Hermann Bahr
O Mensch!
Hermann Bahr

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Drittes Kapitel

Das Fest der Weinlese mit Andacht zu begehen, sagte der Kammersänger Ignaz Fiechl in der Kegelbahn zu seinen Getreuen, ist ein guter alter deutscher Brauch, den wir in Ehren halten wollen!«

»Heil!« schrie der Student Franz Josef Kikinger und blickte trotzig um sich.

Und alle die jungen Kehlen schrien: »Heil!«

»Ich danke Ihnen, meine jungen Freunde, sagte der Kammersänger, mit der stillen großen Gebärde seines Königs Heinrich Ruhe heischend. Solange wir noch hier auf der Wacht stehen, soll deutsche Art in diesem Land unvergessen bleiben!«

»Das walte Gott!« sagte der Student Franz Josef Kikinger, der einen noch größeren Mund hatte als der Kammersänger.

Sie sangen die erste Strophe der Wacht am Rhein ab.

»Aber Kinder, fuhr der Kammersänger fort, den Wein von meinem Weinberg kann man halt nicht trinken. Und noch dazu is heuer überhaupt fast keiner. Weiß der Teufel! Das heißt, da brauche ich den Teufel gar nicht, ich weiß es auch! Wie soll denn hier ein deutscher Wein noch wachsen? Die ganze Gegend ist halt schon vertschecht, verjudet und versaut!«

»Vertschecht, verjudet und versaut!« jauchzten die hellen Stimmen.

»Dafür hab ich ein Faßl Bier kommen lassen, sagte der Kammersänger, das Bier ist auch ein edles deutsches Gewächs, und so wollen wir die Weinlese mit einem wackeren Preiskegeln feiern! Ein echter deutscher Mann fragt da nicht so genau, der nimmt alles symbolisch!«

»Heil!« schrie der Student Franz Josef Kikinger, das Faß anzapfend.

»Die Tenöre, sagte der Kammersänger zu den Getreuen, können saufen, soviel sie wollen! Aber die Bässe sollen sich mäßigen, weil die Erfahrung lehrt, daß der Bassist leicht vom Saufen Gehirnerweichung kriegt. Da haben's die Tenöre besser, da merkt man nix, die sind schon blöd.«

Die jungen Leute lachten, der Student Franz Josef Kikinger schrie mit seiner tiefsten Stimme: »Heil!«

»Ja mein lieber Kikinger, sagte der Kammersänger, mit seiner kurzen fleischigen Hand den Studenten brackend, Ihnen kann unser Herrgott auch nur aus Versehen Ihren Baß gegeben haben!«

Vom Kammersänger einer Ansprache gewürdigt zu werden, schmeichelte dem Studenten Franz Josef Kikinger so, daß der Kammersänger ihn warnte: »Gebens acht, sonst rutscht Ihnen der Zwicker herab, fallt in Ihr Maul und is verloren!« Des Studenten Franz Josef Kikinger größter Stolz war es, dem Kammersänger Ignaz Fiechl zum Verwechseln ähnlich zu sehen. Er trug sich wie dieser, mit den buntesten Westen und enorm verschlungenen Krawatten, in die sein kurzer Hals ganz versank, hielt sich wie er, stets den grimmigen Blick auf den überwallenden Bauch gesenkt, und hatte schon ganz seinen watenden, knieweiten Gang erlernt, so daß es ihm gelang, in der Nacht aus der Ferne manchmal unter seinem strahlenden Zylinderhut für den Kammersänger gehalten zu werden.

»Und jetzt, Kinder, sagte der Kammersänger vergnügt, bevor wir anfangen, wollen wir noch einmal die Wacht am Rhein singen, damit der Herr, der dort mit der Annalis spaziert, auch eine Freud hat, das is nämlich ein Hofrat! Hut ab, meine Herren!« Und er zog feierlich seinen hohen Zylinderhut mit der breiten Krempe zum Garten hin, wo der Hofrat Stelzer mit dem Fräulein Annalis ging.

Die Studenten lachten und sangen.

Dann zog der Kammersänger seinen langen schwarzen Rock aus, spuckte in die Hand und sagte: »Also gehn wir's an, hurra!«»Und schon flog die Kugel, die Kegel fielen im Kranz, aber es zeigte sich, daß kein Kegelbub da war. »Freudenbecher! schrie der Kammersänger. Wo steckt denn der Kerl wieder? Kikinger, holens den Freudenpokal!«

Und mit hellen Stimmen scholl es in den Garten hinein: »Freudenbecher! Freudenstrom! Freudenmeer! Freudenfaß! Freudenpokal!«

Ein Gerippe, mit einem schäbigen langen Salonrock behängt, tauchte hinter den Kegeln auf, sträubte den Kamm seiner dünnen gelblichen Haare, schlug die Hacken zusammen, legte seine Hand aufs Herz und sagte: »Meine Verehrung, hochansehnliche Versammlung!«

»Freudenbecher! sagte der Kammersänger, tief bekümmert und gekränkt. Wo warens denn?«

Der Salonrock beteuerte, mit ausgestreckten Armen: »Ich habe nur noch die Hendln abstechen müssen. Was tut man nicht aus Liebe zur Kunst?«

Die Studenten schrien. Der Kammersänger wurde zornig und sagte: »Ihre Hendln kenn ich schon! Aber, Freudenbecher, das sag ich Ihnen! Wenns mir jetzt der neuen Köchin auch wieder ein Kind machen, is es aus zwischen uns!«

Der Salonrock knickte ein und räusperte sich. »Hochzuverehrender Herr Kammersänger! Nie!«

»Kusch! schrie der Kammersänger. Ihre Liebe zur Kunst kenn ich! Oder wollen Sies vielleicht noch ableugnen?«

»Bitte, sagte der Salonrock. Jenes Kind, auf das der Herr Kammersänger anzuspielen geruhen, ist nur auf speziellen Wunsch der verehrungswürdigen Köchin selbst geschehen. Wenn dies der Fall ist, kann ein edles Mannesherz nur schwer widerstehen. Aber ungewünscht hab ich noch nie!«

»Kusch! schrie der Kammersänger. Stellens endlich auf!«

»Meine Devotion!« sagte das Gerippe. Und es hob die gefallenen Kegel auf. Die Studenten sangen: »Freudenbecher! Freudenstrom! Freudenozean! Freudenhektoliter! Freudenkelch!«

