Hermann Bahr
O Mensch!
Hermann Bahr

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Viertes Kapitel

Seit zehn Tagen war der Nußmensch fort. »Ich versteh dich gar nicht! schimpfte der alte Radauner den Maler Höfelind aus. Er is einmal ein Strabanzer, das weißt du doch! Man muß jedem Menschen seine Passion lassen, einer geht fischen, ein anderer bergkraxeln, mancher auf die Jagd und er halt auf den Schub, da kann man nix machen! Wenn er genug verlaust is, kommt er dann schon wieder zurück! Er is noch immer wieder schön zurückgekommen!«

»Ich hab Angst, sagte Höfelind. Es is dumm, ich weiß. Aber ich kann mir nicht helfen, mir ist angst um ihn.«

»Dir is jede Ausred recht, sagte der Alte, um nur nix zu malen. Faul bist! Das is es!«

»Das auch, sagte Höfelind, mit seinem ziellosen Hohn und Grimm. Ich weiß aber nicht, wann ich das Euer Hochwohlgeboren jemals verheimlicht hätt? Es ist noch meine einzige gute Eigenschaft!«

Radauner lachte, sich erinnernd, und fragte: »Hat er dir das vielleicht auch gesagt?«

»Was? Wer?« fragte Höfelind, teilnahmslos.

»Wer? äffte der Alte. Von wem reden wir denn den ganzen Tag?«

»Was hat er gesagt?« fragte Höfelind, gierig.

Der Alte lachte. »Ich hab ihn neulich einmal zusammengeschimpft, daß es eine wahre Schand is, wie er lebt, nix als im Gras liegen und zu nix nutz sein –«

»Das war sehr ungerecht, fiel Höfelind ein. Ich habe nie einen geschickteren Menschen gekannt. Er kann einfach alles!«

»Das is schon wahr, sagte der Alte. Er könnt wirklich alles, aber er find't ja, daß alles unnötig is. Es kann ja wirklich niemand besser Gulasch kochen, aber dann stellt er sich hin und erzählt mir von den Leichen vor, die ich da eigentlich freß, bis mir ganz der Appetit vergeht! Also was hab ich davon?«

»Das ist etwas anderes, sagte Höfelind, achselzuckend. Man darf aber deswegen nicht behaupten –«

»Also willst du mich erzählen lassen oder nicht? schrie der Alte, seinen Knüppel aufstoßend. Warum darf ich nicht behaupten? Darf vielleicht überhaupt nur er noch behaupten? Und seine Behauptungen, no ich bitte, no ich danke! Aber die dürfen sich behaupten, weil er es ist, er, das Orakel! Du bist ein dummer Kerl!« Er schnaubte, verschluckte sich, fing zu husten an und murrte noch immer fort: »Wirklich ein dummer Kerl! Ein dummer Kerl bist! Mit dir werd ich doch nicht streiten? Lern erst malen, junger Herr! Hä, Personal der Menschheit, hä! Du dummer Kerl, wenn du's je dazu bringst, einen ordentlichen großen Zehen zu malen, dann red! In einem wirklichen großen Zechen is mehr von der Menschheit drin als in deinem ganzen, ä, Personal, ä! Symbolist mit Humbug! Ein dummer Kerl!«

»Gewiß, sagte Höfelind. Aber was der Nußmensch gesagt hat, weiß ich noch immer nicht. Euer Hochwohlgeboren wollten mir doch erzählen!«

»Ja! Der Hallodri! sagte der Alte, schon wieder ganz vergnügt. Also ich hab ihm ja bloß die Leviten ein bißl gelesen, das muß man doch! Und er soll nicht so faul sein, er ist alt genug, um endlich einmal was zu leisten! Was antwortet mir der Fallot? Und unser Herr Jesus? sagt er mir. Ich frag, weil ich ihn gar nicht versteh: Was willst denn? Da sagt er: Was hat denn unser Herr Jesus geleistet bis zu seinem dreißigsten Jahr? Und macht aber ein so sonderbares andächtiges Gesicht dazu, daß ich ganz still war. Und eigentlich hab ich mich noch fast geschämt vor ihm!« Schnaufend sah der Alte vor sich hin, dann fing er wieder zu gröhlen an: »Das hat ja der verfluchte Bub, daß man nie recht weiß, ob man ihn prügeln soll oder ob man ihm nicht lieber die Hand küssen möcht!« Und er schrie: »Aber bang, junger Herr, bang braucht einem um den nicht zu sein! Bang? Um den? Du Trottel! Eingsperrt wird er nächstens einmal werden, das is sicher! Aber da kann das Loch, in das's ihn stecken, noch so tief sein, es wird ihm immer noch besser gehn als uns zwei miteinand! Und dir gar, mit samt deinem vielen Geld! Denn der Mistbub lacht einfach! Dem kann doch g'schehn was will, er lacht! Mach's ihm nach!«

»Ich hab ihn gemalt, sagte Höfelind leise, voll Angst. Du kennst seinen Körper nicht so! Ich hab mir die ganze Zeit nur gesagt: Nur schnell, nur schnell, sonst explodiert er mir, unter der Hand! Eine solche Spannung hat er, so viel is da drin und dampft und drängt, und du hast das Gefühl, der kann das doch nicht aushalten, es muß ihn zerreißen, gleich wird's knacken und der dünne Körper wird springen! Ich kann dir das nicht erklären, aber ich weiß es.«

»Aber geh! sagte der Alte. Die Rahl is auch nicht gesprungen! Und du hast auch geglaubt!«

»Die Rahl ist ein Mordstrumm von einem Frauenzimmer, sagte Höfelind, nachdenklich. Und dann hat die das Theater, wenn das Manometer zeigt, daß es gefährlich werden könnt! Oder sie nimmt sich einen Jüngling nach Haus!«

Der Alte lachte. »Und dann springt der Jüngling, das is eine ganz gute Method. Und so wird sich unser Nusserl schon auch was finden, ein jeder find't sich was. Bild dir nix ein, ich bitt dich!«

»Ich weiß es«, sagte Höfelind.

»Außerdem, sagte der alte Radauner und fing wieder zu husten und zu schnauben und zu spucken an, außerdem ist er doch unsterblich! Ä, ä, nicht? Er hat ja den Tod abgeschafft, der Strick!«

»Er spielt gefährlich«, sagte Höfelind, leise.

»Jetzt wannst mir mystisch wirst, schimpfte der Alte, da geh ich! Das kannst malen, die Farb is geduldig! Aber ich laß mir solchen Blödsinn nicht an meinen alten Schädel schmeißen, das bitt ich mir aus!«

»Ihm hörst doch auch zu, sagte Höfelind, wenn er dir erklärt, daß der Tod abgesetzt worden ist! Is das nicht mystisch? Da bist aber ganz einverstanden!«

»Da bin ich einverstanden, sagte der Alte, weil er ein junger Mensch ist! Denn jeder junge Mensch glaubt an den Tod nicht! Die meisten sind nur zu bescheiden und wollen sich erst in keine lange Streiterei einlassen, auch aus Höflichkeit vor den älteren Leuten, und so sagen's halt Ja, so tun's halt, als ob's einverstanden wären, und die Sache ist für sie ja auch nicht so dringend, es is, wie wenn dir einer saget, irgendwo in Afrika gibt's eine Menschenrass' mit drei Köpfen! Also ja, sagst halt in Gottesnamen Ja, was wirst dich denn mit ihm streiten, wegen Afrika, wo du vielleicht in deinem ganzen Leben nie hinkommst? Und dasselbe denkt sich ein junger Mensch, soll er sich aufregen, über den Tod, der so weit ist? Es hat noch Zeit, später wird man ja sehen! Aber daß ein junger Mensch sich wirklich je den Tod vorstellen könnt, das gibt's einfach nicht! Denn ein junger Mensch is einfach körperlich unfähig, den Gedanken des Todes zu fassen! Das Nusserl aber is halt nicht so bescheiden wie die anderen, sondern is frech und hat eine Freud, wenn's streiten kann! Daher kommt das, junger Herr, ganz einfach!«

»Ich glaube, es kommt daher, sagte Höfelind langsam, weil er einen ungeheueren inneren Kampf mit dem Tod führt, es ist ein fortwährendes Ringen mit dem Tod, glaub ich.«

»Ich glaub, sagte der Alte, Höfelinds still nachdenklichen Ton übernehmend, daß dir der liebe Gott dein bißl Verstand nur gegeben hat, um daran desto sicherer verrückt zu werden, denn dazu allein benützt du es. Andere Leut sind harmlos blöd, aber du machst einen verblüffenden Aufwand von Gescheitheit dazu. Du brauchst das halt zum Malen offenbar, also gut, no also gut!«

»Und du brauchst es zum Malen, daß du mit mir schimpfst«, sagte Höfelind.

»Schimpfen ist aber nützlicher, sagte der Alte. Schimpfen ist so gesund! Es kommt gleich nach dem Malen.«

»Wo kann er nur eigentlich sein? fragte Höfelind wieder. Und immer frag ich mich: Warum ist er fort? Haben wir ihm was getan? Spürt er denn gar nicht, wie gut man's ihm meint? Du doch auch!« Und sich seiner weichen Stimme schämend, sagte er: »Du tust ja nur so! Dann aber kannst stundenlang sitzen und hörst ihm zu! Während ich –! Mich amüsiert er doch eigentlich bloß!«

»Ich werd dir sagen, erklärte der Alte, wie das bei dir ist! Du brauchst immer ein Spucktücherl, in das d' deine verrückten Ideen hineinspucken kannst, dazu sind die Menschen für dich da! Junger Herr, die Menschen sind gar nicht so geheimnisvoll, wie du glaubst!«

»Euer Hochwohlgeboren, sagte Höfelind, die Menschen sind viel geheimnisvoller, als man weiß. Sogar du!«

»Geheimnisvoll ist mein Klee«, sagte der alte Radauner.

»Mich macht's halt nervös, sagte Höfelind ungeduldig, daß er so lang nicht kommt! Er ist unbedacht und traut sich alles zu. Wie leicht kann ihm was geschehen!«

»Schau dir ihn einmal an, sagte der Alte, wie er geht! Langsam und feierlich, und man sieht, er hat Zeit, und die ganze Welt kann warten, er beeilt sich nicht! Wenn man ihn so daher kommen sieht, schaut's aus, als käm eine Prozession, schön langsam, mit der Fahnenstang voran! Mein lieber Herr, wer so geht, dem g'schieht nix! Er schiebt sich halt irgendwo spazieren in der Welt, aber auf einmal taucht seine Schwimmhosen schon wieder im Garten auf, da is mir nicht bang!«

»Er geht, sagte Höfelind, wie einer, der mit beiden Händen was tragt, irgendein zu volles Gefäß, und Angst hat, daß er ausschütten könnt. Und dabei wird er einmal hinfallen und das Gefäß bricht. Wir haben's besser: du schimpfst und ich strampf, so beuteln wir alles ab! Stille Menschen sind unnatürlich.« Er ging herum und quälte sich, bis er sagte: »Was nutzt mir das alles? Er ist halt fort!«

»Mal!« sagte der Alte.

»Seit zehn Tagen ist er fort!« sagte Höfelind.

Er war aber gar nicht fort. Seit zehn Tagen saß er in dem verwachsenen Garten der Witwe Wabern. Weil er dort ein Trotterl gefunden hatte. Er vergaß nur, es Höfelind sagen zu lassen. Weil er doch jeden Tag glaubte, den nächsten Tag heimzukehren.

