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Gespräche

 

Wiener.

Zwei Freunde sehen sich nach Jahren wieder. Sie sind zusammen in die Schule gegangen, dann hat sie das Leben getrennt. Der eine ist Arzt geworden, er hat Glück gehabt; er lebt jetzt in Berlin. Dem anderen haben reiche Eltern eine vollkommene Ausbildung des Verstandes und des Geschmackes geben können, viel reisend und in den großen Städten verweilend, hatte er einen weiten Blick bekommen und er ist heute ein schönes Exemplar des guten Europäers, mit der Kultur aller Nationen vertraut, durch die Betrachtung vieler Schicksale, merkwürdiger Abenteuer und besonderer Menschen gereift, im Genuß erfreulicher Gedanken und schöner Stimmungen geduldig, gerecht und nachsichtig geworden, freilich auch vorsichtig, mehr zum Betrachten als zum Tun bereit, sich nicht eben leicht entschließend, jeder Laune ein wenig, aber keiner Leidenschaft ganz nachgebend, am liebsten auf elegante Weise müßig, ein rechter Dilettant im guten wie im bösen Sinne. Er kommt oft nach Paris, den Winter verbringt er gern in Italien, dabei ist er doch ein Wiener geblieben. In Wien hat er sein Haus, hier stellt er seine Sammlungen auf, hier hat er Freunde, die sie mit ihm betrachten und genießen. Ein paar«Wochen vergehen ihm jährlich mit dem Einordnen der neuen Zeichnungen, Radierungen, Gläser, Bronzen und Bilder. Er haut so sein Haus jedes Jahr um. Dann reist er wieder ab, schaut und sucht und sammelt wieder.

Unvermutet treffen sich die beiden. Jener wird nach Wien zu einem Patienten gerufen, mit dem dieser befreundet ist. Sie freuen sich sehr, Erinnerungen wenden ausgetauscht, ihr ganzes Leben wird ihnen im Erzählen lebendig.

Der Arzt hofft, den Freund jetzt öfters zu sehen; er wird ja wohl in diesem Winter jeden Monat ein- oder zweimal herkommen müssen. Aber der andere schüttelt den Kopf: er geht schon morgen wieder fort. Nach Ägypten zunächst, vielleicht nach Indien. »Reisen«, sagte er, »ich muß reisen!«

Der Arzt sieht ihn verwundert an. »Du willst wieder weg?« fragt er. »Ich muß sagen, das versteh' ich nicht!«

Der andere blickt auf. »Was denn? Was verstehst Du nicht?«

»Wie alt bist Du eigentlich?« fragt der Arzt.

»Wir sind doch im selben Alter. Fünfunddreißig, wie Du!«

»Ich versteh's nicht«, wiederholte der Arzt.

»Ich möcht' wetten, mein Lieber: Du an meiner Stelle –«

»Ich an Deiner Stelle wäre gewiß sehr glücklich gewesen, reisen zu können, andere Menschen sehen, fremde Sitten und das vielfache Treiben der Welt kennenlernen – gewiß, fünf Jahre, zehn Jahre lang! Aber schließlich, mein' ich, müßte doch aus dem jungen Menschen ein Mann werden, einer, der weiß, wohin er gehört, einer, der sich sagt: Nun halb' ich lange genug gesucht, jetzt muß ich endlich finden, einer, den es zu schaffen und zu wirken treibt! Der Geselle mag wandern, der Meister soll's nicht 'mehr; den braucht man zu Hause.«

»Ich bin kein Meister. Mir genügt's, ein Dilettant zu sein.«

»Schade!«

»Warum?«

Der Arzt wird fast heftig. »Warum? Weil ein Dilettant nichts taugt: denn er nützt nicht!«

»Wer kann von sich sagen, daß er nützt?«

»Jeder, der was tut! Das kleinste Tun, wie schwach und töricht es auch beginnen mag, hat eine solche Kraft, daß es zum Guten wird.«

»Das hört sich sehr hübsch an, aber was? was soll ich tun?«

»Was du willst! Das ist ja ganz gleich, darauf kommt's nicht an! Aber tun! handeln! schaffen! Anders ist's doch gar kein Leben. Ich begreif' Dich nicht. Was soll denn alles Lernen und Denken und Streben, wenn's nicht am Ende zur Tat wird? Warum mühen und plagen und quälen wir uns denn? Wozu denn sonst? Was du getan hast, steht da und bleibt fest, und so bist Du unvergänglich, bist unsterblich geworden! Durch Wünschen und Hoffen, durch Betrachten und Sinnen doch niemals, sondern nur durch Tun! Und das ist es doch, was zuletzt jeder will, dahin reißt's und treibt'« ihn doch mit seiner ganzen Natur! Hast Du das nie gespürt?«

Der Sammler ist nachdenklich geworden. Er antwortet nicht gleich. Nach einer Weile erst, zögernd: »Es hat wohl jeder Stunden, wo er solches spürt.«

»Also, also!«

Aber wie der Arzt so drängt, lächelt der andere und spricht, leise abwehrend: »Du bedenkst nur nicht –«

»Was gibt es da zu bedenken? Das ist es ja, was ich nicht begreife! Wie kann man bedenken, wenn's zu handeln gilt!«

»Weil Du vergißt –«

»Was?«

»Aber ich bitt' Dich! Du vergißt dabei nur leider, daß ich ein Wiener bin!«

Ungeduldig fällt der Arzt ein: »Ich bin auch ein Wiener –«

»Der das Glück hat, draußen zu leben – das darfst Du nicht vergessen, das ist ein großer Unterschied. Draußen kann man wirken.«

»Wirken kann man überall.«

»Meinst Du!«

»Es kommt nur auf den Menschen an!«

»Nein, auf den Ort kommt's an! An dem einen Ort wird auch ein Kleiner groß, am anderen vermag auch der Mächtige nichts.«

»Sagt Ihr, weil es Euch bequem ist!«

Der Sammler zögert wieder, dann wiederholt er: »Glaub mir, auf den Ort kommt's an! Wirken, schaffen, tun – denkst Du denn: ich hätte das nicht auch gespürt, mich hätte das nicht auch gereizt? Mich und so viele andere! Aber versuch das einmal bei uns! Unmöglich, mein Lieber! Unmöglich!«

»Warum?«

»Warum? Weil ich die ganze herrschende Partei gegen mich hätte.«

Der Arzt sieht ihn fragend, fast betreten an. »Die herrschende Partei? Was heißt das? Du bist doch kein Jude?«

Der Sammler schüttelt den Kopf. »Nein! Ich mein auch nicht die Antisemiten, die möcht' ich nicht fürchten, aber die sind es gar nicht, die herrschen. Die herrschende ist eine ganz andere Partei, eine geheime hinter allen und über allen und in allen Parteien, die überall ihre Leute hat, links und rechts, unten und oben, bei Juden und Christen, und die alles, alles regieren!«

»Da bin ich begierig.«

»Weil Du eben unsere Stadt nicht kennst, nicht mehr kennst, vielleicht nie gekannt hast! Die kleinen Parteien, von denen man redet, wechseln, nehmen andere Namen, neue Formen an, gehen auf Und unter im ewigen Hin und Her, aber jene bleibt, in allen Veränderungen unabänderlich, immer dieselbe – die Partei der Wiener! Hast Du eine Ahnung, wie der Wiener ist? Tolerant, sagt er, sehr tolerant! Gewiß: gegen jede Schwäche, jede Sünde – er verträgt alles, nur eines nicht: daß einer schaffen und wirken will! Da hört seine Toleranz auf, das duldet er nicht, das darf's nicht geben. Er hat es schon nicht gerne, wenn jemand etwas ist. Aber wenn jemand gar etwas tut, dann ist es aus, da wird er wild!«

»Das stimmt doch gar nicht! Alle Leute klagen vielmehr, daß nichts in Wien geschieht –«

»Alle Leute klagen, ja! Aber das wollen sie, sie wollen klagen können. Das braucht der Wiener, sonst fühlt er sich nicht wohl. Sein Ideal ist, daß gar nichts geschehen soll, damit er dann jammern kann! Hör ihn nur an, setz Dich im Gasthause zu ihm an den Tisch und frag ihn – jeder wird Dir dasselbe sagen: was es für eine Schande ist, daß bei uns gar nichts geschieht – in Temesvar geschieht mehr, es ist wirklich eine Schand', wir müssen uns schon vor jedem Dorf schämen! Das kannst Du überall hören, darin sind alle einig, in jeder Partei, links und rechts, unten und oben. Aber wehe dem, der es ändern will! Wehe dem, der glaubt, daß man, wenn etwas geschehen soll, eben etwas tun muß! Wehe ihm – bei allen Parteien, links und rechts, unten und oben! Der hat alle gegen sich. Gegen den sind alle verschworen. Die ganze Stadt steht gegen ihn auf.«

Der Arzt lacht. Der andere ereifert sich.