Eigentlich hieß er Freudenbach und war eigentlich Tapezierer, lieber aber Verehrer von Künstlern, denen er sich auf alle Weise anzuhängen trachtete, hauptsächlich aber Claqueur in der Oper, wofür er jedoch kein schnödes Geld nahm, sondern sich in Naturalien entlohnen ließ, durch Verwendung im Hause der Künstler und gewisse Vertraulichkeiten, zu denen er sich dadurch berechtigt glaubte. Wenn er auf der vierten Galerie vom Kammersänger Fiechl geheimnisvoll erzählen konnte: »Ich weiß nicht, mein guter Ignaz muß wieder mit dem Direktor was haben, er hat mir gestern so etwas angedeutet, aber er hat sich mit mir nicht aussprechen können, weil grad ein Besuch kommen is,« dies beglückte ihn, dafür war er dann zu allem bereit. Er stellte sich jetzt immer so vor: »Freudenbach, über Wunsch des Herrn Kammersängers Fiechl genannt Freudenbecher, Amateurclaqueur!« Und er stellte sich ja fortwährend vor, in der Elektrischen, wenn er einem auf den Fuß trat, auf der Straße, wenn er einem Feuer gab, im Theater, wenn er einen im Gedränge stieß. Und wenn er an einen Wandspiegel irgendwo kam, blieb er stehen, die Hacken zusammenklappend, zog den Hut und sagte zu seinem eigenen Spiegelbild: »Freudenbecher, Amateurclaqueur, acht, Strozzigasse siebzehn!« Die Künstler hatten ihn gern, mißhandelten ihn und beuteten ihn aus, als billiges Faktotum, das zu jeder Arbeit zu haben war, wenn es dafür nur schließlich das Lied an den Abendstern vorsingen durfte; denn er sang auch selbst, auch dichtete er, dies jedoch, wie er sagte, nur zum eigenen Vergnügen. Seine Stellung in der Kunstwelt war aber nicht ohne gewisse Schwierigkeiten, weil nämlich die Künstler aufeinander eifersüchtig waren und jeder ihn für sich allein haben wollte. Eine andere Schwierigkeit lag darin, daß stets, wenn er einige Zeit in einem Haus war, die Köchin ein Kind bekam. Er benahm sich übrigens als Vater sehr gut, sorgte für die Kinder und war sehr stolz auf sie. Er hatte die Gewohnheit, sie nach dem Künstler zu benennen, in dessen Haus die Mutter damals bedienstet gewesen war. Er erzählte: »Ich hab mir was ausg'standen, die letzte Zeit! Mein armer kleiner Slezak hat den Keuchhusten gehabt!« Und wenn man ihn fragte, weil man das nicht verstand, erklärte er: »Ich mein nämlich den Buben, den ich vom Kammersänger Slezak hab!« Deswegen war ja Fiechl insgeheim noch immer auf ihn erzürnt, weil er erfahren hatte, daß der Freudenbecher im Volksgarten ein Kind spazieren trug und allgemein als seinen kleinen Fiechl bewundern ließ. Aber da hörte bei Fiechl der Spaß auf, er hielt sehr auf seinen tadellosen Lebenswandel, wie er denn selbst der Gräfin nicht erlaubte, ihn vor Leuten zu duzen, und auch jetzt von ihr verlangt hatte, daß sie mit ihren zwei Mädln drüben bei seiner Schwester und dem Hofrat blieb, statt mit Kegel zu schieben, was sie sich so gewünscht hätte, er aber fand es unpassend.

»Freudenbecher! schrie der Kammersänger. Ziehen Sie sich den Rock aus!«

Die Studenten lachten, weil sie den Spaß schon kannten.

»Hochansehnlicher Herr, sagte Freudenbecher, dies verbietet mir mein Respekt vor Ihrer fleckenlosen Kunst.«

»Freudenbecher, schrie der Kammersänger. Beim Kegeln zieht man den Rock aus.«

»Rock aus, Freudenbecher!« schrie der Student Franz Josef Kikinger.

»Herr Studiosus Kikinger, sagte Freudenbecher, vor der Wissenschaft hab ich gar keinen Respekt! Und wollen Sie ergebenst bemerken, daß Sie noch gar keine Prüfung gemacht haben, ich aber alle, und zwar die Prüfungen des Lebens! Also ich bitte!«

»Also dann, Freudenbecher! sagte der Kammersänger. Dann ziehen Sie sich die Hosen aus!«

Freudenbecher griff erschreckt an die Schöße des Salonrocks, ängstlich die Hose bedeckend.

»Freudenbecher! sagte der Kammersänger. Was ist wieder aus der Hosen von mir geworden, die Ihnen die Annalis vorige Woche geschenkt hat? Wohin verschwinden meine Hosen alle bei Ihnen, Freudenbecher? Und Sie tragen noch immer die alte, die ganz zerrissen ist!«

»Ich sammle die verehrungswürdigen Hosen des Herrn Kammersängers, sagte Freudenbecher, denn mein Ehrgefühl!« Er legte zwei Finger jeder Hand zusammen, bog die vier Finger um und stach mit dieser Schere in sein Herz, vorwurfsvoll wiederholend: »Mein Ehrgefühl!«

»Was habens denn mit Ihrem Ehrgefühl?« fragte der Kammersänger.

»Mein Ehrgefühl, sagte Freudenbecher, verbietet mir, die geschätzten Hosen des Herrn Kammersängers an meinem dürftigen Leib zu tragen, solange ich mich selbst noch nicht genügend künstlerisch ausgereift fühle. Wenn ich zum ersten Male öffentlich auftreten werde und die Gloriole der Kunst um mich strahlt, sollen auch die verehrten Hosen des Herrn Kammersängers strahlen. Früher nicht, weil ich mich noch unwürdig fühle!« Er sprang plötzlich mit einem Satz in die Luft, der Kammersänger hatte geschoben, die Kugel streifte den Schoß des grauenden Salonrocks. Freudenbecher brach in ein Freudengeheul aus. Dann schlug er die Hacken zusammen, schob sein dünnes Gesicht mit dem Bocksbart vor und sagte, die Hand auf dem Herzen: »Meine Devotion!«

»Auch Freudentanz könnte man ihn nennen«, sagte der Kammersänger, vergnügt.

Und nun hörte man die Kugeln rollen und die Kegel fallen, Freudenbecher meckerte, die Studenten schrien. Der Student Franz Josef Kikinger in seinem hohen steifen Kragen fehlte stets, worauf Freudenbecher stets fragte: »Bitte, was kann also der Herr Studiosus Kikinger eigentlich?« Der Student Franz Josef Kikinger ärgerte sich und sagte, den Freudenbecher verachtend: »Es ist ja nicht einmal sicher, ob er ein Germane ist.« Der Kammersänger sagte, beschwichtigend: »Kikinger, Sie haben nichts zu reden, Sie sind auch ein Wiener, und da is es nie sicher, in der Tiefe is jeder Wiener ein Jud!« Die Studenten lachten, die Kugel rollte, die Kegel fielen. Durch die Fenster der Kegelbahn trug der Wind ein Singen und ein Fiedeln her, aus den kleinen Schänken unten rings, wo ausgesteckt war. Ein heiseres Klavier half einer öligen Frauenstimme; dann wurde geklatscht und gestrampft. Aber der Wind nahm alles, und so war es nur ein feines Hallen. Manchmal fing einer der Studenten leise mitzusummen an, einer nach dem anderen fiel ein, und alle sangen mit, während die dumpfen Kugeln in die schmetternden Kegel rollten. Es war ein Wiener Sonntag.

»Das is aber noch gar nix gegen früher, wo die Frau Doktor Jura den ganzen Tag das Meistersingervorspiel gespielt hat, da drüben! sagte der Kammersänger, seufzend. Mir zu Ehren! Der Unverstand der Weiberleut schreit zum Himmel.« Und zu seinem Hause hinblickend, sagte er listig: »San mer froh, daß mer den Herrn Hofrat haben! Ein Hofrat ist der beste Blitzableiter für Weiberleut. Ein Hofrat is wie ein Fliegenpapier, da pickens alle fest. Heil! Ihr Mannen, Heil!« Er schwang seinen Krug und trank ihn aus.

Die Studenten schrien: »Heil!«

»Schön is es schon hier! sagte der Kammersänger. Aber dort oben sollt halt der Teutoburger Wald sein, statt dem dummen Tiergarten!«

»Heil!« schrien die Studenten.

»No alles kann man halt nicht haben, sagte der Kammersänger, verzichtend. Wer scheibt? Ich scheibe. Immer der, der fragt! Haha!« Und er nahm die Kugel, hockte sich in die Knie, schupfte die Kugel in seiner kurzen fleischigen Hand, kniff seine schlauen kleinen Bauernaugen ein und zielte, blinzelnd. Die Kugel schoß, die Kegel flogen, der Freudenbecher sprang, und durch die Fenster warf der Wind ein paar abgerissene Fetzen von einem schmachtenden Lied herein. Die Studenten jauchzten dem Kammersänger zu, der, mit der Kreide auf die Tafel schreibend, stolz sagte: »Soll der Herr Kollege, der immer glaubt, daß er auch den Hans Sachs singen kann, doch einmal herauskommen und mitscheiben! Da möcht sichs ja zeigen! Denn das, Kinder, gehört dazu! Mit dem Maul singt bald einer! Aber den Hans Sachs singt man nicht mit dem Maul, sondern da muß eine deutsche Seele mitschwingen! Aber woher nehmen, verehrter Herr Kollege?«

»Heil!« schrien die Studenten.