Das Haus der Witwe Wabern lag hinter dem Friedhof. Der schöne Leutnant Guido von Wabern hatte quittieren müssen, um die arme Klavierlehrerin heiraten zu können. Es war aber ein Glück für ihn, er kam gerade in die gute Zeit, wo man mit Fahrrädern so viel verdiente, daß er sich bald selbständig machen konnte. Er rechnete, daß er, wenn das Geschäft noch drei Jahre so weiter ging, ausgesorgt haben würde; und dann kann er sich zurückziehen, um das lenkbare Luftschiff zu erfinden, das war immer sein Traum. Und er kaufte sich einstweilen dort oben an, weil ihm der Wiesenhang am Tiergarten sehr tauglich schien, um ungestört abzufliegen. Auf den Grund hin baute er sich ein lustiges kleines Haus, im östreichischen Barock, wie der Baupolier behauptete, der eben zum Stadtbaumeister ernannt worden war. Über dem Tor war rechts ein kühner Radfahrer zu sehen, links zwei die miteinander Säbel fochten, in der Mitte aber gar ein stolzer Luftballon, hoch oben, und alles in Gips. Rings aber ließ er im Garten Fichten pflanzen, weil er auch gern ein Hochtourist gewesen wäre, wenn er halt nur etwas mehr Zeit gehabt hätte! Die Fichten wuchsen schnell und wurden so groß, daß das Haus jetzt schon ganz in einem Wald stand; von draußen sah man es gar nicht mehr. Aber das hatte der Herr Leutnant nicht mehr erlebt; das Haus war noch nicht einmal fertig, da sprang ihm ein Hund ins Rad, und er stürzte so bös, daß er nicht mehr aufstand. Seitdem hieß es, daß es mit der Witwe Wabern nicht mehr ganz richtig sei. Nachbarn wollten sie trösten und redeten ihr zu, doch nicht in dem einsamen Haus zu bleiben, das im Winter gar ganz verlassen war, daß man sich wohl fürchten konnte, wenn der Wind pfiff. Sie ließ sich aber nichts sagen, das ärgerte die Nachbarn. Und als man dann erfuhr, sie habe den religiösen Wahn, sagten sie: Recht g'schieht ihr, weil sie eine ungute Person is, die auf einen nicht hören will, das kommt davon! Übrigens langte zum Leben ja grad, was ihr der Leutnant hinterlassen hatte. Dann erfuhr man noch, daß nach zwei Jahren ein Kind auf die Welt kam. Aber die Nachbarn gaben es auf, sich um sie zu kümmern, und wunderten sich über nichts mehr und ließen sie. Sie wunderten sich auch nicht, daß es ein blödes Kind war. Ein Trotterl, sagten sie, das hat sie jetzt davon! Nur wenn jemand einmal dort vorüberging, zu den Fichten hin, in denen das einsame Haus versteckt war, hinter dem fest versperrten Tor, warnte ihn der Totengräber: »Geben's acht, daß Ihnen das Kind nicht einen Stein nachwirft, das Kind is wie ein böser Hund!« Und so war der Nußmensch mit dem Trotterl bekannt geworden. Er ging vorbei, da flog ein Stein, er rieb sich, es tat weh, dann sah er in den Fichten zwei Augen, so böse Augen mit solcher Gier und solchem Haß hatte er nie gesehen! Er stand ruhig und wartete, da traf ihn noch einer, ihm war, als wären's diese bösen Augen selbst, von denen er an der Stirne blutete. Er nahm die Steine, stieg über die Mauer ein und sagte dem plärrenden und stampfenden Kind: »Da hast deine Steine! In's G'sicht darfst mich nicht treffen, weil das weh tut, aber sonst macht's mir nichts. Wenn du's gern hast! Also ziel ordentlich! Aber nicht ins G'sicht, gelt?« Er stellte sich hin, als Scheibe. Sie schlug um sich und wälzte sich und schrie vor Wut. Er wunderte sich, warum sie gar so warm angezogen war, und einen ganz dicken Schal hatte sie noch um, einem schmierigen kleinen Bärenkind war sie gleich. Wie sie sah, daß er ihr wirklich nichts tat, kam sie lauernd unter den Fichten hervor, näherte sich, zielte, warf und traf ihn gut. Er rieb sich, übertrieb seinen Schmerz, um ihr Spaß zu machen, und wimmerte lang: »O weh o weh o weh!« Wieder nahm sie dann aus ihrer Schürze noch einen Stein und warf ihn. Dreimal warf sie so. Dann ließ sie die Schürze los, die Steine fielen und er hatte das weinende Kind zu seinen Füßen. Ihr großer harter Kopf schlug an seine Knie, so stark, als hätte sie sich zerbrechen wollen. Und weinend schrie sie nur in einem fort vor Weh und Leid und wollte nicht aufhören zu weinen, bis sie der Länge nach hinschlug und für ohnmächtig dalag. Er strich mit der Hand über ihr zausiges Wollhaar, wartete und sagte dann: »Also jetzt komm aber und zeig mir euren Garten!« Da nahm sie seine Hand und ging mit ihm, ganz brav. Er fragte sie: »Wie heißt du denn?« Sie schüttelte den Kopf und sagte nichts. Fest biß sie die Zähne zu und sagte nichts, was er auch sie fragte. Fest blieben ihre großen weißen Zähne zu, sie tat den Mund nicht auf, aber ihre Hand ließ sie in seiner. So gingen sie durch den verwachsenen Garten, und er sagte ihr, wie die wilden Blumen alle hießen, im ungemähten Gras, und die Namen der Bäume sagte er ihr, und er sagte ihr, daß man die verblühten Rosen doch abschneiden muß, weil sich sonst der Strauch kränkt, was man ihm dann aufs Jahr ansieht, und sie ging mit ihm an seiner Hand und hörte zu. Dann setzten sie sich, als ihre kurzen dicken Beine müde wurden, und er erzählte noch immer fort und sie hörte zu. Bis es schon finster wurde, saßen sie so, da sah er sie dann auf einmal an, ganz nah kam sein Gesicht an ihres, und er sagte: »Es ist ja aber gar nicht wahr, du hast doch keine bösen Augen!« Sie wollte von ihm los, aber er ließ sie nicht und hielt sie bei der Hand fest. Dann war die Sonne weg, und jetzt fing er von den Sternen an und erzählte ihr, daß auch die Sterne Namen haben, und zeigte ihr die weiße Landstraße, auf der am Himmel die Sterne spazieren gehen, und freute sich über ihr verwundertes dummes Gesicht. Er fragte sie, ob sie schon einmal gesehen, wie manchmal ein Stern vom Himmel fällt. Sie nickte, und er erklärte ihr, daß das daher kommt, weil es auch im Himmel lustige Mädeln gibt; und weil sie dort aber keine Steine haben, werfen sie halt mit Sternen, das muß noch mehr weh tun! Da schämte sie sich und klammerte sich mit ihrer heißen Hand an ihn. Eine Stimme rief aus dem Haus. Das Kind zitterte, schüttelte sich und hielt sich an. Er sagte: »Nein, nur nicht die bösen Augen wieder!« Und als er sie noch immer zittern fühlte, sagte er: »Schau, die Sterne!« Und dann fing er wieder an und erzählte, bis es schon spät in der Nacht war. Da stand er auf und fragte das horchende Kind: »Magst, daß ich morgen wiederkomm?« Da hängte sie sich mit beiden Händen an seinen Arm, zog die Füße hoch, und so hing sie, zappelnd, und schrie. Und es kam das erste Wort aus ihrem ächzenden Mund: »Dableiben!« Schwer kam es durch, als ob es erst die Lippen aufbrechen müßte. Sie röchelte, strampelte, verzerrte sich, der Zorn riß sie herum, bis der junge Mensch sagte: »Wennst willst, kann ich ja auch bleiben. Aber dann mußt ordentlich mit mir reden, jetzt weiß ich ja, daß du's kannst. Du kannst es ganz schön.« Und er verlangte von ihr, ihm nachzusprechen: »Bitt schön, bleib bei mir, mein lieber Freund.« Sie rang den Mund, stammelnd und stotternd, und jedes einzelne Wort, wie sie's auswarf, riß ein Geröll von stöhnenden und stockenden, dumpf rasselnden, zerborstenen Lauten mit, und der Zorn, ihm zu gehorchen, schlug ihr den Mund zu. Doch mußte sie gehorchen, es stieß ihr auf, Wort um Wort erbrach sie. Früher gab er nicht nach. »Siehst, daß'st es kannst!« sagte er dann. Er sah sie lustig an, sie schämte sich und war froh dabei. »Und jetzt müssen wir nur acht geben, sagte er, und dürfen den dummen Mund nicht wieder zuwachsen lassen!« Sie gingen ins Haus, die Mutter erschrak vor dem fremden Mann und warf sich vor ihm hin. Er nahm sie, hob sie und sagte: »Aber Weiberl, schaun's!« Sie sagte: »Ich werd für den Herrn beten!« Er sagte: »Das können's ja, das macht nichts!« Da war die Frau froh, ging wieder in ihren Winkel und betete, mit dem Kopf nickend. Am nächsten Tag lüftete der junge Mensch das ganze Haus aus, alle Fenster riß er, alle, Türen auf, da sprang der Wind in allen Ecken an. Die Frau verkroch sich, das Kind blieb neben ihm, treppauf und treppab, vom spinnigen Boden bis in den nassen Keller hinab, lustig war es ihr. Und als das ganze Haus dann offen stand und der Wind herumfuhr, zog sie den guten Freund hinter das Haus, da war noch ein Schuppen mit Werkzeugen, einer Drechselbank, Fahrrädern, Schläuchen und solchem Gerümpel aus des Leutnants Zeit. Das Kind sah ihn dabei so listig an, er horchte, er hörte miauen. Das Kind zog ihn ins Dunkel der Hütte, da fand er in einer Kiste ein armes Kätzchen angebunden. Er fragte das Kind: »Hast du das getan?« Das Kind nickte. Er wickelte die Schnur ab und band das Kätzchen los, das Kind sah zu und sagte mit seiner gurgelnden Stimme: »Es wird aber fortlaufen und miaut nicht mehr.« Er sagte: »Laß es nur und gib mir deine Hand!« Das Kind hielt seine Hand hin. Er wickelte die Schnur um die Hand, sie wunderte sich, er sagte: »Warte nur!« Er band das Kind an demselben Pflock fest, wo das Kätzchen angebunden gewesen war. Dann ging er in den hellen Garten hinaus, indem er sagte: »Jetzt miau du!« Das Kind blieb ganz still, aber es fürchtete sich sehr, und die Schnur tat weh. Er ging eine Stunde im Garten herum. Dann kam er zurück und sagte freundlich: »Jetzt weißt, wie das ist, gelt?« Er band sie los, nahm ihre Hand und sagte: »Jetzt komm aber, jetzt werd ich dir wieder erzählen.« Und in der Sonne draußen fragte er sie noch einmal, mit seinem schwirrenden Lachen: »Weißt es jetzt?« »Ja«, sagte das Kind. Dann dachte sie nach und sagte noch, auf das Haus zeigend: »Die Frau sagt auch, ich bin ein schlimmes Kind.« Ihre dicken Lippen lachten bös, sie zeigte noch einmal auf das Haus und sagte: »Die Mutter.« Er sagte: »Aber nein, was du dir einbild'st! Schlimme Kinder gibt's gar nicht, woher denn? Das glaubt man nur! Ich glaub's nicht. Du wirst es schon sehn!« Da war sie ganz still an seiner Hand, und sie gingen, und er fing ihr wieder zu erzählen an, den ganzen Tag.

Den dritten Tag, als sie im Garten waren, kam ein schwarzer Mann den Weg her, sperrte das Tor auf und trat ein. Als das Kind ihn sah, riß es sich los und floh. Der Mann schritt schwer auf den jungen Menschen zu und fragte: »Wer sind Sie?«

»Oh, sagte der Nußmensch, ich bin nur auf Besuch hier, geistlicher Herr!«

Der Mann ging in das Haus. Der Knabe legte sich ins Gras und ließ an seinem warmen Leib das Kätzchen schnurren. Aus dem Hause schlug die strenge Stimme des geistlichen Herrn, dann wurden die Fenster geschlossen.

Die Sonne war so stark an diesem Tag, daß alles erzitterte, unter ihrer weißen Hand. Und die Mittagsstunde fürchtete sich vor ihr und tat keinen Schritt und stand, den Atem angehalten. Dem Knaben im Gras war's, als läg er im ewigen Leben drin, mit dem schnurrenden Kätzchen.

Da kam der Mann zurück und sagte: »Lassen Sie das arme Kind! Dem ist nicht zu helfen. Und was wollen Sie, was geht es Sie an?«

»Und Sie?« fragte der Nußmensch.

»Ich«, stieß der mit seiner harten Stimme zu, »ich bin der Vater. Ich muß es büßen. Ich bin der Vater dieses unglücklichen Geschöpfs! Darum treibt's mich immer wieder her. Hier kann ich die Frucht meiner verwünschten Lust ansehen.«

»Eine Predigt halten Sie mir? sagte der Nußmensch, lustig. A so!«

Der Mann hob seinen Stock und schrie: »Willst du noch deinen Spott mit mir geschlagenem Manne treiben, du gottloser Bub?«

»Nein, sagte der Nußmensch, und sein fliegendes Lachen klang, als wenn er sich selber zugelacht hätte. Gottvoll bin ich! Nein, guter Mann, gottlos bin ich wirklich nicht!« Und von solcher Kraft war die leise lachende Stimme im Sonnenschein der stillstehenden Mittagsstunde, daß dem anderen der Zorn sank. Der Geistliche sagte, verwundert den argen Knaben betrachtend: »Sie meinen's ja vielleicht dem armen Kind ganz gut, aber es ist ihm nicht zu helfen!«

»Das Kind hat nur noch nie gespürt, sagte der Nußmensch, daß vielleicht jemand es gern haben könnte. Wenn ich noch ein paar Tage da bin, wird es gar kein armes Kind mehr sein, o nein!«

»Das Kind muß büßen, sagte der Geistliche, heftig. Das Sündenkind! Glauben Sie, für mich ist das nicht hart genug? Da hätt ich nun wenigstens ein Kind! Gottes Segen nennt man's doch! Aber mir ist es zum Fluch geworden, denn meins ist ja nur ein böses Tier, mein Kind! So hat Gott meine schändliche Lust an mir bestraft!« Der schwarze Mann stand in der Sonne, da schien er noch größer, im weißen Licht rings.

Der Nußmensch sagte: »Man muß ihr nur erzählen, da kann sie dann ganz lieb lachen.«

»Nein! schrie der heilige Mann in seinem Zorn. Fort mit Ihnen! Wollen Sie mein Kind zur Weltlust verlocken?«

»Ja!« rief der Knabe, hell. Er sprang aus dem Gras auf, nickte dem geistlichen Herrn zu und sagte vergnügt, mit seinem flimmernden Lachen: »Ja ja! Alle Menschen möcht ich zur Weltlust verlocken! Ja, Hochwürden! Das möcht ich! Denn dann wär's gut.« Er sah in sein Gesicht, das von Zorn und Wünschen und reißender Reue zerbissen war, der schnaubende Mann in seiner Qual tat ihm leid, und die liebe Stimme bat: »Wenn ich nur auch Sie verlocken könnt! Wär's denn nicht gescheiter?«

Der Mann wich, als wenn er Angst hätte, vor dem Knaben. Der ging ihm nach und sagte: »Warum wollen Sie denn nicht ruhig mit mir reden? Eigentlich bin ich sicher auch ein frommer Mensch.« Er dachte darüber nach und beteuerte: »Ich glaub ganz gewiß. Die Menschen müssen nur miteinander reden, sonst versteht einer die Methode vom anderen nicht. Möchten Sie nicht lieber ruhig mit mir reden?«

»Reden, reden, sprach der zürnende Mann, mit Reden wollt ihr die Welt heilen, in euerem Affenverstand! Wer einmal die Sünde kennt, gibt das Reden auf. Dem ist nicht mehr zu helfen!« Und er sah den Knaben höhnisch an und fragte: »Aber der junge Herr ist wohl von denen, die keine Sünde mehr kennen? Sie soll ja, hör ich, jetzt auch abgeschafft sein! Der junge Herr will mir wohl beweisen, daß es die Sünde gar nicht gibt?«

»Alles gibt's, was man glaubt; das weiß ich schon«, sagte der Nußmensch, mit seiner langsam nachziehenden Stimme.

