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Die Stimme des Bluts.

Da fahren wir jetzt in den Kanal von Selve«, sagte Alban, indem er neben sie trat, sich ein wenig neigend, um es ihr auf der Karte zu zeigen. »Das ist Premuda, dort Melada. Wir müssen gleich in Zara sein.«

»Ja?« sagte Pia, aber es war eine teilnahmslose, gar nicht neugierige Frage.

Er legte die Hand auf ihren Arm und fragte, zärtlich besorgt: »Macht's dich müd?«

Sie nahm seine Hand und drückte sie. »Nein«, sagte sie, »gar nicht.« Ein wenig fröstelnd, zog sie das Tuch an. Und wieder ganz in den ausgestreckten Stuhl zurückgelehnt, sagte sie leise: »So schön ist das! Das weiße Schiff, die weißen Möwen, der weiße Schaum, dort die weißen Riffe, hinten der weiß eingehüllte Berg und auch der Himmel scheint einen weißen Schleier zu haben.«.

»Dafür aber«, sagte Alban, »ist der Kapitän schwarz wie die Hölle.«

Sie sah verwundert auf. Dann wendete sie sich ein wenig nach der Brücke des Dampfers hin. Alban sagte: »Er ist jetzt nicht oben, er macht sich schön zum Diner. Ein ganz kleiner Kerl, aber wie von tausend Teufeln bewohnt, und man hat das Gefühl: wo man ihn nur antupft, müssen Funken spritzen. Du mußt dir ihn ansehen. Aber nicht zu gut!«

»Wie?« sagte sie. Und er verstand, daß sie ihm nicht mehr zugehört hatte, sondern schon wieder in ihren Gedanken war. Er stand noch eine Weile neben ihr, dann ließ er sie, ging ganz vor, bis an den Anker, und stellte sich in den naß wehenden Wind. Gleich aber kam er zurück, um nach ihr zu sehen, doch auf der anderen Seite, weil er sie nicht stören wollte. Sie fühlte ihn hinter sich und, ohne sich umzuwenden, hob sie nur ein wenig die Hand, ihm mit den Fingern winkend. Er trat hinter den Stuhl und indem er nur ihr Tuch zuzuziehen schien, berührte er den Hals. Sie schmiegte sich an. Dann fragte sie, in's Land zeigend: »Wie heißt der Berg mit dem vielen Schnee?« Er lächelte, weil er das Gefühl hatte, daß sie gar nicht fragte, um es zu hören, sondern bloß, um ihn zu freuen. Dann sagte er: »Das ist der Velebit.«

Sie sagte: »So viel Schnee, nur Eis und Schnee!« Und dann nach einer Weile, leise: »Da ganz oben möcht ich sein! Und überall nichts als den weißen Schnee! Und ganz hoch oben, ganz weit weg!« Und sie streckte die schmalen blassen Hände vor, als ob sie den Berg am liebsten umarmt hätte. Aber plötzlich erwachend, sah sie sich um und sagte, traurig nickend: »Ich bin wirklich undankbar. Es ist doch so schön hier!« Er hörte, daß sie gleich weinen würde, wollte sie verlegen beschwichtigen, aber sie ließ ihn nicht und bat: »Nur noch ein paar Tage mußt du mich lassen!« Flehentlich und zugleich fast zornig sagte sie das. Sein zärtlicher Blick verwirrte sie und ungeduldig wiederholte sie, sich in ihr Tuch verkriechend, mit gesenkten Augen: »Ein paar Tage mußt du mich noch lassen.« Er sagte nur noch: »Aber Kind, was quälst du dich? Es ist doch nur natürlich.« Dann ging er.

Eben landeten sie. Geschrei, Gewühl von rennenden, rufenden Menschen auf dem langen Molo, das Stoßen des rasselnden Krans, Späße von lauten Buben, und ein drängendes Hin und Her, ein unendliches Auf und Ab, ein Fragen und Winken und Hasten, und unten die feine Welt der weißen Stadt Zara, das Schauspiel der Fremden zu genießen, in schwatzenden Scharen, Offiziere mit ihren Frauen, die jungen Herren von der Statthalterei, die hier Dalmatien heben, ganz junge Mädchen, schon kokett, noch errötend, zu dritt Arm in Arm, immer kichernd, mit fliegenden Zöpfen, und ein Trupp Soldaten vom Grazer Regiment, unbeweglich beisammen mit offenen Mäulern, und Italiener, klein, flink, frech, überall herumspähend, spottend, liebenswürdig und feindselig, so in der Mitte zwischen Dandy und Verschwörer, mit bunter Krawatte und schwarz flatterndem Mantel, und große Kapuziner mit langen Bärten, lustig und aufgeregt, und diese stillen, gehorsamen, traurigen Dalmatiner, müden alten Pferden gleich, mit der ewigen Furcht in den so strengen, frommen, treuen Gesichtern, einer, ein ganz alter mit einem dicken weißen Schnauzbart, saß, ließ die Beine hängen und regte sich nicht, einen großen Tschibuk schmauchend, es hatte was unsäglich Rührendes für Alban, wie er in der Menge saß, unbekümmert, unwissend um dies alles, schien's, und nichts als rauchend, einem verbannten alten Fürsten gleich; Alban warf ihm ein Geldstück zu, er fing es auf und, ohne nach Alban zu sehen, bog er sich ein wenig auf seine geballte Faust herab und drückte den Mund mit einem langen Kuß auf ihren Rücken; und der letzte Pfiff und das Schnauben der Maschine, Rufe, Späße, Mädchen lachen, Hände winken, Hunde bellen, noch ein Mal der lange heulende Pfiff, Alban sieht noch immer den entthronten alten Körnig mit den baumelnden Beinen und dem dampfenden Tschibuk, aber allmählich entweicht, versinkt, zerlischt die schimmernde Stadt in der silbernen Ferne.