»Zieht es den Damen nicht vielleicht?« fragte der Hofrat Stelzer, besorgt seinen Kragen aufschlagend.

»Aber Herr Hofrat, sagte Fräulein Annalis, vergnügt. Wie kann es denn im Freien ziehen?«

»Es kann auch im Freien ziehen, Fräulein Annalis, belehrte sie der Hofrat. Wenn nämlich wie hier die Luft sich an einer Wand des Hauses bricht und folglich aus ihrer Richtung geworfen wird, wodurch natürlich ein Zug entstehen muß, wenn auch, wie ich zugebe, ein so geringer, daß man ihn vielleicht gar nicht spürt, was aber ja keineswegs beweist, daß man sich nicht doch verkühlen kann.«

»Wenn Sie glauben, sagte Fräulein Annalis, können wir ja hineingehen.« Sie sah den Hofrat an. Sie sah die ganze Zeit den Hofrat an, ihren Julius suchend. Aber der Hofrat trug dunkle Brillen, da waren keine blauen Augen mehr zu sehen.

»Ich meine nur wegen der Damen!« sagte der Hofrat.

»Kinder, sagte die Gräfin mit einem raschen Entschluß, wir müssen ja jetzt überhaupt zurück! Wir haben doch dem Onkel versprochen! Das heißt, versprochen haben wirs ja nicht, ich hab ihm gestern noch ausdrücklich gesagt, daß es gar nicht sicher ist, ob wir heut kommen können, aber der alte Herr ist es einmal so gewöhnt, daß wir jeden Sonntag kommen, und vorigen Sonntag sind wir doch auch nicht gekommen, und seit wir heuer zurück sind, waren wir ja noch keinen Sonntag dort, also da müssen wir heute doch wirklich – und wenn der Herr Kammersänger seine jungen Leute bei sich hat, da hat man ja doch nichts von ihm, Frauen ist ja nun einmal der Eintritt in die Kegelbahn verboten! Gott, er hat doch recht! Das heißt, daß ein Mann wie er an diesen Burschen Geschmack hat? Ich finde das rührend! Und da bin ich ganz Ihrer Meinung, daß man seinen Wunsch einfach respektieren muß, aber vielleicht, Fräulein Annalis, könnten Sie ihn doch für einen Augenblick rufen? Nur für fünf Minuten, die sollen einstweilen allein Heil schreien! Denn Sie, Fräulein Annalis, können doch alles bei ihm! Das heißt, ich weiß schon, wenn er einmal was nicht will, da gibts nichts! Das brauchen Sie doch mir nicht erst zu sagen, nicht wahr? Aber vielleicht doch, Fräulein Annalis, nicht? Nur auf fünf Minuten, wirklich! Die Kinder möchten ihm so gern wenigstens Adieu sagen!«

Die Kinder bedrängten Fräulein Annalis, kichernd und zwitschernd: »Ja bitte, Fräulein Annalis, bitte schön!« Die Kinder waren größer als die Mama. Abends hielt man sie für Schwestern. So gut hatte sie sich erhalten. Nur das klassische Profil war bei der Mama schon etwas schärfer. Auf ihr klassisches Profil war sie sehr stolz. Sie behauptete der Rahl ähnlich zu sehen; und die Rahl ärgere das so, daß sie sich bloß deshalb geweigert hätte, mit ihr bekannt zu werden. Die Rahl hatte sich wirklich geweigert.

»Liebe Gräfin, sagte Fräulein Annalis, Sie wissen doch, für Sie tät ich alles, aber in die Höhle des Löwen, noch dazu wenn der Löwe Kegel scheibt – nein, soviel Courage hab nicht einmal ich!«

Die Gräfin fing zu lachen an. Dann nahm sie Fräulein Annalis bei der Hand und lachte noch immer. Sie sagte: »Ja das Fräulein Annalis!« und lachte weiter.

Die Kinder sagten: »Ja das Fräulein Annalis!« und lachten mit.

»Da gibts gar nichts zu lachen! sagte Fräulein Annalis. Versuchen Sie's!«

»Um Gotteswillen, nein! rief die Gräfin, lachend. Denn da gibts wirklich nichts zu lachen!« Aber sie lachte noch immer.

»Ich fürchte nur, daß sich die jungen Damen verkühlen werden«, sagte der Hofrat, durch seine grauen Brillen die langen Hälse der Kinder betrachtend.

»Meine Mädeln? sagte die Gräfin, lachend. Gott, Hofrat, da kennen Sie die Mädeln schlecht! Die sind abgehärtet wie Eskimos! Das heißt, ich weiß nicht, ich kenn ja die Eskimos nicht, ich mein nur, denn meine Mädeln laufen ja zu Haus im Garten auch fast nackt herum.«

»Sie werden die Indianer meinen, nicht die Eskimos«, sagte Fräulein Annalis.

»Gott, wissen Sie, Fräulein Annalis, in der Geographie! sagte die Gräfin. Aber natürlich nicht, daß ich nicht den Wert einer gründlichen Bildung zu schätzen wüßte! Im Gegenteil, ich sag den Kindern alle Tag: Kinder, wenn ihr auch Komtessen seids, ihr müßts was lernen, ihr dürfts nicht so blöd bleiben, die Zeit ist vorbei! Aber doch hauptsächlich eine künstlerische Bildung, nicht? Es muß doch noch ein Unterschied sein! Rein wie die Judenmädeln kann man sie ja schließlich nicht aufwachsen lassen! Das heißt, glauben Sie nur nicht! Ich bin die erste, die anerkennt, was an den Juden ist! Ich sag den Kindern immer: Lachts nicht, nehmts euch lieber ein Beispiel! Nur natürlich, was für ein Judenmädel paßt, paßt doch deswegen noch lang für eine Komteß nicht! Und schließlich wärs endlich Zeit, den Herrschaften einmal zu zeigen, daß wir auch noch da sind! Ich bitt Sie, da heißts immer, wir sind exklusiv! Wo denn? Wie denn? Ich wollt, wir wärens! Natürlich hochmütig zu sein haben wir ja gar keinen Grund! Da bin ich die erste, die das verwirft! Ich sag den Kindern immer: Nur nicht hochmütig sein, die Zeit ist vorbei!«

»Ich glaube wirklich, sagte Fräulein Annalis, es wird für den Herrn Hofrat besser sein, wir gehen hinein. Wenn man unsere scharfe Luft da heraußen nicht gewöhnt ist! Wir haben doch hier das reine Hochgebirg!« Und indem sie sich mit ihren schweren Schultern langsam zum Hause wendete, sagte sie zur Gräfin: »Kommen Sie nicht doch noch ein bißl mit?«

»Unmöglich! beteuerte die Gräfin. Wir müssen hinein, es ist die höchste Zeit!«

»Also dann! sagte Fräulein Annalis, ihr die Hand reichend. Und hoffentlich recht bald auf Wiedersehen!«

»O ich komm schon noch, sprudelte die Gräfin, Ihnen Adieu sagen! Ich geh nur noch mit den Kindern ein bißl durch den Garten. Was sollen wir denn schon in der Stadt? Ich bin ja so froh hier heraußen, ich liebe das Landleben! Das heißt, die Stadt hat ja natürlich auch manches für sich, gar unser Wien, ich sag den Kindern immer: Es geht doch nichts auf der Welt über Wien! Und wirklich leben kann man ja nach meinem Gefühl nur in einer großen Stadt! Das gewisse Fluidum in einer großen Stadt, also ich kenne nichts, was meinen Nerven so gut tut! Ich vergöttere Wien! Das heißt, natürlich darf man nicht blind sein, es ist ja schrecklich, wie bei uns alles zurückbleibt! Wenn man da nur irgendeine mittlere deutsche Stadt nimmt, also Wien muß sich ja wirklich schämen, ich sag immer: Wien ist ja nur noch ein großes Dorf!«

»Ich sehe Sie dann also noch?« sagte Fräulein Annalis lächelnd und ging mit dem Hofrat ins Haus.