»Du weißt eben nicht mehr, wie's bei uns ist! Versuch's! Komm her und versuch etwas zu tun was Du willst, wie Du willst, und Du hast alle gegen Dich und Du wirst Deine Wunder erleben! Versuch's nur! Von großen Dingen red' ich gar nicht – nein, das Kleinste, das Einfachste probier! Probier's einmal und bau Dir in Wien ein Haus! Du lachst? Du glaubst es nicht? Ich sage Dir man muß ein Held sein, wenn man sich in Wien ein Haus bauen will! Da hast Du tausend Verordnungen bei jedem Schritte gegen Dich, die ganz unsinnig sind, die gar keinen Zweck zu haben scheinen, als nur verhindern zu sollen, daß Du baust! Da läßt man ein ganzes Heer von Beamten auf Dich los und jeder nörgelt und jeder verbietet und jeder quält und sticht und zwickt Dich, und Du mußt von einem zum anderen gehen und mußt bitten und betteln und schöntun, und mußt Dich entschuldigen und mußt schon eine sehr gute Protektion haben, wenn man es Dir zuletzt vielleicht doch erlauben, es Dir vielleicht am Ende doch verzeihen und nachsehen soll, daß Du baust! Am Ende hast Du selbst das Gefühl, ein Unrecht zu tun, schämst Dich fast vor Dir selbst und kommst Dir selbst schon wie ein Verbrecher vor – so verdächtig hat man Dich gemacht, so mißtrauisch Dich behandelt! Und das ist bloß ein kleines Haus, das Du bauen willst, gar nichts Neues, nichts Besonderes, nur eben Deinem Geschmacke, Deinem Bedürfnisse gemäß! Jetzt sei erst gar der Narr, der eine neue Industrie bei uns schaffen will! Mein Lieber, da möchtest Du was sehen! Alle Gesetze sind gegen Dich, alle Behörden sind gegen Dich – Gesetze, die seit hundert Jahren begraben gewesen, stehen wieder auf gegen Dich, Behörden, die Du nie nennen gehört hast? bedrohen Dich, der ganze Staat rüstet sich, Dir seine Macht zu zeigen, die ganze Stadt ist auf, und kein anständiger Mensch hat den Mut mehr, Dir noch die Hand zu geben! Nein, mein Lieber, ich trau' Dir sehr viel zu, Du hast Verstand und Kraft, Du kannst, was Du willst; wenn Du mir sagst, daß Du zu den Indianern gehst, werd' ich keine Angst um Dich haben, aber eine Fabrik in Österreich gründen – nein, das möcht' ich Dir nicht raten!«

Der Arzt sagt ruhig: »Das wäre wohl schlimm, wenn's so wär'. Aber es ist kaum zu glauben.«

»Du kannst mir's ruhig glauben! Frag, wen Du willst! Man wird Dir's bestätigen müssen. Es ist so. Es ist immer so gewesen. Es wird immer so sein. Wir haben's schon im Blut, scheint's. Wir haben die besten Gaben, die reichsten Kräfte, die schönsten Talente, aber immer ist es uns versagt gewesen, sie zu nützen. Eines fehlt uns: Die Achtung vor dem Tätigen. Wir achten ihn nicht; nein, wir verachten ihn. Tun bringt bei uns keine Ehre ein, sondern es ist eine Schande. Die großen Triebe, die allein die Familie, das Volk, ja die ganze Menschheit erhalten, die Triebe, zu schaffen, zu erwerben, zu besitzen, haßt der Wiener. Das hat uns mit der Zeit allen Mut genommen. Es traut sich einfach niemand mehr, etwas zu tun. Man wär' ja auch verrückt! Warum denn, wozu denn? Geh Du in der Stadt umher und schimpf, schimpf über alles – und Du wirst ein großer Mann sein, alle werden Dir zustimmen, alle Dich bewundern! Du mußt nur immer verneinen, und alle verehren Dich! Dann bist Du der Gescheite, dann blickt man auf Dich, dann ist man stolz, Dich zu besitzen! Aber wehe, wenn Du bejahst! Versuche zu handeln – und alle fallen von Dir ab und Du hast alle gegen Dich! Das ist die große Partei über und hinter und in allen Parteien, die alles regiert, der alles gehorcht: unsere uralte Partei der Verneinung! Sei der Mutigste und Klügste – gegen die kommst Du nicht auf, niemand kommt gegen sie auf! Nein, mein Lieber! Nach Indien, nach Ägypten! Reisen – schauen, sammeln und genießen! Das Tun, das Schaffen ist keinem Österreicher erlaubt. Sein Volk erlaubt es ihm nicht. Da kannst Du nichts machen!«

»O ja!« sagt der Arzt ruhig. »Da kann man schon was machen.«

»Das wär'?«

»Eine Partei, sagst Du, ist an allem schuld, jene Partei der Verneinung. Nun, wenn man mit einer Partei nicht zufrieden ist, tritt man mit einer anderen gegen sie auf. Gründ eine neue! Eine Partei der bejahenden Menschen, die nicht reden, sondern schaffen wollen. Das ist doch logisch. Aber Du bist wie die anderen: Du klagst nur, Du tust nichts.«

»Du bist ein Phantast«, sagt der Sammler. »Mit Dir kann man ja nicht reden.«

»Alles Gute, alles Große ist immer durch Phantasten geschehen!«

Den anderen Tag fährt der tätige Arzt nach Berlin zurück, der Sammler geht wieder auf Reisen, zu schauen und zu genießen.

 

Aber.

»Schön ist sie schon, aber dumm wie ein Fisch«, sagte die Dame des Hauses. Und dann, indem sie sich an den Fremden wendete: »Warum lachen Sie denn da?«

Der Fremde antwortete: »Ich lache ja gar nicht, gnädige Frau! Ich zähle nur.«

Sie sah mißtrauisch auf. »Was? Was tun Sie?«

Er wiederholte: »Zählen.« Und da sie ihn noch immer nicht verstand, erklärte er: »Das ist jetzt Nummer Drei. Von der ersten haben Sie gesagt: Schön ist sie schon, aber ich möchte wissen, wer eigentlich ihre Toiletten bezahlt! Bei der zweiten haben Sie gesagt: Schön ist sie schon, aber ich höre, daß sie sich scheiden läßt! Jetzt, die dritte, ist wieder dumm wie ein Fisch! Ja, meine liebe gnädige Frau, Sie machen's einer auch halt gar zu schwer, schön zu sein. Was Sie alles verlangen!«

Die Dame ärgerte sich ein bißchen und verzog das Gesichtchen. Dann leise gereizt: »Ist es denn nicht wahr? Ich sag' doch nichts, was nicht wahr ist! Was wahr ist, kann man sagen.«

»Gewiß! Was wahr ist, kann man sagen«, bestätigte der Fremde, »Aber erlauben Sie – einen Moment! Prüfen wir genau! Wahr ist, daß die Frau schön ist. Wahr ist ferner, daß sie dumm wie ein Fisch ist – oder daß sie sich scheiden läßt – oder daß man nicht weiß, wer ihre Toiletten bezahlt. Das mag alles wahr sein. Ich zweifle nicht daran. Nur eine ganz kleine Unwahrheit ist dabei.«

»Da wär' ich doch neugierig«, sagte die Dame verwundert. »Sonst hab' ich ja gar nichts gesagt!«

»O doch!«

»Nein« rief sie fast heftig.

Aber der Fremde, ruhig und gelassen: »Pardon! Erinnern Sie sich nur!«

»Was denn?«

»Ein ganz klein winziges Wort. Aber das ist mehr als eine große Rede.« Er sah die Dame einen Augenblick lustig an. Dann neigte er sich ein wenig vor und sagte geheimnisvoll: »Aber – haben Sie gesagt!« Und er wiederholte das Wort noch einmal, bedeutsam: »Aber!«

Und die Dame, sehr ungeduldig: »No, und?«

»Und« fuhr der Fremde behaglich fort, »und gerade das Aber – ja sehen Sie: gerade dieses kleine Aber ist eben die große – drücken wir uns höflich aus: die große Bosheit.«

»Das verstehe ich wirklich nicht«, sagte die Dame wütend. »Ich weiß gar nicht, was Sie meinen.«

»Schauen Sie, gnädige Frau! Ich habe gefunden, daß eine Frau schön ist – nicht wahr? Warum erzählen Sie mir nun, daß man nicht weiß, wer ihre Toiletten bezahlt? Wie kommt das eigentlich daher? Seien Sie doch gerecht! Ist eine Frau deswegen weniger schön? Oder weniger schön, weil sie dumm ist? Oder weil sie sich scheiden läßt? Aber da tritt das Aber ein und dieses kleine Aber ist eine ganze Rede, Dieses kleine Aber sagt: »Wie, mein Herr, Sie wollen diese Frau bewundern, weil sie schön ist? Bedenken Sie doch, daß es dazu nicht genügt, schön zu sein! Bedenken Sie, daß zur Bewunderung mehr gehört. Zur Bewunderung muß sie auch klug, muß sie anständig sein. Das ist diese nicht, das ist sie leider nicht! Nein, mein Herr, Sie dürfen sie nicht bewundern!« Solche Reden hält das kleine Aber und gibt keine Ruhe, bis es einem richtig die ganze Freude verdorben hat. Denn das ist sein eigentlicher Beruf: die Freude zu verderben, jede Stimmung zu zerstören.«

Der Fremde war lebhaft geworden. Jetzt sagte der Hausherr zu seiner Frau, gutmütig lachend: »Siehst! Unser Freund hat ganz recht. So bist Du!«

»Nein, lieber Freund«, entgegnete da der Fremde. »Das darfst Du nicht sagen. Das habe ich nicht gemeint. Der Vorwurf, wenn es einer ist, gilt nicht Deiner Frau, Du mußt schon entschuldigen: er gilt der ganzen Stadt. Denn so ist nicht bloß die gnädige Frau, so seid ihr alle, Wiener und Wienerinnen. Alle dem Aber verfallen, rettungslos.«

»Da muß ich doch bitten«, wendete der Hausherr ein.

