armem Schafe schert Ihr die Wolle ab! So wahr ich hier stehe, ich würde lieber verhungern, als auf fremder Leute Kosten schlemmen. Ich esse trocken Brot, aber es ist mein eigen! Mein Geld, Ihr Räuberbagage!«

Sie ergriff ein wertvolles Kästchen mit teuren Toilettegegenständen.

»Lassen Sie das liegen!« rief Cäsar hervortretend. »Hier ist nichts mehr mein. Alles gehört meinen Gläubigern. Ich besitze nichts mehr als meine Person, und wenn Sie die haben und ins Gefängnis bringen wollen, so gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß ich Ihren Gerichtsvollzieher und seine Helfershelfer hier erwarten werde!«

Seine Stimme und die Tränen in Cäsars Augen besänftigten den Zorn der Frau.

»Ein Notar hat mich um mein Vermögen gebracht«, fuhr Birotteau fort, »und ich bin unschuldig an dem Unglück, das ich verursache. Sie sollen mit der Zeit bezahlt werden, und wenn ich als Tagelöhner oder Lastträger in der Halle arbeiten sollte!«

»Ich glaub Ihnen schon«, versetzte Frau Madou. »Verzeihen Sie nur! Aber wie soll man nicht in Wut geraten! Dieser Gigonnet setzt mir zu, und ich habe zur Einlösung Ihres verfluchten Wechsels kein bares Geld da. Ich habe nur noch einen andern Wechsel, der noch lange nicht fällig ist...«

Pillerault zeigte sich.

»Kommen Sie morgen früh zu mir!« sagte er, »ich werde Ihnen den Wechsel bei einem Freunde zu fünf Prozent diskontieren lassen!«

»Donnerwetter, der biedere Vater Pillerault! Na, da werde ich ja schließlich nichts verlieren, nicht wahr? Also auf morgen!«

Cäsar wollte durchaus unter den Ruinen seines Geschäfts verbleiben. Er sagte, auf die Weise verständige er sich mit allen seinen Gläubigern. Ungeachtet der inständigen Bitten seiner Nichte billigte Pillerault diesen Entschluß und ließ Cäsar in sein Zimmer zurückkehren. Der schlaue alte Mann eilte indessen zum Doktor Haudry, schilderte ihm Birotteaus Lage und Zustand und erhielt das Rezept zu einem Schlaftrunk. Im Einverständnis mit Konstanze überredete er Birotteau, mit ihnen zusammen ein wenig Stachelbeerkonfitüre zu sich zu nehmen. Das hineingemischte Narkotikum schläferte ihn ein. Erst nach vierzehn Stunden erwachte er wieder, und zwar in der Wohnung von Onkel Pillerault in der Rue des Bourdonnais, wohin man ihn inzwischen geschafft hatte.

Als Konstanze die Droschke wegrollen hörte, in der Pillerault ihr den Gatten entführte, verlor sie allen Mut. Sehr häufig sind wir selber nur stark, weil wir ein noch schwächeres Wesen aufrechterhalten müssen. Die nun einsame Frau weinte um ihren Cäsar, als sei er gestorben.

»Liebes Mütterchen«, tröstete Cäsarine die Weinende, indem sie sich ihr auf den Schoß setzte und sie liebkoste, »du hast mir gesagt, wenn ich tapfer wäre, hättest auch du die Kraft, gegen unser Unglück zu kämpfen. Weine nicht! Ich bin bereit, in einem Geschäft eine Stellung anzunehmen. Ich werde nicht mehr daran denken, was wir waren. Ich will sein, was du in deiner Jugend warst, eine Verkäuferin! Nie sollst du von mir eine Klage oder ein Bedauern hören. Ich verzage nicht. Du weißt, Anselm ...«

»Ach, liebes Kind, er wird nie mein Schwiegersohn werden!«

»Mütterchen!«

Cäsarine umarmte ihre Mutter.

»Gerade das Unglück«, sagte sie schwärmerisch, »soll uns unsere wahren Freunde zeigen!«

Am andern Vormittag begab sich Konstanze in das Palais des Herzogs von Lenoncourt, des diensttuenden Kammerherrn des Königs, und gab einen Brief ab, in dem sie ihn um eine Audienz zu einer von ihm zu bestimmenden Stunde bat. In der Zwischenzeit machte sie dem Oberbürgermeister de la Billardière einen Besuch, schilderte ihm die Lage, in die ihr Mann durch die Flucht des Notars Roguin geraten war, und ersuchte ihn, sich beim Herzog für Birotteau verwenden zu wollen und auch für sie zu sprechen, da sie fürchte, sie vermöchte ihr Anliegen nur mangelhaft vorzubringen. Sie wolle um eine Stelle für ihren Mann bitten. Cäsar würde der ehrlichste Kassierer sein, wenn es in der Ehrlichkeit überhaupt Grade gäbe.

Um zwei Uhr stiegen de la Billardière und Frau Birotteau die große Treppe im Palais Lenoncourt in der Rue Saint-Dominique hinauf. Wenn Ludwig XVIII. überhaupt Günstlinge hatte, dann war der Herzog ein von ihm Bevorzugter.

Konstanze wurde huldvoll empfangen. Lenoncourt war einer der seltenen Edelleute, die das achtzehnte Jahrhundert dem neunzehnten aufgespart hatte. Frau Birotteau machte ihr Schmerz groß. Das Leid adelt die niedrigsten Menschen, wenn es nur echt ist. Und an Konstanze war es echt.

Mitten in der Unterredung meldete man Herrn von Vandenesse. Der Herzog rief sofort: »Das ist Ihr Helfer!« Es kam darauf an, die Sache dem König vorzutragen.

Frau Birotteau war diesem jungen Edelmanne nicht unbekannt. Er war mehreremal in ihrem Laden gewesen, um Kleinigkeiten zu kaufen. Kleinigkeiten haben oft große Dinge im Gefolge. Der Herzog setzte ihm die Lage Birotteaus auseinander. Als Vandenesse von dem Unglück vernahm, das dem Paten der Marquise von Uxelles widerfahren war, ging er sogleich mit de la Billardière zum Grafen von Fontaine. Frau Birotteau wurde gebeten zu warten, bis sie wiederkämen.

Graf von Fontaine, wie de la Billardière aus der Vendée, erinnerte sich Birotteaus. Alle, die ihr Blut für die Sache des Königs vergossen hatten, genossen damals Vorrechte, wenn, der König es auch in Rücksicht auf die Liberalen geheimhielt. Fontaine war einer der Lieblinge und Vertrauten des Königs. Er stellte nicht nur bestimmt eine Anstellung Birotteaus in Aussicht, sondern verwandte sich in der Tat sofort für ihn beim König. Noch am Abend suchte Fontaine, aus den Tuilerien kommend, Frau Birotteau auf und teilte ihr mit, daß ihr Gatte nach dem abgeschlossenen Vergleich mit seinen Gläubigern ein Amt an der Staatsschuldenkasse mit zweitausendfünfhundert Francs Gehalt bekäme.

Dieser glückliche Erfolg war nur der Anfang von Konstanzes Tätigkeit. Sie suchte Joseph Lebas auf, der sie gütig empfing; sie bat ihn, ihrer Tochter eine Stelle in einem angesehenen Handelshause zu verschaffen. Er versprach nichts, aber acht Tage darauf hatte Cäsarine bei freier Wohnung und Kost und tausend Talern Gehalt die Stelle als Kassiererin in einem der vornehmsten Modewarengeschäfte von Paris, das gerade eine neue Filiale im Quartier des Italiens einrichtete.

Konstanze ging noch am gleichen Tage zu Anselm Popinot und bat ihn, die Wirtschaft und die Buchführung besorgen zu dürfen. Popinot wußte, daß sein Haus das einzige war, in dem Frau Birotteau ohne Verletzung ihres Ansehens unterkommen konnte. Er setzte ihr dreitausend Francs nebst freier Unterkunft und Kost aus, ließ seine Stube für sie herrichten und begnügte sich mit einer Kommiskammer unter dem Dache, So zog Konstanze, nachdem sie vier Wochen in einem Prunkgemach residiert hatte, in jene nach dem düstern und feuchten Hof gelegene häßliche Stube, in der Popinot mit Gaudissart und Finot das Kephalol aus der Taufe gehoben hatte.

Als Molineux, der vom Handelsgericht zum Konkursagenten ernannt worden war, kam, um Birotteaus Aktiva mit Beschlag zu belegen, machte Konstanze mit ihm unter Cölestins Beihilfe Inventur. Dann verließ sie zusammen mit Cäsarine zu Fuß und schlicht gekleidet das Haus, ohne sich noch einmal umzuschauen; sie begaben sich zu Onkel Pillerault.

Zum erstenmal nach ihrer Trennung aßen sie wieder, dort zusammen mit Cäsar. Es war eine traurige Mahlzeit. Jeder hing seinen Gedanken nach. Wie Seeleute waren alle drei bereit, gegen den Sturm zu kämpfen, ohne sich die Gefahren dabei zu verhehlen. Als Cäsar erfuhr, mit welchem Eifer sich hohe Persönlichkeiten um sein Schicksal gekümmert hatten, faßte er wieder Mut; aber als er erfuhr, daß seine Tochter in fremde Dienste gegangen war, weinte er. Dann reichte er beiden die Hände zum Dank für den Mut, mit dem sie das Leben von vorn anfingen,

»Aus Sparsamkeitsrücksichten«, sagte Pillerault zu Cäsar, »wirst du bei mir wohnen. Teile mein Zimmer und mein Brot. Ich hatte das Alleinsein schon lange satt. Von hier bis zu deiner Kanzlei in der Rue de l'Oratoire sind es nur ein paar Schritte.«

»Der liebe Gott verläßt mich nicht!« sprach Cäsar fromm.