Pia ist auf, steht ganz hinten und sieht noch immer hin. Das Wasser schäumt unter ihr, große weiße Ringe ziehen mit. Es fängt zu dämmern an. Draußen dunkelt das Wasser. Sie schaut und schaut. Alban gibt ihr das entglittene Tuch um. Sie lehnt sich an ihn zurück. »Schau«, sagt sie und zeigt hinaus. »Wie wenn überall Veilchen schwimmen würden, ganze Schwärme von Veilchen!« Und sie schaut und schaut. Plötzlich reißt sie sich auf, sieht sich um, geht weg. Ganz scheu geht sie weg; und wie wenn sie sich vor Alban plötzlich zu schämen hätte. Er läßt sie.

Sie will nicht unten essen, mit den andern. Alban redet ihr zu. Sie soll es doch versuchen. Und der schöne schwarze Kapitän! Man muß auch einmal eine Probe wagen. Und er schildert ihr noch einmal den stampfenden kleinen Korsaren, der das Schiff kommandierte, und macht ihn ihr vor. Sie möchte lachen, es geht nicht. Sie nimmt plötzlich seine Hand und sagt: »Du bist ja so gut! Verzeih mir nur! Aber ein bißchen Geduld mußt du noch haben.« Er hält ihre Hand und streichelt sie. Dann sagte er leise: »Ich weiß es doch, Kind! Nur schau: das ist nicht recht, daß du–.« Er fühlt sie zittern und bricht ab. »Was?« fragte sie leise, mühsam. »Ich meine nur«, sagt er, »du solltest dich nicht in deinen Schmerz so förmlich verstocken. Du wehrst dich ja gegen jeden Trost. Du willst gar nicht, daß dir ruhiger und leichter wird. Fast als ob das eine Schande wäre! Und so verbohrst du dich immer noch mehr. Habe ich nicht recht? Sag! Ist es nicht so?«

»Nein«, sagte sie leise.

Er bog sich vor, ganz dicht an sie heran, um im Dunkel ihren Blick zu finden. »Nein?« fragte er, drängend.

»Nein«, sagte sie.

Sie schwiegen. Nun war der Tag erloschen. Wehend schlug die Nacht an. Sie saßen allein. Sie hörten nur das langsame Stampfen der Maschine, in gleichen Stößen, das Flattern des Wassers am Kiel und schwere Tritte oben auf der Brücke.

»Nein«, sagte sie wieder. Und dann, von seinem still verweilenden Blick gequält: »Glaub mir, daß das alles anders ist! Es geht jetzt so viel in mir herum, seitdem. Aber du darfst mich nicht drängen, ich bitte dich, Alban! Ich habe solche Furcht, es auszusprechen. Nein, das könnte ich nicht! Laß mich, ich kann nicht, ich kann nicht!«

»Pia, Kind, höre doch!« rief er der Enteilenden nach. Wie sie sich mit solcher Hast ins Dunkel entfernte, war ihm, als wäre sie in die wogende Nacht gestürzt. Er hatte sie nun nicht mehr. Er stand, in das dumpfe Rauschen horchend. Und ihm war so leer. Ich kann ihr nicht helfen! Immer hörte er das. Immer sah er sie noch in das schwarze Tuch gedrückt, fort in die Nacht hinein gehen. Und er hatte sie nicht halten können!

Da hörte er sie sagen: »Sei nicht bös!« Sie trat neben ihn und lehnte sich an. Er sagte: »Ich bin doch nicht bös. Es tut mir nur so leid.«

»Ein paar Tage noch«, sagte sie. »Dann werde ich dir alles sagen können. Ich wünsche es mir ja so!«

Er fragte, mit einer seltsamen Angst: »Hast du ein Geheimnis vor mir?«

Sie zögerte. Dann entschloß sie sich und sagte, die Worte wägend: »Nein. Nicht vor dir, Alban! Vor mir, das ist es eher. Vor mir selbst habe ich ein Geheimnis. Und da kann mir nun niemand helfen, niemand auf der weiten Welt. Nein, auch du nicht! Ich muß es ganz allein finden.«