Aber der Fremde ließ ihn nicht ausreden. »Ich bin jetzt vierzehn Tage hier und ich beobachte Euch genau. Also, ich muß Dir sagen: Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie amüsant Ihr für den Fremden seid. Der Fremde findet, daß irgend ein Minister Außerordentliches geleistet hat. »Ah ja«, sagt der Wiener, »aber er schielt!« Der Fremde lobt einen großen Arzt. »Aber«, sagt der Wiener, »er geht halt abends Coriandoli werfen!« Der Fremde bewundert einen Maler. »Aber«, sagt der Wiener, »er hat eine Jüdin geheiratet.« Und so fort und fort. Keine Person, keine Sache, der nicht das perfide Aber angehängt wird. Vom Göthe würdet ihr sagen: »Aber er kommt nicht ordentlich ins Büro«, und vom Napoleon: »Aber er kann nicht Klavier spielen.« Nie ohne Aber! Und durch das Aber wird jeder abgetan und alles erledigt.«

»Wir sind halt Idealisten«, sagte der Hausherr.

»Aber merkwürdige! Bei Euch ist nämlich das Ideal nicht zum Helfen da, was doch sein Sinn ist, sondern bei Euch ist es zum Vernichten da. Nicht, damit einer daran stark und mutig werde, aber nein! Sondern kläglich und verzagt soll jeder sein! Für solche Ideale danke ich, das muß ich schon sagen. – Gott, wenn man Euch zuhört! Das Aber ist das Hauptwort jeder Unterhaltung. Ich bitte eine Statistik zu machen. Und mit welcher Wonne der Wiener es sagt! Da ist vorher eine kleine Pause, dann spitzte er den Mund und schnalzte mit der Zunge und alle im Kreise werden still und lauschen, und nun holt er erst noch einmal aus und atmet erst noch einmal ein, und dann erst spricht er das geliebte Aber aus und läßt es langsam wie eine süße Beere im Munde zergehen und kostet und schmeckt es noch nach und hört gar nicht mehr auf. Und nun sind alle ganz selig, wenn das Aber gesagt ist, weil wieder einmal eine Person erledigt, eine Sache abgetan ist. Das ist es ja bloß, was Ihr wollt! Nur nichts zu verehren, niemanden zu bewundern haben! Dann fühlt ihr Euch wohl! Nur keinen gelten lassen! Alles herabziehen! Und das besorgt Euch das Aber vortrefflich. Deswegen habt ihr es ja, dazu ist es ja da!«

Jetzt fragte der Hausherr: »Ist denn das aber nicht immer noch besser, als die Leute in eine dumpfe Zufriedenheit einzuwiegen? Wenn sie mißvergnügt sind, wenn sie gar niemandem mehr vertrauen können, wenn sie sich recht schämen müssen, dann raffen sie sich vielleicht doch einmal auf. Das darfst Du nicht vergessen!«

»Sie sind ja aber nicht mißvergnügt! Sie schämen sich ja gar nicht! Gar keine Spur! Warum denn auch? Durch das famose Aber habt Ihr es ja erreicht, daß gar niemand mehr etwas ist – warum soll sich da einer noch schämen? Und dann: wenn man einem Menschen täglich sagt, täglich an neuen Beispielen beweist, daß es überhaupt mit dem Menschen nichts ist, was ist natürlicher, als daß er es am Ende glauben und sich daran halten wird. Nein, mein Lieber! Umgekehrt! Man muß dem Menschen mehr zumuten, als er eigentlich kann, dann wird ihm auch das Unmögliche gelingen. Fordert mehr, und er kann mehr! Das ist das Geheimnis aller Erziehung. Es gibt keine andere Methode, es hat nie eine andere gegeben. Nimm einen Buben, wie Buben eben sind: brav und schlimm, hin und her, zwischen guten und bösen Neigungen, wahren und häßlichen Trieben. Was wirst Du tun, um etwas aus ihm zu machen? Du wirst ihm einen anderen Buben als Muster, als Exempel geben, dem Du nun alle möglichen Tugenden nachsagen wirst, um nur den Ehrgeiz, das Ehrgefühl des deinen zu erregen. Nicht wahr? Oder wirst Du ihm sagen: Es gibt überhaupt keine braven Buben auf der Welt? Da wirst Du weit kommen mit ihm! Und glaubst Du, die Menschen sind anders als die Buben? Zweifle an ihnen, und sie können gar nichts. Vertraue ihnen, und Du wirst staunen, was sie leisten. Schau Dir doch die Franzosen an, die sind darin großartig. Die reden sich einer dem anderen das Talent ein – bei Euch redet es einer dem anderen aus, das ist die Haupttätigkeit eines jeden. Die Franzosen hetzen sich gegenseitig – durch Lob, Enthusiasmus, Wetteifer – in Leistungen hinein, die sich allein kein Einzelner zutrauen würde. Alles Talent ist ja zur guten Hälfte doch Glaube an sich, ist Suggestion. Es ist eben mit der geistigen Kraft wie mit der körperlichen. Hast Du nie bei einem Spurt gesehen, wie da durch den Zuruf der Menge, das Winken mit den Tüchern und das Geschrei in Ermüdeten auf einmal neue, unbekannte Reserven entstehen, die sie selbst niemals in sich vermutet hätten? Geradeso braucht auch der geistige Athlet den Zuruf, das Winken, die Begeisterung. Dann gibt er erst alles her, was in ihm steckt. Die klugen Franzosen haben das darum in ein ganzes System gebracht, und daher kommt das, was einen in Paris so verblüfft: daß da fast jeder mehr leistet, als man eigentlich von ihm erwartet hätte, indem er in einer wahren Rage über seine Grenzen immer noch um ein Stück hinausgetrieben wird – während Du in Wien, wenn Du Dir die Leute in der Nähe anschaust, fast immer finden wirst, daß ihre Leistungen hinter ihren Talenten zurückbleiben, daß sie weniger halten, als man von ihnen erwarten mußte, weil sie alle vor der Zeit ermüden, weil ihnen das Vertrauen der anderen fehlt, und weil sie schließlich sogar selbst nicht mehr an sich glauben.«

»Ich weiß nicht«, sagte die Dame des Hauses jetzt nach einer Pause. »Ich weiß nicht, aber das kommt mir doch ein bißchen merkwürdig vor, was Sie da eigentlich von uns verlangen. Wir sollen uns gegenseitig anschwindeln, uns gegenseitig was vormachen! Ich kann mir nicht helfen: Talente, die erst so was brauchen, um zu entstehen – die würden mir nicht sehr imponieren.«

Der Fremde schüttelte den Kopf. »Das ist wieder so wienerisch gedacht! Aber um Gotteswillen, gnädige Frau! Warum denn anschwindeln, was denn vormachen? Ist denn das ein Schwindel, eine Lüge, wenn ich mich über das Gute freue, das an einem Menschen ist, und mich um das Schlechte einfach nicht kümmere? Hört denn das Gute auf, gut zu sein, wenn Schlechtes daneben ist? Seit wann denn? Was ist denn das für eine schreckliche Psychologie? Ich mache es umgekehrt. Über die eine Frau freue ich mich, weil sie schön ist, und bemerke in meiner Freude gar nicht, daß sie dumm ist. Und über die andere freue ich mich, daß sie gescheit ist, und bemerke wieder in meiner Freude gar nicht, daß sie schöner sein könnte. Ich denke mir: Alles ist halt selten beisammen; aber dafür gibt es fast keinen Menschen, an dem nicht irgend etwas wäre, das einem doch wieder Freude macht. Man muß es nur suchen. Man darf nur nicht gleich ungeduldig werden. Dafür ist die Freude dann am Ende desto größer. Und zu solcher Freude ist der Mensch ja schließlich da; wozu lebt er denn sonst?«

Die Dame sah auf. Der Fremde betrachtete sie einen Moment; dann fuhr er lächelnd fort: »Soll ich Ihnen sagen, was Sie jetzt denken, gnädige Frau? Sie denken sich: den hätte ich eigentlich doch auch für gescheiter gehalten.«

Die Dame lachte auf, wurde ein bißchen rot und sagte dann sehr lebhaft: »Aber was fällt Ihnen denn ein? Keine Spur!«

»Wenn ich alles so sicher wüßte!« sagte der Fremde. »Das ist nämlich auch wienerisch: loben, bewundern, sich freuen gilt für dumm; wer am meisten tadelt, schimpft und sich ärgert, ist der Gescheiteste. Ja, glauben Sie denn wirklich, gnädige Frau, daß zum Hassen gar so viel Verstand gehört? Glauben Sie denn, daß das Bewundern so leicht ist? Versuchen Sie's doch einmal! Ich habe immer gefunden, daß es nur beschränkte Leute sind, die hassen. Die wahre Weisheit ist nur in der Liebe.«

Nun war es einen Moment ganz still im Zimmer geworden. Dann sagte der Hausherr leise: »Aber fad möcht's dann werden in Wien.«

»Ja, lustiger ist das Schimpfen entschieden«, bestätigte der Fremde.