Sobald ein Kaufmann seinen Konkurs angesagt hat, sollte er sich eigentlich nur noch damit beschäftigen, in Frankreich oder im Auslande einen stillen Winkel zu suchen, wo er, ohne sich mit irgend etwas zu befassen, leben kann – wie ein Kind. Denn das ist er wieder geworden. Das Gesetz erklärt ihn für unmündig, für keiner rechtsgültigen Handlung fähig und für eine Null im öffentlichen Leben. Ganz so schlimm, wie dies aussieht, ist das allerdings in der Praxis nicht. Jedes Gesetz, das in das Privatleben des einzelnen eingreift, hat zur Folge, daß die menschliche Schlauheit die verzwicktesten Umgehungen findet. Die Intelligenz der Fallierten arbeitet naturgemäß darauf hin, die ihnen feindlichen Gesetze wirkungslos zu machen. Der Zustand des tatsächlichen bürgerlichen Todes dauert ungefähr ein Vierteljahr, das heißt die Zeit durch alle Formalitäten hindurch bis zum Friedensschluß zwischen Schuldner und Gläubigern, bis zu dem Vergleich. Dieses ganze Drama hat seine Einteilung in Akte, seine Szenerien, seine dem Publikum unsichtbaren Maschinerien und so weiter. Die Aufführung sieht sich, ganz wie im Theater, vom Zuschauerraum aus anders an als von der Bühne.

Nach Einsicht der mit der Konkursanmeldung eingereichten Bilanz ernennt das Handelstribunal einen Richter, der die Interessen der Konkursmasse den Gläubigern gegenüber wahren und den Schuldner vor den Quälereien gereizter Gläubiger schützen soll, der somit eine zweifache Rolle innehat, die sich prächtig spielen ließe, wenn die Richter die Zeit dazu hätten.

Der mit der Ordnung des Konkurses beauftragte Richter läßt durch den Konkursagenten die Gelder, die Guthaben, die Waren und so weiter mit Beschlag belegen und prüft die in die Bilanz aufgenommenen Aktiva. Dann wird ein Termin zur Zusammenberufung der Gläubiger angesetzt und in den Zeitungen bekanntgegeben. Die Gläubiger, gleichviel ob echte oder unechte, vereinigen sich und wählen provisorische Konkursverwalter, die nunmehr den Konkursagenten ersetzen.

Stimmrecht in der Gläubigerversammlung hat sowohl der, dem der Gemeinschuldner einen Taler, wie der, dem er fünfzigtausend Francs schuldet. Die Stimmen werden gezählt, nicht gewogen. Diese Versammlung, in der sich auch von dem in Konkurs Geratenen künstlich gemachte Gläubiger befinden können (die, wenn welche vorhanden sind, keine Versammlung versäumen!), schlägt eine .Anzahl Personen zu Konkursverwaltern vor, aus denen der Richter zwei akzeptiert. Unter Umständen werden also Leute Konkursverwalter, die der Fallierte zu haben wünscht.

Das Gesetz will, daß sich der Vergleich, der dem Schuldner einen Teil seiner Schulden erläßt und ihm sein Geschäft zurückgibt, auf eine gewisse Majorität der Schuldsummen und Gläubiger stützt. Dieses Ziel erheischt eine geschickte, sich mit den oft einander kreuzenden oder entgegenlaufenden Interessen der einzelnen Gläubiger abfindende Geschäftsführung des Richters, der Konkursverwalter und des Anwalts des Schuldners. Einem betrügerischen Bankerotteur öffnen sich eine Menge Hintertüren. Häufig arrangiert er indirekt seinen Vergleich selber.

Kommt es zu keinem Vergleich, dann ernennen die Gläubiger die definitiven Konkursverwalter und greifen zu den strengsten Maßregeln, indem sie sich zur Ausbeutung des Vermögens und des Geschäfts des Gemeinschuldners vereinigen und alles mit Arrest belegen, was er je zu erwarten hat, die Erbschaft von seinem Vater, seiner Mutter, seiner Tante und so weiter. Diese strenge Maßregel wird durch einen Gesellschaftsvertrag vollzogen. Indessen kommt ein Konkurs höchst selten über das Stadium der provisorischen Konkursverwaltung hinaus. Auf tausend provisorische kommen keine fünf definitiven. Die kaufmännische Leidenschaft kennt keine lange Verfolgung.

Es gibt zwei Arten von Konkursen, Pillerault kannte den Unterschied; es war nach seiner Meinung ebenso schwer, aus der einen Art mit der Ehre des Kaufmanns wie aus der andern mit Reichtümern herauszukommen. Er wandte sich an den rechtlichsten Anwalt, der ihm bekannt war, und übertrug ihm die Angelegenheit.

Nach den Bestimmungen des Gesetzes müssen während der Dauer eines Konkurses die Gläubiger den Lebensunterhalt des in Konkurs Geratenen und seiner Familie bestreiten. Pillerault benachrichtigte den mit diesem Konkurs beauftragten Richter, daß er für die Bedürfnisse seiner Nichte, ihres Gatten und der Tochter der beiden Sorge tragen würde.

Du Tillet wollte den kaufmännischen Tod Birotteaus und setzte heimlich alle Hebel in Bewegung, um die Todesqualen zu verschärfen. So war Molineux, dieser kleinliche Stänker, zum Konkursverwalter gemacht worden; dieser Mensch war glücklich, den Parfümhändler malträtieren zu dürfen. Zum Glück für Birotteau hatte es Joseph Lebas, von Pillerault aufmerksam gemacht, erreicht, daß seine Angelegenheit einem ebenso klugen wie wohlwollenden Handelsrichter, einem gewissen Camusol, in die Hände kam, einem allgemein als Ehrenmann bekannten, liberalgesinnten und reichen Seidenhändler.

Einer der schrecklichsten Augenblicke in Cäsars Leben war die nötige persönliche Verhandlung mit Molineux, diesem Manne, der ihm nie etwas gegolten hatte und der nun der gesetzliche Vertreter seiner Gläubiger geworden war. Er suchte ihn in Begleitung Pilleraults auf.

Molineux empfing Pillerault übertrieben höflich, Birotteau dagegen maßlos geringschätzig und von oben herab. Der griesgrämige Alte hatte sich sein Benehmen vorher überlegt und bis in die Nuancen einstudiert.

»Was für Auskünfte wünschen Sie?« fragte Pillerault.

»Die Ausgaben des in Konkurs Geratenen in der letzten Zeit vor dem Konkurse stehen in einem Mißverhältnis zu seiner Vermögenslage... Nachweisbar hat der Ball...«

Pillerault unterbrach ihn:

»Der Ball, dem Sie als Gast beigewohnt haben...«

Molineux ließ sich nicht beirren.

»... hat dieser Ball sechzigtausend Francs gekostet, wo doch das Vermögen des nunmehr in Konkurs Geratenen im selben Moment nur noch wenig über hunderttausend Francs betrug. Es liegt somit Veranlassung vor, den in Konkurs Geratenen des betrügerischen Bankerotts zu beschuldigen ...«

»Das ist also Ihre Meinung?« versetzte Pillerault. Birotteau saß mit einer Armensündermiene da.

»Zumal wenn ich bedenke, daß Herr Birotteau Stadtverordneter ...«

»Haben Sie uns wirklich hierherbestellt, um uns die Mitteilung zu machen, daß wir vor den Staatsanwalt gebracht werden sollen? Wissen Sie, daß das ganze Café David heute abend über Ihre Art und Weise lachen wird!«

Die Meinung der Stammgäste des Café David war dem schikanösen Alten offenbar doch höchst wichtig. Er warf einen verblüfften Blick auf Pillerault. Er hatte nämlich darauf gerechnet, Birotteau unter vier Augen traktieren zu können, und sich vorgenommen, als Blutrichter zu schalten. Er wollte ihn einschüchtern und foltern, sich an seinen Schrecken und Qualen weiden, sich dann rühren lassen, milder werden und sich zu guter Letzt sein Opfer auf immerdar verpflichten. Aber an Stelle des erwarteten Opferschafes ward ihm eine kommerzielle Sphinx vorgeführt.

»Herr Pillerault!« meinte er unsicher, »ich wüßte nicht, was es zu lachen gäbe.«

Man begann sachlich zu verhandeln, und Molineux befleißigte sich nach und nach immer milderer Formen. Am Ende tröstete er Birotteau sogar und lud ihn und Pillerault zur Teilnahme an seinem frugalen Mittagsmahl ein. So war auch hier Onkel Pillerault Cäsars Schutzgeist. Ohne seine Gegenwart hätte Molineux kaum seine Intrigen unterlassen. Aber, wie gesagt, vor der Meinung der Stammgäste des Café David hatte Molineux einen Höllenrespekt.

Eine furchtbare Strafe, die das Gesetz dem in Konkurs Geratenen auferlegt, ist sein persönliches Erscheinen in der gerichtlichen Hauptgläubigerversammlung, in der über sein Schicksal entschieden wird. Für einen Menschen, der sich über alles hinwegsetzt, ist diese traurige Formalität nicht schlimm, aber für einen Mann wie Cäsar Birotteau mußte sie zu einer Qual werden, die nur mit dem letzten Stündlein eines zum Tode Verurteilten vergleichbar ist. Pillerault tat alles, um seinem Neffen diesen Schreckenstag erträglich zu machen.

Birotteau hatte zu allen Maßnahmen des Konkursverwalters Molineux seine Zustimmung gegeben. Da der Prozeß um die Hypothek auf dem Fabrikgrundstück in der Rue du Faubourg-du-Temple inzwischen endgültig gewonnen worden war, entschieden sich die beiden Konkursverwalter, das Grundstück zu verkaufen. Cäsar widersetzte sich diesem Beschlüsse nicht. Du Tillet, der von der Absicht der Stadtverwaltung, die Oberseine mit Saint-Denis durch einen Kanal zu verbinden, Kenntnis hatte, kaufte das Fabrikgrundstück für siebzigtausend Francs. Birotteaus Ansprüche an der Terrainspekulation um die Madeleine gingen an Claparon über mit der Bedingung, daß er seinerseits auf die von Birotteau noch schuldige Hälfte der Grundbuchs- und Vertragsgebühren verzichte, den. gesamten Kaufpreis der Baustellen an die Vorbesitzer bezahle und sich Birotteaus Wechselschuld gegenüber mit der Dividende begnüge, die bei dem Konkurs herauskommen würde. Birotteaus Anteil an der Firma Popinot & Co. ward von Popinot für achtundvierzigtausend Francs erstanden. Der Pachtvertrag auf die Fabrik in der Vorstadt du Temple blieb bestehen. Das Geschäft »Zur Rosenkönigin« ging für siebenundfünfzigtausend Francs an Cölestin Crevel über, und zwar einschließlich Außenstände, Waren, Mobiliar, Eigentumsrecht an Sultaninnen-Creme und Venus-Wasser sowie unter Übernahme der Mietverträge; auch wurde ihm das Fabrikinventar mitverkauft. Das Aktivvermögen betrug somit einhundertfünfundsiebzigtausend Francs, wozu noch siebzigtausend Francs Dividende aus dem Konkurs des unseligen Roguin kamen. Somit belief sich die Gesamtsumme der Konkursmasse auf zweihundertfünfundvierzigtausend Francs, während die Passiva Vierhundertvierzigtausend Francs betrugen. Es kamen daher mehr denn fünfzig Prozent zur Verteilung.