Sie gingen jetzt auf und ab. Die Wellen wurden stärker. Manchmal hob sich das Schiff, wie ein steigendes Pferd. Sie mußten sich halten und streckten sich gegen den Wind. Aber sie wollte nicht hinab. Das Wasser schlug spritzend an, der Wind riß ihr das Haar auf. Sie ließ sich zausen. Als ihr das Wasser bis an die Knöchel sprang, schrie sie lachend auf. Sie wickelte das Tuch ganz über den Kopf, zog es unter dem Kinn an, raffte das Kleid, so watete sie. Er wunderte sich, wie sie auf einmal ganz verwandelt war. »Warte nur«, sagte er warnend, »es kommt noch ärger, willst du nicht doch lieber hinein?« Aber sie konnte nichts sagen, ein Stoß riß ihr die Worte weg, sie glitt ans Geländer. »Komm«, sagte er, nahm ihre Hand und wollte zur Kajüte. »Nein«, sagte sie, den Mund an den Wind gepreßt, »schau doch nur, schau, wie schön das ist!« Und sie zeigte hinaus, wo dort die großen schwarzen Wälle brachen, aber immer neue standen auf. Er konnte ihr kaum noch folgen, so geschickt war sie, den Stößen auszuweichen, oft plötzlich ganz klein, schon wie versunken, aber gleich sah er sie wieder sich aus den zerstiebenden Güssen entwinden, sie schüttelte sich, verschnaufte kaum, schon sank das Schiff wieder, sie bog sich mit den Armen vor und schien zu schweben, und wenn es dann steil wieder stieg, hörte er ihren grellen Schrei, der in seiner aufflatternden Angst, in seiner zujauchzenden Lust etwas Tierisches hatte; und sie schien ihm wie mit dem Meer um die Wette zu tanzen und zu singen. Da sah er sie plötzlich fallen, die greifenden Hände versagten, sie konnte sich nicht mehr halten, ein Schiffsjunge sprang her und half Alban sie forttragen. Sie hatte die Augen zu und war bleich. Leise bat sie nur noch immer: »Laß mich doch, es ist so schön!«, und biß die Zähne zu und lachte. Aber er wußte, wie sie dann, aus dem Taumel erwacht, es gleich wieder bereuen und sich kränken würde. Sie mußte sich zwingen, traurig zu sein. Das quälte sie. Sollte er es ihr sagen? Durfte er ihr es noch länger verschweigen? Ein einziges Wort konnte ihr helfen. Aber es hielt ihn zurück; eine Warnung oder eine Scham, ein seltsam ängstliches Gefühl, grundlos, aber stark. Er konnte es ihr nicht sagen.

Der Wind ließ nach, die Nacht wurde glatt. In Spalato hielt das Schiff. Aber sie hörten nur über sich einen dumpfen Lärm und in der Ferne das lange Heulen von vielen Hunden. Als sie erwachten, bog das Schiff schon in den stillen See der Bucht von Gravosa. Nun fuhren sie, an exerzierenden Soldaten vorbei, zwischen schwarzen Zypressen und schiefen, wie von Sehnsucht hingerissenen Agaven, der Stadt Ragusa zu. Sie saß vorgeneigt, als ob sie die Wendungen der weißen Straße gar nicht mehr erwarten könnte, und er fühlte ihre Hand auf seiner zucken. Plötzlich stand sie auf, der Kutscher mußte halten. Es war aber nur, über eine graue Mauer hängend, der rosige Regen von Blüten eines Mandelbaums. Alban sagte, fast etwas spöttisch: »In einem Monat blüht es bei uns zu Hause auch.« Sie sagte, mit einem frommen Erstaunen, einem seligen Erkennen: »Der Frühling! Das ist der Frühling!«, als hätte sie den Frühling noch gar niemals erlebt, jetzt aber wäre alles gut und sie wäre jetzt erlöst. Und über ihnen, hoch auf dem grauen, karg grünenden Karst, das breite, gelblich weiße Fort, und vor ihnen die Mauern und Türme der Festung, weiß, grau, gelb, hier rotbraun gefleckt, dort schwarz genäßt, mit verwitterten Figuren von Heiligen, und überall ein sonntägliches Gewirr, Italienerinnen mit den spöttisch beweglichen, Bäuerinnen mit den scheu gesenkten Mienen, jene raschelnd, diese schlürfend, Männer in weiten bauschigen Hosen, breite blaue oder tiefgrüne oder rote Bänder um den Leib, in welchen das lange Messer steckt, schwere rote oder blaue Mäntel schleifend, und überall ein Funkeln und ein Blitzen und ein Leuchten von wallenden, wehenden, stechenden, brennenden, brüllenden, brausenden, winkenden Farben. Dort aber das unendliche Meer.

Sie waren in der kleinen Barkasse nach Lakroma hinüber, gingen in den armen Zimmern des Kaisers Max, streiften durch den Wald und dann saßen sie, schauend. Er packte den Korb aus und bot ihr Fleisch, Früchte, Wein an. Sie nahm, aber mit einer Hast, als ob sie was versäumen würde. »Das Meer schwimmt uns nicht fort«, sagte er. Aber sie saß schon wieder, schauend. Und manchmal winkte sie ihm, zeigte weit hinaus und sagte: »Schau nur, schau!« Und sie zeigte mit einer einzigen, grenzenlosen, umschlingenden Gebärde über das ganze weite blaue Meer hin. »Ja«, sagte er, »hier hören alle anderen Worte auf, es bleibt nur: Schau! Es ist gut, daß wir unseren grauen deutschen Nebel haben, Denn hier muß die Menschheit sitzen bleiben, was will sie noch, was braucht sie sonst?« Und er trank seinen Becher leer, sah wieder hinaus und sagte dann vergnügt: »Mir fällt ein, daß die Griechen doch einiges geleistet haben. Trotzdem. Begreifen kann ich es aber wirklich nicht.«

Plötzlich stand sie heftig auf, ging ganz hin und sie schien förmlich auf das Meer loszugehen, wie um es anzureden. Horchend hielt sie sich vor. Und mit nassen Füßen schritt sie dann auf den glatten Steinen hin, in sich hinein gebückt, immer weiter. Er saß wartend. Er wußte, daß es sich jetzt in ihr lösen mußte.

Nun stand sie wieder vor ihm, das Kleid aufgeschürzt. »Armer Alban!« sagte sie. Er sah fragend auf. Sie nickte. »Ja! So eine Frau hast du.« Und bevor er antworten konnte, sagte sie in einem hämischen und häßlichen Ton: »Weißt du, was ich möchte?«

Er fragte: »Was möchtest du denn?«

»Das wirst du nicht erraten, mein lieber Alban«, sagte sie feindselig.

»Ist es so schwer?« fragte er.