»Aber natürlich! rief die Gräfin. Hoffentlich wird bald genachtmahlt, daß es nicht wieder gar so spät wird, bis man nach Haus kommt! Ich muß nur noch mit den Mädeln ein bißl durch den Garten laufen. Zum Ententeich mit der lieben kleinen Hendelvilla! Nein, das ist entzückend! Kommts, Kinder!« Sie nahm die zwei lang aufgeschossenen Mädeln, eine rechts und eine links, hängte sich ein und marschierte mit ihnen los, sie war von den drei schmalen Gestalten die kleinste und ihr fester Schritt der jüngste. Sie kamen aber nicht bis zum Ententeich, sondern bogen ein, in den schmalen Weg hinter der Kegelbahn. Dort wandelten sie hin und her, im knirschenden Kies. Die Mädeln waren so froh, weil die Mama so lustig war, da war sie so lieb! Und die Mama erzählte in einem fort und lachte; und die Mädeln hörten zu und lachten mit. Durch die Bretterwand hörten sie nebenan in der Kegelbahn die rollenden Kugeln, und wie dann ins Meckern des Freudenbechers und mitten durch den Tumult der zechenden Studenten wieder des Kammersängers schwarz einschlagende Stimme fuhr. Oft schrie die Mama plötzlich, riß die Mädeln an sich und zeigte ihnen was auf der Wiese, die Mädeln liefen hin, fanden aber nichts, die Mama mußte sich getäuscht haben! Die Mama hatte sich aber nicht getäuscht, sondern es war nur, weil der Kammersänger nebenan eine seiner saftigen Geschichten mit zu germanischen Ausdrücken begann. Da schickte sie die Mädeln auf die Wiese weg, und bis sie wiederkamen, stand sie, sich auf den Zehen streckend, durch die Bretterwand horchend, auf die geliebte schimpfende Stimme.

Als Fräulein Annalis mit dem Hofrat ins Haus trat, fragte sie, in ihrem unkenntlichen Ton: »Nun? Wie gefällt Ihnen die berühmte Gräfin?«

»Die Dame korrigiert ihre Meinungen etwas rasch«, sagte der Hofrat, lächelnd. Aber er bereute gleich, so unvorsichtig zu sein, und fügte besorgt hinzu: »Übrigens soll sie ja einen ziemlichen Einfluß haben? Ich höre wenigstens. Sie scheint ja auch sehr regen und lebhaften Geistes zu sein, und gewisse Widersprüche liegen wohl mehr in der weiblichen Natur überhaupt.«

»Ja, nehmen Sie sich in acht! sagte Fräulein Annalis. Sie hält sich immer in der Nähe von einflußreichen Leuten auf, da kann man nie wissen!«

»Ich höre, sagte der Hofrat behutsam, daß Ihr Bruder ihr sehr freundschaftlich gesinnt ist.«

»Vielleicht sie mehr ihm«, sagte Fräulein Annalis. Sie ging auf der Stiege voraus, der Hofrat konnte ihr Gesicht nicht sehen, und wenn man nicht ihr Gesicht sah, wußte man schon gar nicht, was sie meinte. Sie fuhr fort: »Sie hat übrigens mehreren Vorgängern meines Bruders die eiserne Krone verschafft, das scheint festzustehen.«

»Vorgängern?« wiederholte der Hofrat fragend.

»Ich meine, sagte Fräulein Annalis, einigen Herrn, die meinem Bruder bei ihr vorangegangen sind.«

Der Hofrat verstand sie jetzt erst und sagte mit einem trockenen Lächeln um den enttäuschten Mund: »Ach so!«

»Die eiserne Krone soll ja ziemlich verbreitet sein«, sagte Fräulein Annalis, die Tür in ihr Zimmer öffnend.

Der Hofrat trat ein und sagte: »Ich hätte Ihrem Bruder so loyale Wünsche gar nicht zugetraut.«

»Ja die Wünsche der Männer sind wunderbar, sagte Fräulein Annalis. Eine Frau versteht das gar nicht so. Außer Frauen wie die Gräfin. Und Sie, lieber Hofrat, müßten es doch auch verstehen? Nicht?«

Sie sah ihn mit ihren großen grauen Augen an. Ihm wurde klar, daß sie sich doch sehr verändert hatte. Dies verwirrte ihn, und er sagte melancholisch: »Darüber wäre ja nun manches zu sagen! Mir ist das auch nicht leicht geworden, aber das Leben ist eben doch anders, als die Jugend denkt. Ich bin gern bereit, Ihnen gelegentlich zu erklären, wie das eigentlich alles so gekommen ist mit mir.« Und zögernd fügte er dann mit leiser Stimme noch hinzu: »Mir wäre das sogar recht erwünscht.« Er sah weg. Ihre große Gestalt blieb unbeweglich und sie betrachtete den nachdenklichen, ein wenig vorgebeugten Herrn, der die graue Brille jetzt abnahm, die Gläser anhauchend und auswischend. Aber seine blauen Augen waren müd und hatten rote Ränder, es waren nicht mehr ihre blauen Augen. Dann sagte er auf einmal noch, als wenn er allein im Zimmer wäre: »Es kann nie zu spät sein, etwas gut zu machen.«

»Ich muß noch einen Moment in die Küche, sagte Fräulein Annalis. Ich komme gleich wieder. Dann, Herr Hofrat, könnens mir das Leben erklären.«

Er sagte, von ihrem Ton irritiert: »Ja, Sie sind halt immer gut aufgelegt, Fräulein Annalis, immer noch!«

»Warum denn nicht? fragte Fräulein Annalis, schon an der Türe. Und wissens, was ich find, Herr Hofrat? Man wird doch eigentlich von Jahr zu Jahr immer besser aufgelegt, nicht?«

Er hörte noch ihren ruhigen vollen Schritt auf der Stiege. Er hatte sie sich anders erwartet! Er fand in ihr nichts mehr von damals, vor zwanzig Jahren. Seltsam war das! Bevor er sie heute wiedergesehen hatte, sah er sie noch immer ganz, wie sie damals gewesen war. Jetzt aber wich das Bild zurück, und es war ihm, als hätte er sie jetzt erst verloren.

Er fand das Zimmer lieb. Lauter alte Sachen. Ein großer Bauernkasten, aus dem es so gut nach Wäsche roch. Die Sesseln waren wohl auch ihre sechzig, siebzig Jahre alt. Eine Biedermeieruhr; sie ging falsch, schlug aber so tief und so voll, fast wie eine Kirchenuhr. Unter einem Glassturz der Myrtenkranz ihrer Mutter mit dem Datum der Hochzeit: siebenten Dezember 1874. Als die Mutter diesen Kranz trug, fiel dem Hofrat ein, war die kleine Annalis schon zwei Jahre alt; der gute alte Tierarzt hatte sich bitten lassen und gab erst nach, als sich der künftige Ignaz schon leise zu melden begann. Da hing der dicke Tierarzt Fiechl aus Henndorf an der Wand, mit dem pfiffig vergnügten Jägergesicht; er hatte jedes zweite Jahr ein kleines Schlagerl und lebte noch immer vergnügt, war wohl noch immer hinter den Mädeln her und ließ das Saufen noch immer nicht! Und neben ihm hing ihre Mutter an der Wand, im großen schwarzen Kopftuch, ein tüchtiges Stück von einer handfesten und rigelsamen Weibsperson, sie hieß nicht umsonst die resche Marie, als sie noch Kellnerin im Brauhaus war, sogar den schlauen Alten hatte sie doch zuletzt untergekriegt. Und da hing auch die Annalis, als ganz junges Mädl! Ja so war sie damals, in der Trafik im Bogen an der Brücke. Ja das war die Annalis!