Der Bankerott ist häufig eine Prozedur, aus der gerissene Kaufleute bereichert hervorzugehen suchen. Birotteau, der arm wie eine Kirchenmaus davonging, erweckte gerade dadurch die Wut du Tillets. Der Bankier hatte fest auf einen betrügerischen Bankerott gerechnet und sah nun, daß es ein grundehrlicher gewesen war. Zwar hatte er die Baustellen um die Madeleine bekommen, ohne daß er den Beutel zu ziehen brauchte, aber dieser Gewinn machte ihm gar keine besondere Freude; viel lieber hätte er den armen Kaufmann ehrlos, ruiniert und gebrandmarkt gesehen. So war es wahrscheinlich, daß man in der Generalversammlung der Gläubiger Birotteaus Redlichkeit anerkennen würde.

In dem Maße, wie Cäsars Lebensmut wiederkehrte, machte ihn sein Onkel mit den Ergebnissen des Konkursganges bekannt. Jede Einzelheit war ein Schlag für den Unglücklichen. Kein Kaufmann hört ohne tiefen Schmerz von der Entwertung der Dinge, die ihm eine Menge Geld oder viel Arbeit gekostet haben. Pilleraults Mitteilungen gingen Birotteau durch Mark und Bein.

»Was ? Siebenundfünfzigtausend Francs die ,Rosenkönigin‘! Allein in den Laden habe ich zehntausend gesteckt und vierzigtausend in die Zimmer! Das Instandsetzen der Fabrikgebäude, das Inventar, die Apparate haben mich dreißigtausend gekostet! Nur zu fünfzig Prozent bewertet, sind für zehntausend Francs Waren da. Und meine Sultaninnen-Creme und das Venus-Wasser sind ein Rittergut wert!«

Diese Jeremiaden des Ruinierten machten gar keinen besonderen Eindruck auf Onkel Pillerault. Der alte Kaufmann ließ sie über sich ergehen, wie ein Schutzmann einen Platzregen. Nur das Vorsichhinbrüten Cäsars, wenn die Rede auf die Gläubigerversammlung kam, machte ihm Sorgen. Wer die Eitelkeit und die Schwächen kennt, denen die Menschen aller sozialen Sphären frönen, wird wissen, was für eine Tortur es für Birotteau sein mußte, als Fallierter den Palast des Handelsgerichts betreten zu sollen, wo er ehedem als Richter ein- und ausgegangen war, dort Schimpf und Schande einstecken zu sollen, wo man ihm einst Dank und Ehren gespendet hatte! Seine unbeugsame Meinung über Bankerott und Bankerotteure waren im ganzen Pariser Handelsstande bekannt. Oftmals hatte er gesagt: »Wer seinen Konkurs anmeldet, ist noch ein ehrlicher Kaufmann, aber aus der Gläubigerversammlung geht man immer als Schelm hervor!« Pillerault lauerte die günstigste Stunde ab, um ihn mit der Notwendigkeit vertrauter zu machen, vor seinen Gläubigern erscheinen zu müssen. Dieses Muß dünkte Birotteau schlimmer als der Tod. Seine dumpfe Resignation machte einen tiefen Eindruck auf Pillerault. Mitten in der Nacht hörte er ihn zuweilen schreien: »Nie! Niemals! Lieber will ich vorher sterben!«

Pillerault, trotz der Schlichtheit seines Lebens ein ganzer Mann, verstand diese Schwäche Birotteaus und beschloß, ihm diese Tortur zu ersparen, der er vielleicht gar unterliegen könne. Das Gesetz hält in diesem Punkte an den Formalitäten unerbittlich fest. Jemand, der nicht persönlich dort erscheint, hat sich lediglich wegen dieser Weigerung unter Umständen vor dem Staatsanwalt wegen betrügerischen Bankerotts zu verantworten. Aber wenn das Gesetz auch den in Konkurs Geratenen zwingt, sich zu stellen, so besitzt es doch nicht die Macht, die Gläubiger zu zwingen, in der Versammlung persönlich zu erscheinen. Eine Gläubigerversammlung ist nur in ganz bestimmten Fällen mehr als eine Formalität, beispielsweise wenn benachteiligte Gläubiger begünstigten Gläubigern gegenüberstehen.

Pillerault suchte alle Gläubiger einzeln auf und bat sie, in der Hauptgläubigerversammlung nicht persönlich zu erscheinen, sondern einen Vertreter damit zu beauftragen. Alle, mit Ausnahme von du Tillet, bedauerten Birotteau aufrichtig, denn alle wußten, wie sehr sich dieser die Sache zu Herzen nahm, wie rechtschaffen er war, wie ordentlich seine Bücher geführt waren und wie klar die Sache stand. Keiner der Gläubiger wollte in den Verdacht kommen, schadenfroh zu sein. Molineux, der Konkursverwalter, hatte in Cäsars Wohnung seine sämtlichen Habseligkeiten bis auf den von Popinot geschenkten Kupferstich »Hero und Leander«, die Wertsachen, die er getragen, seine Tuchnadel, die goldenen Schuhschnallen, seine beiden Uhren vorgefunden; alles war da, nichts fehlte. Ebenso hatte Konstanze ihr bescheidenes Schmuckkästchen zurückgelassen. Mit einem Wort, Birotteau bewies sich im Kleinen wie im Großen als rechtlicher Mann.

Man erkannte das allgemein an, und wenige Wochen nach der Konkurseröffnung wandelte sich die Meinung über ihn an der Börse völlig zu seinen Gunsten. Die gleichgültigsten Leute gestanden, der Konkurs Birotteaus sei eine der wunderlichsten Seltenheiten, die man je erlebt habe. Als die Gläubiger sahen, daß sie ungefähr sechzig Prozent bekommen würden, taten sie alles, was Pillerault wollte, und so gelang es ihm, daß sich die Gläubiger insgesamt durch drei Bevollmächtigte vertreten ließen. Somit setzte sich die gefürchtete Versammlung nunmehr zusammen aus dem mit dem Konkurs beauftragten Richter, den beiden Konkursverwaltern, drei Bevollmächtigten, Pillerault und Ragon. Am Morgen des Tages, an dem sie stattfand, sagte Pillerault zu Birotteau:

»Cäsar, du kannst heute ohne jegliche Angst in die Gläubigerversammlung gehen. Du wirst keinen deiner Gläubiger vorfinden!«

Ragon kam, seinen Schuldner abzuholen. Als der vormalige Besitzer der »Rosenkönigin« seine klanglose Flüsterstimme hören ließ, erbleichte Cäsar, aber der kleine gutmütige alte Mann öffnete die Arme, und Birotteau fiel ihm um den Hals wie ein Sohn seinem Vater. Beide weinten.

Der Fallierte faßte Mut, als er so viel Nachsicht sah, und stieg mit Pillerault und Ragon in eine Droschke. Schlag halb elf kamen sie vor dem Handelsgericht an, das damals im Kloster Saint-Merri war. Tag und Stunde waren vom Richter im Einvernehmen mit den beiden Konkursverwaltern festgesetzt worden. Im »Konkurssaale« hatte um diese Stunde niemand mehr etwas zu suchen. Birotteau hatte somit nichts zu fürchten.

Trotzdem betrat er das Zimmer des Handelsrichters Camusol, das zufällig dereinst das seine gewesen war, tief ergriffen. Der Gedanke, nachher den »Konkurssaal« betreten zu müssen, machte ihn halb besinnungslos.

»Es ist heute sehr kalt«, bemerkte Camusol zu Birotteau, »Ich denke, die Herren werden nichts dagegen haben, wenn ich Sie bitte, die kleine Formalität gleich hier in meinem Zimmer zu erledigen. Wir würden drüben im Saale frieren. Nehmen Sie, bitte, Platz!«

Er sagte nicht: »im Konkurssaale«.

Jeder nahm sich einen Stuhl. Der aufgeregte Birotteau fand keinen; der Richter überließ ihm seinen Arbeitssessel. Die drei Anwälte und die Konkursverwalter unterzeichneten das bereits vorbereitete Protokoll.

Dann sagte Camusol zu Birotteau:

»Die Gläubiger verzichten ausnahmslos auf den Rest ihrer Forderungen. Der Beschluß ist so abgefaßt, daß er Ihren Kummer lindern soll. Sie sind frei!«

Der Richter reichte Birotteau die Hand.

»Mein lieber Herr Birotteau!« fuhr er sodann fort, »der Gerichtshof bedauert Ihre Lage. Ihre Fügsamkeit hat uns nicht überrascht, und jedermann zieht den Hut vor Ihrer Ehrlichkeit! Noch in Ihrem Unglück sind Sie dessen würdig, was Sie einst hier in diesem Hause waren. Ich bin seit zwanzig Jahren Kaufmann, und in diesem langen Zeitraum erlebe ich es erst zum zweitenmal, daß ein Kaufmann in der öffentlichen Achtung durch seinen Ruin steigt.«

Birotteau drückte ihm schluchzend die Hand. Der Richter fragte ihn, was er fortan zu tun gedächte. Cäsar gab zur Antwort, er wolle arbeiten, um seine Schulden unverkürzt zu tilgen.

»Wenn Sie zur Durchführung Ihres Sie ehrenden Vorhabens einiger tausend Francs bedürfen, so stehen sie Ihnen bei mir jederzeit zur Verfügung«, erklärte Camusol.

Pillerault, Birotteau und Ragon entfernten sich.

»Na, Cäsar, war das denn so gefährlich?« fragte Pillerault den ehemaligen Parfümhändler, als sie das Portal des Gerichtspalastes verließen.

»Das war dein Werk!« erwiderte Birotteau gerührt.

»Wir sind hier ganz in der Nähe der Rue des Cinq-Diamants. Kommen Sie, Birotteau, wir wollen meinen Neffen aufsuchen!«

Als sie in Popinots Laden traten, kam Konstanze gerade aus dem Zwischenstock herunter, um Anselm Briefe zur Unterschrift vorzulegen. Birotteau schauderte zusammen, als er seine Frau im Dienste eines andern sah. Er wurde bleich und konnte seine Tränen nicht zurückhalten.