Sie lachte. Dann kehrte sie sich wieder um, von ihm ab, zum Meer hin, öffnete die Arme weit und so, mit ausgebreiteten Armen, die Zähne zu, die Lippen auf, und wie plötzlich von einer inneren Musik erfaßt, schwebend, kreisend, drehte sie sich. Und sie lachte.

Dann, rasch auf ihn zukommend, dicht vor ihn hintretend, sagte sie, langsam, leise, gleichsam ein Geheimnis verratend: »Tanzen möchte ich. Ja, Alban!« Und neigte sich ganz vor und sagte noch: »Und vor drei Wochen ist mein Vater begraben worden.« Und sah weg und bat: »Nein, nichts sagen, ich bitte dich, Alban! Ich schäme mich ja so!« Und lief von ihm und er hörte sie schluchzen.

Er rief sie. Dann ging er ihr nach. Er fand sie stehend, nach Muscheln suchend. Und sie sagte nur wieder, ganz leise bittend: »Nicht, nicht!« Er legte den Arm um sie, so zog er sie, die, geneigt, nach den nassen Steinen sah, und sie gingen, den anschlagenden, aufspritzenden Wellen zuhörend. »Hast du mir nicht immer alles gesagt?« fragte er. Sie schwieg. Er sagte: »Als du noch ein ganz kleines Mädl warst, erinnere dich! Wer mußte helfen und raten? Wer zankte dich aus, wenn du dumm warst? Und du lachtest nur dazu! Wem durftest du, wem konntest du alles sagen? Soll das jetzt anders sein?«

Sie drückte seine Hand. Aber dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Du wirst das ja nie verstehen.«

Nach einer Pause sagte er: »Warum meinst du, daß ich dich plötzlich nicht mehr verstehen soll? Erinnere dich doch!«

Sie nickte. Traurig sagte sie: »Ja damals!«

Er fragte: »Soll es denn jetzt anders geworden sein? Wodurch?«

Plötzlich sagte sie, in einem ganz anderen Ton, mit einem Ruck: »Und schon damals, schon damals!« Aber gleich brach sie wieder ab.

»Was war schon damals?«

»Erinnerst du dich nicht?« sagte sie. »Im Spaß hast du manchmal gesagt, du seist eifersüchtig auf deinen Vater.«

»Und?« Er sah auf sie, nachdenklich und beklommen.

»Und wirklich!« sagte sie. »Nein, ich war in deinen Vater nicht verliebt, das ist mir ein viel zu schlechtes und geringes Wort. Du mußt nur denken, wie still und ängstlich ich zu Hause gehalten war. Und ich hatte solche Sehnsucht weit hinaus. Aber alles war verboten. Wenn man meinen guten Eltern glaubte, mußten überall um unser Haus Gefahren und Schrecken liegen, von so furchtbarer Art, daß verloren war, wer nicht am Ofen blieb. Ich hätte mich aber so gern einmal verloren.« Sie schwieg, achselzuckend.

Alban sagte: »Ich verstehe so gut, daß Eltern ein geliebtes Kind behüten möchten.«

»Vor dem Leben?« fragte sie, verwundert. »Wozu sind wir denn da?«

»Mein Vater, freilich«, sagte er, »der hat sich vor dem Leben nie geschützt. Aber man müßte auch erst wissen, ob es gut war.«

»Alban?« rief sie ganz erschreckt.

Er sagte leise: »Ich hätte nicht den Mut, ihn zu fragen.«

»Ich verstehe dich gar nicht.« Und sie ließ ihn los und ging weg. Dann sagte sie, vor sich hin: »Er! Wenn er nicht glücklich wäre! Dieser vom Leben leuchtende, Leben strahlende Mensch! Wer ihm nur nahe kommt, wird froh.« Ganz erregt war sie, dann sah sie wieder über die springenden, gischtenden Wellen hin und sagte: »Weißt du, die ganze Zeit muß ich hier jetzt an ihn denken.« Und hinaus spähend, hinaus zeigend, sich gleichsam hinaus öffnend, sagte sie: »So ist er!« Und ganz leise setzte sie dann hinzu, klagend: »Und an meinen armen Vater denke ich gar nicht. An meinen lieben armen Vater, der gestorben ist. Und er war immer so gut zu mir! Das ist es ja, was mich so quält. Und er muß es gemerkt halben. Jetzt fällt mir das erst auf! Die ganze letzte Zeit sah er mich manchmal so furchtbar traurig an. Was soll ich denn aber tun? Ich möchte so gern um ihn weinen und plage mich ab, traurig zu sein, und bin ja dann auch traurig, aus Pflicht, ja …. aber das alles ist so häßlich, pfui!«

Er stand stumm. Sie kam und lehnte sich an und schloß die Augen. Müde sagte sie: »Laß mich nur noch ein paar Tage! Dann wird es vorbei sein. Das habe ich ja auch von ihm: immer selbst an mir zu nörgeln und mich zu schämen und mir zu wünschen, daß ich anders wäre! Er war auch so. Dein Vater kennt das nicht. Ihr seid stolz! Das ist es, das macht euch mutig, das macht euch froh. So zu sein, wie man ist, ohne viel zu fragen, ob man es darf! Ich beneide dich, Alban! Denn du gleichst ihm.« Und sie warf sich ihm weinend hin: »Nimm mich, halte mich, laß mich nicht aus! Du mußt mich halten, Alban, fest, fest!«

Er streichelte sie still und ließ sie weinen. Dann sagte er: »Wir müssen zurück. Aber ich werde dir helfen. Ich kann es.«

Abends aber kam er und sagte: »Jetzt sollst du hören, was ich dir verschwieg. Ich hatte nicht den Mut. Auch war mit deinen Eltern abgemacht, dir nichts zu sagen. Nun aber muß es wohl sein. Und ich bin froh. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen vor dir. Höre mich, Pia. Du bist stark, dir wird es helfen. Höre mich an.«

Sie lag auf dem Sofa, matt und wirr von der lauen Luft,« die nach Wogen und Blüten roch. Er ging durch das kleine Zimmer, auf und ab, in den süßen Dunst seiner Zigarette gehüllt, sich erinnernd. Draußen war die Nacht, lauernd ausgestreckt, wie ein geduckt wachender, großer schwarzer Hund.