»Das bissel Unterhaltung wollen Sie einem auch noch nehmen?« fragte die Dame des Hauses, ganz verdrießlich.

»Beruhigen Sie sich nur«, sagte der Fremde. »Es ist keine Gefahr. Der Wiener läßt sich sein Aber nicht nehmen.«

 

Räuber und Mörder.

Nachdem einer der Gäste nach dem anderen den neuen Gemeinderat begrüßt und gefeiert, mit ernsten Worten, wie es sich bei solchem Anlasse geziemt, die aber, als der Champagner kam, immer munterer und witziger wurden, und sich am Ende auch der Hausherr erhoben hatte, um feierlicher, als es sonst seine Art war, und in etwas umständlichen Wendungen, die schon die neue Würde errieten, den Freunden für ihre unentwegte Treue zu danken, räusperte sich der liebe Onkel. Er hatte bis jetzt geschwiegen, weil er sich, der rechte Wiener Raunzer, wenn man nicht schimpfen darf, niemals ganz behaglich fühlt. Nun aber wendete er sich zu seiner Nichte, der Dame des Hauses, und sagte, auf ihren erhitzten Gatten zeigend, in seiner sanft kränkenden Weise, mit einem gutmütigen Ton, leise: »Der hat's nötig! Gewählt hab'n sie ihn ja noch. Aber die Zeitungen muß man lesen – no, die sagen's ihm ordentlich!« Und er lachte in angenehmer Erinnerung auf.

»No«, erwiderte die junge Frau begütigend, »doch nicht alle!«

»Meine«, versicherte der liebe Onkel eifrig, »meine behandelt ihn schrecklich! Räuber und Mörder sind Ehrenmänner gegen ihn.«

»Schöne Zeitungen scheinst Du zu lesen«, rief der Hausherr herüber.

Der liebe Onkel wurde lebhaft: »Ich werd' doch nicht die von meiner Partei lesen! Das wär' mir doch zu fad, das weiß ich ja so schon alles, was die mir erzählen. Nein, die anderen muß man lesen, da erfährt man doch etwas und hat wenigstens ein Vergnügen. Stimmen tu' ich meinetwegen für den Kerl, den mir meine Partei vorschlägt, aber zuwider ist er mir.«

»Wenn sich das Ihre Partei gefallen läßt!« sagte der Obmann des Wahlkomitees achselzuckend, etwas verletzt.

Der liebe Onkel schrie wütend: »Das ist mir Wurst! Meine Partei geht mich gar nichts an! Ich gehör' überhaupt nicht zu meiner Partei – das bitt' ich mir aus!« Und er schlug auf den Tisch.

Die anderen lachten. »Seh'n S', das ist wienerisch; so sind die meisten«, sagte der Obmann zu seiner Nachbarin. Und er fragte den lieben Onkel: »Wenn Sie aber nicht für uns sind, was sind Sie denn?«

»Ich bin dagegen«, versetzte der liebe Onkel mit Würde.

»Gegen uns? Seit wann denn?« fragte der Hausherr.

»Nicht bloß gegen Euch, nicht bloß, sondern überhaupt! Ein ordentlicher Wiener ist überhaupt dagegen. Dabei unterhält man sich noch am besten. Wir brauchen Euch nicht. Wir brauchen das alles nicht!« erklärte der liebe Onkel philosophisch.

»Was alles? Was braucht's ihr nicht?« wollte der Hausherr wissen.

Der liebe Onkel wackelte verdrießlich mit dem Kopfe hin und her: »Daß da einer aufgestellt wird, und plötzlich reden alle Leute von ihm, und er glaubt, er ist jetzt etwas – das muß einem doch auf die Nerven gehn! Ich will meine Ruh' hab'n! Nicht, daß man sich alle Augenblick' wieder einen neuen Namen merken soll! Es kommt doch nichts Besseres nach!«

»Siehst es!« sagte die junge Frau lustig zu ihrem Manne.

Der liebe Onkel ärgerte sich, daß sie noch immer lustig war, und fuhr heftig fort: »No ja! Lest's doch die Zeitungen! Da steht's, was Ihr seid's! Lauter Räuber und Mörder. Der in dieser Zeitung, der in jener – irgendwo steht's von einem jeden! Und ich muß schon sagen: das ist ein sehr angenehmes Gefühl für mich. Denn da freut man sich erst, daß man nichts ist. Wenigstens ist man kein Räuber und Mörder!«

»Mein Gott, das ist jetzt einmal im öffentlichen Leben so«, sagte der Obmann, »daß jeder beschimpft wird. Nicht bloß in der Politik! Das darf man nicht tragisch nehmen, das gehört dazu!«

»Wenn's Ihnen eine Freud' macht!« meinte der Onkel. »Ich verlang' mir's nicht.«

»Dann mußt Du in einem Keller leben, sonst wirst Du der Verleumdung nicht entgehen«, sagte der Hausherr, und er richtete die Frage an die Freunde, ob einer unter ihnen sei, der behaupten dürfe, einen unbescholtenen Namen zu haben. Es fand sich, daß alle der Reihe nach lachend eingestehen mußten, schon recht »bemakelt« zu sein. Der eine, ein Fabrikant, hatte sich verleiten lassen, eine neue Industrie schaffen zu wollen, weshalb denn gegen ihn eine solche Hetze ausgebrochen war, daß er sich bei Tag schon gar nicht mehr auf die Gasse traute. Der andere, ein Architekt, hatte sich durch den Plan einer großen Avenue den Unwillen der Bevölkerung zugezogen. Zuletzt kam die Reihe an einen Maler, einen stillen und traumhaften Menschen, der aber doch auch bekennen mußte, daß er durch sein Bild der »Wahrheit«, weil er diese mit nackten Füßen gemalt, die Interessen der Strumpfwirker verletzt habe, weshalb sie ihn in einer geharnischten Eingabe an die Handelskammer als einen »lüsternen Spekulanten auf die niedrigsten Instinkte« gebrandmarkt. So zeigte es sich: Jeder im Kreise hatte einmal etwas tun wollen und sich dadurch gegen die österreichische Sitte vergangen. Und am Ende erklärte der Obmann, der in freien Stunden manchmal Webers Weltgeschichte zu lesen pflegt: »Es scheint, daß das die Entwicklung der Menschheit mit sich bringt. Es ist sichtbar, daß in allen Gemeinwesen, je moderner und demokratischer sie werden, die Verleumdung eine immer größere Ausbreitung und Macht gewinnt. Nun, in dieser Beziehung ist es uns eben gelungen, doch schon ein ganz moderner und demokratischer Staat zu werden.«

Nach einer Pause sagte die kleine Frau nachdenklich: »Es ist aber doch nicht angenehm, weil unsere Köchin das auch in den Zeitungen liest. Da haben die Leute dann gar keinen Respekt mehr. Man sollte sich wehren.«

Alle lachten. Sogar der liebe Onkel mußte lachen. »Aber Kind!« rief der Hausherr. »Wie denn?«

Ganz betreten, sagte die junge Frau zögernd: »No, zum Beispiel klagen. Wozu gibt es denn Gerichte?«