»Guten Tag, lieber Cäsar!« rief sie ihm munter entgegen.

»Wie geht es dir hier?«

»Als ob ich bei meinem Sohne wäre!« gab sie zur Antwort.

Birotteau drückte Popinot die Hand.

»Ach, eben habe ich das Recht verloren, dich je meinen Sohn nennen zu dürfen!«

»Wir wollen nicht von unserer Hoffnung lassen!« erwiderte Popinot. »Ihr Kephalol geht vorzüglich, und zwar dank der Reklame in den Tageszeitungen und den Prospekten und Plakaten, die Gaudissart in ganz Frankreich verbreitet. Er läßt jetzt in Straßburg auch deutsche drucken. Wir machen damit eine Invasion über den Rhein. Dreitausend Gros Bestellungen sind bereits eingelaufen.«

»Dreitausend Gros!« rief Birotteau.

»Ja. Und in der Vorstadt Saint-Marceau habe ich billig einen Platz zu einer neuen Fabrik gekauft. Die in der Vorstadt du Temple behalte ich auch.«

»Ach, Konstanze«, klagte Cäsar leise, »mit ein wenig Hilfe wären wir durchgekommen!«

Cäsar, seine Frau und seine Tochter waren fortan ein Herz und eine Seele. Der arme Beamte hatte ein, wenn auch nicht unmögliches, so doch gewaltiges Ziel vor Augen: die Bezahlung seiner Schulden bis auf Heller und Pfennig! Die drei in leidenschaftlicher Redlichkeit vereinten Menschen wurden stockgeizig und versagten sich alles. Jeder Groschen war ihnen heilig.

Cäsarine ging vollkommen in ihrem Beruf auf; sie durchwachte die Nächte, gab sich die erdenklichste Mühe, den Umsatz zu steigern, erfand neue Muster zu Stoffen und entwickelte ein wahres Geschäftsgenie. Ihre Prinzipale mußten ihrer Arbeitswut geradezu Einhalt tun; sie gewährten ihr Gratifikationen, da sie andere ihr angebotene Erkenntlichkeiten, wie Kleider oder Schmucksachen, ausschlug. Geld! war ihre Losung. Jeden Monat brachte sie ihr Gehalt und was sie dazubekam ihrem Onkel Pillerault. Ebenso machte es Cäsar, ebenso seine Frau. Da sie sich alle drei für unfähig dazu hielten und keins die Verantwortung für die Anlage dieser Ersparnisse übernehmen wollte, überließen sie das dem Onkel. Da dieser wieder Geschäftsmann geworden war, so setzte er das Geld an der Börse um, wobei ihm Julius Desmarets und Joseph Lebas gern halfen, indem sie ihn auf Spekulationen hinwiesen, bei denen kein Risiko war.

Der ehemalige Parfümhändler, der bei dem Onkel seiner Frau wohnte, wagte es nicht, sich nach der Verwendung der von ihm, Konstanze und Cäsarine ersparten Summen zu erkundigen. Auf der Straße ging er gesenkten Hauptes hin und entzog aller Welt sein eingefallenes, vergrämtes und teilnahmsloses Gesicht. Am liebsten hätte er sich ganz ärmlich gekleidet.

»Gott sei Dank!« pflegte er zu sagen, »daß ich wenigstens nicht das Brot meiner Gläubiger zu essen brauche!«

Seine früheren Bekannten fanden Birotteau wie verwandelt. Ein volles Jahr gönnte er sich nicht die geringste Erholung. Obgleich er wußte, wie wahrhaft freundschaftlich gesinnt ihm Ragons waren, so konnte man ihn doch nicht bewegen, zu ihnen oder zu Lebas, Matifat, Protez, Chiffreville oder gar einmal zu Vauquelin zu. gehen, die alle geradezu wetteiferten, ihm ihre Verehrung merken zu lassen. Er blieb lieber für sich in seinem Zimmer, um ja keinem seiner Gläubiger zu begegnen. Je herzlicher und zuvorkommender man ihn behandelte, um so bitterer erinnerte er sich seiner Lage.

Auch Konstanze und Cäsarine mieden jede Geselligkeit. An den Sonn- und Feiertagen, den einzigen Tagen, die sie frei hatten, holten sie Cäsar zur Stunde der Messe ab und leisteten ihm nach Erfüllung dieser kirchlichen Pflicht in Pilleraults Wohnung Gesellschaft. Zuweilen lud dieser den Abbé Loraux mit ein, dessen Gespräche den Schwergeprüften aufrechterhielten. Sonst wurde niemand hinzugezogen. Pillerault war selbst viel zu rechtschaffen und feinempfindend, als daß er Birotteaus Schamgefühl verletzt hätte. Bei alledem war er eifrig bemüht, den Kreis der Menschen zu vergrößern, dem der Fallierte mit reiner Stirn und erhobenem Angesicht wieder hätte entgegentreten können.

Im Mai des Jahres 1821 fiel der Jahrestag von Cäsars Verlobung mit Konstanze auf den letzten Sonntag. Im Einverständnis mit Ragons hatte Pillerault ein kleines Landhaus in Sceaux gemietet, wo er den gastlichen Hausherrn spielen wollte.

»Cäsar«, sagte er am Abend vorher, »morgen machen wir eine Landpartie und du wirst mitkommen!«

Birotteau, der eine sehr hübsche Handschrift hatte, saß da und kopierte – wie alle Abende – Schriftstücke für seinen früheren Rechtsanwalt. Mit Erlaubnis seines Seelsorgers arbeitete er auch an den Sonntagen wie ein Berserker.

»Nein, nein«, gab er zur Antwort, »Derville will diese Bogen am Montag früh haben!«

»Du mußt schon deiner Frau und deiner Tochter wegen mitgehen. Sie haben ein bißchen Erholung wirklich mal nötig! Übrigens wirst du nur gute Freunde draußen vorfinden: den Abbé Loraux, Ragons, Popinot und seinen Onkel. Du kommst mit! Ich will es!«

Im Drange ihrer Geschäfte waren Cäsar und Konstanze seit ihrer Verlobung nie wieder hinaus nach Sceaux gekommen, obgleich sie beide sehr gern den Baum einmal wiedergesehen hätten, unter dem dereinst der erste Kommis der »Rosenkönigin« vor Wonne halb ohnmächtig zu Konstanzes Füßen gesunken war. Unterwegs warf ihm Frau Birotteau einen verheißungsvollen Blick zu, ohne indessen seinen Lippen das leiseste Lächeln zu entlocken. Als sie ihm gewisse Worte ins Ohr flüsterte, schüttelte er mit dem Kopfe, ohne eine Silbe zu sprechen. Statt daß ihn die Liebesworte seiner so treuen Gattin aufheiterten, machten sie ihn mir noch düsterer. Seine Augen wurden tränenfeucht. Zwanzig Jahre war es her, daß er jung, wohlhabend und verliebt an der Seite eines schönen Mädchens die nämliche Straße dahingefahren war. Damals, hatten ihn Glücksträume umgaukelt, und heute saß ihm im Wagen dieselbe Frau zur Seite, einer von durcharbeiteten Nächten bleichen Tochter gegenüber. Ihre Schönheit war dahin, nur ihre Liebe war ihm geblieben!

Die Wehmut seiner Züge ließ in Cäsarine und Anselm, die heute junge Liebesleute waren wie jene einst, keine rechte Freude aufkommen.

»Seid glücklich, meine Kinder!« rief Birotteau schmerzlich bewegt aus, »es ist euer Recht! Eure Liebe stören keine trübseligen Gedanken!«

Während er das sagte, hatte er die Hände seiner Frau ergriffen und küßte sie in einer Verehrung und Andacht, die ihr tiefer zu Herzen ging, als wenn er lebhaft und fröhlich geworden wäre.

Als sie in dem Landhause ankamen, wurden sie von Ragons, Pillerault, dem Abbé Loraux und dem alten Popinot derartig liebevoll empfangen, daß Birotteaus Stimmung heiterer wurde.

»Geht eine Weile im Walde spazieren!« rief Pillerault, indem er Cäsars und Konstanzes Hände ineinanderlegte. »Nehmt Anselm und Cäsarine mit! Um vier Uhr kommt ihr zurück!«

»Die armen Leute!« meinte Frau Ragon, als die beiden Paare fort waren, »Wir müssen sie ein bißchen aufmuntern! Sie werden schon wieder lebenslustig werden!«

»Er tut Buße, ohne gesündigt zu haben!« sagte der Abbé.

»Das Unglück macht ihn bewundernswürdig!« versetzte der alte Popinot.

Vergessen können ist das geheimnisvolle Privileg starker schöpferischer Naturen, vergessen wie die Natur vergißt, die ihre Vergangenheit nicht kennt und sich unermüdlich nur immer wieder verjüngt. Die schwachen Menschen, zu denen Birotteau gehörte, führen eine schmerzensreiche Existenz. Sie haben nicht die Kraft, aus Erlebnissen nichts als Erfahrung zu ziehen. Indem sie in das überstandene Leid immer von neuem zurücksinken, erschweren und verzehren sie sich.

Die beiden Paare wandelten den Weg hin, der nach dem Walde von Aulnay führt, nach einem der reizendsten Hügel in der Umgegend von Paris, von dem aus man einen Blick in das Wolfstal hat. Das schöne Wetter, die Anmut der Landschaft, das Frühlingsgrün und die köstlichen Erinnerungen an vergangenes Glück verscheuchten Cäsars Trübsinn. Er drückte seine Frau an sich. Seine Augen belebten sich freudig.

»Mein armer Cäsar!« rief Konstanze aus. »Endlich bist du wieder der alte! Ich denke, wir dürfen uns hin und wieder eine kleine Erholung wohl gönnen!«

»Darf ich es aber ?« fragte er. »Ach, Konstanze, ich besitze nichts mehr als deine Liebe! Ich habe alles verloren, sogar mein Selbstvertrauen! Ich habe keine Kraft mehr. Ich wünsche mir nichts, als noch so lange zu leben, um frei von irdischen Verbindlichkeiten sterben zu können! Aber dich, meine liebe Frau und kluge Beraterin, dich, die du alles klar voraussahst, dich trifft kein Vorwurf, du darfst fröhlich sein! Ich allein von uns dreien bin der Schuldige! Vor anderthalb Jahren, auf jenem Unglücksfest, da warst du, Konstanze, du, die einzige Frau, die ich je geliebt, vielleicht noch schöner denn, heute vor zwanzig Jahren als junges Mädchen! In den anderthalb Jahren seitdem habe ich diese Schönheit vernichtet, die mein Stolz, mein berechtigter Stolz war! Aber ich liebe dich mehr denn je, da ich weiß, was ich an dir habe! Ach, Liebste, ich möchte lieber, du machtest mir Vorwürfe, als daß du meinen Schmerz verherrlichst!«

Der Ton seiner Worte ging Konstante durch das Herz.