»Glauben Sie an die Sünde?« drängte der Priester.

»An Ihre muß ich doch glauben, sagte der Nußmensch, ich seh's ja!« Er lachte leis in sich hinein und sagte vergnügt: »Das war doch dumm von mir! Nicht wahr, wenn einer was im Ohr hat und immer ein Geräusch hört und das verfolgt ihn, wie soll ich ihm denn beweisen, daß es dieses Geräusch gar nicht gibt? Das nutzt ihm ja nix, er hört's doch, und was er hört, ist eben für ihn ein Geräusch. Das kann ich doch nicht leugnen, sonst wird er höchstens sagen, daß ich schlechte Ohren hab. Und vielleicht ist es ja auch so, wie soll ich denn wissen, ob das, was er hört, nicht ein wirkliches Geräusch ist, warum soll denn einer nicht bessere Ohren haben als ich? Mir sind aber halt meine schlechten lieber, das muß ich schon sagen!« Und er lachte.

»Ja, Sie setzen noch Ihren Stolz und Hochmut darein, sagte der Geistliche, schlecht zu sein! Das ist das Zeichen der Zeit. Aber für jeden kommt ein Tag. Und dann gnade Ihnen Gott! Ich hab's am eigenen Leib erlebt!« Und ganz leise fuhr er fort, vor sich hin: »Ich hab mich auch in meinen Sünden gewälzt und war noch stolz und war noch froh, schlecht zu sein, und hab mich vermessen gegen Gott und hab auch geglaubt, ich werd stärker sein als er. Da hat er mich verflucht durch dieses Kind! Da steht sie nun, meine Sünde, vor mir und geht herum und wächst groß und ich sehe, sehe mit meinen Augen daran, wie schlecht und voll Gift mein Saft gewesen ist, meine stolze und anmaßende Lebenskraft! Das treibt mich immer wieder her, mir meine Sünde hier anzusehen, an diesem verirrten Schatten von einem Menschen, der aus mir geworden ist! Mein Kind ist es, meine Frucht! Und wie stolz war ich, in meiner Sünden Blütezeit! Aber da hat Gott meinen starren Hals gebeugt!« Er sah auf den Knaben und sagte traurig: »Schlecht ist der Mensch, von Grund aus schlecht ist jeder, aber wehe dem, der es nicht weiß und Gott zwingt, es ihm zu zeigen!«

»Sehen Sie, sagte der Knabe, mit seinem raschelnden, glitzernden Lachen, mein Gott, meiner, der würde sich nie von einem solchen Spatzen, wie der Mensch ist, zu etwas zwingen lassen, aber ganz gewiß nicht!«

»Wer bist denn du, sagte der Geistliche drohend, der mir ins Ohr zischt wie eine Schlange?« Sein narbiges Gesicht schwoll an, und er hob den Stock.

»Nein, bitte, ich will Sie gar nicht beleidigen, Sie irren sich, rief der Knabe. Und Ihren Gott auch nicht! Sie müssen mir nur erklären, wie Sie denn eigentlich auf die Idee gekommen sind, daß der Mensch schlecht ist! Wie kann man auf die Idee kommen, daß es einen schlechten Menschen gibt, da doch Gott den Menschen erschaffen hat? Da hätt er's also halt nicht ordentlich können und hat es schlecht gemacht? Meiner aber hat alles gut gemacht! Das muß man doch auch von Gott verlangen dürfen!« Und er lief dem Geistlichen nach, der sich plötzlich von ihm abgewendet hatte und heftig zum Tor des Gartens hinab schritt. Und ganz erstaunt und enttäuscht bat er ihn: »Warum wollen Sie nicht mit mir reden? Die Sache ist doch sehr wichtig! Ich kann mich ja auch irren, gerade so wie Sie, also wird es da nicht das beste sein, wenn Sie mir Ihren Gott erklären und ich Ihnen meinen, und dann vergleichen wir, welcher besser ist? Das muß doch festzustellen sein, nicht? Da handelt es sich doch um eine Wahrheit, die muß man doch herausbringen können! Und ich versteh nur nicht, daß da die Menschen immer gleich aufeinander bös werden, statt einfach miteinander zu reden, so lang bis man halt das Richtige weiß!«

Der Priester stand und sah den Knaben an, verwundert über sich selbst, warum ihn denn sein Zorn im Stich ließ, und von der Angst verwirrt, wehrlos zu werden. Dann aber, mit einem Blick auf das Haus zurück, in den Fichten dort, wo sich sein blödes Kind vor ihm verkrochen hatte, riß er sich empor und sagte: »Ich habe meinen Gott erlebt!« Dann sah er den Knaben mitleidig an und sagte noch: »Bleib du deiner Sünden froh! Solang du's kannst! Es wird schon auch über dich kommen!« Da breitete der Knabe seine Arme weit aus, zur weißen Straße hin, nach den Wiesen und Äckern im flutenden Licht, und rief: »Schaun Sie die Sonne doch an, geistlicher Herr! Überall ist unsere große Sonne! Der Prophet hat mir gesagt: Warum schaun die Menschen sich die Sonne nicht an? Da hab ich hingeschaut, und da bin ich aufgewacht.« Und eifrig fing seine kindische Stimme geschwind zu erklären an: »Sie müssen sich hinstellen und die Sonne fest anschaun, mit offenen Armen und einem ganz tiefen Atemzug, bis sie ganz von ihr gebadet sind und ihre Strahlen eingesaugt haben! Dann können Sie die Hände falten und müssen leise sagen, zwei-, dreimal, bis Sie ganz davon durchdrungen sind: O Mensch! Nichts als das müssen Sie sagen, Sie müssen es aber zugleich auch denken! Probieren Sie's nur einmal! So fängt man am besten an!« Und mit seinem schwirrenden Lachen sagte er froh: »Probieren Sie's nur einmal! Was kann's schaden? Nicht wahr, nein?«

Der Priester sagte langsam: »Du paßt zu meinem verstörten Kind! Du magst wohl auch so eine lebendig gewordene Sünde sein!« Doch er konnte nicht wehren, daß der Knabe sich an ihn hängte. Und zärtlich bat ihn der Knabe: »Und hören Sie nur auch noch an, was ich jetzt weiß! Denn jetzt weiß ich es ganz bestimmt! Es war immer schon in meinem Kopf versteckt, jetzt hab ich aber tagelang darüber nachgedacht, und hier hat es sich doch auch wieder bestätigt, an dem lieben Kind; jetzt bin ich sicher! Nämlich, denken Sie sich: Es gibt gar keinen schlechten Menschen, und dumme Menschen auch nicht, das ist nur ein Irrtum! Nein nicht, Sie dürfen nicht gleich ungeduldig werden, hören Sie doch ordentlich zu! Wenn ein Mensch etwas so Wichtiges herausgefunden hat, sollen die anderen froh sein! Hören Sie zu, dann können Sie ja sagen, was Ihnen vielleicht nicht recht zu stimmen scheint! Nämlich, es ist so, hören Sie zu: so!« Er sann nach, hob den Finger, nickte, lachte, wie jemand der ein großes Geheimnis weiß, an das niemand denkt, und sagte listig: »Es gibt keine guten oder schlechten und es gibt keine gescheiten oder dummen Menschen, sondern in allen Menschen ist derselbe Mensch drin, drin steckt in allen dasselbe, und das was drin steckt, das ist erst der Mensch, und man kann gar nicht sagen, ob es gut oder schlecht und ob es gescheit oder dumm ist, sondern alles zusammen ist es, alles zusammen ist der Mensch, wie man nicht sagen kann, daß die Natur ein Erdapfel oder ein Eidachsel ist, sondern alles zusammen ist sie, Erdapfel und Eidachsel und noch alles andere dazu! Aber, und jetzt kommt meine Entdeckung, aber der Mensch, dieser selbe Mensch, der in allen Menschen gleich ist, steckt im Menschen drin, ganz drin erst, er ist zugemacht. Wenn der Mensch auf die Welt kommt, ist er ganz zugemacht, und jetzt muß jeder erst nach und nach aufgemacht werden, das nennt man eben sein Leben, das Leben macht einen jeden langsam auf, nicht wahr? Und dadurch kommt dann erst langsam der Mensch heraus und der eine halt ein bißl früher, der andere später, der eine mehr und der andere nicht ganz. Schaun Sie sich einen Nußbaum an! Grad um die Zeit jetzt sieht man's. Also nicht wahr, da sind auch manche noch ganz zu, die festen grünen Kugeln, aber manche haben schon einen Schlitz, da sieht schon die braune Nuß durch, und andere sind aufgebrochen, die Nuß ist abgefallen. Und das ist halt der ganze Unterschied, daß bei manchen der Mensch noch ganz zugemacht ist, mancher wieder hat schon einen Schlitz, da kann man in der gespaltenen Kugel drin schon ein Stückel vom Menschen sehen, und mancher erlebt's, da springt die Kugel auf und der Mensch heraus. Und da gibt's dann ein Geschrei, als wenn's ein Wunder wär: Der schöne Mensch, der gute Mensch! Aber seids doch nicht so dumm, jeder von euch ist grad so schön und grad so gut, er steckt nur noch in der Kugel drin, er ist noch zugemacht, machts ihn nur auf! Sehns jetzt ein, Hochwürden, daß ich ganz ein guter Christ bin? Denn bestimmt hat Christus das auch gemeint! Es ist nur halt dann später wieder vergessen worden, drum müssen noch immer Propheten kommen. Denn früher geht's nicht, bis jeder weiß, daß wir dazu da sind, in jedem den Menschen aufzumachen, der in allen gleich ist. Das wird dann wohl wunderschön sein, wenn's einmal so weit ist! Aber warum hat es Christus noch immer nicht erreicht? Warum ist's noch immer nicht so weit? Wer ist schuld? Auch das weiß ich jetzt!« Er hielt den Priester an einem Knopf und drehte den Knopf. Und ganz still sagte er, so froh: »Auch das weiß ich jetzt! Bitte, denken Sie nur einmal nach! Nicht wahr, die Menschen, die noch ganz zu sind, wo noch gar nichts vom Menschen herauskann, durch keinen Schlitz der grünen Kugel, no die können doch nichts dafür, nicht wahr? Was sollen sie denn tun? Wie denn? Die anderen aber, die schon offen sind, ganz oder halb, jedenfalls so, daß man schon sieht, was drin ist, daß man schon den heiligen Menschen sieht, ja die können ja doch auch wieder nichts dafür! Am selben Baum gelingt's halt der einen Nuß schneller als der anderen; warum, weiß niemand. Und jetzt frag ich, was bilden denn die sich ein, bloß weil sie schon etwas früher offen sind? In den anderen steckt genau dieselbe Nuß drin! Es ist nicht wahr, daß irgendein Mensch besser als irgendein anderer ist! Nur: der eine hat halt einen Schlitz, da sieht man den Menschen drin schon, und der andere hat noch keinen, da sieht man nichts! Wenn man das aber erst einmal weiß, kommts schließlich ja auch gar nicht mehr so darauf an, ob man ihn sieht oder nicht, denn jetzt weiß man's ja, nicht? Also wozu denn? Das wär doch dumm, wenn ich behaupten möcht, daß, weil eine grüne Kugel noch nicht aufgeschlitzt ist, daß deshalb keine Nuß drin sein kann! Wär das nicht wirklich zu dumm? Aber Menschen gibt's, die so dumm sind, und sie prahlen noch damit und sind ganz stolz auf ihren kleinen Schlitz und bilden sich ein, die guten Menschen zu sein! Ja da hört sich doch alles auf! Hab ich nicht recht, geistlicher Herr?« Er lachte, gleich aber wurde das weiße Gesicht wieder ernst, er ließ seine glotzenden Augen hängen und nickte sich zu, dann sprach er noch: »Wer aber schlitzt die Nüsse denn auf? Ja! Noch eine Entdeckung hab ich gemacht. Wer schlitzt alles auf? Ja, wer?« Da ließ er den Knopf des Priesters los, seine Stimme sank, er hob die Hand über das Land im weißen Lichte hin. Und er zeigte hinaus, hinauf und sagte: »Die Sonne! Die liebe Sonne tut's! Unsere Sonne!« Er neigte sich, schob die Beine zusammen, einen dicht an den anderen Fuß, und so stand er, die Hände in den Hüften, wieder einem nachdenklichen und feierlichen Vogel gleich, und sagte vergnügt: »Da müßten wir halt die Menschen auch einmal ein bißl in die Sonn stellen! Ja da möchtens sehn, geistlicher Herr! Aber da fürchten Sie sich halt, daß man Ihnen dann am End gar nicht mehr braucht!« Und wie ein kleiner weißer Schmetterling glitt flirrend sein leises Lachen hin.

Da riß sich der schwarze Mann aus dem dumpfen Erstaunen und schrie: »Du frecher Bub! Willst du lästern?« Er hob den Stock auf ihn.

»O nein, geistlicher Herr! sagte der junge Mensch und sah ihn verwundert an. Da müssen Sie mich mißverstanden haben!« Traurig war seine Stimme. Und er bat: »Lassen Sie mich's doch bei dem Kind versuchen, Sie werden ja sehen! Ich tu ihr wirklich nichts. Ich stell sie bloß ein bißl in die Sonn!«

Aber der sagte kein Wort mehr und ging. Der Knabe hörte, wie er seinen Stock aufstieß, daß die Steine schrien, und sah noch die schwarze Gestalt auf dem Weg in der Sonne draußen.