»So!« sagte Fräulein Annalis. Sie fand den Hofrat vor ihrem Bild. Sie nickte und sagte: »Ja die schönen blonden Zöpf sind weg. Schauns, wie grau ich schon werd!« Ganz stolz bog sie ihren schweren Kopf vor und ließ die paar weißen Fäden an den starken Schläfen sehen. »No vor Ihnen brauch ich mich ja aber nicht zu genieren! Das bißl, was's noch haben, schaut auch schon recht herbstlich aus, im Garten hat man das gar nöt so bemerkt! Ja mein Gott, Herr Hofrat!« Und sie seufzte, lachend, und setzte sich behaglich. Da der Hofrat schwieg, wiederholte sie nickend: »Ja ja, Herr Hofrat! Es is schon nicht anders! Jünger sind wir alle zwei nicht worden!«

Der Hofrat saß neben ihr, sie schwiegen. Da schlug die alte Uhr, mit ihrer tiefen Stimme einer ernst ermahnenden Glocke. Der Hofrat fuhr auf und sagte plötzlich: »Ich habe meinen Irrtum schwer genug gebüßt.«

Fräulein Annalis sagte: »Erschreckens nicht, die Uhr geht ganz verrückt, aber ich hab ihren Klang gern.«

»Annalis!« sagte der Hofrat, gekränkt.

Ihre Stimme wurde hart, als sie fragte: »Ja was meinens denn eigentlich? Was für einen Irrtum?«

Der Hofrat sah sie an, als ob er es nicht glauben könnte. Dann bat er noch einmal: »Annalis!«

»Nein, Herr Hofrat, sagte sie langsam, geannaliselt wird jetzt nix mehr! Möchten uns doch die Leut auslachen, in unseren Jahren, nicht?«

Der Hofrat schwieg, vor ihrem steinernen Gesicht mit den sprachlosen grauen Augen. Durchs Fenster kam der Gesang der Studenten herein. Der Hofrat verzog den ärgerlichen Mund und sagte mit seinem bitterlichen Lächeln: »Noch einmal! Seit ich hier bin, singen die das jetzt schon zum viertenmal!«

»Ja, Herr Hofrat, sagte Fräulein Annalis. Man singt noch immer die Wacht am Rhein! Es bleiben dieselben Lieder, nur halt die Leut werden anders.« Und lustig fragte sie: »Erinnern Sie sich noch an die Sedanfeier in Freilassing damals? Wo der Ignaz so viel Wurst gefressen hat, daß ihm schlecht geworden is? Der is damals grad in die sechste Klaß kommen, es war sein erster großer Rausch, und alle zwei hab ich euch führen müssen, da habts den ganzen Heimweg ununterbrochen die Wacht am Rhein gebrüllt, bis dann in Mülln endlich ein Wachmann kommen is! Ja ja, Herr Hofrat, erinnern Sie sich nur!«

Der Hofrat fragte: »Frißt Ihr Bruder heute auch noch so viele Würste?«

Fräulein Annalis lachte verneinend.

»Sehen Sie! sagte der Hofrat. Und es wird auch gar nicht von ihm verlangt! Weil er eben ein Künstler ist, die habens gut! Bei Politikern aber besteht man darauf, wenn einer sich einmal als Gymnasiast an Knackwürsten überfressen hat, daß er dann bis an seine selige Sterbensstund immer wieder genau die nämliche Anzahl von Knackwürsten frißt, sonst ist man nämlich kein Charakter! Ich hab, als ich älter wurde, gefunden, daß mein Magen die vielen Würste nicht mehr vertrug. Das ist das ganze Geheimnis meiner sogenannten politischen Wandlungen, über die sich die Herren Journalisten so aufregen! Verstehen Sie, was ich meine, Fräulein Annalis?« Er hatte das hochmütige Lächeln aus seiner parlamentarischen Zeit.

»Aber dafür sinds ja dann auch Hofrat g'worden, zur Belohnung«, sagte Fräulein Annalis, ungerührt.

Der Hofrat fühlte sich ihr jetzt überlegen und erklärte lebhaft: »In Österreich hat jeder irgendein Lied, das er singt, der singt die Wacht am Rhein und der das Hej Slovane, der den Luegermarsch und der den Garibaldimarsch, und jeder glaubt, es kommt sonst auf gar nichts anders an, als daß sein Lied gesungen wird. Wer aber der Meinung is, daß schließlich der Staat davon allein nicht leben kann, der wird sogleich in Acht und Bann getan. Da ist man dann ein Verräter! Es ist nämlich merkwürdig, wie gut sich diese politischen Sänger eigentlich doch untereinander alle vertragen, obwohl jeder was anderes singt! Verlangt wird eigentlich nur, daß man irgendwo mitsingt. Dann ist es schon gut; was, ist ganz gleich. Man nennt das: seine nationale Pflicht erfüllen. Wenn aber jemand einmal so unvorsichtig ist zu fragen, was denn aus dem Staat dabei werden soll, der doch schließlich auch noch da ist und auch noch leben will und ja leben muß, damit die Herren Sänger ungestört weitersingen können, über den stürzen alle her. Das war mein Verbrechen! Ich habe es für unerläßlich gehalten, erst den Staat in Ordnung zu bringen, ja da man das jetzt doch eigentlich gar nicht mehr einen Staat nennen kann, überhaupt erst wieder den Staat herzustellen, bevor man sich auf ein so zweifelhaftes Experiment einläßt, und da man doch nicht einmal mit der Intelligenz fertig geworden ist, nun auch noch, um die Verwirrung ins Grenzenlose zu steigern, den ungebildeten Massen das Wahlrecht gibt! Nun es wird sich ja zeigen, wir werdens ja sehen! Mein einziger Fehler war der, daß ich schon vor drei Jahren gewußt habe, was die anderen erst in zehn Jahren wissen werden, aber dann wirds zu spät sein! In Österreich tut man nämlich immer entweder das, was erst in hundert Jahren möglich sein wird, oder das, was man schon vor hundert Jahren hätt tun müssen, nur nie das, was gerade jetzt notwendig und vernünftig wär! Aber ich langweile Sie, Fräulein Annalis! Sie interessieren sich wohl nicht für Politik?

»Ich interessiere mich nicht besonders für Politik, sagte Fräulein Annalis, in ihrem verhüllten Ton. Aber ich kann mir schon ungefähr denken, wie das eigentlich war. Sie sind halt auch in der Politik zu gescheit gewesen. Oder zu früh gescheit. Man soll lieber nicht zu früh so gescheit sein, Herr Hofrat! Das bereut man dann manchmal.«

»Ich bereue nichts, sagte der Hofrat mit seiner ausgetrockneten Stimme. Warum denn? Ich kanns abwarten. Ich schaue jetzt ruhig zu, das ist sogar ganz lustig. Die Rolle des ruhigen Zuschauens ist die einzige, in der man sich hierzulande nicht blamiert. Ich bin ganz zufrieden, es geht mir ganz gut.« Er hielt ein, sah vor sich und wiederholte dann, die Stimme senkend: »In politischer Beziehung gehts mir ganz gut, da habe ich wirklich nicht das geringste zu bereuen.«

»Recht haben Sie, sagte Fräulein Annalis. Das mein ich auch! Nichts bereuen und nichts bedauern, so wies kommt, ists immer am besten, und was nicht ist, soll halt einmal nicht sein, vorbei ist vorbei und morgen ist auch noch ein Tag, nicht wahr? Da werden wir uns ja sehr gut verstehen, Herr Hofrat!«

»Wohl dem, der sich so heiter resignieren kann! sagte der Hofrat. Und ich wünsche Ihnen nur, daß es aufrichtig ist!« Er wartete. Sie sagte nichts. Es klang gereizt, als er fortfuhr: »Aber nicht jeder hat halt Ihre Begabung, so leicht zu vergessen und zu verschmerzen.«

»Ich habe nichts vergessen, sagte Fräulein Annalis in ihrem undurchdringlichen Ton, o nein. Und was hätt ich denn zu verschmerzen? Was denn?«

Der Hofrat fragte: »Haben Sie sich vor zwanzig Jahren eigentlich gedacht, daß Sie in zwanzig Jahren –« Er stockte, suchte, fand das rechte Wort nicht oder vermied es und wich aus, indem er sagte: »Noch immer Ihrem Bruder die Wirtschaft führen werden?«

»Es geht mir ganz gut dabei«, sagte Fräulein Annalis.