»Ich hätte nicht geglaubt«, sagte sie, »daß die Liebe einer Frau zu ihrem Mann nach zwanzigjähriger Ehe noch wachsen könnte!«

Das Geständnis ließ Cäsar einen Augenblick all sein Leid vergessen. Sein Herz hatte nur Raum für dieses Glück. Freudig fand er den Baum wieder, der zufällig noch stand. Das Ehepaar setzte sich unter ihn und sah Anselm und Cäsarine nach, die weiter dahinschritten.

»Fräulein Cäsarine«, sagte Anselm zu dem jungen Mädchen, »halten Sie mich nicht für so gemein und habgierig, daß ich aus dem Erwerb des Anteiles Ihres Vaters am Kephalol Nutzen zöge! Ich betrachte seinen Anteil mit Freuden nach wie vor als sein rechtmäßiges Eigentum. Wir dürfen erst am Tage der Rehabilitation Ihres Vaters einander ganz angehören! Mit all der Kraft, die mir meine Liebe verleiht, bemühe ich mich, das Erscheinen dieses Tages zu beschleunigen!«

Der Bräutigam hatte sich gehütet, seiner Schwiegermutter dieses Geheimnis anzuvertrauen. Ein Liebender hat immer den Drang, seiner Geliebten großherzig zu erscheinen.

»Ist der erhoffte Tag noch fern?«

»Er ist nahe!«

Anselm sagte das derartig zuversichtlich, daß Cäsarine ihm bei aller Züchtigkeit am liebsten um den Hals gefallen wäre. Als sie sich inniger an ihn schmiegte, nahm er sie beim Kopf und küßte sie in respektvoller Verliebtheit.

Als der ganze Kreis wieder vereint war, kam es Birotteau, der sonst kein besonders scharfer Beobachter war, vor, als hafte dem Benehmen des Ehepaars Ragon etwas Geheimnisvolles an.

Während des Nachtisches erschien der Notar von Sceaux. Pillerault bat ihn, Platz zu nehmen, und sah zu Birotteau hin. Von neuem stiegen gewisse Ahnungen in Cäsar auf, ohne daß sie feste Gestalt annahmen.

»Mein lieber Neffe«, begann Pillerault, »seit vierzehn Monaten verwalte ich die Ersparnisse von dir, deiner Frau und deiner Tochter und habe sie auf fünfzehntausend Francs gebracht. Aus der Konkursmasse sind mir dreißigtausend Francs zugefallen. Mithin können wir nunmehr fünfundvierzigtausend an deine Gläubiger zahlen. Ragons Dividende hat ebenfalls dreißigtausend betragen. Der Herr Notar von hier überreicht dir die Quittung über die nunmehr vollständige Bezahlung deiner Schuld samt Zinsen an deine Freunde. Der Rest liegt beim Notar Crottat. Davon sollen Lourdois, Frau Madou und die Handwerker bezahlt werden, kurz, deine dringlichsten Gläubiger. Die andern kommen nächstes Jahr dran. Mit Zeit und Geduld läßt sich alles machen!«

Birotteaus Freude war unbeschreiblich. Weinend fiel er Pillerault um den Hals.

»Nun trägst du auch das Kreuz der Ehrenlegion wieder!« rief Ragon aus.

Der Abbé steckte dem Staatsschuldensekretär das rote Bändchen ins Knopfloch. Birotteau stellte sich vor den Spiegel und betrachtete sich vergnügt.

Am andern Vormittag machte er sich auf den Weg zu Frau Madou.

»Herrje! Herr Birotteau!« begrüßte ihn die dicke Frau. »Man erkennt Sie ja gar nicht wieder, so weiß sind Sie geworden! Na, und dabei haben Sie doch keine Sorgen! Haben Ihr schönes Ämtchen! Unsereiner muß sich abrackern wie ein alter Droschkengaul...«

»Aber Frau Madou!«

»Nehmen Sie mir's nur nicht übel. Ich mache Ihnen ja gar keine Vorwürfe...«

»Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Ihnen der Herr Notar Crottat heute den Rest Ihrer Forderung an mich samt Zinsen auszahlen wird...«

»I was Sie sagen!«

»Stellen Sie sich nur einhalb zwölf Uhr bei ihm ein!«

»Sogar Zinsen! Donnerwetter! Das ist nobel!« sagte sie voll naiver Bewunderung. »Ich will Ihnen mal was sagen. Mein Geschäft geht großartig. Ich will nichts haben. Ich erkläre mich für völlig abgefunden. Ich. will's Ihnen schriftlich geben. Behalten Sie das Geld! Sie werden's nötig brauchen! Die alte Madou nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wo sie in ihrem Rechte ist. Sie geht gleich tüchtig ins Zeug! Aber das Herz hat sie auf dem rechten Fleck...« Dabei schlug sie auf ihren fetten Busen, der seinesgleichen in der Markthalle nicht hatte.

»Nehmen Sie das Geld nur!« unterbrach Birotteau ihren Redeschwall. »Ich will meine Schuld bei Ihnen auf Heller und Pfennig tilgen!«

»Na, wenn Sie durchaus wollen, dann lasse ich mich nicht lange bitten! Aber morgen will ich in der Halle ein Loblied auf Sie singen. So was passiert nicht alle Tage!«

Dieselbe wenig variierte Szene erlebte Birotteau bei dem Dekorationsmaler, Crottats Schwiegervater. Dieser erste Erfolg verlieh ihm Mut, jedoch ohne innern Frieden. Der leidenschaftliche Wunsch, seine Kaufmannsehre völlig wiederherzustellen, rieb ihn auf. Sein Gesicht verlor jegliche Farbe und Frische, seine Augen wurden matt und seine Wangen hohl. Wenn er früh um acht oder nachmittags um vier auf seinem Wege nach und von seiner Kanzlei alten Bekannten begegnete, schlich er immer noch in demselben Rock, den er zur Zeit der Konkurseröffnung getragen hatte, weißköpfig, blaß, scheu wie ein Spitzbube an den Häusern hin. Seine Blicke eilten immer wachsam weit voraus, und nur selten ließ er sich von Bekannten ansprechen.

Matifat traf ihn einmal und bedauerte ihn.

»Nehmen Sie sich doch mehr Zeit«, meinte er; »Geldwunden sind nicht tödlich!«

»Nein«, gab Birotteau zur Antwort, »aber die seelischen Wunden!«

Zu Beginn des Jahres 1822 wurde der Bau des Sankt-Martin-Kanals behördlich genehmigt. Die Grundstücke in der Vorstadt du Temple stiegen dadurch im Werte zu unsinniger Höhe. Nach dem Bauplane schnitt der Kanal du Tillets Terrain, den ehedem Birotteauschen Besitz, gerade in zwei Hälften. Die Baugesellschaft, die das Projekt durchführte, bot einen unerhörten Kaufpreis, wenn der Bankier dieses ihr unentbehrliche Grundstück bis zu einer bestimmten Zeit abtreten würde. Aber Popinots Pachtvertrag hinderte den Handel. Deshalb suchte du Tillet den Parfümhändler in seinem Laden in der Rue des Cinq-Diamants auf.

Der Bankier stand Anselm Popinot gleichgültig gegenüber, aber dieser hegte einen instinktiven Groll gegen jenen. Er wußte zwar nichts von dem Diebstahl und den unlautern Machenschaften du Tillets, aber er hatte ihm gegenüber immer die Empfindung, einen unbestraften Gauner vor sich zu sehen. Gerade jetzt, wo auch die Baustellen um die Madeleine maßlos im Wert gestiegen waren, mußte er von neuem daran denken, daß sich der glückliche Bankier zum Nachteile seines ehemaligen Prinzipals bereichert hatte. Als daher du Tillet den Grund seines Besuches dargelegt, blickte er ihn höchst unwillig an.

»Ich bin nicht abgeneigt, von unserm Pachtvertrag zurückzutreten«, sagte er, »aber ich verlange dafür eine Entschädigung von sechzigtausend Francs. Unter dem tue ich's auf keinen Fall!«

»Sechzigtausend!« rief du Tillet und tat so, als ob er wieder gehen wollte.

»Mein Pachtvertrag läuft noch fünfzehn Jahre. Wenn ich meine Fabrik anderswohin verlege, so kostet sie mich dreitausend Francs im Jahre mehr. Also sechzigtausend, oder die Frage ist für mich erledigt.«

Die Unterhaltung wurde hitziger. Cäsars Name fiel, Frau Birotteau kam in das Kontor hinunter. Sie sah du Tillet zum erstenmal seit dem berüchtigten Balle wieder. Als der Bankier wahrnahm, wie sehr sich seine ehemalige Prinzipalin verändert hatte, konnte er seine Überraschung nicht unterdrücken. Erschrocken über sein Werk schlug er die Augen nieder.

Popinot bemerkte zu Frau Birotteau: »Herr du Tillet zieht aus Ihrem früheren Grundstücke jährlich dreitausend Francs. Trotzdem sind ihm sechzigtausend Francs Entschädigung für unsern Pachtvertrag zu viel.«

»Dreitausend!« wiederholte du Tillet eifrig.

»Dreitausend!« sagte Frau Birotteau mit besonderer Betonung.

Du Tillet wurde blaß. Popinot sah seine künftige Schwiegermutter an. Ein paar Augenblicke herrschte tiefe Stille. Popinot hatte Empfindungen wie vor einem Geheimnis.

»Herr Popinot, unterzeichnen Sie, bitte, die Verzichterklärung auf unsern Pachtvertrag, die ich hier im voraus habe anfertigen lassen.« Er nahm die auf Stempelpapier geschriebene Urkunde aus seiner Brusttasche. »Ich werde Ihnen einen Scheck auf sechzigtausend Francs ausstellen.«

Erstaunt sah Popinot von neuem auf Frau Birotteau. Er glaubte zu träumen. Während der Bankier am Stehpult den Scheck ausfüllte, verließ Konstanze das Kontor. Popinot und du Tillet händigten sich gegenseitig die Schriftstücke ein. Mit einer kühlen Verbeugung schied du Tillet.