»Weißt du noch? Jetzt wird es bald ein Jahr. Es war der Geburtstag meines Vaters, du kamst mit deinem, wir hatten gegessen, die Eltern blieben sitzen, wir aber fort, in den Garten, wo der junge Krokus schon blau, weiß, gelb, und die frühen Narzissen aus der warmen Erde schossen, fast unter unseren Augen, so schnell. Und da warst du mir plötzlich anders als sonst. Ich aber auch. Eben hatten wir uns noch geneckt. Die Mama sagte noch: Ihr werdet auch nie mehr gescheit, es wäre schon endlich einmal Zeit! Eben hatten wir noch gelacht. Jetzt aber, wie ich dich auf der jungen Wiese stehen sah, an den Stamm des Nußbaums gelehnt, der noch kahl und grau war – ich sehe dich noch, unter den weit gestreckten, wie hinaus greifenden leeren Ästen, du schienst auf einmal größer und in deinen Augen, die wegsahen, war etwas erwacht, das ich nicht kannte, eine Furcht oder eine Scham oder ein Wunsch, von diesem allen war es in deinen Augen erwacht und ich höre dich noch, mit einer Stimme, die mir unbekannt war, plötzlich sagen: Bitte, bringe mir mein Tuch! Ich wunderte mich, weil der Abend warm und still war. Und als du das Tuch hattest, schien es mich weit von dir zu trennen. Das war das Mädl nicht mehr, mit dem der Bub spielte. Ich sah jetzt eine fremde Frau. Noch heute weiß ich, wie seltsam mir das war.«

»Und dann nahm mich der fremde Mann«, sagte Pia, mit geschlossenen Augen sich erinnernd, leise lächelnd, »nahm mich und wir küßten uns und waren verlobt und ich staunte gar nicht, als ob ich das immer schon gewußt hätte, auch als ich noch ein ganz kleines Kind war, seit je.«

»Wir küßten uns«, sagte Alban, »und waren verlobt. Dann gingst du. Denn niemand, wolltest du, sollte dich mehr an diesem Tage sehen.«

»Ganz still«, sagte sie, »trug ich mein Glück heim, mit bebenden Händen, vor Angst, auszuschütten.«

»So gingst du, ja, leise vorgeneigt, fast ein wenig gebückt und als wenn es dir zu schwer wäre. Ich sah dir nach und rief dich noch. Aber du gingst, langsam hinschreitend, ohne zurückzusehen. Dann holten sie mich hinein, alle fragten nach dir, ich tat geheimnisvoll und war voll Übermut und trieb nur Possen. Endlich ging dein Vater, es war spät, meiner wollte nun auch schlafen. Da, ganz zuletzt, so hatte ich mir das ausgedacht, ganz nebenhin sagte ich: »Ja, Papa, daß ich nicht vergesse! Denke dir, ich habe mich mit Pia verlobt. Wir wollen aber nicht lange herumziehen, sondern möglichst rasch in Ordnung kommen. Also sei so gut und veranlasse, was nötig ist!« Das hatte ich mir noch im Garten so ausgedacht und freute mich, weil er dann immer zu nett ist, wenn er, von meinen Frechheiten erschreckt, gewaltig böse tut und doch heimlich frohlocken muß. Er sagt ja gern, er sei wehrlos gegen mich, denn er finde in mir sich selbst und seine Jugend wieder, mit allen Unverschämtheiten, zu welchen ihm nur damals der Mut gefehlt hätte. Wie ich jetzt sei, wäre er damals gern gewesen. Was ich nun stets das richtigste Verhältnis zwischen Vater und Sohn fand. Ja. Daß jener, alternd, seine Jugend in diesem erfüllt sieht. Ja.«

Er schwieg und trat zum Fenster. Unten schlug das Meer an die Felsen, zerbrach und schrie zornig.

Dann sagte sie: »Ja. Oft sprachen wir davon. Es muß ein wunderschönes Gefühl sein. Und ich war dir immer ein bißchen neidisch, um deinen Vater.«

»Ja«, sagte er. »Aber höre nur. Deshalb eben.«

»Ja, neidisch«, sagte sie noch einmal. »Auch jetzt noch, So häßlich ist das von mir und schlecht gegen meinen toten Vater.«

»Höre nur«, sagte er.

»Ja«, sagte sie.