»Ich zweifle nicht daran, sagte der Hofrat, aber interessieren möchte mich, ob Sie sich vor zwanzig Jahren das so gedacht haben!«

»Das wär doch fad, sagte sie, wenn alles immer so käm, wie man sichs denkt.«

Heftig sagte der Hofrat: »Jedes Mädchen wünscht sich doch –« Er hielt ein und ermahnte sie: »Sei'n wir doch aufrichtig! Nicht?«

»Daß sie nicht eine alte Jungfer wird, meinen Sie? sagte Fräulein Annalis. Herr Hofrat, es ist nicht so arg.«

»Gewiß«, sagte der Hofrat begütigend. »Sie sind ja noch nicht alt, gewiß! Aber –«

Sie fiel ihm ins Wort: »Eher noch alt.«

Er sah auf, er verstand nicht recht, was sie meinte; und als er es dann zu verstehen glaubte, konnte er sich nicht denken, daß sie das gemeint haben könnte. Er sah sie an, aber auf ihrem großen unbeweglichen Gesicht war nichts zu erkennen. Er wurde unsicher, sie sagte: »Wenn Sie im Parlament nicht geschickter gewesen sind, wunderts mich nicht, Herr Hofrat!«

Ertappt sagte der Hofrat: »Ich weiß nicht, warum Sie es einem alten Freunde so erschweren wollen, sich mit Ihnen ruhig auszusprechen.«

»Ich anerkenne ja, sagte Fräulein Annalis, daß Sie das Bedürfnis haben, mir Trost zu spenden. Das Malheur is nur, daß sich herausstellt, daß ich gar nicht trostbedürftig bin. Aber dafür können Sie ja wirklich nichts, es is meine Schuld.«

»Sie sind nicht mehr dieselbe«, klagte der Hofrat.

»Und Sie?« fragte Fräulein Annalis.

Ganz leise sagte der Hofrat: »Ich seh Sie noch immer, wie dann, wenn ich beim Glockenspiel gewartet hab, auf einmal unter der Latern das blonde Kopferl aus der Kaigasse schoß!«

»Wünschen Sie sich doch das nicht! sagte Fräulein Annalis. Das wär heut gar nichts für Sie! Beim Glockenspiel ziehts zu stark!« Er stand auf. Sie ließ sich nicht rühren und sagte noch: »Denkens nur, wies da manchmal den Wind von der Salzach her an den Mozart haut! Nein nein, Herr Hofrat! Das wär heut wirklich nix mehr für uns!«

»Nun ja«, sagte der Hofrat. Er irrte durch das Zimmer wie jemand, der vergessen hat, was er eigentlich sucht.

»Habens was verloren?« fragte Fräulein Annalis.

Der Hofrat erschrak und sagte schnell, indem er sich wieder setzte: »O nein, danke sehr!« Er wartete, dann sagte er plötzlich, hastig: »Und so hab ich mich jetzt wenigstens überzeugt, daß es Ihnen immer gut geht und daß Sie zufrieden sind, das freut mich sehr! Glücklich, wer das von sich sagen kann! Und Sie können sich ja sagen, daß Sies verdienen! Sie haben Ihr Leben Ihrem Bruder zum Opfer gebracht! Und mit freudigem Sinn, wie ich sehe! Und das wird eben immer belohnt!«

»Sans so gut und sagens das dem Ignaz! rief Fräulein Annalis, lachend. Da könntens was erleben! Nein, Herr Hofrat! Er hat mir ein Opfer gebracht. Er bringt mir sogar das Opfer, nicht zu heiraten. Ohne ihn wär ich ein armes Waserl! Aber so kann ich mich ja wirklich nicht beklagen. Ich hätts gar nicht besser treffen können. Tut mir leid, Herr Hofrat!«

»Es heißt doch aber, sagte der Hofrat, daß er die Gräfin heiraten wird?«

Fräulein Annalis schloß ihren Ton wieder ein und zog ihr Gesicht zu. »Die Leute reden viel. Warten wirs halt ab!« Und ihre Stimme wurde wieder hell, als sie noch sagte: »Warten muß man halt können. Dann kommt alles einmal, Herr Hofrat! Mancher aber verpaßts auch wieder mit dem Warten. Und so hat jede Lebensregel ein Loch, es is schon ein Gfrett. Am besten wirds noch immer sein, wenn man keine Künste macht, sondern sich einfach sagt: Gestern is vorbei, morgen is ungewiß, aber heut is heut!« Sie zeigte durchs Fenster auf die Stadt, in der Sonne glänzten die Dächer aus dem Dunst, sie sagte: »Und schauns, wie schön's heut is, nicht?«

»Sie haben halt ein glückliches Naturell, von jeher«, sagte der Hofrat, leise.

»Von jeher«, wiederholte Fräulein Annalis ernst. Dann lachte sie, fragend: »Was hätt man denn auch sonst?«

»Nun ja«, sagte der Hofrat.

»Machens mirs nach!« sagte Fräulein Annalis lustig.

»Wer das so könnte!« sagte der Hofrat.

»Und wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf, sagte Fräulein Annalis. Nur nicht alte Sachen aufwärmen wollen! Was einmal abg'standen is, verliert den Geschmack.«

»Ihr Bruder hat recht, sagte der Hofrat, mit seinem grauen Lächeln. Ihr Oberösterreicher seid ein merkwürdiger Schlag, euch kann nichts geschehen.«

»Sinds nöt neidig! sagte Fräulein Annalis. Salzburg is ja ganz in der Näh. Das sind nur Ausreden.«

»Ich bin kein Salzburger, sagte der Hofrat. Ich war ein Kind von zwei Jahren, wie der Vater nach Salzburg versetzt worden ist. Ich bin aus Mähren, wie mein Vater und meine Mutter auch. Und mein Vater war ein Beamter, sein Vater auch und der Vater meiner Mutter auch, die ganze Familie lauter kleine Beamte in Mähren. Erst ich bin ausgesprungen.«

»No da wär ich dann halt überhaupt ausg'sprungen, sagte Fräulein Annalis. Aus der ganzen mährischen Melancholie mein ich.«

»Wenn man das so könnt! sagte der Hofrat. Ich habs ja versucht!«

»Aber das sind ja lauter Ausreden! sagte Fräulein Annalis, ungeduldig. Und was wollens denn eigentlich? Bloß weils nicht Minister geworden sind? Ich kenn Menschen, Herr Hofrat, die ärgere Schicksalsschläge überwunden haben! Und schließlich sinds ja dafür zum Hofrat ernannt worden, damit Sie sich ungestört ausweinen können. Was wollens denn noch?«

»Ich will gar nichts mehr, sagte der Hofrat, als mein versäumtes Leben nachholen.« Er sah vor sich auf den Boden hin und sagte dann noch, ungläubig: »Wenn das nämlich möglich wäre!«