»Liebe gnädige Frau«, sagte der Obmann überlegen, »ich habe einen alten Hofrat gekannt, der ein sehr gescheiter Mensch war und sich genau auskannte. Als der einmal nachts, durch ein Geräusch erwachend, einen Dieb in seinem Zimmer erblickte, der sich eben mit der Uhr, die er vom Tische genommen, leise entfernen wollte, sprang er aus dem Bette, lief dem Burschen nach, holte ihn ein, ersuchte ihn höflich, Platz zu nehmen, und nachdem er Licht gemacht und ihm ein Glas Wein zu trinken und eine Zigarre zu rauchen angeboten hatte, sagte er zu ihm: »Mein Herr! Beunruhigen Sie sich nur nicht, behalten Sie die Uhr, wenn sie Ihnen gefällt, und erlauben Sie mir, Ihnen auch noch diese fünf Gulden zu überreichen, aber geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie niemals, wenn die Polizei Sie erwischt und diesen Gegenstand bei Ihnen findet, niemals verraten werden, wem er gehört – ich hätte sonst zu unangenehme Geschichten, ich müßte zwanzigmal aufs Gericht, und wer weiß, welche Abenteuer und leichtsinnigen Streiche ihr Verteidiger in meiner Jugend entdecken und ausgraben würde, um mich in der ganzen Stadt unmöglich zu machen! Seien Sie edel, mein Herr, schonen Sie einen alten Mann, der in Ehren grau geworden ist, bedenken Sie meine Kinder – versprechen Sie mir das, und gehen Sie mit Gott!« Und der Hofrat ermangelte niemals, wenn er das erzählte, mit einer wahren Rührung hinzuzusetzen, wie dankbar und verpflichtet er dem Diebe sei, seinen guten Ruf unbehelligt gelassen zu haben. Der Hofrat war ein sehr gescheiter Mensch und kannte sich aus, liebe gnädige Frau!«

Die junge Frau bemerkte: »Dann sollte man eigentlich ein Dieb werden, wenn das so ist!«

»Die haben's auch bei uns jetzt am besten«, sagte der Obmann. »Seit es bei uns Sitte geworden ist, jeden zu verdächtigen und zu verleumden, freuen sich nur die wirklichen Räuber und Mörder. Die haben den Profit davon: denn da doch jetzt jeder, der öffentlich wirkt, in diesem Rufe steht, brauchen sie sich nicht einmal mehr zu schämen.«

»Ein Grund mehr, sich zu wehren«, sagte die kleine Frau hartnäckig.

Der Obmann zuckte die Achseln. Aber da ließ sich nun auf einmal der alte Professor vernehmen, der die ganze Zeit schweigend gezecht hatte. »Pardon«, sagte er, mit schüchterner, etwas wackeliger Stimme, »es würde auch nichts nützen, gnädige Frau, weil es notwendig ist, weil nämlich die Verleumdung ja doch eine Institution ist.«

Alle sahen auf, verwundert, weil sie nicht gewohnt waren, daß der Gelehrte mitsprach. »Seit wann wissen Sie etwas von unseren Angelegenheiten, Herr Professor?« fragte der Hausherr lächelnd.

Der Gelehrte erschrak und wurde ein bißchen rot. Dann aber nahm er sich zusammen und versicherte eifrig: »O doch! O doch!«

»Sie, der nur in alten Büchern lebt, der nicht einmal unsere Zeitungen liest?« sagte der Obmann ungläubig.

»Das nicht, weil ich nicht die Zeit habe«, entschuldigte sich der Gelehrte, »aber den Thukydides und den Plutarch – fast täglich, bitte!«

»Und sie glauben, daß das genügt?« sagte der Obmann, fein lächelnd.

»Ich denke schon, Herr Doktor«, antwortete der Professor. »Gewiß – gewiß! Da steht ja schon alles drin – im Thukydides und im Plutarch, Herr Doktor! Nämlich, alle diese – wie soll ich denn sagen? – halt alle diese Grauslichkeiten, die jetzt unser Leben beherrschen, haben doch die vortrefflichen Griechen auch schon gehabt, bitte nachzulesen, nur aber dazu noch den Verstand, ihrer Herr zu werden, indem sie sich mit ihnen sozusagen auszugleichen und ratenweise abzufinden wußten, so daß sie dann wieder eine Weile Ruhe hatten. Wie sie sich in den Mysterien von Zeit zu Zeit dionysisch austobten und ihre Leidenschaften abschüttelten, um dann wieder klar zu leben und besonnen dem Apoll huldigen zu können, so schufen sie sich auch im öffentlichen Leben für den Haß und für den Neid der Geringen gegen die Mächtigen eine eigene Institution, gleichsam einen Kanal, der allen Unrat aufnehmen und abführen sollte. Sie erinnern sich vielleicht aus der Schule her, was in Athen die öffentlichen Angeber gewesen sind, und Sie haben gewiß nicht vergessen, was der Cornelius Nepos vom Scherbengerichte erzählt, das den guten Aristides traf. Dieses Verfahren wurde, teilt uns Demetrius aus Phaleton mit, niemals gegen einen armen Mann, sondern nur gegen Leute aus bedeutenden Häusern angewendet, und wir wissen aus dem Plutarch, daß es jeden bedrohte, der durch seinen Ruhm, seine Abkunft oder seine Rednergabe für eine hervorragende Persönlichkeit galt, wie es denn selbst des Perikles' Lehrer, den Damon, nur deswegen verbannte, weil er in geistiger Hinsicht »etwas Besonderes« sein wollte. Nun sehen Sie, wir haben halt keine Mysterien mehr, und so schleichen die Männer jetzt, wenn es dunkel wird, auf den Gassen herum, und die Mädchen lassen sich leicht in verstohlene Liebeshändel verstricken. Und weil wir kein Scherbengericht mehr haben, das von Zeit zu Zeit die schlechten Gesinnungen entleeren würde, sind die Verleumdung und der Neid so groß geworden und lauern uns täglich auf. Der Mensch ist immer derselbe. Will man einen Trieb hier unterdrücken, so bricht er halt dort heraus. Bändigen werden wir ihn nie.«

»Wenn man Ihnen zuhört«, sagte die kleine Frau, »könnte man ganz stolz werden; nach Ihren Schilderungen sind unsere Wiener schon die reinsten Athener!«

»Beinahe«, sagte der Gelehrte mit seinem unerschütterlichen Ernst.

 

Der gute Ton.

Die Dame nahm die Zeitungen, zerriß sie und warf die Fetzen in den Wind. Wir saßen auf dem Balkon und sahen zu, wie sie sich erst flatternd drehten, dann allmählich sanken und nun zwischen die Rosen fielen. Die Dame aber erklärte: »Es kommt mir überhaupt keine Zeitung mehr ins Haus. Sie sind zu frech. Ich möchte nur wissen, was ihnen Gustav eigentlich getan hat.«

Dabei sah sie mich so feindselig an, daß ich antworten mußte. »Verzeihen Sie, gnädige Frau«, sagte ich sanft, »aber das fragen die Schauspieler auch immer, wenn man sie einmal schlecht findet.«

Sie fuhr auf: »Wollen Sie es vielleicht noch verteidigen? Sind Sie auch schon gegen Gustav?«

»Sie wissen ganz gut, daß ich zu den wenigen gehöre, welchen seine Verse gefallen. Ich habe oft genug ausgesprochen, daß ich Gustav für einen Dichter halte, für einen wirklichen Dichter. Man muß aber weder ein Kretin noch ein Schurke sein, wenn man anderer Meinung ist. Darüber läßt sich eben streiten. Sie sollten so gerecht sein, das einzusehen.«

Sie wurde milder, meinte aber doch noch: »Die Zeitungen sind immer gegen Gustav gewesen.«

»Die Zeitungen«, sagte ich ungeduldig. »Was sagen denn die Zeitungen? Die Meinung des Publikums. Dazu sind sie da. Das ist ihre Stärke, und wenn Sie wollen, ist es freilich auch ihre Schwäche. Ihr Zorn hat eine falsche Adresse: Halten Sie sich an das Publikum, das seine Verse nicht mag, weil es sie nicht versteht, oder weil es an eine andere Art gewöhnt ist, oder weil es vielleicht überhaupt das Neue nicht will. Ändern Sie das Publikum, und die Zeitungen werden sich ändern. Man hat ja Beispiele. Ein Journalist kann kein Philosoph und kein Prophet sein. Sie können von ihm nicht verlangen, daß er die Welt umstürzt. Das ist nicht sein Metier. Er hat seine Pflicht getan, wenn er nur ehrlich den Geschmack und die Ansichten ausspricht, welche die Menschen seiner Zeit beherrschen.«

»Aber wenigstens höflich«, warf Gustav ein.

»Das wäre zu wünschen«, sagte ich.