Aber lange blieb er noch am Fenster und schwieg, während sie wartete. Und seltsam war dann seine Stimme, hart und fremd, als er sprach: »Es wird mir schwer, ich sehe ihn noch, ich höre ihn noch, ich weiß noch jedes Wort, dies alles kann ich dir sagen, aber das Entsetzen, das plötzlich im Zimmer lag – nein, Pia, das wirst du nicht verstehen! Nun, höre mich an! Es war doch nur ein Scherz von mir, nicht wahr? Und ganz in seiner Art, der es ja, nicht wahr? gefallen muß, wenn zwei junge Leute, ich und du, ohne wen zu fragen, selbst ihr Leben bestimmen, was doch wirklich auf der ganzen weiten Welt sonst niemanden was angeht. Er aber, statt zu lachen – du kennst ihn doch: er, der schon den Knaben mehr wie einen Freund, einen jüngeren Bruder hielt, der nur Spott für die väterliche Gewalt hat, der immer sagt, Eltern können von den Kindern mehr lernen, als umgekehrt, erinnere dich, was vielleicht nur seine Form ist, sich gegen das Alter zu wehren und mit einem wahren Trotz den anderen, aber besonders sich selbst eine ewige Jugend vorzutäuschen. Und nun! Furchtbar war es! Furchtbar, diesen Mann, der sich mit solchem lässigen Stolz in der Hand hält, spöttisch mit allem spielend, zum ersten Mal sich verlieren und einem unbegreiflichen Zorn, einer namenlosen Angst erliegen zu sehen. Ich wurde heftig, er schrie, die Mutter verließ uns. Ich drohte, mit dir in die Welt zu laufen; ob er die Polizei nach uns hetzen würde? Und da, das werde ich niemals vergessen: da saß der große starke Mann plötzlich vor mir, den Kopf in seinen Händen, und weinte.«

Er schwieg. Sie fragte beklommen: »Warum hast du mir das nie erzählt? Nie hast du mir davon erzählt!«

»Nein«, sagte er, »ich habe dir das nie erzählt. Höre nur. Ich stand und sah den weinenden Vater an. Ich kann dir das nicht schildern. Wenn das Meer austrocknen, die Sonne frieren, der Stein zu dir reden würde – irgend etwas, stell dir vor, geschieht, wovon du weißt, daß es nicht geschehen kann! Dann bat er mich. Ich solle nicht fragen. Es darf nicht sein! Ich aber immer nur: ich muß. Bis er mir dann am Ende – bis er es mir gestand.«

»Was?« fragte Pia.

In einem häßlichen und hämischen Ton gekränkter Scham sagte Alban: »Gott, eine lange Geschichte. Er habe ja meine Mutter heute noch lieb, aber sein unbändiges Blut, ihr stilles, scheues, leicht verschrecktes Wesen, eine vortreffliche Frau, aber er müsse doch sagen, für ihn zu klein, zu genügsam und unfähig, mit ihm aufzufliegen, und was weiß ich! Wozu das erst? Ich weiß ja, daß er nicht gewohnt ist, sich eine Frau, die ihm gefällt, zu versagen. Aber dann begann er sie mit deiner Mutter, Pia, zu vergleichen und von deiner Mutter zu erzählen, wie sie war. Ich kann mich ja nicht mehr erinnern: ich war noch ganz klein, als sie starb. Aber sie muß was Wunderschönes gewesen sein. Von einer Art, die nicht unter die Menschen paßt. Man hatte, sagte er, immer das Gefühl: ein stolzer fremder Vogel unter Spatzen! Aber das ging wohl hauptsächlich auf deinen Vater.«

»Alban!« rief sie, zornig, flehentlich.

»Warte nur ab«, sagte er, brüsk.

»Nein, du darfst meinen Vater nicht schmähen!« Und vor Zorn begann sie zu weinen: »Meinen armen Vater!«

»Er ist nicht dein Vater«, sagte er.

Sie standen und sahen sich an.

»Nein«, sagte Alban. »Mein Vater erzählte mir, was deine Mutter bei diesem braven lautlosen Menschen litt, ohne seine Schuld. Und mein Vater kann Frauen nicht leiden sehen. Und so bist du seine Tochter.«

Sie stand ganz starr, die rechte Hand an der Stirne. Endlich konnte sie nur sagen: »Bitte, laß mich jetzt allein!« Und als er blieb: »Ich muß jetzt allein mit mir sein, Alban!« Er sagte: »Nein, mein armes Kind, jetzt lasse ich dich nicht allein.« Sie trat ans Fenster, wie zurückweichend. Und dann kehrte sie sich zu ihm und sah ihn lange an, als ob es zum ersten Mal wäre. Und dann sagte sie ganz ruhig: »Dann wären wir ja Bruder und Schwester.«

Er sagte: »Ja, mein Vater sagte, daß wir Bruder und Schwester wären.« Dann trat er langsam auf sie zu. Und leise sagte er: »Fürchte dich nicht!«

»Warum soll ich mich fürchten?« fragte sie. »Nein, Alban! ich fürchte mich nicht. Wenn wir auch Bruder und Schwester sind, ich kann dich nicht anders lieben. Nein, das kann ich nicht.« Sie schwieg und sah ihn an und dann nickte sie und nahm ihre ganze Kraft und sagte: »Ich muß dich ebenso lieben, das weiß ich.«

»Nicht wahr?« sagte Alban.

»Ja«, sagte Pia.

Er nickte. »Das war meine Antwort an den Vater. Wir müssen. Ich weiß nur, daß ich muß.«

Sie hatte die Augen zu, stand starr und sagte: »Wir müssen.«

»Aber«, sagte er und nahm ihre zuckende Hand, »aber wir sind gar nicht Bruder und Schwester, kleine Pia! Und ich bin doch eigentlich recht froh, nicht?« Er wollte lachen, aber es gelang nicht. Sie zitterte, jetzt war ihre Kraft aus. Da sagte er und hätte gern gespottet: »Denn denke dir, wie lustig sich die Geschichte jetzt dreht. Denke dir: am nächsten Morgen kam dein Vater, jener nämlich, der bisher der Meinung war, dein Vater zu sein, zu meinem Vater, jenem nämlich, der bisher der Meinung war, mein Vater zu sein, und er kam im größten Schreck und saß erst lange mit meiner Mutter zusammen und dann saßen die beiden Männer zusammen und dann alle drei und dann hieß es, daß wir heiraten könnten. Sehr einfach: wir hatten bloß die Väter vertauscht. Deiner war meiner, meiner deiner geworden. Woraus man lernen mag, daß der Spatz im eigenen Haus deswegen doch draußen noch immer sein Glück machen kann. Und auf das schönste war alles aufgeklärt. Amen!«

Sie hob leise die Hand, seinen höhnischen Ton abzuwehren.