»Sie können nicht noch einmal vierundzwanzig Jahre alt sein, sagte Fräulein Annalis. Das möcht mancher! Und ich wett, Sie hätten erst nichts davon, es wär wieder dasselbe!«

»Nein, sagte der Hofrat. Nein, Fräulein Annalis! Es wär nicht dasselbe. Denn –«

»Ich werd Ihnen was sagen! fiel Fräulein Annalis ein. Ich hab gar nichts dagegen, wenn Sie mir Ihr Herz ausschütten; ich hab mir das ja gleich gedacht. Bitte, wenn Ihnen dann leichter wird! Aber schleichens mir nur nicht so mit einer verschlagenen Liebeserklärung in einem fort um mich herum, das vertrag ich nicht!«

»Sie können nicht von mir verlangen, sagte der Hofrat, daß ich das alles vergessen haben soll! Das war doch einmal!«

»Es war einmal, sagte Fräulein Annalis, fangen die Märchen an. Aber ich bin nicht für Märchen. In meinen Jahren!«

»Es war die schönste Zeit meines Lebens, die einzige!« sagte der Hofrat leise.

»Reden wir deutsch! sagte Fräulein Annalis. Damals waren Sie die gute Partie, aber Sie haben sichs halt überlegt. Nein, Herr Hofrat, ich trag Ihnen das ja gar nicht nach, im Gegenteil! Nur jetzt – ja, jetzt wär ich eine gute Partie, aber jetzt hab ich mirs inzwischen halt auch überlegt. Und so sind wir quitt, haben einander nichts vorzuwerfen, und wenn Sie vernünftig sind, könnten wir die besten Freund sein. Ist Ihnen das klar?«

»Es war doch einmal!« wiederholte der Hofrat, klagend.

»Aber wenn ein jeder, mit dem einmal was war, sagte Fräulein Annalis, einem deswegen nach neunzehn Jahren noch vorraunzen dürft, hätten wir das ganze Haus voll. Das müssens doch einsehen, daß das nicht geht!«

»Nun ja, sagte der Hofrat. Sie haben sich sehr verändert.«

»Schaun Sie sich in Spiegel, Herr Hofrat, sagte Fräulein Annalis, und dann redens über mich!«

Nach einer Weile sagte der Hofrat: »Es ist ja vielleicht überhaupt nicht recht von mir, gleich einen ersten Besuch so ungebührlich auszudehnen.«

»Da machen Sie sich nur keine Sorgen, sagte Fräulein Annalis. Mein Bruder hat seine Studenten, die Gräfin horcht an der Bretterwand, der Höfelind trutzt wieder einmal und scheint überhaupt nicht zu kommen, also wenns Ihnen recht ist, ich hab Zeit!«

»Mit diesem Höfelind scheinen Sie ja recht befreundet zu sein«, sagte der Hofrat.

»Warum sagens das so beleidigt? fragte Fräulein Annalis. Sinds eifersüchtig?«

»Ich habe leider kein Recht dazu«, sagte der Hofrat, mit einem Versuch zu scherzen.

»Sie hätten auch leider keinen Grund dazu«, sagte Fräulein Annalis.

»Leider?« wiederholte er.

»Leider!« wiederholte sie.

Er sah sie nachdenklich an. »Sie sind sehr aufrichtig geworden, Fräulein Annalis!«

Sie antwortete: »Ich wars immer. Ich immer, Herr Hofrat!« Dann sagte sie, vergnügt: »Mit keinem Menschen auf der Welt laßt sichs besser streiten als mit dem verrückten Höfelind! Außerdem braucht er mich. Wenn ich nicht jede Wochen einmal aufräumen käm, schauets da drüben bald schön aus!« Sie lachte. »Ja ja, Herr Hofrat, da heraußen gibts noch Menschen, von denen man sich bei Ihnen in der Stadt nix träumen läßt! Aber einem so ernsten Menschen wie Ihnen käm das wohl zu verrückt vor! Sie haben ja schon Augen über den Ignaz gemacht! Da müßtens erst einmal die ganze Menagerie beisammen sehn! O je!«

»Das ist es ja, sagte der Hofrat nachdenklich, daß sich in Östreich keiner vom andern was träumen läßt und daß in Östreich immer einer dem andern verrückt vorkommt! Sie haben damit das eigentliche Kennzeichen Östreichs getroffen! Der eine weiß vom andern nix, wies in dem alten Lied heißt.«

»Der eine heißt den andern dumm, auf d'letzt weiß keiner nix«, verbesserte Fräulein Annalis.

»Oder so! sagte der Hofrat. Es kommt auf dasselbe hinaus. Wenn bei uns fünf Menschen beisammen sind, ist es, als wenn sie aus fünf Weltteilen wären. Jeder redet eine andere Sprache, sie können sich nicht verstehen. Ich habs aufgegeben!« Und er wiederholte, noch heftiger: »Ich habs aufgegeben, ich tu nicht mehr mit, man wär ja ein Narr!«

»No wenns jeder aufgibt und keiner mehr mittun will, dadurch werden sich ja die Menschen auch grad nicht näher kommen, sagte Fräulein Annalis. Mich gehts ja nix an, aber ich mein nur!«

»Ich hab Opfer genug gebracht, sagte der Hofrat. Ich hab mein ganzes Leben dargebracht. Ich Narr! Wenn man unser Land sieht und wenn man denkt, was da geleistet werden könnte, mit dem Reichtum unseres Landes und der Begabung unserer Menschen! Das war es ja, das hat mich gereizt! Einmal zu zeigen, was Östreich ist, was es sein könnte! Als junger Mensch spürt man das doch so stark und da glaubt man ja, man braucht bloß den Mund aufzumachen und alle werdens wissen und alles wird gehen! Das war es ja, Fräulein Annalis! Ich hab das Gefühl gehabt, mein ganzes Volk wartet auf mich, da darf ich nicht an mein eigenes Glück denken, da darf ich nicht feig sein, und wenn ich grausam sein müßt! Deshalb, Fräulein Annalis, deshalb doch!«

»Hoffentlich, sagte Fräulein Annalis, gelassen. Und wenns so war, dann können Sie ja ganz mit sich zufrieden sein.«

»Ein Narr war ich! rief der Hofrat. Denn zuerst hab ich gesehen, daß mit den Deutschen nichts zu machen ist. Die Deutschen singen die Wacht am Rhein. Und was immer auch geschehen mag, sie singen die Wacht am Rhein. Für was anderes sind sie nicht zu haben, sie singen die Wacht am Rhein, weiter gehts nicht. Also für einen Menschen, der irgendwas schaffen will, was es auch immer sei, der irgendwie wirken will, ist da kein Platz. Und so hab ich es dann mit einem idealen Östreichertum versucht, das es ja wohl irgend einmal irgendwo gegeben haben muß, woher hätten wirs denn sonst? Woher denn unsere Sehnsucht danach? Und das es ja wohl auch, wenn wir nicht bis dahin gestorben sind, wieder einmal irgendwie geben wird! Dieses Östreichertum ist ja nun was sehr Schönes, und eigentlich hats ja jeder, ich kenn keinen anständigen Menschen bei uns, ders nicht hätt, nur wissen es die meisten halt nicht und gebens nicht zu! Die paar aber, dies wissen, daß sie's haben, und dies zugeben, ja schauns, die machen wieder nur ein Geschäft damit. Die wahren Östreicher, in denen Östreich ist, wollen von Östreich nichts wissen, und die anderen, die Patrioten, die wollen doch nur was daran verdienen. Und zwischen diesen beiden ist man eingezwickt! Nur daß die Patrioten wenigstens noch gescheiter sind, die spürens wenigstens, wenn einer ein fähiger Mensch ist, und wollen ihn haben und bieten ihm etwas, während die anständigen Menschen bei uns, wie sie den Verdacht haben, daß einer Talent haben könnt, so lang auf ihn losdreschen, bis es ihm vergeht. Zwischen den beiden aber aufrecht zu bleiben, nein, so stark ist noch keiner gewesen! Der alte Walterskirchen sitzt hinter einer hohen Mauer versteckt und wirft mit Steinen auf jeden, der in die Nähe kommt; irgendwo bei Salzburg haust er ja, hör ich, und in der ganzen Umgegend habens Angst vor ihm. Und der Burckhard geht mit seinen Hunden auf der Franzosenschanz herum, im Wald am Wolfgangsee, und hat nicht einmal eine Glocken, damit ihm nur ja niemand hereinkommen kann. So sehen bei uns die paar starken Menschen aus, die wir gehabt haben oder die wir hätten haben können, so sehen nach einiger Zeit die starken Menschen aus, nach Gebrauch: Einsiedler, Sonderlinge! Ich aber, Fräulein Annalis, ich bin kein starker Mensch.« Er sah auf und fragte: »Warum lachen Sie mich aus?«