Während Popinot dem Bankier nachsah, der nach der Rue des Lombards ging, wo sein Kabriolett hielt, sagte er zu sich: Dank diesem seltsamen Handel werde ich in ein paar Monaten endlich meine Cäsarine heiraten können! Das arme Kind soll sich nun nicht mehr abarbeiten... Sonderbar! Ein Blick von Frau Birotteau hat genügt! Was hat sie mit dem Schurken? Die Sache kommt mir höchst merkwürdig vor...

Er schickte nach der Bank, um den Scheck einzulösen. Dann ging er hinauf, um mit Konstanze zu sprechen. Er fand sie nicht. Ohne Zweifel war sie in ihr Zimmer gegangen. Er suchte sie daselbst auf und überraschte sie beim Lesen eines Briefes. Mit einem Blick erkannte er die Schrift du Tillets, seines ehemaligen Kollegen in der »Rosenkönigin«. Auf dem Tisch lagen noch mehrere Briefe.

Anselms Blick fiel auf folgende Stelle: »Engel meines Lebens, ich bete Sie an! Warum ...«

»Welche Gewalt haben Sie doch über diesen Tillet, daß Sie ihn zum Abschluß eines solchen Geschäfts bewogen haben!« begann Anselm mit einem erzwungenen Lächeln. Er konnte sich eines schlimmen Verdachts nicht erwehren.

»Sprechen wir nicht darüber!«

»Nein, reden wir lieber von dem Ende Ihrer Leidenszeit!«

Popinot trat an das Fenster und trommelte unruhig mit den Fingern an die Scheiben.

Und wenn sie auch die Geliebte dieses Kerls gewesen wäre, sagte er sich, warum sollte ich mich deswegen nicht als anständiger Mensch benehmen? Laut fuhr er fort: »Der Reinertrag am Kephalol belauft sich auf zweihundertzweiundvierzigtausend Francs. Die Hälfte davon ist hunderteinundzwanzigtausend. Ziehe ich von der Summe die achtundvierzigtausend ab, für die ich den Anteil Ihres Mannes bekommen habe, so verbleiben dreiundsiebzigtausend, die zusammen mit den sechzigtausend Francs Entschädigung für den Pachtvertrag hundertdreiunddreißigtausend Francs ausmachen!«

Konstanze pochte das Herz hörbar vor Freude über diese Erklärung. Popinot fuhr fort: »Ich habe nie aufgehört, Herrn Birotteau für meinen Kompagnon anzusehen. Somit dürfen wir über die Summe zur Befriedigung seiner Gläubiger verfügen. Fügen wir sie zu den achtundzwanzigtausend, die Sie erspart haben und die Onkel Pillerault angelegt hat, so haben wir hunderteinundsechzigtausend Francs! Ihr Onkel wird Ihnen die Quittung über seine Restforderung von fünfundzwanzigtausend nicht versagen. Ich werde meinem Schwiegervater fernerhin seinen voraussichtlichen Reingewinn im kommenden Jahre vorschießen, um damit die seinen Gläubigern schuldige Summe voll herzustellen. Damit ist er... rehabilitiert!«

»Rehabilitiert!« rief Konstanze aus, indem sie den Brief fallen ließ, um die Hände zu falten und leise zu beten.

»Mein lieber, guter Anselm! Rehabilitiert, nachdem er Bankerott gemacht hatte! Lieber Sohn!« Sie nahm Popinot beim Kopfe und küßte ihn wie toll. »Cäsarine ist dein! Sie wird ihre Stellung nunmehr verlassen! Sie hat sich bald zu Tode gearbeitet!«

»Aus Liebe!« sagte Popinot.

»Ja, aus Liebe!« wiederholte sie lächelnd.

»Ich will Ihnen einmal ein kleines Geheimnis verraten«, sagte er, nach dem verdächtigen Briefe schielend. »Ich bin Crevel gefällig gewesen, um ihm den Kauf Ihres Geschäftes zu erleichtern. Dabei habe ich eine Bedingung gestellt. Ihre frühere Wohnung ist noch in genau dem Zustand, in dem Sie sie verlassen haben. Ich hatte so meine Gedanken dabei, wenn ich auch nicht glaubte, daß uns das Glück so bald und in dem Grade hold sein würde. Crevel ist verpflichtet, Ihnen Ihre Wohnung mietweise zu überlassen. Er hat noch keinen Fuß hineingesetzt, und die Möbel darin gehören sämtlich Ihnen. Den zweiten Stock habe ich für mich reserviert, um mit Cäsarine darin zu wohnen. Wenn ich verheiratet bin, werde ich mich von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends im Geschäft aufhalten. Damit Sie wieder in den Besitz von Vermögen gelangen, werde ich Ihrem Manne seinen Anteil an unserm gemeinsamen Geschäft für hunderttausend Francs abkaufen. Zugerechnet sein Gehalt, werden Sie dann zehntausend Francs im Jahre zu verzehren haben. Sind Sie dann wieder glücklich?«

»Toll vor Glück, Anselm!«

Konstanze kam ihm in dem Moment so erhaben, rein und schuldlos vor, daß ihm sein häßlicher Verdacht zu einem haltlosen Hirngespinst zusammensank. Er wollte sich aber trotzdem Gewißheit verschaffen. Ein Fehltritt schien ihm unvereinbar mit der Gesinnung dieser Frau.

»Meine verehrte Schwiegermutter, gegen meinen Willen hat sich ein schrecklicher Verdacht in meine Seele geschlichen. Wenn Sie mich glücklich sehen wollen, so vernichten Sie den Verdacht noch in dieser Stunde!«

Popinot bückte sich und hob den Brief auf. Erschrocken über die Angst in Konstanzes Miene fuhr er fort: »Ohne es zu wollen, habe ich vorhin die Anfangsworte dieses Briefes du Tillets gelesen. Das und Ihr Einfluß auf die rasche Einwilligung dieses Menschen in die sinnlos hohe Entschädigung sind schuld, daß ich mir das alles unwillkürlich so erklärt habe, wie sich's wohl jeder erklären würde. Ihr Blick und das eine Wort ,dreitausend‘ haben genügt...«

»Sprechen Sie nicht weiter!« unterbrach sie ihn, nahm ihm den Brief wieder und zerriß ihn vor seinen Augen. »Mein lieber Anselm, ich brauche vor Ihnen nicht zu erröten. Was ich Ihnen über die Sache anvertrauen will, könnte ich auch vor meinem Manne sagen. Du Tillet wollte mich damals, als er in unserm Hause war, verführen. Ich machte meinem Manne sofort die nötigen Andeutungen, und du Tillet wurde gekündigt. Am letzten Tag hat er uns dreitausend Francs gestohlen.«

»Ich habe mir das immer gedacht«, sagte Popinot in einem Ton, der seinen ganzen Haß ausdrückte.

»Anselm, ich habe Ihnen die Mitteilung gemacht, weil es Ihr Glück, Ihre Zukunft erheischt. Sie muß in Ihrem Herzen begraben liegen, wie sie in meinem und meines Mannes Herzen begraben lag. Besinnen Sie sich noch, wie mich mein Mann damals wegen der nicht stimmenden Kasse ausgezankt hat? Um den Menschen nicht ins Unglück zu stürzen, hat er die dreitausend Francs heimlich selber in die Kasse gelegt. Du Tillet hatte mir vorher drei Liebesbriefe geschrieben. Sie waren so charakteristisch für ihn ...« sie seufzte und schlug die Augen nieder, ».., daß ich sie mir als Kuriositäten aufbewahrt habe. Es war unklug von mir. Als ich du Tillet heute wiedersah, erinnerte ich mich der Kinderei wieder. Ich ging hinauf und wollte die Briefe verbrennen. Als Sie eintraten, las ich sie gerade noch einmal... Das ist die ganze Geschichte, mein lieber Freund!«

Anselm küßte seiner Schwiegermutter so innig die Hand, daß ihnen beiden Tränen in die Augen traten. Konstanze zog ihn an ihr Herz.

Derselbe Tag sollte zu einem Freudentag für Cäsar werden. Der Geheimsekretär des Königs, Herr von Vandenesse, suchte Birotteau in seiner Kanzlei auf. Sie gingen miteinander in den kleinen Hof.

»Herr Birotteau«, sagte der Vicomte, »die Anstrengungen, die Sie machen, um Ihre Gläubiger zu bezahlen, sind durch Zufall zu allerhöchster Kenntnis gekommen. Diese seltene Redlichkeit hat Majestät gerührt, und da der König weiß, daß Sie das Kreuz der Ehrenlegion aus Demut nicht mehr tragen, hat mich Majestät beauftragt, Ihnen die Wiederanlegung dieses Ehrenzeichens anzubefehlen. Da Majestät Ihnen auch bei der weiteren Erfüllung Ihrer Verpflichtungen helfen will, bin ich beauftragt, Ihnen aus der königlichen Privatschatulle diese Summe einzuhändigen. Majestät bedauert, nicht mehr für Sie tun zu können. Die Beihilfe soll streng geheim bleiben, denn Majestät findet das offizielle Ausposaunen von guten Werken wenig königlich.« Mit diesen Worten händigte er dem kleinen Beamten sechstausend Francs ein.

Birotteau war so unbeschreiblich gerührt, daß er nur unzusammenhängende Worte zu stammeln vermochte. Er verdankte die königliche Anerkennung seiner in Paris in der Tat seltenen Bemühungen dem Oberbürgermeister. Birotteau fühlte sich durch die so zu seinen Gunsten verwandelte öffentliche Meinung wie in den Himmel emporgehoben. Als er einmal auf der Straße hinter sich die Worte hörte: »Das ist der ehrliche brave Birotteau!« war er darob so bewegt, wie etwa ein nach langem Ringen anerkannter Künstler, wenn er die Worte vernimmt: »Das ist er!«

Als er die vom Könige gesandten Scheine in den Händen hielt, beschloß er sofort, damit du Tillet zu bezahlen. Er begab sich nach der Rue de la Chaussée-d'Antin und traf seinen ehemaligen Kommis auf der Treppe. Der Bankier wollte gerade ausgehen.

»Sie, mein armer Birotteau!« rief du Tillet ihm heuchlerisch entgegen.

»Arm! Nein, heute bin ich reich! Ich werde heute abend mit dem Bewußtsein schlafen gehen, Sie bezahlt zu haben.«

Du Tillet hatte trotz der allgemeinen Achtung keinen Respekt vor sich selber. Die Redlichkeit anderer ging ihm auf die Nerven.