Als der Kaplan nach vier Tagen wiederkam, ging er gleich ins Haus zu der betenden Frau, den Gruß des verwunderten Knaben nicht sehend, der so gern wieder mit ihm geredet und ihm alles noch einmal erklärt hätte. Aber am zehnten Tag hielt dann ein Wagen vor dem Tor, Wärter holten das Kind, es schrie, schlug und stieß, das half ihm alles nichts, und der Knabe konnte ihm auch nicht helfen, sie jagten ihn weg.

Der alte Radauner sagte: »Ich weiß nicht, was das Nusserl eigentlich hat. Seit es zurück ist, kommt's mir ganz verändert vor. Mir kann's ja recht sein, daß ich jetzt mein Essen krieg, ohne lange Red und ohne daß er mich jedesmal einen Mörder schimpft! Aber sollten wir uns so in ihm getäuscht haben, daß er am End noch ganz vernünftig wird? Das wär unheimlich! Aber, mein armer Höfelind, es is halt auf keinen Menschen mehr ein Verlaß!«

Den Fragen Höfelinds wich der Nußmensch aus. »Nein, ich war nirgends.« Er sagte das aber in einem so merkwürdigen Ton, daß es den Maler quälte. Und um ihn weiter zu locken, tat Höfelind lustig und fragte: »Wo ist nirgends? Wo ist das? Ich möcht auch einmal hin!« Der Knabe verstand nicht, daß es im Spaß gemeint war, und sagte: »Wenn ich irgendwo war, wo's nicht dafür gestanden ist, weil ich nichts davon gehabt hab und weil mir nichts davon bleibt, da sag ich halt dann, daß ich nirgends war.« Höfelind sagte, mit seinem gierigen Hohn: »Ach so, dann kenn ich diese Gegend ja; mir scheint, ich muß sogar dort geboren sein!« Es fiel ihm aber auf, daß der Knabe nicht mehr so gesprächig war, und als sie dann abends beisammen waren, Radauner an seiner Pfeife träumelnd, der Knabe mit seinen Steinen, Höfelind durch das weiße Zimmer irrend, sagte er auf einmal: »Der Prophet hat recht, die Menschen reden zu wenig miteinander!«

Der Knabe sagte traurig: »Ich hab das auch geglaubt!«

»Aber jetzt?« fragte Höfelind drängend. Der Knabe schwieg. Höfelind wiederholte: »Jetzt glaubst es nicht mehr? Warum denn nicht?«

Der Knabe sagte: »Die Steine reden gar nichts. Man kann sie fragen, was man will.«

»Willst jetzt vielleicht ein Trappist werden? fragte der Alte. Ich bin in dem Haus schon auf alles gefaßt.« Er ächzte, hustend und lachend und spuckend.

»Was is dir denn geschehen?« bat Höfelind leise.

Der Knabe sagte nichts, ging auf den Balkon hinaus und stellte sich unter die Sterne.

»Seine Verrücktheit scheint nachzulassen, sagte der Alte. Da schämt er sich und fürchtet wohl auch, du wirst ihm deine Gunst entziehen.«

Höfelind ging die sieben Bilder an der weißen Wand ab, nickte dann und sagte: »Und am Schluß sieht man, daß es erst wieder falsch ist! Denn hat man einen Menschen ganz gemalt, und alles was er ist, und das ganze Wesen davon, dann zeigt sich, daß er es dann erst wieder nicht ist! Um ihn wirklich zu treffen, müßt man nämlich auch noch hineinmalen, daß er auch das Gegenteil ist, das Gegenteil von dem was er ist! Mal aber einen Menschen und sein Gegenteil dazu!«

»Du denkst zu plastisch, sagte der Alte. Das mußt du schon den Bildhauern überlassen. Die können sich vorn und hinten zugleich vergnügen, wir müssen schon auf der einen Seiten bleiben. Aber vielleicht überschätzst du auch den Hinterteil des Menschen! Glaubst nicht?«

»Und so stellt sich heraus, sagte Höfelind, daß, wenn man endlich genau weiß, was man zu malen hätt und worauf es eigentlich ankommt, daß es dann mit dem Malen überhaupt aus is, Euer Hochwohlgeboren!«

Der Alte sagte: »Was kümmert dich denn aber, worauf es ankommt? Du Trottel! Mach halt was und frag nicht erst! Oder glaubst, wenn einer wüßt, worauf's im Leben eigentlich ankommt, der müßt sich nicht auch aufhängen? Aber man fragt halt nicht und freut sich lieber, daß man's hat, das Leben. Wozu, ist Nebensache. Ich bin und ich mal! Dagegen kannst du mir gar nichts beweisen!«

Der Knabe kam zurück und sagte, als ob er sich entschuldigen müßte: »Es kommt alles daher, daß ich immer geglaubt hab, wenn man nur so lange nachdenkt, bis man das Richtige weiß, und wenn man dann nur so lang mit den Menschen darüber redet, bis es ihnen auch klar ist, dann wär alles gut! Es muß aber da noch etwas sein, was mir bisher unbekannt geblieben ist. Irgend etwas scheint es zu geben, was manche Menschen veranlaßt, auch wenn man ihnen das Richtige ganz klar gemacht hat, so daß sie es jetzt genau wissen können, doch immer noch nichts davon wissen zu wollen. Das ließe sich doch aber nur dadurch erklären, daß vielleicht manchen Menschen das Richtige stört. Wie kann es aber dann das Richtige sein? Das Richtige kann doch einen Menschen nicht stören! Das ist es, was ich jetzt nicht weiß, und solang ich das nicht weiß, weiß ich noch immer nichts!«

»Ich weiß nur, sagte der Alte, daß mich deine richtige Nußbutter auch sehr stört.«

»Laß ihn doch!« sagte Höfelind, heftig stampfend.

Der Alte sagte, lachend: »Was willst denn? Er redet ja wieder, Gott sei Dank! Da hat's keine Gefahr mehr.«

»Ich bin aber müd! klagte der Knabe. Ich muß mich erst einmal ausschlafen.« Und er bat: »Lassen Sie mich jetzt nur! Dann werden wir schon wieder reden. Der Prophet hat ja doch recht!« Er dachte nach und sagte dann noch still vor sich hin: »Vielleicht muß man aber auch erst eine bessere Sprache noch erfinden, das kann auch sein!«

»Ja, geh hinauf und schlaf dich aus«, sagte Höfelind.

»Nicht hinauf! bat der Knabe. Ich will in den Garten hinab, ich muß die Nacht rauschen hören und spüren, wie sie mir übers Gesicht kriecht, das schläfert so schön ein! Ich muß jetzt einmal ganz tief schlafen.« Und mit einem lieben Blick auf Höfelind und seinem leise sich wiegenden Lachen sagte er noch: »Dann werden wir wieder reden!«

Höfelind sah ihm nach und sagte zum alten Radauner: »Merkst du, daß seine Stimme viel tiefer klingt auf einmal? Als ob er mutiert hätte! Etwas spät!«

Der alte Radauner sah dem Knaben nach und sagte zum Maler Höfelind: »Ich glaub, er muß irgendwo Schläg kriegt haben. Er will allen Menschen auf der Gassen Vorträg halten, das vertragt nicht ein jeder, da wird er an den Unrechten kommen sein, der wird ihn hing'legt und verwixt haben, so schaut er aus! Schläg schaden aber einem Menschen nie, gar wenn's ein unsterblicher Nußmensch is!« Und er grunzte lachend.

Aber der Alte konnte ganz zufrieden sein, weil der Nußmensch seitdem jetzt auf einmal pünktlich seine Arbeit tat, aufräumend und kochend und haushaltend. Fräulein Annalis wunderte sich sehr. »Das macht mein erzieherischer Einfluß!« sagte der Alte. Als aber der Kammersänger davon hörte, der erklärte: »Ich hab's ja immer gesagt, der Bursch ist bloß ein Poseur! Den Schlag muß man kennen!« Höfelind sagte: »Es gibt Menschen, die ein Hauch zerstören kann.« Fräulein Annalis sagte: »Wer was ist, den kann nichts zerstören.« Der Kammersänger sagte: »Und wo bleibt dann seine berühmte Unsterblichkeit? Da sieht man's! Schwindler seids, alle miteinand!« Radauner freute sich und sagte: »Das is sicher!« Aber Höfelind sagte: »Das würde noch gar nichts gegen ihn beweisen! Denn wenn er auch recht hat, wenn der Mensch wirklich den Tod überwinden kann und wenn's schon so weit wär, daß man auf der ganzen Welt nirgends mehr stirbt, wird man in Östreich immer noch sterben, denn wir kommen in allen Dingen zuletzt dran!« »Und, sagte der Kammersänger, wir müssen immer eine Extrawurst haben!« Fräulein Annalis sagte: »No also! Weils nur wieder auf Östreich schimpfen könnts!« Radauner grunzte vergnügt: »Wer lang schimpft, lebt lang! Und schauns! Wenn der Hofrat Wax einen Maikäfer sieht, is er ganz gerührt und sagt: Wo habens denn das noch als in Östreich? Wenn aber den Höfelind ein Floh beißt, ist er auf Östreich bös und sagt: Das kann einem wirklich nur in Östreich passieren! So sind wir, es tut einem die Wahl weh!« Dann fragte der Kammersänger den Höfelind plötzlich gereizt: »Sie glauben doch nicht am End wirklich, daß sich der Tod abschaffen laßt?« Und als Höfelind behauptete, man könne das nicht wissen, weil man nichts wissen könne, zankten sich die beiden bis zum frühen Morgen so, daß sie schworen, keiner jemals wieder des anderen Haus zu betreten, nie mehr, und sie blieben in der Tat noch den ganzen nächsten Tag aufeinander bös. Dann kam Fräulein Annalis herüber und sagte: »Schauns, Höfelind, Sie müssen doch der Gescheitere sein, ein Maler ist immer gescheiter als ein Sänger, das bringt schon das Geschäft mit sich, nicht? Und er hat Sie ja sehr gern, und Sie ihn doch auch! Es ging ausgezeichnet, wenn ihr nur nicht miteinander reden möchts! Das ist das Unglück! Wie ihr zwei miteinander ins Reden kommts, is der Teufel los!« Der Nußmensch, der dabei saß und es gehört hatte, nickte seiner guten Freundin Annalis zu und sagte: »Es muß eben erst eine neue Sprache erfunden werden, das ist es, Fräulein Annalis!« Er stand auf und fuhr fort: »Eine Sprache, mit der sich die Menschen aneinander reden werden, statt auseinander.« Und er ging traurig hinaus. Fräulein Annalis sagte: »Ihr habt den jungen Mann auch zu sehr verwöhnt! Ihr hörts ihm zu, weil euch das Spaß macht, was er sich so zusammendenkt! Da glaubt er's dann im Ernst und hält's für gar zu wichtig.«

»Ja, sagte Höfelind. Der Mensch darf das nicht für wichtig halten, was er sich denkt.«

»Ich denk mir auch manches, sagte Fräulein Annalis. Und es wär ja schöner, wenn's so wär, wie man sich's denkt! Aber es is halt nicht so.«

»Sie haben recht, sagte Höfelind. Man soll einen Menschen nicht so verwöhnen, daß er glaubt, das Denken hätt einen Sinn!«

Der Nußmensch ging jetzt immer, wenn er mit seiner Arbeit fertig war, gegen Abend zur Frau Zach und saß in ihrem Laden. Sie war alt und hatte Sorgen. Bis man an Öl und Schmalz, Eiern, Schnittlauch und Obst so viel verdient, um fünf Mädeln aufzufüttern, das ist schwer. Alles wird teurer, und die Leute glauben's nicht! Es heißt gleich, daß man sie betrügen will. So klagte sie jeden Tag dem Knaben vor, er hörte zu, das tat ihr gut. Wenn's dunkelte, kamen dann auch ihre Mädeln, eine war bei der Post, die zweite schneiderte, drei gingen noch in die Schul. Auch die Köchinnen aus der Nachbarschaft kamen und saßen gern ein bißchen bei der alten Frau. Alle klagten, und jede sah, daß es den anderen auch nicht besser ging; das tat ihnen gut. »Die Meinige, sagte eine, glaubt mirs nicht, daß die Gurken jetzt zehn Kreuzer kost. G'weint hats heut vor Zorn!« »Was soll ich denn aber machen?« sagte die Frau Zach, die müden Hände in ihrem Schoß. »Die Meinige, sagte wieder eine, hats wieder mit der Milch! Ich kann ja die Milch auch nöt stehln!« »Daß halt die Frauen heutzutag gar kein Einsehen haben!« sagte die Frau Zach mit ihren weißen Haaren. »Die Meinige, sagte noch eine, schimpft immer, daß ich zu viel Butter nehm! Wann ich aber weniger nimm, schimpfts wieder, weils ihr nöt schmeckt! Mit der Luft kochen is schwer!« »Die heutigen Frauen verstehn halt auch zu wenig, weils als Kinder zuviel lernen müssen«, sagte die Frau Zach und nahm ihre große Brille von den zwinkernden Augen. »Schwer is es«, sagte eine. Dann sagte jede der Reihe nach: »Schwer is es halt.« Und die Frau Zach sagte: »Seit ich mich erinner, braucht man mit jedem Jahr mehr und hat jedes Jahr weniger. Jetzt, wie lang soll denn das noch so fortgehen?« »Die Meinige, sagte eine, is gar gut! Die schreibt immer an ihre Frau Mama einen langen Brief, wieviel alles eigentlich kosten darf, denn mir traut sie nicht! Jetzt die Frau Mama, die is aber schon achtzig Jahr alt und rechent noch immer, was man damals bezahlt hat, wie sie noch jung war! Und die Meinige laßt sich dann das nöt ausreden!« »Mir wär's auch lieber, es wär noch, wie's einmal war«, sagte die Frau Zach. »Die Meinige, sagte eine, war heut ganz rabiat, weil ich g'sagt hab, ich bin manchen Tag halt auch nervös. Sie hat g'sagt, das wär jetzt das neueste, wenn jetzt eine Köchin auch schon Nerven haben möcht, das wär, als wenn eine Köchin einen seidenen Unterrock hätt. So weit darfs nicht gehn, hat sie g'sagt.« »Ihr dürfts halt auch nicht unbescheiden sein!« sagte die Frau Zach.