»Ich bin nämlich gar nicht wie meine Frau«, versicherte er. »Ich vertrage jede Meinung. Ich verlange nicht, daß man meine Verse loben muß. Ich begreife ganz gut, daß man gegen mich sein kann. Ich begreife nur nicht, warum man gleich so grob mit mir ist.«

Ich konnte nur sagen: »Da hast Du ja ganz recht.«

Er fuhr fort: »Gut, nehmen wir an, ich irre mich. Du irrst Dich, wir irren uns alle – meine Verse seien schlecht. Es ist ja möglich, da es das ganze Publikum meint. Aber bin ich deswegen ein Mörder? Ich werde aber so behandelt. Man begnügt sich nicht, mir mitzuteilen, daß ich keine Verse machen kann, und dies etwa zu beweisen, sondern man tobt, man beschimpft mich, man verhöhnt mich, man hetzt gegen mich, man wendet alles an, mich zu vertilgen. Warum? Das ist es, wenn wir schon davon sprechen, was ich nicht verstehe und was mich manchmal verstimmt. Wie gesagt, nehmen wir selbst an, meine Verse seien schlecht, so behaupte ich doch, daß jeder Mensch das Recht hat, Verse zu machen, wie gut oder wie schlecht er eben will oder kann. Das sollt Ihr mir nicht verkürzen.«

»Mein Gott«, sagte ich, »das ist eben jetzt der Ton. Schau die Politiker an! Die haben es auch nicht besser.«

»Ich billige das ebensowenig.«

»Und es ist wieder auch das Publikum schuld, das Hohn für Witz, Lärm für Kraft, Grobheit für Entschiedenheit hält. Du mußt ja heute schreien, um überhaupt gehört zu werden. Wir haben allen guten Ton verloren – da kannst Du nicht verlangen, daß man ihn gerade für die Dichter bewahre.«

»Das ist doch aber empörend!« rief die Dame aus.

»Und wohin werden wir damit kommen?« fragte Gustav. »Man glaubt schon mit Insulten zu beweisen. Nächstens wird man es mit Schlägen. Vielleicht wirft man nächstens einem Maler die Fenster ein. Es würde mich gar nicht wundern. Glaubst Du, daß das besonders nützlich für die Entwicklung der Kunst sein wird?«

»Aber Kind«, sagte ich, »darin sind wir doch alle derselben Meinung. Deine Gegner auch. Sie würden ebenso beklagen, daß es leider heute keinen sachlichen Streit mehr gibt. Sie können es nur nicht ändern, wie Du es nicht ändern kannst. Es ist einmal der Ton, der schlechte Ton unserer Zeit, sei es, daß wir nervöser sind, als man es früher war, und uns deshalb nicht mehr beherrschen können, sei es, daß wir durch den erbitterten Kampf ums Dasein, wo jeder eine Todesangst hat, zu erliegen, wenn er nicht seine Fäuste gebraucht, gereizt und verroht sind. Der gute Ton der alten Zeit ist ausgestorben.«

»Jessas! Jessas!« schrie der Onkel auf, daß wir erschraken. Er hatte schon die ganze Zeit gezappelt. Aber nun hielt er es nicht mehr aus.

»Was ist denn?« fragte die Dame, nicht sehr verwundert, weil wir seine heftigen Schrullen ja kennen.

»Weil Ihr zu dumm seid's!« tobte er und fuchtelte mit den Händen. »Der gute Ton! Ich bitte! Wo habt's Ihr denn das her? Der gute Ton der alten Zeit! Wenn man Euch hört! Wo denn? Wann denn? Schade, daß der gute Bauernfeld nicht mehr lebt! Der hätt' Euch was erzählen können vom guten Ton der alten Zeit! Der gute Ton des Herrn Saphir! Der gute Ton, der schuld war, daß der Grillparzer sich kaum mehr auf die Gasse getraut hat und dann allmählich überhaupt verstummt ist! Der gute Ton bei der Premiere des »Fortunat«, wo man den Bauernfeld fast geprügelt hat, oder von »Ottokars Glück und Ende«, worüber Ihr den Grillparzer selbst nachlesen könnt! Nein, ich schwärme nicht für Eure neue Zeit, aber da ist sie unschuldig, den Ton hat sie nicht verdorben, der war schon so!«

Nachdenklich sagte Gustav: »Du hast vielleicht recht, es scheint schon in Wien immer …«

Aber der Alte unterbrach ihn wütend: »Ah, natürlich! Wien! Da ist dann wieder Wien schuld! Statt zu sagen: die Menschen, sagt's Ihr die Wiener! Als ob die Wiener verpflichtet wären, besser zu sein als die anderen! Wo haben die denn den guten Ton, die anderen? Wo denn, wann denn? Ihr lest halt die Bücheln nicht!«

Wir lachten auf: denn das ist die Manie des Onkels. Er liest den ganzen Tag in alten Büchern, lernt sie auswendig und weiß, was immer geschehen mag, zu beweisen, daß das unter den Menschen immer so gewesen ist, woraus er schließt, daß es so sein muß. Wie man sich beklagt, kommt er mit einem »Büchel«. Wir necken ihn oft, es nützt aber nichts, es beruhigt ihn, wenn er sich darauf berufen kann, daß eine Unsitte nicht neu, sondern unter den Menschen schon lange üblich ist. Dann ärgert er sich nicht mehr, sondern läßt sie gelten. Man kann das logisch anfechten, aber er befindet sich dabei sehr wohl.

»Bitte!« sagte er triumphierend. »Goethe und Schiller! Bitte! Zum Beispiel! Also da glaubt man doch heute, über die müßte die Nation ganz selig gewesen sein. Solche Dichter, und dazu gleich das Glück mit ihren ersten Werken, mit dem »Werther« und den »Räubern«, und noch dazu ein Fürst, ein Hof, der für sie war, der Druck von oben! Also, denkt man sich, denen hat es doch nicht fehlen können! Vielleicht haben ihre Sachen auch nicht gleich allen gefallen, aber dann hat man ihnen doch das jedenfalls mit Respekt gesagt, immer den Hut in der Hand, wie es sich gebührt! Wenn je, muß doch damals der berühmte gute Ton gewesen sein, um den Euch so leid ist! Glaubt man! Ja freilich! Ihr lest eben nicht in den Bücheln! Mein lieber Gustav, das ist unrecht von Dir, das solltest Du, denn da möchtest Du finden, daß man mit Dir noch sehr glimpflich verfährt! Du würdest finden, daß man Dich eigentlich noch verwöhnt, mit jenen verglichen – denke nur: mit Goethe und Schiller! Aber Ihr lest eben die Bücheln nicht, es ist ein Jammer! Darum trifft Euch jede Schlechtigkeit so hart, weil Ihr glaubt's, sie sei jetzt erst erfunden worden – ist ja aber gar nicht wahr! Da gibt es ein Büchel, das heißt Goethe und Schiller im Xenienkampf, da marschieren alle geschlossen auf, die sich gegen die »Sudelköche in Weimar« empörten, um das Triviale vor dem ruchlosen »Unfug« der beiden – »Heroen«, sagen wir heute, damals hieß es »Pasquillanten« – zu schützen. Mein Lieber, Du darfst Dir gar nichts einbilden: Alles, was man heute gegen Dich sagt, ist in demselben freundlichen Tone schon damals gesagt worden. Da ist Herr Kapellmeister Reichardt, der hofft, daß alle anständigen Menschen »Herrn Schiller« so verachten müssen, als ob er »gerichtlich beschimpft wäre«. Da ist Herr Campe, Pädagog und Philanthrop, Verfasser des berühmten Robinson und des großen Wörterbuches, also nicht irgendein Gassenbub der Literatur, sondern ein ernster und gebildeter Mann; der will dem Goethe ein »Federchen« abbürsten, meint aber: »Wir bürsten umsonst, denn an Dir ist alles Feder, weil Du Dir selbst als Phönix, anderen aber als Gimpel erscheinst,« Da ist Herr Johann Caspar Friedrich Manso, Collaborator zu Gotha, später Rektor in Breslau, Verfasser eines Werkes über Sparta und eines anderen über die Ostgothen, also hoch gelehrt. Der läßt sich über Schiller also vernehmen: Zuerst über »Kants Affen in Jena«:

Was das Verächtlichste ist von allen verächtlichen Dingen?
Wenn sich ein Affe bemüht, würdig und wichtig zu sein …

dann über die »Räuber«:

Ist das nicht reine Natur? Ja, wahrlich, Schwätzer, das ist sie,
Bis zum Ekel getreu hast du die roh copiert! …

Über die Geschichte der Niederlande:

Leere Träume die Menge und abgeschmackte Tiraden,
Hat ein kecker Phantast hier für Geschichte verkauft.

Und zu den Briefen über ästhetische Erziehung:

Wie, teutonisches Volk, so weit ist's mit Dir gekommen,
Daß sich Fritzchen sogar Dich zu erziehen erkühnt?
Nimm Dich in acht vor dem Schalk, der Knabe ist selbst nicht erzogen,
Und an dem Ort, wo er lebt, wird man ihn ewig verzieh'n.

Fritzchen, Knabe, kecker Phantast, Schwätzer, Affe – schäm Dich, Gustav, wie weit bleibst Du da zurück! Aber gar Goethe, der »stößige Bock«, wird noch viel ärger behandelt. Da heißt es:

Jungenhaft nahm er sich immer, der Goethe, und wird sich so nehmen.
Fünfzig ist er, und noch wirft er die Leute mit Koth.

Dann, Egmont an Goethe:

Wahrlich, ich liebelte nicht mit Dirnen, als Belgien seufzte,
Glaubst du denn, lock'rer Gesell, jedermann fasle wie du?