»Nun ja«, sagte er, »ist der Spaß nicht gut? Findest du nicht? Und uns kann es ja gleich sein. Nicht? Da sich ja schließlich doch alles aufgeklärt hat! Aufgeklärt, sagte dein Vater, als er sich plötzlich in meinen verwandelte.«

Pia sagte: »Es steht uns nicht zu, sie zu richten.« Und sie sann eine Weile. Und dann: »Nur das kann ich nicht verstehen: jahrelang so nebeneinander zu leben, im Geheimnis.«

Er nickte. »Wenn man weiß, wie stolz er tut, jede Lüge, jedes Vorurteil zu verachten! Wie narren sich die Menschen!«

»Aber Alban, hast du mir es denn nicht auch verschwiegen? Und ich dachte, jeden Hauch von dir zu wissen.«

»Es war gut gemeint. Ich wollte es dir ersparen.«

»Ja«, sagte sie, »sie wollten es einander wohl auch ersparen. Das wird es gewesen sein. Aber ich denke, dazu hat man kein Recht. Nein, Alban, das darfst du nie! Du sollst mich nicht für wehleidig halten. Das darfst du nie mehr!«

Er nahm ihre Hand und sagte: »Es war nicht bloß das, sondern ich … ich habe mich so geschämt.« Und, noch leiser: »Verstehst du? Für ihn.«

Er ging von ihr weg und lange durchs Zimmer. Dann, am Fenster, sagte er in die schwarze Nacht hinaus: »Denke dir nur, da waren zwei Menschen, seine Frau und sein Freund, ihm beide wert, und beide betrog er: mit dem guten Recht, das sich der Starke nimmt. Der Liebe zur Frau, der Neigung zum Freunde, war eine leise Verachtung beigemischt: sie ist eine Frau, die mir nicht genügen kann, er ist ein Mann, der seiner Frau nicht genügt. Wir sind größer, wir brauchen mehr, als ihr zu geben habt, eure Schuld also! Das war sein Gefühl und so war sein Gewissen gut. Und nun? Nun fällt dies alles plötzlich von ihm ab. Er selbst nun einer, der zu schwach, zu gering für eine Frau ist, er, der sich vermaß, ihr Schicksal zu sein! Er selbst nun zu seinem kleinen Freunde herabgesetzt, den er ein wenig beschützt und ein wenig bedauert und mit der Geduld des Stolzen ertragen hatte. Und die stille Verachtung, der leise Spott gegen sie springt nun auf ihn selbst zurück. Einer, der jahrelang König war, im Gefühl seiner Macht, und plötzlich hört er: Ja, wir haben dich den König machen lassen und schwiegen dazu. Verstehst du, daß das einen Menschen zerbrechen muß?«

»Nein«, sagte sie.

Er wandte sich am Fenster nach ihr um.

»Nein«, wiederholte sie.

»Was meinst du?« fragte er verwundert.

»Nein«, sagte sie, langsam und jedes Wort wägend, »dies alles kann ich nicht verstehen. Mir könnte das nichts tun. Wie seid ihr denn? Erfährt ein Mensch von außen erst, was er ist? Aus der Meinung der anderen oder durch sein Schicksal? Bleibt ihm denn nicht sein eigenes Gefühl? Es muß doch bei mir selbst entschieden sein, was ich bin. Und auch was die anderen sind. Wer kann mir das nehmen?« Sie sprach heiß und rot. Dann, sich schüttelnd, sagte sie noch: »Ich weiß schon, daß es nicht die richtigen Worte sind, aber ich weiß, ich habe recht.«

»Du bist seine Tochter«, sagte Alban.

»Und«, fuhr sie fort, »hättest du mir jetzt bewiesen, daß wir Geschwister sind – nun, vielleicht hätte ich mich verwirren lassen, wochenlang vielleicht, aber ich wäre durchgekommen. Am Ende doch. Bin ich deine Schwester, wenn ich als Frau für dich fühle? Was ich fühle, bin ich. Das ist meine Sicherheit, welche gibt es sonst? Soll ich es mir vom Namen vorschreiben lassen? Ich heiße deine Schwester, also sei mein Gefühl danach? Ich heiße deine Frau, also muß es anders sein? Wie seid ihr denn, daß ihr dies könnt? Auf Kommando, nach Namen? Ich bin nicht so! Ich nicht! Ich kann meine Gefühle nicht wechseln, was immer auch geschehen mag.«

»Du bist seine Tochter«, sagte Alban. »Ganz ebenso hat er sich aufgerafft. Fast mit den nämlichen Worten. Als er es erfuhr, ließ er mich kommen. Auch der andere war da. ›Ich habe dir gestern gesagt, daß ihr nicht heiraten könnt.‹ Ich fiel ein: ›Wir werden es, denn mein Gefühl – ‹ Er ließ mich nicht ausreden. ›Dein Gefühl hat recht, ihr könnt heiraten.‹ Und auf den anderen zeigend: ›Erlaube, daß ich dich mit deinem Vater bekannt mache, mit deinem wirklichen Vater.‹ Ich werde niemals den Ton vergessen, in dem er sagte: wirklichen. Ein solcher Haß, ein solcher Hohn, ein solcher Schlag, dem anderen ins Gesicht! Und er fragte mich, ob er jetzt Sie zu mir sagen müßte. Er nannte mich: Lieber junger Freund! Er fragte, ob er uns vielleicht störe, da wir doch sicherlich den Wunsch hätten, uns auszusprechen, nach so vielen Jahren. Ich sagte, ich hätte nur den Wunsch, zu heiraten und fortzukommen, in mein eigenes Haus. Nur den Wunsch, irgendwo zu Hause zu sein.«

»Armer Alban«, sagte sie.