Da sagte der Nußmensch: »Nein, Frau Zach, unbescheiden sollens schon sein! Das is falsch, sie dürfen nicht immer nachgeben! Bequemer wär das freilich, und ich versteh ja, daß eins schließlich müd wird und lieber still is, aber Frau Zach, wenn jede so denkt, wie solls denn dann anders werden? Natürlich is das einfacher, man tut seine Sach und laßt die Herrschaft reden, was sie mag. Aber wie soll sie denn dann gebessert werden? Das dürfens nicht vergessen! Das bißl Kochen ist das Wenigste, aber eine Köchin hätt doch auch die Pflicht zu schaun, daß sie ihre Frau möglichst vorwärts bringt, nicht? Wie doch überhaupt jeder Mensch den anderen, denn manches versteht dieser, manches jener besser, so müssen sie sich halt gegenseitig aushelfen und es einander zeigen! Nicht aber, daß sich einer nicht traut, weil er glaubt, es wär vielleicht unbescheiden von ihm! Ja um Gotteswillen, Frau Zach, warum soll denn eigentlich ein Mensch überhaupt bescheiden sein? Er ist doch nicht weniger wert als ein anderer, es is einer so gut wie der andere, nur halt jeder in seiner Art!« »Sans so gut! sagte die Frau Zach, erschreckt. Wie könnens denn so was behaupten? Es muß doch ein Unterschied sein!«

Eine sagte: »Da möcht ich mich schön bedanken, wenn ich auch so wär, wie die Meinige is! So ein Luder möcht i nöt sein, da muß i schon bitten!«

»Das glaub ich halt nicht!« sagte der Nußmensch, nachdenklich.

»Was glaubens nöt?« fragte die Köchin spitz.

Leise sagte der Nußmensch: »Ich glaubs eigentlich nicht, daß sie ein Luder is.«

Da regten sich die Köchinnen sehr über ihn auf, bis eine sagte: »Was wollen denn Sie? Sie san still! Bei Ihnen is ka Frau im Haus, Sie können leicht lachen! Aber da haben Sie ja überhaupt keine Ahnung, was Dienen is! Denn wo bloß ein Herr is, das is ja kein Dienst, das is das Himmelreich! Aber wanns die Meinige kennen möchten, möchtens nicht mehr sagen, daß ein Mensch so gut wie der andere is! Wanns noch ein solches Exemplar wie die meinige gäb, schauet die Menschheit bald schön aus!«

Der Nußmensch ließ sie lachen und wiederholte dann leise: »Ich glaub's nicht, daß es schlechte Menschen gibt. Ich kann mir das halt nicht denken!«

»Merkts denn nicht, sagte die Frau Zach, er macht sich doch bloß eine Hetz mit uns! Wer wird denn so dumm sein und glauben, daß er das glaubt?«

Eine sagte, ganz erleichtert: »A so! Ein Spaß is es! Ich hab schon gar nicht mehr g'wußt, was er denn eigentlich hat!«

Wieder eine sagte: »Das wär traurig, wenn's keine schlechten Menschen gäb!«

»Warum wär denn das so traurig?« fragte der Nußmensch, bittend.

»Aber sitzts ihm doch nicht auf! sagte die Frau Zach. Der will ja nur, daß es recht durcheinander geht. Da hat er dann seine Freud!«

Eine sagte feindselig: »Da haben wir nicht viel davon! Was nutzt uns das? Aber natürlich, wenn die Herrschaft noch in Schutz g'nommen wird –!«

»Das meint er ja gar nicht, sagte die Frau Zach. Nicht wahr, das meinens doch gar nicht?«

»Ich mein nur, sagte der Nußmensch, wenn jede auf ihre Frau bös ist, das wird auch nix nutzen! Denn dadurch, daß man auf einen bös ist, wird man nur zuletzt noch selber bös! Es is mir gar nicht um die Frauen, sondern ihr selber tuts mir leid, weils dann nie besser wird! Ihr habts eine falsche Meinung von den Frauen, und die Frauen haben eine falsche Meinung von euch, jeder hat halt von einem jeden eine falsche Meinung, daher kommt alles! Keiner weiß, daß der andere grad so ein armes Hascherl is!«

»Wir haben eine falsche Meinung!« höhnten die Köchinnen.

Und eine fragte: »No und was täten denn Sie? Weils gar so g'scheit san!«

»Ich, sagte der Nußmensch, ich möcht mir halt sagen: die Frau verstehts halt nicht, aber deswegen weil jemand was nicht versteht, is er ja noch nicht schlecht, und wenn man sich über ihn ärgert, wird er nicht anders, ärgern darf man sich nicht, sondern man muß ihm helfen, indem man ihm jedesmal zeigt, daß er Unrecht hat, und wenn ers nicht glaubt, muß mans ihm so lang zeigen, bis ers glaubt, und dazu gehört vor allem, daß er merkt, man meints ihm gut. Und eine große Geduld gehört freilich auch dazu! Aber ihr dürfts ja nicht vergessen, was das heißt: dienen! Ich denk mir, daß das doch das allerschönste is, was es überhaupt für einen Menschen gibt. Denn das heißt, daß einen einer braucht, weil er noch nicht so weit ist, und daß man ihm helfen kann! Ich kenn aber nichts, was einem eine größere Freud machen könnt! Wers einmal probiert hat, kann sich gar nichts Schöneres mehr wünschen!«

Eine sagte: »Da käm ich bei der Meinigen schön an! Uijeh!«

Eine sagte: »Ich bin eine Köchin, ich bin ja keine Gouvernant!«

Eine sagte: »Das wär alls ganz schön, wann mans so hört! Aber die Meinige is ein Luder, da bin ich lieber auch ein Luder! Warum sollen denn grad wir anfangen? Sollen sie anfangen! Nachher wird man ja sehen!«

»Ja, sagte der Nußmensch, niemand will halt anfangen!«

Um neun Uhr sagten die Köchinnen immer der Frau Zach Adieu. Draußen sprachen sie dann noch über den Nußmenschen. Eine sagte: »Der is wohl komisch!« Eine sagte: »Nicht recht g'scheit is er halt! Und redt von Sachen, die er nicht versteht! Wann ein Mannsbild von der Wirtschaft reden will, das is gräßlich. Obwohl sies ganz gut meinen möchten! Aber verstehn tuns nix.« Eine sagte: »Ich hab neulich meinem Korpral von ihm erzählt, der hat aber g'sagt, wir sollen uns nur in acht nehmen, er kommt ihm verdächtig vor, man kann nie wissen, ob einer nicht von der Polizei ist. Oder wie man halt sagt: ein Spitzl. Wozu tut er denn sonst so freundlich?«

Aber der Nußmensch blieb gern noch ein bißchen bei der Frau Zach sitzen, und wenn sie dann ihre fünf Mädeln ins Bett geschickt hatte, saß er mit ihr allein. »Ich muß erst noch meinen alten Kopf etwas ausdunsten lassen, sagte sie. Und schlafen kann ich so nicht! Die ganze Nacht tu ich zusammenrechnen. Es wird halt alles immer teurer. Es is schwer!« So klagte sie jeden Tag, er war es schon gewohnt und ließ sich in seinen Gedanken nicht stören. Wenn sie schwieg, sprach dann er. Es war ihr recht, wenigstens war jemand da. So saß die alte Frau mit dem jungen Menschen, und sie hörten die zuckende Flamme. »Das Gas, sagte sie, hat einen zu starken Druck, da raunzt es dann so.« »Ja bei uns, sagte er, raunzt sogar das Gas.« Dann waren sie wieder eine Zeit still und hörten dem Gas singen zu, in dem alten Laden.

Er sagte: »Wenn nur nicht jeder auf alle bös wär! Wo man hinkommt, is es gleich. Jeder is auf alle bös! Was soll man da nur tun? Wenn der Mensch allein ist, is er gut und nimmt sich das Beste vor, wie er dann aber unter die anderen kommt, ist das alles auf einmal weg. Weil keiner dem anderen traut! Das versteh ich aber nicht! Denn erstens is es falsch: ich bin nicht besser als irgendwer, ich kanns nur vielleicht mehr zeigen als ein anderer. Wenn ich aber auch besser wär, so ist das zweitens doch noch gar kein Grund, auf einen anderen bös zu sein, bloß weil der noch nicht so weit ist wie ich, sondern dann müßt ich ihm im Gegenteil nachhelfen, bis er es auch kann. Nicht aber, daß ich deswegen noch bös auf ihn werd! Warum denn? Und wenns selbst so wär, daß sich der doch nicht mehr ändern kann und alles umsonst is, ja dann ist es ja doch auch nicht seine Schuld, sondern ich sollte dankbar sein, daß ichs besser hab, und nicht noch grob mit ihm, weil ers schlechter hat, denn das hat doch wirklich keinen Sinn! Wenn einer schlecht sieht und ein anderer sieht besser, no das ist sehr ungerecht von der Natur, und das müßten dann die Menschen auszugleichen suchen, indem sie sich mit einem solchen ganz besondere Mühe gäben, damit er auf andere Gedanken kommt und sich nicht noch in einemfort über seine schlechten Augen kränkt, dadurch werden sie nicht besser! Wenn ich was kann, was ein anderer nicht kann, hab ich eher ein schlechtes Gewissen gegen ihn und denk nach, wie ich das gut machen soll! Und grad die guten Menschen also, das heißt halt die, bei denen besser herauskommt, was der Mensch ist, müßten verpflichtet sein, für die anderen zu sorgen und ihnen alles abzunehmen und sich von ihnen alles gefallen zu lassen, das wär doch nur gerecht! Denn daß ein schlechter Mensch, also halt einer, der zu schwach ist, um herauszubringen, was in ihm steckt, daß der dafür dann noch bestraft wird, wo er so schon ein solches Unglück hat, das find ich ganz verkehrt! Es ist merkwürdig, daß die Leute darüber nicht nachdenken! Aber das, Frau Zach, daß es wirklich schlechte Menschen geben könnt, solche, die nicht bloß ein bißl verstopft sind, so daß halt nicht alles heraus kann, was heraus möcht, sondern unheilbar schlechte Menschen, das glaub ich nie, Frau Zach!«

Die Frau Zach hörte ihren Namen, da sah sie aus ihren Gedanken auf und sagte: »Mein Gott, den meisten Menschen gehts halt mit der Rechnung nicht zusamm, was kann man denn da verlangen?«

Er sagte: »Es wär doch aber wirklich traurig, wenn grad nur der Mensch hinter allem zurückbleiben möcht! Denn alles andere, was es gibt, ist ja so wunderschön! Der Mensch müßt sich doch schämen! Nein, das glaub ich nicht! Warum soll auf einmal in der Natur ein Tintenfleck sein? Der Mensch muß doch zu dem anderen passen! Nein, ich glaub ganz bestimmt, er ist ebenso wunderschön! Man muß ihn nur endlich einmal darauf aufmerksam machen! Aber die Leut hocken zu Haus und schaun sich gar nicht an, wie schön alles ist, daher kommt es!«

Die Frau Zach sagte: »Wie soll ich mir denn was anschaun? Wer möcht denn derweil im Laden sitzen? Ich kann nicht den Laden zusperren! Da könnten wir bald betteln gehn!«

Der Nußmensch sagte: »Das ist auch ein Fehler, Frau Zach! Die Menschen sollten sich nicht so fürchten, betteln zu gehn! Was macht denn das? Dabei kann sich der Mensch wenigstens umschaun! Und man glaubt nicht, wie gut einem das tut! Die meisten schaun sich nicht genug um! Da möcht ich lieber alles zusperren, wenn ich dafür nur sehen kann, wie schön es draußen ist! Sie sollten nicht so geldgierig sein, Frau Zach!«

Die Frau Zach ärgerte sich und sagte: »Redens nicht einer alten Frau so dumme Sachen vor! Jetzt wär ich noch geldgierig! Aber fünf Mädeln hab ich, die hungrig sind!«

Der Nußmensch wurde heftig: »Lassen Sies doch ein bißl hungrig sein! Das is nicht die Hauptsache!«

»Ja Sie mit Ihrer Nußbutter! sagte die Frau Zach. Fangens mir nur nicht wieder davon an und machens mir nicht noch die Leut verrückt! Ich leb davon, daß die Leut einen anständigen Hunger auf ehrliche Sachen haben!

Der Nußmensch lachte. »Nein, nein, Frau Zach! Ich sag nichts mehr, ich habs Ihnen ja versprochen. Ich seh schon ein, daß das halt hier noch nicht geht, weil es Ihnen schaden könnt! Aber dafür, Frau Zach, versprechen Sie mir eins, das müssen Sie!« Und seine großen glotzenden Augen glänzten.

»Was wird denn jetzt das wieder sein?« fragte die Frau Zach, mißtrauisch.

Der Nußmensch sah sie listig an und sagte: »Sie müssen jetzt, bevor der Winter kommt, einmal hinaus, Sie müssen sich ein Automobil nehmen und –«

»Jessas Maria!« sagte die Frau Zach, nach ihrer Brille greifend, wie um Hilfe.