Endlich ganz deutlich:

Besser stoßen, das ist gewiß, zwei Ochsen als einer,
Somit wißt ihr, warum Goethe sich Schillern verband!

Jungenhaft, lock'rer Gesell, Ochse – Du wirst Dich tummeln müssen, Gustav, wenn Du das noch erreichen willst. Aber lies das Büchel! Hebbel hat daraus einmal einen Auszug gemacht, dem man sein Vergnügen anhört, daß es jenen auch nicht besser ergangen ist. Zum Schluß sagt er: ›Der Erfolg ist bekannt. Wer Kot nach den Sternen wirft, dem fällt er selbst ins Gesicht. Das gilt für alle Zeiten.‹ Damit kannst Du Dich trösten, mein Gustav.«

»No«, sagte Gustav in guter Laune. »Nur keine falsche Logik, Onkel. Der Kot, der einem nachgeworfen wird, beweist deswegen noch immer nicht, daß man ein Stern ist.«

»Merkwürdig«, sagte ich nachdenklich, »merkwürdig ist mir an dieser Wut nur, daß sie ausbrach, als die zwei gerade, von allen Jugendlichkeiten befreit, den höchsten Begriff der Kunst erblickt und den ersten Plan einer deutschen Kultur entworfen hatten.«

»Wahrscheinlich gerade deswegen«, erwiderte der Onkel.

»Es ist aber doch kaum zu glauben«, sagte die Dame ganz traurig, »daß es wirklich niemals einen guten Ton gegeben halben soll.«

»Nie!« versicherte der Onkel. Und nach einer Pause fuhr er fort, indem er uns spöttisch ansah: »Also das wär' doch einmal eine Gelegenheit! Ihr wollt doch um jeden Preis auffallen, neu und besonders sein, anders als die anderen, extravagant, originell! Wie wäre es, wenn es einer einmal mit dem guten Ton versuchen würde? Das war noch nicht da. Und da wäre man auch vor den Nachahmern sicher!«

 

Die Menschen.

»Die Menschen!« rief der Onkel gereizt. »Da wird Euch das Predigen nicht helfen. Die Menschen sind eine Bande!«

»Ich glaube das eben nicht«, wiederholte der Schwärmer in seinem leisen und festen Ton. Er hatte uns geschildert, wie er alles andere aufgegeben, um ins Volk zu gehen und hier für seine Gedanken durch das Beispiel zu wirken. Er meinte, es sei ein Fehler, nur Bücher zu schreiben oder Reden zu halten, da man sich mit Worten den Menschen nicht nähern könne, sondern man müsse mit ihnen leben, ihre Leiden und Freuden teilen, ihr Vertrauen verdienen, um ihr Freund zu werden; wenn jeder, der das Gute will, dafür in seinem Kreise, wie klein er sei, lebendig zu wirken trachte, so würde es allmählich durch die ganze Menschheit dringen. »Man muß nur ein bißchen Geduld haben«, hatte er gesagt. »Gutes oder Schönes ist freilich leicht gedacht, Gedanken haben Flügel. Aber damit ist nichts getan. Daß wir es leben, das Gute oder Schöne, dazu sind wir da. Das geht nun eben langsam. Bis der gute oder schöne Gedanke zur Tat wird und so durch das Beispiel sich allmählich des ganzen Daseins bemächtigt, das braucht Zeit. Wir dürfen nur nicht gleich verzagen. Was liegt denn daran, wenn wir es selbst nicht mehr erleben? Es geht ja doch nicht verloren, es wirkt schon fort. Ich glaube an die Menschen.« So hatte er gesprochen, um es zu rechtfertigen, daß er uns verlassen hatte und jetzt in einem kleinen Orte, fern von aller Kultur, wie wir es nannten, mühsam und seiner großen Begabung unwürdig lebte.

»Glauben!« schrie der Onkel. »Sie glauben an die Menschen – Sie glauben nicht, daß sie eine Bande sind! Es handelt sich aber gar nicht darum, mein Lieber, was Sie glauben! Hier heißt es beweisen. Nach einer Vermutung, einer Empfindung richtete man nicht sein Leben ein. Wenn die Menschen zu bessern wären, so hätten sie schon Zeit genug gehabt: man arbeitet seit viertausend Jahren daran.«

»Man arbeitet aber falsch, weil man es immer nur von außen versucht: durch Gesetze, durch Drohungen, durch Strafen. Bezwingen werdet Ihr die Menschen nie, wenn Ihr sie nicht überzeugt.«

»Ah«, sagte der ungeduldige Onkel. »Überzeugt sind sie alle, jeder weiß, was recht und unrecht ist.«

»Dann hätte ich ja recht; dann sind sie ja gut.«

»Oho! Was nützt mir denn ihre Überzeugung, mein Lieber? Freilich weiß jeder, was er soll – er tut es nur nicht.«

»Dann ist es eben keine Überzeugung«, sagte der Schwärmer beharrlich. »Das meine ich ja gerade, das ist es ja, was ich gefunden halbe: Ihr lernt den Menschen in den Schulen ein, was erlaubt und was verboten ist, und aus Furcht stellen sie sich, es zu glauben, aber wie sie handeln, versagt es, und irgendeine ungehemmte Leidenschaft, ein wilder Trieb aus der Vergangenheit, als wir noch Tiere waren, reißt sie hin. Erziehung ist aber nicht Worte einlernen, sondern die schlechten Triebe nehmen, gute geben, bis einem das Rechte nicht, wie uns jetzt, zu einer bloßen Kenntnis, sondern zur Natur geworden ist. Bringen wir die Menschen dahin, daß sie gut sind, wie man zornig oder verdrossen oder lustig ist, ohne es sich vorzunehmen, ohne es zu wollen, weil man eben muß und nicht anders kann.«

»Bringen wir die Katzen dahin, daß sie Hunde werden«, warf der Onkel ein.

»Die Katzen haben noch niemals erklärt, daß sie Hunde sein wollen«, sagte der Träumer gelassen. »Die Menschen erklären aber seit viertausend Jahren, daß sie gut sein wollen, und jeder verlangt es vom anderen …«

»Um den anderen zu entwaffnen, um selbst im Kampfe der Stärkere zu sein. Die ganze Moral ist eine Erfindung der Räuber, der Gewaltigen, der Herren, damit sich die Schwachen nicht einmal wehren sollen. Und die Schwachen sind so dumm, es zu glauben, weil sie sich dadurch zu schützen meinen. Es geht aber immer schließlich an ihnen aus.«

»Über die Entstehung der Moral wollen wir nicht streiten«, sagte der Schwärmer. »Das ist eine Frage für Doktoren, die uns praktisch nicht hilft. Aber nehmen wir sogar an: Sie hätten recht, Gut. Der Begriff des Guten sei ursprünglich zuerst von einem Eroberer erfunden worden, nur um die Unterworfenen durch Betrug zu bändigen. Nun ist aber der Begriff da – nicht wahr, das leugnen Sie doch nicht? Oder wollen Sie behaupten, daß es überhaupt keinen Menschen gibt, welcher wirklich den Begriff des Guten hat, sondern daß alle damit bewußt nur die anderen täuschen wollen, was sich doch auch schon dadurch widerlegen läßt, daß ja dann die Täuschung gar nicht möglich wäre, nicht?«

»Natürlich gibt es auch Narren«, brummte der Onkel.

»Es gibt Narren«, bestätigte der Träumer, »und jene Täuschung beruht darauf, daß es Narren gibt, in welchen der Begriff des Guten lebt. Was die Räuber erfunden haben, um die Schwachen noch mehr zu schwächen, ist in manchen Menschen, zuerst vielleicht nur in den Schwachen, die den Betrug nicht merkten, allmählich wohl sogar in manchen Räubern selbst zu einer Kraft geworden, die nun einmal da ist und sich nicht ableugnen läßt, so wenig als Zorn oder Haß oder irgend ein anderer Affekt. Mag der Entwurf eines guten, freien und gerechten Lebens in Liebe und Eintracht der Menschen zuerst immerhin nur zur Beschwichtigung und Betörung der Schwachen gemeint gewesen sein, aber dann sind Menschen gekommen, die ihn aufgenommen halben, in welchen er fortgewirkt hat und in welchen er allmählich zu einem so leidenschaftlichen Wunsch geworden ist, daß sie lieber auf das Leben selbst verzichten, als ihm entsagen werden. Wenn Sie diesen Menschen sagen, daß es andere gibt, die einen solchen Wunsch nicht kennen, so kann sie das so wenig bestimmen, von ihm abzulassen, als es einen Hungrigen beruhigt, wenn Sie ihm beweisen würden, daß andere den Hunger nicht kennen. Es gibt Menschen, die hungrig sind nach Güte! Was soll mit diesen geschehen? Wollen Sie ihnen beweisen, daß ihr Hunger ein Irrtum ist, ein Mißverständnis der Geschichte? Davon werden sie nicht satt. Wir wollen keine Argumente, denn diese können uns nicht helfen, wir haben Hunger, Hunger nach Güte, Gerechtigkeit und Liebe. Was soll mit uns geschehen?«

»Ihr werdet eben verhungern«, sagte der Onkel trocken.