»Der andere war ziemlich verlegen und bat mich nur, dir nichts zu sagen; dies schien er sehr zu fürchten. Ich versprach nichts, ich wiederholte nur immer: Laßt uns fort! Der andere sagte: ›Vor der Welt muß jedenfalls alles beim alten bleiben.‹ Es kränkte mich gar nicht, daß es ihm so wichtig war, mich zu verleugnen. Dein Vater aber bemerkte, nach fünfundzwanzig Jahren wäre es wohl selbst dem Othello schwer gewesen, nach Rache zu dürsten, postnumerando. Und abends, als der andere fort war, sagte er plötzlich, mitten aus einem gleichgültigen Gespräch heraus, vor meiner Mutter: ›Wie denkst du nun eigentlich über deinen neuen Herrn Papa?‹ Ich war die ganze Zeit fest geblieben, jetzt aber fing ich zu heulen an, ich konnte nicht mehr. Ich heulte wie ein kleiner Bub. Da nahm er mich am Ohr und zog mich her und lachte: ›Schaf! Glaubst du denn, daß er dich mir nehmen kann? Ich habe dich Jahr um Jahr und Tag für Tag gezeugt, so bist du mein. Versuche nur, ob du mir entkommen wirst! Es ist doch ein Unterschied zwischen ihm und mir: Ich halbe zwei Kinder und er hat jetzt keins mehr!‹ Da ging meine Mutter still aus dem Zimmer fort. Und ich verstand erst, daß er es gesagt hatte, um sie zu züchtigen.«

Sie schwiegen lange, wie versunken. Da fing drüben in der starren Einsamkeit der Nacht eine Stimme zu hallen an, in langsam klagenden Lauten, ins Meer hin. Sie lauschten. Und die schluchzende Stimme flog über die schlafende Stadt. Dann, in der Ferne, sank sie, flatterte noch einmal matt und starb.

Und er sagte: »Nun weißt du es. Nun wirst du dich wohl nicht mehr quälen. Du schuldest dem Toten nichts mehr.«

Sie sagte nur: »Danke, lieber Alban, lieber, lieber Alban!«

Den anderen Tag fuhren sie nach Cannosa. In der engen Barkasse waren viele Menschen gedrängt. Die Damen, durch den Wind und den gischtenden Schaum erregt, gierten kichernd. Ein Wiener erklärte fortwährend, es sei schade, daß diese herrliche Gegend von der Regierung so vernachlässigt wird, indem man noch immer kein ordentliches Rindfleisch hier bekommt. Und ein Berliner erklärte, daß diese Platanen von Cannosa gar nicht die richtigen seien; er kenne die von Bujuktere, wo Gottfried von Bouillon einst gerastet haben soll, die müsse man sehen.

Aber dann waren sie droben allein, im Garten des Grafen Gozze. Sie saßen in der Laube, rings war Blühen und unten das blaue Meer.

Und Alban sagte: »Allein! Wir zwei ganz allein! Und nichts als wir allein!« Und an dieses »allein« hielt er sich wie an einen Stab und stützte sich.

Aber sie sagte nur immer: »So froh bin ich!« Und brach Blumen, wand einen Kranz und schmückte sich.

Dann sagte sie: »Wie wunderbar! Jetzt bin ich erlöst. Ist mir doch, als hätte ich das immer schon gewußt. Immer, als Kind schon. Immer zog es mich mit solcher Macht zu deinem Vater hin. Und ich litt, als ob ich meinem etwas stehlen würde. Aber es war stärker.«

»Warum aber«, fragte Alban, »sprach sie dann in mir nie? Diese so starke Stimme des Blutes! Warum schweigt sie noch jetzt?«

Sie hörte seinen Schmerz. Und sie schmiegte sich an ihn an und sagte: »Ich hab dich lieb! Wir haben uns doch so lieb! Was brauchst du noch mehr? Was geht uns denn dies alles noch an? Wir haben uns lieb! Hier beginnt unser eigenes Leben, jetzt! Unser eigenes Leben aus uns selbst!«

Sie saßen unter Blüten, über dem blauen Meer.

Und dann sagte sie plötzlich noch: »Nein, mit unseren Eltern wollen wir nicht rechten. Das sieht nur so lächerlich aus. Sie hatten sicher das schönste Gefühl.«

Er mußte lächeln, so rührend kindisch klang ihm das. Da wurde sie übermütig und sagte: »Ja, ich habe es besser als du, denn ich bin dumm.«

»Du bist weise«, sagte er.

»Nein!« schrie sie ganz erschreckt.

»Du bist weise«, sagte er, »denn dich quält dein Verstand nicht. Verstand ist ein armes Ding, das mit uns niemals fertig wird, denn er hat die Schonung nicht und keine Zartheit. Aber du bist weise.«

»Denn du hast mich lieb«, sagte sie.


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