»In einem Automobil is es am schönsten, sagte der Nußmensch. Also wie ich noch Chauffeur war, da hat mir nichts eine größere Freud gemacht, als wenn wir zu einem Patienten aufs Land gefahren sind. Oder zweimal in der Wochen in das Sanatorium draußen, da hat mein Herr dann den ganzen Vormittag zu tun gehabt, ich aber bin dann immer noch ein bißl weitergefahren, bis ganz in den Wald hinein, und da bin ich dann gelegen, im Automobil drin, das Dachl zu, draußen aber hat der Wald gerauscht. Das ist dann so merkwürdig, man glaubt, daß man schlaft, aber es ist nicht wahr, man hört alles und weiß viel mehr, als wenn man wach ist! Das war wohl eine schöne Zeit!«

»Warum sinds denn dann weg?« fragte die Frau Zach. »Ja, weg bin ich, sagte der Nußmensch, weil mich der Herr weggejagt hat! Nämlich seine meisten Patienten hat er in der Stadt gehabt, und da hätt ich immer vor dem Haus warten sollen, manchmal waren aber eine Menge Kinder da, die haben sich hingestellt, und ich hab ihnen alles erklärt, das hat ihnen Spaß gemacht, wenns auf einmal zu brummen und zu krachen angefangen hat, und dann wärns halt auch einmal gern in einem Automobil gefahren, um zu wissen, wie das ist, no warum denn nicht? und ich hab mir gedacht: wer weiß, wie lang der noch oben bleibt, und so sind wir lieber ein bißl spazieren gefahren, ich und die Kinder! Natürlich hat er da halt manchmal ein bißl warten müssen, und das war ihm nicht recht. Aber die Kinder waren ganz selig, die haben eigentlich viel mehr davon gehabt als er, da wär doch wirklich schad gewesen! Aber das hat er nicht einsehen wollen, mir war sehr leid. Und dann hätt ich wieder einen Herrn gekriegt, aber da hab ich mir gleich ausbedungen, daß ich manchmal auch mit den Kindern fahren kann. Das hat er nicht wollen, und da hab ich auch nicht wollen. Dann ist mirs einige Zeit recht schlecht gegangen, da bin ich dann Werkelmann geworden, das is aber auch sehr schön! Denn eigentlich is doch alles sehr schön, alles halt! Ich wenigstens muß schon sagen, ich hab noch nie etwas erlebt, was nicht eigentlich wunderschön gewesen wär!« Er sah vor sich hin und nickte. Seine Stimme klang anders, mit einem Glanz, als spräche sie tief aus dem Schlaf oder im Fieber, als sie noch sagte, ganz leise: »Eigentlich oft fast zu schön! Zu schön ist oft alles! Schöner, als es der schwache Mensch verträgt! Manchmal wird mir davon ordentlich bang, gar in der Nacht, wie's solche schwarze Nächte gibt, wo man dann glaubt, die Erde muß schon von den Wolken verschlungen worden sein und liegt am Ende schon im Magen von so einer ungeheuren schwarzen Wolken drin – so schauerlich schön ist das, daß man schreit, durch die weite Nacht, man muß schreien, um nur zu wissen, daß man wenigstens noch schreien kann! Und da hab ich schon oft das Gefühl gehabt: jetzt bin ich nur neugierig, wie lang ichs noch aushalt, obs mich nicht zerreißt, es muß mich ja zerreißen – so schön ist es oft, so stark schön! Weh tuts einem, wie schön alles ist! Und man möcht niederknien und nur bitten: Nicht mehr, hörts schon auf, es wird mir zu viel, ich kann nicht mehr, erbarmts euch doch! Und zum Beispiel wieder an solchen Tagen, wann der Westwind mit seiner Wut geritten kommt, aus dem Tiergarten herab, und die Hufe trappeln in der Luft, als ob dort –« Er hielt ein, seine Stimme fand sich erwachend auf der Erde wieder, und er sagte, mit seinem flitternden Lachen: »Ja wirklich, Frau Zach, die Luft muß makadamisiert sein, genau so klingts, wenn unser Westwind mit seinem Viererzug um die Ecken biegt; und die Bäume reißts auf die Seiten, vor Angst, weil sie schon wissen, wie verrückt er fahrt, und die vier Pappeln drüben schaun dann aus, als ob sie sich die Röck vor'm Regen übern Kopf geschlagen hätten, und da muß der Westwind lachen, dann knallt er wieder mit der großen Peitschen, und in den Bäumen schimpfts und auf den Dächern knarrts, und dann hört man wieder, wie seine Rappen ungeduldig aufschlagen, und man hört so viel, tausend Ohren wünscht man sich, Frau Zach! Wenn ich Ihnen aber erzählen möcht, was man gar erst alles hört, wenns still ist, so im Sommer in der Mittagsstund, wenn sich alles hinlegt, auf der Wiesen und im Wald, und ein bißl schlafen will, und man hört es schlafen, man hört, wie dann alles träumt, so still liegt die Wiesen und der Wald, daß man ihnen das Herz klopfen hört, das ist wohl eigentlich das Allerschönste! Das heißt, noch schöner ist vielleicht, wenn manchmal ein Tag, wie's gewisse Tage gibt, so nachdenklich dasteht, als ob er nicht wüßt, was er eigentlich mit sich anfangen soll, und als ob er sich zu nichts recht entschließen könnt, und auf einmal aber hört mans dann regnen, ganz leise zuerst tropf tropf, und jetzt weint der arme Tag, wie ein Bub, der sich zur Straf ins Winkerl stellen muß, er schämt sich und halt sich die Hand vor, und ganz still hört man halt die Tränen tropfen. Oder aber gar, wenn dann wieder so eine Zeit kommt, wo die Sonne ganz allein am Himmel steht und so stark wird, daß es scheint, als ob neben ihr überhaupt kein Platz auf der Welt mehr wär, und alles muß schweigen vor ihr, ja, das ist vielleicht noch, noch schöner, aber ich weiß es nicht, man weiß nie, was schöner ist, alles ist so schön, und dabei rennt es so schnell, daß der Mensch nicht nachkommen kann, mir wird oft angst und bang! Man müßt den Menschen erst befestigen, er hälts ja sonst nicht aus, er ist noch nicht genug trainiert. Das wärs! Das wär vielleicht das wichtigste! Denn wenn der Mensch nur erst einmal so weit sein wird, daß er alles hört und sieht, was sich da fortwährend alles begibt, da wird er dann gar nicht mehr so neugierig sein, obs ihm sein Nachbar recht macht, denn dafür hat er ja dann gar keine Zeit mehr, sondern er steht und schaut und hört nur, es ist ja doch alles so schön, daß man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll!«

»Ja, sagte die alte Frau Zach, Sie habens gut, Sie sind halt noch jung! Solang man jung ist, ist alles schön. Wenn man aber alt wird, hörts auf.«

»Oder umgekehrt, sagte der Nußmensch. Ich glaub sicher, Frau Zach, es wird umgekehrt sein. Wenns aufhört, für den Menschen schön zu sein, dann wird er alt. Dadurch wird er alt, deshalb, glaub ich. Er darf es halt nicht aufhören lassen, er darf es sich nicht nehmen lassen! Denn das hängt doch nur von ihm ab, es ist ja gar nicht wahr, daß es aufhört, sondern nur er hört auf! Die Sonne scheint noch immer, Frau Zach, und der Mond und alle Sterne, es sind nicht weniger worden seit der Zeit, wo Sie jung waren, Frau Zach, und wenn Sie jetzt auf einmal finden, daß es nicht mehr so schön ist, ja das muß dann Ihre Schuld sein, die Sterne haben sich sicher nicht verändert. Wenn man sagt, daß ein Mensch krank is oder daß er alt wird, ich glaub, Frau Zach, das heißt weiter nichts, als daß er nicht mehr daran denkt, wie schön alles ist. Vergessen hat ers, vergeßlich wird der Mensch! Und dann hat natürlich sein ganzes Leben keinen Zweck mehr, denn wozu sonst ist der Mensch denn da, als daß sich alles, was es gibt, in Spiegel schauen kann, damit es sieht, wie schön es ist! Alles was es gibt, das ist ein großes Fest, und der Mensch läutet die Glocken und blast die Trompeten dazu, so denk ich mirs! Jetzt wenn aber einer nicht mehr läutet und nicht mehr blast, ja dann kann ihn die Welt nicht mehr brauchen, da steht er ihr nur noch im Weg, und da sagt sie dann: Marsch, pack dich fort! Und das ist doch auch ganz in der Ordnung, sie hat recht! Das nennt man dann Sterben, davon kommt es her. Und ich glaub sicher, daß es gar nicht nötig wär.«

»No hörns!« sagte die Frau Zach.

»Sicher! sagte der Nußmensch. Der Mensch stirbt, wenn ihn das Leben nicht mehr freut. Und der Mensch stirbt, weil ihn das Leben nicht mehr freut. Denn da weiß er dann nicht mehr, was und wie. Er hat keine Verwendung mehr für sich. Nur so kann ich mirs erklären. Was wär denn sonst der Grund? Ich hab zum erstenmal darüber nachgedacht, wie meine Mutter gestorben ist. Unbegreiflich war mir das! Denn weil andere Menschen gestorben sind, das ist doch für mich noch kein Grund, muß man denn alles nachmachen? Und ich hab mirs halt einfach nicht denken können! Bis ich dann bemerkt hab, daß die meisten Menschen, wenn sie sterben, ja schon längst nicht mehr leben, denn es freut sie nichts mehr, sie liegen nur so herum, da nimmt der Tod halt seinen großen Besen und kehrt sie weg, er hat ganz recht. Der Tod räumt nur auf und macht Ordnung in der Welt. Aber solang er noch einen Funken von Freud in der Aschen von einem Menschen sieht, laßt er ihn, weil er sich denkt, es wär schad! Das hab ich entdeckt: keiner stirbt, so lang noch schad um ihn ist, merken Sie sich das, Frau Zach! Wenn sich das die Menschen einmal gemerkt haben werden, dann kann sich der Tod pensionieren lassen, denn dann braucht man ihn nicht mehr! Jetzt braucht man ihn, für die Menschen, die keine Freud mehr haben, denn die machen alles trüb, und so wärs ohne den Tod zu traurig auf der Welt. Aber dann, wenn die Menschen einmal gelernt haben werden, daß weiter nichts dazu gehört, als eine Freud zu haben, dann hat er nichts mehr hier zu tun. Denkens nur einmal darüber ein bißl nach, Frau Zach!«

»Sie könnten einen ganz verdraht machen! sagte die Frau Zach. Aber nehmens Ihnen nur in acht! Mir is erzählt worden, der Herr Pfarrer hat erfahren, was Sie den Leuten vorreden, es hat ihn nämlich wer gefragt, ob es richtig is, daß jetzt etwas erfunden worden sein soll, wo man nicht mehr zu sterben braucht, und da hat der Herr Pfarrer gesagt, er wird solche gotteslästerliche Reden nicht dulden. Es kann sich jeder denken, was er will, aber das nicht, das leidt er nicht, das wär gegen die Kirche. Also damit gebens acht! Dem Herrn Doktor wird das auch nicht recht sein und dem Apotheker auch nicht, wenn die Leut glauben, es genügt, wanns nur vergnügt und munter sind. Gebens acht, da haben Sie zu viele gegen sich!«

»Der Pfarrer? sagte der Nußmensch. Warum denn? Das kann doch nicht gegen die Kirche sein! Sie meint doch auch, daß der Mensch unsterblich ist. Nur daß sie ihn halt zuerst für einige Zeit begraben läßt und ihn erst später wieder aus dem Grab holt. Aber auf diesen Umweg kommts doch nicht an, der machts doch nicht aus! Sie soll froh sein, wenn man jetzt gefunden hat, daß es noch viel einfacher geht und der Mensch gleich direkt unsterblich wird!«

»Und, sagte die Frau Zach, das sagt sich auch so leicht! Das mit dem vergnügt und munter sein! Ich glaubs schon, aber wie denn? Das kann nur einer sagen, der halt jung ist und keine Sorgen hat und noch nicht weiß, wie schwer es heutzutag ist. Ich hab meine fünf Mädln, lieber Herr, und die wollen essen und brauchen Kleider und einen Mann sollens auch einmal kriegen. Da möcht ich wissen, wie mans anstellen soll, daß man vergnügt und munter bleibt! Da muß man schon froh sein, wenn nur wieder ein Tag schlecht und recht vorüber ist, mein Gott!«

»Weil Sie nie hinausgehn, Frau Zach! sagte der Nußmensch. Probieren Sies doch einmal und gehns hinaus und legen Sie sich nackt ins Gras. Am besten in der Nacht! In einer halben Stund sind die Sorgen weg, und es ist Ihnen ganz gleich, ob Ihre Mädln etwas zum Essen und zum Anziehn haben! Denn Sorgen kommen daher, daß man an etwas denkt, was gar nicht wichtig is, statt an das, was wichtig is. Solche Gedanken müssen aber abgesetzt und dem Menschen ausgetrieben werden!«

»Sie haben schon manchmal Ideen! sagte die Frau Zach, entsetzt. Da müßt eins doch schon ganz ausgeschamt sein, daß es sich nackt ins Gras legt! Nein, auf was für Sachen jetzt mancher Mensch kommt! Und das bitt ich mir aus, daß's mir nicht vor meine Mädln so was sagen! Die Karolin is ohnedies schon so gewiß modern, hätts nicht heuer im Sommer auf einmal ohne Nachthemd schlafen wollen? Aber da kenn ich kein Spaß, das sag ich Ihnen gleich!«

»Nein nein, Frau Zach, sagte der Nußmensch, gehorsam. Das bleibt doch alles unter uns, was wir da reden, natürlich! Denn die Mädln könntens falsch verstehn, das seh ich schon ein.«

»Und wozu? sagte die Frau Zach. Das sind so lauter Ideen von Ihnen, aber man hat nichts davon. Was nutzt das? Ich verlang mirs doch gar nicht, daß ich am Leben bleib! Nur ein bißl leichter möcht ichs halt haben. Erfindens lieber da was! Erfindens was dagegen, daß alle Tag alles teurer wird! Dann brauchens keinem Menschen mehr zuzureden, daß er vergnügt und munter sein soll. Erfindens was, daß nicht alle Tag alles teurer wird! Das andere werden sich die Menschen dann schon ganz von selber einrichten, da brauchens keine Wiesen und kein Wald. Alles andere aber nutzt nix, solang halt alle Tag alles teurer wird!« Und sie stand auf, um abzulöschen. »No gute Nacht! Heut kommt doch niemand mehr! Schad um das teure Gas!«

»Gute Nacht, Frau Zach!« sagte der Nußmensch. Und dann ging er immer langsam wieder heim, durch die dunkle hohle Gasse, zum grünen Haus auf dem Hügel. Die Hunde schlugen in den Gärten an, er war aber mit jedem gut bekannt und jeder ging wedelnd mit ihm, hinterm Zaun, bis ans Ende seines Gartens; da wartete wedelnd schon der nächste.