»Aber nicht ohne vorher die Welt mit unserer brüllenden Verzweiflung erfüllt zu haben. Es könnte vielleicht einmal einen Aufstand der guten Menschen gehen.« Der stille Träumer hatte jetzt einen fast drohenden Ton.

»Ihr seid zu wenige, da brauchen wir uns nicht zu fürchten.«

Der Schwärmer stand auf, trat auf den Onkel zu und lächelte; er hatte sich wieder gefaßt. »Sie sind auch merkwürdig! Um nur recht zu behalten in der Debatte, rechnen Sie sich jetzt schon zu den Schlechten. Es ist ja aber gar nicht wahr. Man kennt Sie doch. Sie sind der beste Mensch – Sie möchten es nur allein sein, scheint's.«

»Von mir ist doch nicht die Rede«, sagte der Onkel, ein bißchen verlegen. »Was wollen Sie denn von mir? Ich bin alt und bin ein Sonderling … eben auch ein Narr! Das leugne ich ja gar nicht, daß es einige gibt, die die Marotte haben. Ich und Sie und … alle Anwesenden, natürlich! Darum handelt es sich aber gar nicht, sondern wir reden im allgemeinen. Sie behaupten: die Menschen sind gut. Ich sage: Bestien sind sie! Eben jeder nach seinen Erfahrungen … Sie sind noch jung, warten Sie es ab!«

»Und mit dem Warten würde das Leben und so würde die Menschheit vergehen!« Der Schwärmer richtete sich auf und wurde sehr ernst: »Nein! Das halte ich eben für das Schlimmste! Der Mißmut, Unglaube und Zweifel der anständigen Menschen sind gefährlicher, als es der Widerstand der Schlechten jemals werden kann. Es gibt viel mehr Gute, als man denkt – das lasse ich mir nicht nehmen, aber sie trauen sich nicht heraus, sie zeigen es nicht, weil sie fürchten, dumm zu scheinen und sich lächerlich zu machen. Ich habe das oft erlebt, es ist eine wahre Manie, nur um Gotteswillen es sich nicht merken zu lassen und nicht in den Verdacht zu kommen, daß man gut ist, als ob es die größte Schande wäre! Warum? Weil man, heißt es, seine schlimmen Erfahrungen gemacht hat. Das verstehe ich nun gar nicht. Geboten ist: Du sollst nicht stehlen! Nun werde ich bestohlen. Ja, werde ich daraus schließen: Oh, es wird also doch gestohlen … folglich stehle ich auch? Aber so tun Sie und mit Ihnen Tausende von anständigen Menschen genau so! Geboten ist: Sei gut! Nun erfahren Sie: Dieser oder jener handelt schlecht. Und daraus schließen Sie: man ist schlecht, und wagen es nun schon selbst nicht mehr, gut zu sein, oder höchstens verstohlen und insgeheim! Statt vielmehr zu sagen: Schau, es gibt doch noch immer Menschen, die schlecht sind, da müssen wir uns doppelt zusammennehmen, um durch unser Beispiel das Böse zu vertilgen. Denn es ist immer nur – wenn man das nur einsehen möchte! – es ist immer nur das Beispiel, das wirkt. Worte verwehen, Befehle zerbrechen, aber das Beispiel mit seiner stillen Kraft steht da und wirkt und wirkt! Ihr aber, statt selbst ein Beispiel zu geben, das schon, seid unbesorgt, blühen und fruchten wird, Ihr wollt immer, daß der andere anfangen soll, und so wartete jeder auf den anderen. Das ist so heillos komisch, dieses ewige Warten der Menschen, keiner will der erste sein, der gut ist, als ob es eine Gefahr wäre. Ich will nicht übertreiben, man soll die alten bösen Mächte im Menschen auch nicht unterschätzen, die dumpf nachzitternden Erinnerungen aus der tierischen Zeit her, die immer noch manchmal aufbrechen werden, aber oft kommt es mir wirklich schon vor, als ob alle Menschen, fast alle Menschen eigentlich gut sein möchten und sich nur abschrecken lassen, weil sie der anderen noch nicht sicher sind. Wozu denn aber diese Garantie? Wollt Ihr es denn nur zur Belohnung für die anderen sein? Versucht es wenigstens einmal: do ut des! Seid gut und seht zu, ob es dadurch die anderen nicht auch werden! Aber nicht: gib mir, damit ich Dir dann auch gebe! Warum sollen sie Euch mehr trauen als Ihr ihnen? Und in diesem törichten: Geh Du voran! steht die Menschheit still, jeder möchte, aber keiner glaubt zu können – wie feige sind wir doch, wo es das Höchste unseres ganzen Lebens gilt! Welchen Mut, welche Energie, welchen Verstand haben wir für unsere Laster, unsere Verbrechen, aber einmal ein bißchen menschlich zu sein, will keiner wagen. Ja, was kann uns denn dabei so Schreckliches geschehen? Ausgelacht zu werden! Immer wieder diese Angst! Und deshalb wollen wir verzichten, das Glück zu erobern?«

Der Onkel, der gern ein bißchen mit seiner Belesenheit in den »Bücheln« prahlt, ohne es sehr genau zu nehmen, sagte warnend:

»Die töricht genug ihr volles Herz nicht wahrten, hat man von je gekreuzigt und verbrannt.«

Der Träumer antwortete nicht gleich. Erst nach einer Pause meinte er: »Wahrscheinlich werden sie auch selbst schuld gewesen sein. Wenn jemand einen Gedanken hat, wie der Mensch sein sollte, was tut er denn meistens? Er geht hin und spricht es aus und fordert uns auf, so zu werden, wie er es sich denkt. Ist er beredt, so stimmen ihm manche zu und schließen sich an, und nun ist es schon eine ganze Partei, die spricht und fordert, und wer nicht gleich mit ihr ist, wird jetzt gescholten und bedroht – natürlich wehrt sie sich, eine zweite Partei entsteht, und nun ringen die beiden, und jede will die stärkere sein, aber von jenem Gedanken, mit dem es angefangen hat, ist längst nicht mehr die Rede, und so leben die Menschen im Argen fort, bis es wieder einen recht tief erfaßt, der nun wieder einen Gedanken gegen die Not hat und wieder spricht und fordert, bis er wieder eine Partei gewinnt, die wieder, kämpfend und bekämpft, seinen Gedanken verliert, und wir hoffen stets, und nie wird es besser. Ich aber will den Leuten nicht sagen, wie ich meine, daß sie sein sollten, sondern selbst schön sein. Ich will mich nicht von den Apfelbäumen beschämen lassen, die, wenn sie blühen, Gott besser loben als je ein Priester. Darum bin ich in mein Dorf gegangen, rede nichts und tue gut. Ich hoffe, es steckt an. Das ist aber nicht meine Sorge. Ich bitte keinen darum. Mache das jeder mit sich aus. Mag er schlecht sein, wenn es ihm lieber ist – ich bin nicht sein Vormund. Man lasse mir nur die Freiheit, selbst gut und schön zu sein. Versuchen wir es einmal so. Ich glaube an das Beispiel.«

»Wenn Sie sich nur nicht täuschen!«

Der Schwärmer sah den Onkel an. Dann sagte er: »Und wenn ich mich täusche? Wir hatten in der Schule einen alten Katecheten, der uns gern einen alten Vers vorsprach, in welchem ein Zweifler den Gläubigen warnt:

O Christ, o Christ!
Wie du betrogen bist,
Wenn der Himmel
Eine Lüge ist –

worauf der Fromme erwidert:

O Atheist, o Atheist!
Wie du betrogen bist,
Wenn die Hölle
Keine Lüge ist.

Nun, es mag ja nicht sehr ideal sein, Kindern so vorzurechnen, wie klug es für alle Fälle ist, Religion zu haben. Ich muß aber doch unwillkürlich daran denken. Ist denn das Unglück so groß, wenn ich irre mit meinem Glauben an die Menschen? Wie aber, wenn Sie irren? Und hätten Sie selbst recht und wären die Menschen wirklich schlecht, so meine ich, daß wir es ums nicht eingestehen dürften, um sie nur ertragen zu können! Und auch, weil es, um sie zu bessern, immer noch das sicherste Mittel ist, wenn man sie für besser hält. Wenn ich meinen Hund rufe, und er folgt nicht, was tue ich? Ich rufe ihn wieder und schmeichle: ›So komm doch, Peterl! Komm her! Du bist doch mein braves Peterl!‹ Und da kommt er. Wenn ich ihm aber den Stock zeige, rennt er weg. Den Menschen hat man bisher immer nur den Stock gezeigt. Wir wollen einmal versuchen, ihnen zu schmeicheln!«

»Ihnen ist nicht zu helfen!« sagte der Onkel ärgerlich, fast neidisch, und schüttelte sich.

Aber der Träumer lächelte.

 


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