»Sie wollen mich bezahlen?« bemerkte er verdrießlich. »Machen Sie denn eigentlich noch Geschäfte?«

»Nein. Nie werde ich mich je wieder in Geschäfte einlassen. Es hat mir kein Glück gebracht und wer weiß, welcher unseligen Zufälle Opfer ich würde. Ich lebe nur noch, um meine Schulden zu tilgen, und meine Anstrengungen sind dem Könige zur Kenntnis gekommen. Sein mitleidiges Herz will mein Bemühen anfeuern, und darum hat er mir eben eine so beträchtliche Summe geschickt, daß ich ...«

»Wollen Sie eine Quittung?« unterbrach ihn der Bankier. »Wollen Sie mich wirklich bezahlen?«

»Auf Heller und Pfennig und auch die Zinsen! Ich bitte Sie, sich mit mir zum Notar Crottat zu bemühen. Es ist ein paar Schritte bis zu ihm ...«

»Zu einem Notar?«

»Sehen Sie, Herr du Tillet, es ist mir nicht verwehrt, an meine Rehabilitation zu denken. Und dazu müßte ich unbedingt notarielle Unterlagen haben ...«

»Schön! Er wohnt ja nicht weit. Sagen Sie mal, der Firma Claparon schulden Sie doch eine enorme Summe. Wie wollen Sie denn die erschwingen?«

»Ach ja, das ist der größte Posten! Er macht mir ungeheure Sorgen.«

»Den werden Sie in Ihrem ganzen Leben nicht bezahlen können!« sagte der Bankier hart.

Er wird wohl recht behalten! jammerte Birotteau bei sich.

Auf dem Heimweg ging er aus Versehen durch die Rue Saint-Honoré. Sonst machte er immer einen Umweg, um seinen ehemaligen Laden und die Fenster seiner früheren Wohnung nicht sehen zu brauchen. Zum erstenmal seit seinem Ruin erblickte er nun das Haus wieder, in dem er achtzehn Jahre des Glücks erlebt hatte.

Ach, einstmals glaubte ich, dort meine Tage zu beschließen! dachte er bei sich und beschleunigte seine Schritte. Die neue Firma war ihm in die Augen gefallen:

CÖLESTIN CREVEL

Cäsar Birotteaus Nachfolger

Bin ich verrückt geworden? sagte er sich; war das nicht Cäsarine? Es war ihm, als habe er soeben den Blondkopf seiner Tochter hinter einem der Fenster da oben gesehen.

In der Tat weilten Cäsarine und ihre Mutter gerade in ihrem alten Hause. Sie wußten, daß Birotteau niemals mehr durch die Rue Saint-Honoré ging. Sie waren da, um einige Vorbereitungen zu einem kleinen Fest zu treffen, das sie dem rehabilitierten Gatten und Vater zu Ehren feiern wollten.

Birotteau blieb wie angewurzelt stehen.

»Da steht Birotteau und starrt sein ehemaliges Haus an!« meinte Molineux, der ihn bemerkte, zu einem Nachbar, der gerade bei ihm war.

»Der arme Kauz!« erwiderte der andere. »Das hat er nun von seinem Ball. Zweihundert Kutschen fuhren damals vor...«

»Ich bin auch mit dagewesen, und drei Monate später war ich sein Konkursverwalter!«

Birotteau eilte mit zitternden Knien von dannen.

Onkel Pillerault, der von allen Vorgängen in der Rue des Cinq-Diamants unterrichtet war, glaubte, sein Neffe könne das Übermaß von Freude nicht ertragen, das seine Rehabilitation verursachen würde. Deshalb wollte er ihn allmählich darauf vorbereiten. Die Freude, mit der Birotteau von der Anteilnahme des Königs an seinem Schicksal erzählte, und seine Verwunderung darüber, daß er Cäsarine in der »Rosenkönigin« erblickt hatte, dünkten Pillerault eine vorzügliche Gelegenheit, von der Sache zu sprechen.

»Weißt du, Cäsar, Popinot ist voller Ungeduld, deine Cäsarine endlich heimzuführen. Er möchte dir das nötige Geld zur völligen Bezahlung deiner Schulden geben...«

»So! Meine Cäsarine kaufen?«

»Ist es nicht höchst ehrbar, wenn einer seinen Schwiegervater rehabilitieren will?«

»Aber es könnte Anlaß zu Differenzen geben. Übrigens ...«

»Jawohl: übrigens!« Pillerault spielte den Zornigen. »Du hast wohl das Recht, dich selber aufzuopfern, aber du darfst nicht auch deine Tochter opfern.«'

Es entspann sich eine lebhafte Erörterung, die Pillerault absichtlich noch steigerte.

»Vom Leihen braucht ja gar keine Rede zu sein! Wie wäre es, wenn Popinot dich immer noch als seinen Kompagnon betrachtete, wenn er die deinen Gläubigern gezahlten achtundvierzigtausend Francs nur als Vorschuß auf den Reinertrag am Kephalol ansähe und dir damit deinen Anteil nur gesichert hätte ...«

»Das sähe aus, als hätte ich mit ihm zusammen meine Gläubiger getäuscht!«

Pillerault stellte sich, als sei er durch dieses Argument geschlagen. Er war ein zu guter Kenner des menschlichen Herzens, um nicht zu wissen, daß dieser Ehrenmann die ganze Nacht mit sich selber über den Punkt hadern und sich durch diese geheime Zwiesprache an die Möglichkeit einer baldigen Rehabilitation gewöhnen würde.

Bei Tisch fragte Birotteau: »Ich möchte nur wissen, was Cäsarine in unserer alten Wohnung zu tun hat?«

»Ich glaube, Anselm hat die Absicht, sie für sich und seine künftige Frau zu mieten. Konstanze ist einverstanden. Ich sage dir im Vertrauen, das Brautpaar will sich heimlich aufbieten lassen. Popinot meint, es sei für ihn anständiger, deine Tochter vor deiner Rehabilitation zu heiraten. Übrigens: vom König nimmst du Geld an, von deinen Verwandten willst du nichts annehmen! Ich darf dir doch die Quittung über das mir Schuldige dedizieren? Das wirst du doch annehmen – nicht?«

»Hm! Na, ich nehme sie schon an, was mich nicht verhindern soll, weiter zu sparen und trotz deiner Quittung meine Schuld bei dir abzutragen.«

»Spitzfindigkeit hier, Spitzfindigkeit da! Du glaubst doch wohl selber nicht, daß deine Gläubiger von Betrug reden werden, nachdem du sie alle bezahlt haben wirst! Vorhin hast du also etwas ganz Törichtes gesagt!«

Cäsar sah Pillerault nachdenklich an. Zum erstenmal in den letzten drei Jahren zog ein echtes Lächeln über Birotteaus kummervolle Züge. Pillerault war gerührt, als er das wahrnahm.

»Gewiß«, versetzte Birotteau, »bezahlt wären sie dann, aber ich hätte meine Tochter verkauft!«

»Ich will ja verkauft werden!« rief Cäsarine, die in dem Augenblick zusammen mit Popinot eintrat. Konstanze erschien hinter ihnen. Die drei waren zu allen noch übrigen Gläubigern gefahren und hatten sie ersucht, sich gegen Abend beim Notar Crottat einzufinden, um die Schlußzahlungen zu quittieren.

Die Beredsamkeit des verliebten Popinot triumphierte über die letzten Bedenken seines Schwiegervaters.

Birotteaus Gesuch um Rehabilitation lag nebst allen erforderlichen Belegen dem Handelsgericht vor. Während der vier Wochen, die die Formalitäten beanspruchten, war Cäsar in fieberhafter Erregung. Er fürchtete, den großen Tag nicht mehr zu erleben. Er klagte über dumpfe Schmerzen in seinem durch so viel Freude nach allzuviel Leid abgespannten Körper.

Rehabilitationserkenntnisse sind am Pariser Gerichtshof etwas dermaßen Seltenes, daß alle zehn Jahre kaum eins vorkommt. Es gibt Leute, auf die das Zeremoniell der Justiz einen tiefen Eindruck macht. Alle öffentlichen Einrichtungen hängen in ihrer Wirkung sowohl von der Würde der Beamten wie von dem Vertrauen des Publikums ab. Der kirchlich gesinnte Birotteau erblickte in der Gerichtsbarkeit die höchste Repräsentantin der bürgerlichen Ordnung. Er war einer der selten werdenden Menschen, die die Treppe eines Justizgebäudes mit klopfendem Herzen und feierlich gestimmt hinaufgehen. Somit kann man sich vorstellen, welche Empfindungen den an und für sich Erregten heimsuchen mußten, als er, von einigen guten Freunden und dem Abbé Loraux, seinem Gewissensrate, begleitet, den Gerichtshof betrat. Das Ehrengeleit, das ihm zuteil ward, erweckte in Birotteau das Gefühl hoher Befriedigung. Im Publikationssaal, wo ein Dutzend Richter saßen, fand er noch mehr Freunde versammelt.

Birotteaus Anwalt trug den Rehabilitationsantrag in kurzen Worten vor. Darauf erhob sich, auf eine Aufforderung des Vorsitzenden hin, der Generalprokurator und gab sein Gutachten wie folgt ab:

»Meine Herren! Am 16. Januar 1820 ist über Herrn Cäsar Birotteau durch einen Beschluß des Handelsgerichts der Konkurs verhängt worden. Genannter Kaufmann war weder durch Leichtsinn noch durch gewagte Spekulationen noch durch sonst einen ehrenrührigen Grund zur Anmeldung seines Konkurses veranlaßt worden. Wir sehen uns daher veranlaßt, zu erklären: sein Unglück war eine Folge gewisser Umstände, die bedauerlicherweise In Paris häufig vorkommen. Es war dem neunzehnten Jahrhundert vorbehalten, daß die Körperschaft der Notare Frankreichs die rühmliche Tradition vergangener Jahrhunderte nicht durchweg bewahrt und dadurch in wenigen Jahren mehr Bankerotte verschuldet hat, als unter dem Ancien régime innerhalb zwei Jahrhunderten zu verzeichnen waren. Der Durst nach leicht erworbenem Gold hat diese behördlich eingesetzten Wahrer der Privatvermögen angekränkelt. Mit einem Worte: die Flucht eines Pariser Notars, der die ihm anvertrauten Gelder Birotteaus unterschlagen hatte, entschied den Ruin dieses Kaufmanns. Der Konkurs war unvermeidlich.