Ganz langsam ging er, einem gleich, der schwer zu tragen hat, und hielt immer nach ein paar Schritten wieder an, den langen Kopf vorgehängt, die Hände in den Hüften. So stand er lange, bis er sich endlich doch wieder entschloß, die Hände senkend, allmählich wieder in Bewegung zu geraten und behutsam aufwärts zu schwanken. Da schoß ihm einer entgegen, der, von der Villa Fiechl her, mit langen Beinen durchs Dunkel sprang; eilig hatte der's! Im ungewissen Licht zwischen den Hecken an jedem Rand des engen Wegs konnte der Nußmensch nur eine große Nase sehen, die, noch eiliger, dem fliegenden Schatten vorauszulaufen schien; und schon wars vorbeigesaust. Der Nußmensch wendete sich um, da hatte plötzlich die Gestalt gebremst und wendete sich auch. So standen die beiden jetzt gegeneinander und spähten ins Dunkel. Der Nußmensch wartete, der Schatten kam zurück, der Nußmensch trat auf ihn zu, sie maßen sich, der Schatten sagte: »Bitte sind Sie nicht der Nußmensch? Ich hab schon so viel von Ihnen gehört!«

Da sagte der Nußmensch: »Dann sind Sie ja der Prinztenor! Ich hab auch schon von Ihnen gehört!«

»So ein Zufall! sagte der Prinz. Welches Glück! Ich geh mit Ihnen!«

»Ist es Ihnen recht, fragte der Nußmensch, wenn wir hinten um den Weinberg zum Tiergarten gehen, bis zur Mauer? Da weiß ich ein wunderschönes Platzel, ganz hoch oben, dort glaubt man wirklich, man ist schon im Himmel, so tief unter sich hat man dort alles! Ist es Ihnen recht?«

»Mir ist alles recht, sagte die gierige Knabenstimme, wenn ich mich nur endlich Ihnen anschließen kann! Hat Ihnen die Fräuln Annalis denn nicht erzählt, wie sehr ich mir das immer schon gewünscht hab? Ich weiß nicht, was sie dagegen hat!«

Der Nußmensch lachte. »Ja sie sagt, das ging Ihnen gerad noch ab! Weil sie mich nämlich für verrückt hält. Und Sie, sagt sie, brauchen aber dazu gar nicht erst mich mehr!«

Der Prinz sagte: »Sie meint es gut, aber sie versteht nicht, daß ich –«

»Still! bat der Nußmensch. Wenn uns der Weinhüter hört, gehts uns schlecht. Er will mich immer arretieren lassen. Ihnen wär das aber vielleicht unangenehm.«

Er nahm die schlaffe Hand des Prinzen und half ihm durch die Hecke. Sie schlichen hinter der Hütte des Hüters herum hinauf. Die Nacht war finster, der Prinz tappte, die großen glotzenden Augen des Knaben aber waren die finstere Nacht gewohnt und sahen durch. So zog er ihn, oft mußten sie kriechen, dornig verwachsenes Gestrüpp war da. Sie kamen höher, schon hörten sie das Rauschen im Dickicht hinter der Mauer, nun stiegen sie noch, naß war der schmale Pfad am steilen Hang, gleitend bückten sie sich vor, bis sie den einsamen Baum erreichten. Schwarz lag unter ihnen da die Welt. Keinen Stern ließen die Wolken durch. Ein einziges ungeheures Schwarz war unter ihnen und um sie. Darin schlief die Welt, eingewickelt in das schwarze Tuch, und von ihrem Atem im tiefen Schlaf wurde leise das schwarze Tuch bewegt, sich hebend und wieder senkend.

»Das ist das Platzerl, sagte der Nußmensch, da ist man mit dem lieben Gott ganz allein.«

Sie setzten sich. Der Nußmensch fragte: »Werden denn Sie sich aber nicht verkühlen?«

»Endlich! sagte der Prinz. Endlich hab ich Sie! Und jetzt müssen Sie mir alles sagen!«

»Schaun Sie! sagte der Nußmensch, ins Dunkel schauend. Schaun Sie doch, wie schön!« Beide Hände hielt er über die schwarze Nacht hin.

»Mir fehlt ein Mensch! sagte der Prinz. Mir hat immer ein Mensch gefehlt! Soviel hab ich schon versucht, und doch alles nur, um mir einen Menschen zu finden! Stoßen Sie mich nicht auch wieder weg! Helfen Sie mir! Das könnte so wunderschön sein!«

»Ja, sagte der Nußmensch. Es ist schön, einem zu helfen.«

»Wir sind beide jung! sagte der Prinz. Und wenn wir nun den Mut hätten, das Äußerste zu wagen, Sie, der schlichte Mann aus dem Volk, Hand in Hand mit mir, dem Abkommen des ältesten Geschlechts, wer soll uns widerstehen?«

Raschelnd flog das flatternde Lachen des Knaben auf. »Ich bin auch ein Abkomme, sagte er, listig. Wir sind am End verwandt!«

»Unsere Seelen sind verwandt, gewiß!« beteuerte der Prinz.

»Das kann man nicht wissen, sagte der Knabe. Meine Mutter aber hat mir einmal erzählt, daß mein Vater immer behauptet hat, ein Sohn des Kaisers Max zu sein. Da wär ich dann sein Enkel!« Und er lachte.

»Ist das sicher?« fragte der Prinz, kleinlaut und als ob es ihm gerade nicht angenehm wäre.

»Sicher ist, sagte der Nußmensch, vergnügt, daß der Vater immer gelogen hat, soviel ich von meiner Mutter weiß. Nein, ich mach keinen Anspruch darauf. Am End müßt ich dann auch noch singen lernen, beim Herrn Kammersänger! Nein, ich wünsch mirs nicht. Mehr, als ich so hab, könnt ich dann auch nicht haben.«

»Nein, wünschen Sie sichs nicht, sagte der Prinz, traurig. Sie sind zu beneiden! Zu beneiden ist, wer alles abgeschüttelt hat und endlich ein Mensch sein darf! Ich habs versucht, mein ganzes Leben ist ja nichts als ein einziger Versuch, alles abzuschütteln, um ein Mensch zu sein, nichts als ein Mensch! Helfen Sie mir!« Und die Knabenstimme wiederholte, bittend: »Helfen Sie mir!«

»Was brauchen Sie denn noch dazu?« fragte der Nußmensch, in seinem stillen Ernst.

Der Prinz schob den dünnen Hals vor, dachte nach und sagte feierlich: »Man muß der alten Menschheit den Handschuh hinwerfen, die Zeit ist reif, überall ringt in den Menschen die Sehnsucht, aber die Menschen sind getrennt, keiner kann zum anderen kommen, es gilt, ihre Sehnsucht zu verbinden! Wenn wir uns die Hände reichen, und Sie zeigen mir den Weg ins Volk, ist die Revolution da! Sie wartet nur auf ein Zeichen.«

»Welche Revolution?« fragte der Nußmensch, aufmerksam.

»Die Revolution halt!« sagte der Prinz, verwundert.

»Es waren ja schon einige«, sagte der Nußmensch, nachdenklich.

»Und diese wird die letzte sein! sagte der Prinz, in seinem artigen, schüchtern zuversichtlichen Ton. Denn jetzt sind wir so weit, daß endlich die neue Menschheit entstehen kann!«

»Was haben Sie gegen die alte?« fragte der Nußmensch.

Erschreckt suchte der Prinz die Augen des Knaben. Die glotzten ihn an, still und gut wie Tieraugen. Der Prinz klagte: »Sie spotten über mich, auch Sie! Niemand glaubt mir!«

Der Nußmensch schwieg. Dann sagte der Prinz: »Sie sind doch einer! Die Fräuln Annalis hat mir so viel von Ihnen erzählen müssen, daher weiß ichs. Sie sind ein neuer Mensch! Und auch ich bin einer, ich bemühe mich auch! Und so gibts viele schon, überall! Überall warten Menschen und sehnen sich, die neuen Menschen zu sein.«

Der Knabe sagte lächelnd: »Früher hats mir besser gefallen!« Er nickte dem Prinzen zu. »Wie Sie früher sagten, ein Mensch möchten Sie sein. Das war mir ganz genug! Warum neu? Wir leben unter der alten Sonne, der selbe Wind blast uns aus seinen alten Lungen an, der dem Odysseus sein Schifferl zerbrochen hat, und die lieben Sterne werden auch noch die alten sein, alles hat sich so gut erhalten, warum solls denn nur grad mit dem Menschen nicht mehr gehen? Nein, ich glaub, der Mensch wär noch ganz gut, so wie er immer war! Die meisten wissen nur gar nicht, wie der Mensch ist. Man muß sie daran erinnern. Das wärs!«

»Wir meinen ja genau dasselbe! rief der Prinz, ungeduldig. Auf die Worte kommts doch nicht an! Nennen Sies, wie Sie wollen! Aber die alten Mächte müssen zerbrochen, die Kerker gesprengt werden, die Ketten müssen fallen, damit die Menschheit endlich aufatmen und zu sich kommen kann! Das meinen wir doch! Wozu sonst predigen Sie den Menschen von den Nüssen? Das ist auch ein Umsturz! Von allen Seiten muß die Menschheit angebohrt werden! Meinen Sies denn nicht so? So hab ich mir das von Ihnen ausgelegt, das mit den Nüssen!«

»Nüsse sind verdaulicher, sagte der Knabe. Und die Verdauung ist sicher sehr wichtig. Auch sind Nüsse weniger empfindlich, glaub ich, wenn sie gegessen werden. Es tut ihnen nicht so weh wie dem Rind oder der Gans. Der Mensch will aber nicht weh tun, ursprünglich hat er das gewiß nicht wollen, er hat es sich erst später angewöhnt, und jeder ist erleichtert, wenn er sichs wieder abgewöhnt. Eigentlich muß man dem Menschen nur seine schlechten Gewohnheiten wieder abgewöhnen, weiter gar nichts, glaub ich. Die kommen aber bloß daher, daß einer dem anderen alles nachmacht. Der Vater raucht, da raucht der Bub auch, es schmeckt ihm gar nicht. Tät nur jeder Mensch nichts, was ihm nicht schmeckt! Die meisten aber wissen ja gar nicht mehr, was ihnen schmeckt. Man muß mit ihnen reden, dann denken sie nach, da finden sies schon. Und gut wärs halt auch, wenn sie besser mit den Tieren bekannt würden, weil die genau wissen, was ihnen schmeckt, von ihnen kann mans lernen.«

»Das alles wird aber doch erst möglich sein, sagte der Prinz, bis einmal die alten Mächte zerbrochen sind, die die Menschheit knechten!«

»Wozu denn erst die Mächte zerbrechen, fragte der Nußmensch, wenn der Mensch ohnedies stärker ist als sie? Wenn der Mensch aber nicht stärker ist als sie, wie kann er sie dann zerbrechen? Es ist entweder unmöglich oder unnötig, meinen Sie nicht?«

»Das alles, was Sie wollen, wiederholte der Prinz, kann nicht geschehen, solange die Menschen geknechtet sind.«

»Nein«, sagte der Nußmensch.

»Also daraus folgt doch dann, sagte der Prinz, daß zuerst die Knechtschaft ein Ende haben muß.«

»Ja«, sagte der Nußmensch.

»Und weiter will ich ja doch nichts, sagte der Prinz, froh. Diese Botschaft will ich den geknechteten Menschen bringen!«

»Den geknechteten? fragte der Nußmensch, lächelnd.

»Wem sonst?« fragte der Prinz, verwundert.

»Den geknechteten? wiederholte der Nußmensch. Wozu? Glaubens, die wissen das noch nicht? Die Knechte wüßten das schon lang! Ich möchte das lieber den Herren sagen, statt den Knechten. Denn einfacher wärs, wenn sich die Herrn entschließen könnten, daß die Knechtschaft ein Ende hat. Die hättens ganz leicht, nicht?« Und er sagte, vergnügt über das kindisch erstaunte Gesicht des Prinzen: »Mir scheint, daran haben Sie noch gar nicht gedacht?«

Der Prinz faßte sich und sagte höhnisch: »O Sie kennen die Mächtigen nicht, die Herren! Diese Gesellschaft muß man nur kennen! Da wär schad um jedes Wort! Von denen dürfen Sie nichts hoffen! Da gibts keinen, der einer menschlichen Empfindung fähig wäre!«

»Ich kann mir doch kaum denken, sagte der Nußmensch, daß irgendein Mensch keiner menschlichen Empfindung fähig wäre.«

»Die nicht! rief der Prinz. Die nicht!« Er sprang auf und watete durch das nasse Gras, mit seinen knickenden Beinen.