Es sei besonders hervorgehoben, daß sich dieser Konkurs im Vergleich zu gewissen skandalösen Fallissements, von denen die Pariser Geschäftswelt häufig heimgesucht wird, tadellos sauber und übersichtlich abgewickelt hat. Birotteaus Gläubiger haben die geringsten Gegenstände, die der in Konkurs Geratene besaß, vollzählig vorgefunden: seine Kleidungsstücke, seine Wertsachen, kurz alles, was zu seinem wie seiner Ehefrau persönlichem Gebrauch gedient hatte. Frau Birotteau hat auf jedweden Anspruch verzichtet, um die Konkursmasse zu erhöhen. Unter solchen Umständen blieb Herr Birotteau der Achtung des öffentlichen Amtes wert, das er bekleidet hatte. Er war Stadtverordneter und ist Ritter der Ehrenlegion. Letztere Auszeichnung hatte er sowohl durch seine heldenmütige Teilnahme am Kampfe vom 13. Vendémiaire auf der Treppe von Saint-Roch verdient, wo er sein Blut für das Königshaus vergossen hat, als auch wegen seiner friedsamen und vorzüglichen Dienste, die er als Handelsrichter leistete. Das Amt eines Stadtrats hat er bescheiden abgelehnt.

In Anbetracht alles dessen haben ihm die Gläubiger, nachdem sie sechzig Prozent ihrer Forderungen aus der Konkursmasse bekommen hatten, in Anerkennung seines rechtlichen Verhaltens den Rest ihrer Ansprüche geschenkt. Die Urkunde dieser Verzichtleistung, die sich hier bei den Akten befindet, hebt dieses Verhalten besonders hervor...«

Der Generalprokurator verlas eine Stelle aus der Urkunde. Dann fuhr er fort: »Angesichts so wohlwollender Gesinnungen hätte sich manch anderer Kaufmann nunmehr wieder für frei gehalten und wäre stolz durch die Stadt gegangen. Weit davon entfernt, faßte Herr Birotteau den Plan, das ehrenvolle Ziel zu erstreben, das er heute erreicht hat. Nichts hat ihn abschrecken können. Unser allverehrter König hat ihm ein Amt gewährt, um ihm das tägliche Brot zu sichern. Herr Birotteau hat sein Gehalt ausschließlich für seine Gläubiger aufgespart, ohne seine persönlichen Bedürfnisse davon zu bestreiten. Dies wurde ihm durch Unterstützungen seiner Familie ermöglicht ...«

Birotteau drückte dem neben ihm sitzenden Pillerault weinend die Hand.

»... Seine Frau und seine Tochter haben die Früchte ihrer Arbeit seinen Ersparnissen hinzugefügt. Sie haben sich damit als Gesinnungsgenossen ihres Familienhauptes erwiesen. Beide, Mutter wie Tochter, haben Geld zu verdienen verstanden. Ich möchte ihre Opferfreudigkeit deshalb nicht unerwähnt lassen, weil, es nicht leicht ist, im Unglück in eine sozial tiefere Stellung hinabsteigen zu müssen...«

Es folgte ein Resümee des Konkurses, wobei die einzelnen Schuldsummen und die Namen der Gläubiger vorgelesen wurden.

»Meine Herren«, fuhr der Generalprokurator sodann fort, »all die Summen sind bezahlt worden. Die notariell ausgestellten Quittungen darüber liegen hier bei den Akten. Der Gerichtshof hat sie im einzelnen nachgeprüft. Sie werden nunmehr Herrn Birotteau nicht nur die kaufmännische Ehre wieder zusprechen, sondern auch alle die Rechte, deren er in der Zwischenzeit beraubt gewesen ist!

Anträge um Rehabilitation werden Ihnen übrigens bekanntlich derartig selten unterbreitet, daß wir uns nicht enthalten können, dem Antragsteller zu dem bereits allerhöchstenorts ausgesprochenen Beifall über sein Verhalten auch den unsern zu bezeigen.«

Das Richterkollegium beriet sich kurz, ohne erst hinauszugehen. Dann erhob sich der Vorsitzende und sprach das Erkenntnis aus.

Diese feierliche Formel erschütterte den nunmehr rehabilitierten Birotteau auf das tiefste. Er war in seiner freudigen Erregung nicht imstande, seinen Platz vor den Schranken zu verlassen. Er saß wie festgenagelt. Onkel Pillerault mußte ihn am Arme fassen und aus dem Saal hinausführen. Seine Freunde schmückten ihn mit der Rosette der Ehrenlegion. Cäsar hatte bisher dem Befehl Ludwigs XVIII. Widerstand geleistet. Im Triumph geleitete man ihn an den Wagen.

»Wohin fahren wir, meine lieben Freunde?« fragte er Joseph Lebas, Ragon und Pillerault, die im Begriff waren, mit einzusteigen.

»Nach deiner Wohnung!«

»Nein! Es ist jetzt gerade drei Uhr und ich will von meinem Recht Gebrauch machen: fahren wir zusammen nach der Börse!«

»Nach der Börse!« befahl Pillerault dem Kutscher, indem er Lebas besorgt ansah. Es kam ihm vor, als zeige der Rehabilitierte beunruhigende Symptome. Er fürchtete, Cäsar könne vor Freude verrückt werden.

Arm in Arm mit Lebas und Pillerault betrat Birotteau den Börsensaal. Ragon folgte. Die Rehabilitation des ehemaligen Parfümhändlers war daselbst bereits bekannt geworden. Der erste, den die drei Eintretenden zu Gesicht bekamen, war du Tillet.

»Mein verehrtester Prinzipal, ich bin entzückt, Sie hier zu sehen! Sie haben sich ganz famos herausgewickelt! Na, ich habe ja auch zur glücklichen Beendigung Ihrer Leidenszeit mit beigetragen, als ich mir vom kleinen Popinot mit Wonne eine Feder aus dem Steiß ziehen ließ. Ich freue mich über Ihr Glück so sehr, als wäre mir's passiert!«

»Ja, ja, freuen Sie sich nur, denn Ihnen wird so was nie passieren!« brummte Pillerault.

»Wie meinen Sie das, Herr Pillerault?«

»Natürlich im allerbesten Sinne!« gab Lebas an Stelle des Gefragten lachend zur Antwort.

Im Nu war Birotteau von den vornehmsten Kaufleuten umdrängt. Es gab eine allgemeine Börsenhuldigung. Er nahm die schmeichelhaftesten Händedrücke und Glückwünsche entgegen, die bei den Fernerstehenden hier Neid und da ein böses Gewissen erregten. Gigonnet und Gobseck, die in einer Ecke des Saales zusammenstanden und schacherten, schielten auf Birotteau wie auf ein neues Weltwunder.

Nachdem sich Cäsar am Weihrauch seines Triumphes berauscht hatte, stieg er wieder in seine Droschke und fuhr nach Popinots neuem Heim, wo der Ehevertrag seiner geliebten Tochter und des treuen Anselm unterzeichnet werden sollte. Seinen drei ihn begleitenden Freunden fiel seine nervöse Fröhlichkeit auf.

Das Hochzeitsdiner, das seiner in seinem alten Hause wartete, war von Anselm und Konstanze mit der größten Liebe vorbereitet worden. Ein Hochzeitsball sollte sich anschließen. Es waren eine Menge Gäste geladen. Abbé Loraux vertrat den Großmeister der Ehrenlegion. Der Präsident des Handelsgerichts fehlte nicht. Camusol war von Popinot gebeten worden zu kommen, um ihm für die seinem Schwiegervater reichlich erwiesenen Aufmerksamkeiten Dank zu bezeigen. Auch Herr von Vandenesse und Herr von Fontaine waren erschienen.

Das Brautpaar war bei der Wahl der Gäste sehr bedachtsam zu Werke gegangen; denn beide, Anselm wie Cäsarine, empfanden eine gewisse Scheu vor allzu großer Öffentlichkeit.

Die Wohnung erinnerte in vielen Dingen an jenen verhängnisvollen Ballabend, aber weder Konstanze noch die Liebesleute sahen in der vorbereiteten Überraschung eine Gefahr für Cäsar. Man erwartete ihn mit geradezu kindlicher Freude.

Als der Ankommende, noch ganz unter der erregenden Nachwirkung des unbeschreiblichen Eindrucks, den die ehrenvolle Aufnahme an der Börse auf ihn gemacht hatte, in der Diele seines ehemaligen Hauses Herrn von Vandenesse, den Oberbürgermeister und den berühmten Vauquelin neben Konstanze, Cäsarine und Anselm erblickte, da fiel ein leichter Schleier über seine Augen. Pillerault, auf dessen Arm sich Birotteau stützte, beobachtete seine riefe Erregung.

Es ist zu viel für ihn! sagte er sich; er verträgt es nicht.

Die Freude aller Anwesenden war so lebhaft, daß man Cäsars Erregung ganz natürlich fand. Er war wie berauscht, Dieselbe Musikkapelle spielte wie zu jenem Ballfest, das Birotteaus Unglück eingeleitet hatte. Cäsars müdes Herz erbebte, als er die Klänge der großen Symphonie Beethovens wieder vernahm. Man wollte ihm damit eine besondere Freude bereiten: die ganze überstandene Leidenszeit gleichsam überbrücken. Niemand von den Anwesenden ahnte jedoch, daß dem unglücklichen Kaufmann das Finale gerade dieser großartigen Symphonie seit seinem Unglück nicht wieder aus den Ohren gewichen war.

Tiefergriffen und überwältigt von den Mysterien der himmlischen Musik nahm Cäsar den Arm seiner Frau und sagte zu ihr mit einer durch einen zurückgehaltenen Blutstrom erstickten Stimme:

»Mir ist gar nicht wohl!«

Die erschrockene Konstanze führte ihn in sein Zimmer. Als er mit Mühe dahingelangt war, sank er in einen Lehnstuhl und rief leise:

»Herr Loraux!«

Der Abbé kam. Die Gäste folgten und bildeten bestürzt eine Gruppe um Birotteau. In Gegenwart aller der fröhlichen, festlich gekleideten Menschen umklammerte Cäsar die Hand seines Beichtvaters und lehnte sein Haupt an den Busen seiner vor ihm knienden Frau. In seiner Brust war ein Gefäß gesprungen. Das Blut erschwerte ihm den letzten Atemzug.

»So stirbt ein Gerechter!« verkündete der Priester mit ernster Stimme.


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