»Wie bei den Köchinnen und ihren Frauen ist das, sagte der Nußmensch. Überall ist das so! Kein Mensch will einem glauben, daß der andere vielleicht auch ein Mensch ist.«

»Die kennen Sie nicht, die muß man kennen!« wiederholte der Prinz.

»Ich kenne ja Sie jetzt!« sagte der Nußmensch.

Der Prinz verstand ihn nicht und fragte: »Wieso? Gewiß kennen wir uns jetzt, und ich hoffe, Sie sollen mich immer besser kennen lernen. Aber was hat das damit zu tun?«

»Sie sind doch auch ein hoher und mächtiger Herr« sagte der Nußmensch, langsam.

Der Prinz genierte sich, im Grase watend. Dann sagte er: »Mit mir können Sie die nicht vergleichen! Ich habe mich durchgerungen.«

»Vielleicht ringt sich noch einer durch mit der Zeit, sagte der Nußmensch, und wieder einer und noch einer! Wer weiß?«

»Nein, nein!« schrie der Prinz, erbittert.

»Ich an Ihrer Stelle, sagte der Nußmensch, langsam, würde das aufgeben, ins Volk zu gehen.«

Der Prinz riß seine hilflosen fragenden Augen auf und schrie: »Warum?«

»Weil das Volk Sie gar nicht brauchen kann«, sagte der Nußmensch.

Der Prinz stand vorgebeugt, mit seinem dünnen Hals und der eingesunkenen Brust, und ließ die schmalen Schultern hängen. Die leeren Lippen in seinem gelblichen Gesicht einer kränkelnden Frau zuckten, und er rieb den Bug seiner heftigen Nase.

»Was soll denn das Volk mit Ihnen anfangen?« sagte der Nußmensch. Und er wiederholte das Wort und schien es mit seiner lieben Stimme zu streicheln: »Das Volk! Das arme Volk!« Dann ließ er sein Lachen fliegen und sagte: »Was wollen Sie dem Volk denn sagen? Glauben Sie denn, daß das Volk das nicht schon alles weiß? Und wissen Sie, was das Volk sich denken wird?«

Der Prinz zog sein zuckendes Gesicht zusammen und horchte.

Der Nußmensch nickte. »Das Volk wird sich denken, warum kommt er denn zu uns? Was will er denn von uns? Warum sagt er denn das alles uns, die wirs schon wissen? Warum sagt ers denn nicht lieber zu Haus? Warum sagt ers nicht denen, die nichts von uns wissen wollen? Warum sagt ers nicht dort, bei den Kanonen oben? Die könntens brauchen! Warum geht er weg von ihnen und kommt zu uns? Wir brauchen ihn nicht.« Und der Nußmensch nickte wieder, leise lachend. »Aber so ist es! Es ging so leicht, wenn jeder sich mit seinem Nachbarn besprechen möcht, über das, wie's richtig wäre! Was sich jeder denkt, soll er dem neben ihm sagen, und der sagts weiter, dann erfahrens alle, und die Welt wär erlöst, lieber Herr, Erlöser brauchen wir gar keine.«

Der Prinz ging immerfort um den großen Baum im Kreis herum. Endlich sagte er: »Auch Sie glauben mir nicht! Bei wem ich anklopfen mag, nirgends wird mir aufgetan! Niemand versteht, was ich will! Und doch weiß ich, daß ich recht hab! Ich kanns nur offenbar nicht klar genug sagen! Darum verdächtigt man mich und traut mir nicht!«

Der Nußmensch sagte: »Ich kann mir schon denken, was Sie wollen. Aus der Haut fahren möchten Sie. Ja das möcht mancher! Aber warum denn? Wozu denn? Jeder glaubt, daß ihm in einer neuen Haut vielleicht besser wär, und immer wird die Menschheit deshalb wieder in einen neuen Schlauch gesteckt. Es is aber ja nicht wahr, die Haut ist nicht schuld, und der Schlauch tuts nicht! Und es ist ein Irrtum, wenn Sie glauben, Sie brauchten nur kein Prinz mehr zu sein, um was Besseres zu sein! Nein, der Mensch kann sich nicht entkommen! Wenn ich morgen zum Grafen ernannt werde, bin ich dann einer? Bin ich dann auf einmal was anderes als jetzt? Ich bleib schon, was ich bin. Und Sie möchten durchaus in den Menschenstand erhoben werden, es nutzt Ihnen aber alles nichts, Sie bleiben doch ein Prinz!«

»Alle sind unerbittlich mit mir!« klagte der Prinz, immer noch im Gras rund um den großen Baum watend.

»In allen Häuten, in allen Schläuchen ists doch immer genau derselbe Mensch, sagte der Nußmensch. Auf die Verpackung kommt wirklich nicht so viel an.«

Die Stimme des Prinzen fuhr plötzlich auf: »Sie werden noch behaupten, daß ich auch nicht besser als meine Herrn Vettern bin? Das hab ich noch am Ende davon! Ist's nicht so? Nur heraus damit! Bitte, genieren Sie sich nicht!« Er schrie, mit heftigen und herrischen Gebärden.

»Ich kann mir nicht denken, sagte der Nußmensch in seinem stillen Ernst, daß irgendein Mensch besser als irgend ein anderer sein soll.«

»Und alles Ringen und Streben der Menschen? fragte der Prinz, höhnisch. Was arbeitet man dann an sich? Wozu schämt man sich, wozu Reue, wozu die guten Vorsätze, die Nachfolge schöner Beispiele, Begeisterung an großen Taten edler Männer? Man wäre doch ein Narr! Und alle diese Worte, gut und edel und groß, alles was uns stärkt und tröstet und erhebt, hätten ja dann keinen Sinn mehr! Nehmen Sie das auch noch dem Menschen, daß er wenigstens von einem Tag zum anderen hoffen kann, besser zu werden, was bleibt ihm denn? Das ist noch das einzige, was uns aufrecht hält! Aber sagen Sie den Menschen noch, daß es keinem möglich ist, besser zu werden! Meine Herrn Vettern glauben Ihnen das aufs Wort! Wozu dann alles? Was sollen wir denn überhaupt noch, wenn so schon jeder Mensch gut ist?« Des Prinzen schreiende Stimme stieß durch das unbewegliche Dunkel der stillen Nacht, wie ein ängstlicher Vogel im Käfig.

»Zeigen sollen wirs lernen, sagte der Nußmensch. Drinnen ist jeder Mensch gut, einer wie der andere. Die meisten können es nur noch nicht so zeigen. Die meisten lassen höchstens nur ein ganz kleines Stückerl von ihrem Menschen manchmal heraus. Und dann sind sie beleidigt, wenn man ihn nicht gleich bemerkt, und das macht sie verstockt, da ziehen sie sich wieder zusammen und rollen sich ein, wie ein Igel. Ich hab entdeckt, daß alle Menschen gut sind, ganz gleich gut, und jetzt muß man nur noch ein Mittel entdecken, das allen hilft, es auch zu zeigen. Daß das so ist, davon wird mich nichts und niemand abbringen.« Er schwieg, erinnerte sich lächelnd und sagte noch: »Man hat schon manche Mühe, bis man es glauben kann. Aber weiß man es nur erst, dann findet man sogar ein großes Vergnügen daran, zuzusehen, auf wie verschiedene Arten die Menschen es verstecken, daß sie gut sind, und nur ja davon nichts merken lassen wollen. Ganz lustig ist das eigentlich, und mir machts den größten Spaß, jeden an dem kleinwinzigsten Stückerl zu packen, das er von sich zeigt, von dem heimlichen Menschen in ihm; bis ganz in den Keller hinab muß man bei den meisten steigen. Als ob sie Angst hätten, daß man ihnen stehlen könnte, was sie sind!« Er lachte. Dann sah er den Prinzen an, der, mit den hängenden Schultern und der eingesunkenen Brust, noch immer um den großen Baum ging, immer rund im Kreis herum, wie ein Pferd, das an einem Brunnen pumpt, und sagte listig: »Sie werd ich schon auch noch erwischen!«

»Ich wills ja zeigen, das wärs doch grad, was ich will!« klagte der Prinz und ging noch einmal um den großen Baum herum. Dann trat er aus dem Kreis und kam auf den Nußmenschen zu. »Helfen Sie mir doch!« bat er ihn.

»Ich blieb an Ihrer Stelle schön ein braver Prinz, tät meine Sachen ordentlich und möchte nur jedem zeigen, sagte der Nußmensch, jedem, mit dem ich zu tun hätt, und bei allem, was ich zu tun hätt, möcht ich zeigen, daß ich mich immer daran erinner und ganz genau weiß: alle Menschen sind das selbe! Es wär ganz gut, wenn einmal auch bei den Kanonen jemand sitzen möcht, der das weiß und zeigt, daß er's weiß!« Er nickte dem Prinzen zu, lächelnd, und sagte, lustig: »Aber das wär halt weniger interessant für Sie!«

Der Prinz kam an den Knaben heran und fragte verwundert: »Meinen Sie vielleicht, daß ich eitel bin?«

»Könnt schon sein«, sagte der Nußmensch.

Der Prinz erforschte sich und sagte dann: »Ich bin nur relativ eitel. Nämlich in bezug auf meine Herrn Vettern. Wenn ich mich mit denen vergleiche, dann schon. Denn da hab ich wirklich allen Grund dazu. Das nennt man dann aber doch nicht eitel.«

»Jeder glaubt halt, sagte der Nußmensch, daß er um so besser ist, je schlechter er den andern macht. Das gehört auch zu den schlechten Gewohnheiten, die man den Menschen abgewöhnen muß.«

Der unruhige Prinz dachte noch immer nach. »Nein! sagte er dann. Sie kennen uns nicht! Das heißt, ich meine nämlich, Sie kennen meine Herrn Vettern nicht! Wenn ich mit Leuten aus dem Volk verkehre, spür ich doch, daß man da viel menschlicher ist.«

»Mit Kammersängern meinen Sie?« sagte der Nußmensch.

»Ja, sagte der Prinz, kleinlaut. Zu anderen kommt man ja so schwer.«

»Der Unterschied mag sein, sagte der Nußmensch, daß man vielleicht bei Ihnen oben noch vorsichtiger ist als unten bei uns. Jeder hat Angst, nur ja nicht zu verraten, daß er auch ein Mensch ist, und bei Ihnen oben ist man halt darin vielleicht noch geschickter als wir, dort gelingts besser. Drum sag ich ja, wir brauchen Sie gar nicht, bleiben Sie doch oben und kratzen Sie lieber an Ihren Herrn Vettern, bis bei denen unter dem Lack wieder der alte Mensch herauskommt! Jeder soll sich halt zu seinem Nachbarn setzen und mit ihm lieb sein, und der wieder mit dem nächsten, bis es von einem zum andern so durch die ganze Welt geht. Wer einmal einen gern gehabt hat, so gern, daß dieser ihn hineinschaun laßt, der hat dann alle gern. Und nur reden muß man halt mit den Menschen, die Menschen müssen erst einmal miteinander reden, redens doch mit Ihren Herrn Vettern!«

Nach einer Weile sagte der Prinz, enttäuscht: »Das scheint mir ein gefährlicher Quietismus, der schließlich zu nichts führen wird. Man läßt die Hände sinken und den lieben Gott walten. Darauf kommts hinaus.«

»Jeder versuchts halt in seiner Art«, sagte der Nußmensch.

»Was uns not tät, sagte der Prinz, wär ein großes Beispiel! Eine Tat müßt einer wagen!«

»Welche?« fragte der Knabe.

»Ja das weiß ich eben nicht«, sagte der Prinz. Er setzte sich wieder ins Gras und sagte traurig: »Ich wäre bereit, alles zu wagen. Aber immer fehlt mir die Gelegenheit.«

Sie schwiegen und alles in der schwarzen Nacht rings schwieg.

Der Nußmensch sah in die schwarze Nacht hinein und sagte leise: »Freun Sie sich!«

Der Prinz fuhr aus seinen ratlosen Gedanken auf und fragte gespannt: »Auf was?«

»Über das!« sagte der Nußmensch und zeigte still in die schwarze Nacht hinein.

Der Prinz antwortete nicht. Der Nußmensch sagte, traurig: »Wer da noch erst einen besseren Grund braucht, um sich zu freuen, dem wird schwer zu helfen sein.«

»Müssen wir nicht jetzt gehn?« fragte der Prinz auf einmal. Ihm war kalt.

»O nein, sagte der Nußmensch. Es kommt erst.«

Der Prinz schlug den Rockkragen auf. Er sagte, schüchtern: »Und ich werd zu Haus Unannehmlichkeiten haben.«

Der Nußmensch achtete nicht auf ihn und sah nur immer in die schwarze Nacht hinein, in Erwartung. »Denn dann kommt das Wunder, sagte er. Nichts ist da, nichts als dieses Schwarz, das so schwarz ist, daß man glaubt, es kann sonst nichts mehr geben, nie mehr. Aber plötzlich werden Sie sehen, plötzlich kriegt die Nacht gelbe Flecken vor Neid und wird auf einmal rot vor Zorn, denn sie spürt, daß die Sonne kommt. Die Sonne kommt und alles ist wieder da. Nur Geduld! Die Sonne müssen wir erwarten!« Und sein liebes Lachen huschte gelind durch die Nacht. »Wenn Sie einen Schnupfen kriegen, das macht ja weiter nichts.«

So saßen die zwei jungen Menschen im Gras unter dem großen einsamen Baum, von der Nacht umschlungen, und erwarteten die Sonne.


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