»Nein, sagte Fräulein Annalis, ich lach nicht über Sie, mir fällt nur was ein. Nämlich der Prinz Adolar, der beim Ignaz lernt und mit dem ich manchmal plausch, klagt mir auch immer vor, daß er kein starker Mensch ist, und wenn der alte Radauner, wissens, der den ewigen Klee malt, sich über den Höfelind ärgert, nennt er ihn immer einen Sonderling. Drum kommts mir komisch vor, dieselben Worte jetzt auch von Ihnen zu hören.«

»Das ist es halt, sagte der Hofrat. Wer bei uns etwas ist, aus dem wird entweder ein Sonderling oder er fühlt, daß er dazu nicht stark genug ist, und kriecht halt unter. Ich bin untergekrochen. Schön ist das ja nicht, Fräulein Annalis! Und wenn ich damals gewußt hätt, wie's einem in Östreich ergeht, wärs anders gekommen. Dann säßen wir heut irgendwo auf dem Land und ich wär ein vergnügter Bauernadvokat.«

»Wer weiß? sagte Fräulein Annalis leise. Wer weiß, ob Sie so vergnügt wären?«

»Jedenfalls mehr als jetzt!« sagte der Hofrat.

»Wer weiß? wiederholte Fräulein Annalis. Sie sagen doch selbst, Sie sind kein starker Mensch! Denen machts das Schicksal halt nie recht!«

»Sie glauben mir nicht!« sagte der Hofrat, achselzuckend.

»Ich glaub Ihnen schon, sagte Fräulein Annalis. Aber Östreich umändern kann ich auch nicht, sinds mir nicht bös!«

»Ich hab Ihnen ja nur erklären wollen, sagte der Hofrat, wie aus mir schließlich nichts als ein alter Hofrat geworden ist. Nein, schön ist es nicht. Aber meine ehemaligen Freund, die noch immer die Wacht am Rhein singen, habens nicht nötig, mich zu verachten! Die nicht!«

Die närrische Uhr schlug wieder an, mit ihrem tiefen warnenden Klang.

Der Hofrat sagte: »Wenn ein Mensch sein ganzes Leben zum Opfer bringt, muß er wenigstens wissen wofür. Ich aber weiß jetzt, daß es für nichts war. Es ist bei uns nichts da, wofür man sich opfern könnt. Das Opfer bleibt liegen, niemand hat was davon. Und man steht am Ende vor sich selbst so grenzenlos lächerlich da. Dann aber fragen Sie: was wollens denn noch? Und alle meine ehemaligen Freund sagen: Der hats erreicht! Wenn nämlich bei uns einer zuletzt aufs Trockene gesetzt wird, heißts, daß er es erreicht hat. Ein Titel, eine Pension, und man hats erreicht! Ja, ich habs erreicht, daß ich nichts mehr will. Denn das ist ja bei uns verboten, etwas zu wollen. Nein, ich will nichts mehr. Aber halt nur Whistspielen mit der alten Exzellenz Klauer und dem Hofrat Wax und dem kleinen Chrometzky, jeden Abend, is doch eigentlich ein bißl wenig, wenn man noch nicht einmal fünfzig ist.«

»Ich kann aber Whist nicht«, sagte Fräulein Annalis.

»Nein«, sagte der Hofrat in einem so traurigen und untröstlichen Ton, daß sie lachen mußte, laut heraus. Aber sie wurde still, als sie seine verstaubte Stimme sagen hörte: »Hören Sie nicht, daß es mir sehr ernst ist?« Und ganz leise fuhr er fort: »Seit dem Tod meiner Frau irre ich herum. Solang sie gelebt hat, gings noch. Romantische Gefühle haben wir ja nicht füreinander gehabt. Sie war immer krank, ich hatte keine Zeit, sie wär auch erschrocken, wenn ich ihr je was von meinen Plänen, Sorgen oder Wünschen gesagt hätte, das konnte man nicht, sie nahm gleich alles zu schwer, sie war merkwürdig. Heiter ist das nicht gewesen, es war vielleicht auch meine Schuld, sie war ein so ganz eingezogenes und verkrochenes Ding, man hätt ihr erst Mut machen müssen, herauszukommen, aber ich hatte ja nie Zeit. Jetzt denk ich freilich manchmal, ich hätte mir mit ihr ein bißchen Mühe geben müssen, vielleicht war sie mehr, als man ihr angesehen hat. Gerade in den letzten Wochen, unmittelbar vor ihrem Tod, hatte ich ein Gefühl, als ob sie was quälte, vielleicht eben, daß wir nie dazu gekommen waren, uns einmal eigentlich auszusprechen. Da war sie aber schon zu schwach. Nun ich wollte ja nur sagen, wir sind einander bis zuletzt ziemlich fremd geblieben, bei aller Hochachtung, die ich vor ihrem Charakter gehabt habe, sie hat es ja mit ihren Pflichten sehr streng genommen und ich kann nur sagen, sie ist eine ausgezeichnete Frau gewesen. Ob zu mir nicht vielleicht eine weniger ausgezeichnete Frau besser gepaßt hätte, ich meine eine, die eher etwas Ungebundenheit und einen gewissen Leichtsinn in mein Haus gebracht hätte, das gehört ja nicht hierher, und jedenfalls konnte dafür sie nichts. Ich hatte nicht viel von ihr und doch –« Er hielt ein und dachte nach. Dann sagte er langsam: »Ja, ich verstehs eigentlich selbst nicht, aber als sie gestorben war, fehlte sie mir doch. Bis dahin hatte ich mir wenigstens sagen können, daß ich mich für sie plage. Nun ist sie tot, unser kleines Mädl ist auch gestorben, da muß ich mich fragen: Wozu? Wozu war das eigentlich alles? Wozu plagt man sich und erniedrigt sich und läßt sich sein Leben entgehen? Aber jetzt wirds wohl freilich nicht mehr zu ändern sein.« Er sah auf und sagte, mit seinem ausgegangenen Lächeln um den alten Mund: »Und so, Fräulein Annalis, kanns einem passieren, daß man noch auf seine alten Tag ein Wagnerianer wird und keinen Abend des Herrn Kammersängers Fiechl ausläßt. Man sucht halt so herum, ob sich nicht doch noch was für einen findt. Aber das können Sie sich wohl nicht vorstellen, Sie sind anders.«

Nach einiger Zeit sagte Fräulein Annalis: »Sie haben doch auch einen Buben?«

»Ja«, sagte der Hofrat, in einem leeren Ton. Dann erzählte er: »Mein Bub is im Theresianum. Er ist recht begabt, die Herrn sind alle mit ihm sehr zufrieden. An dem Buben können Sie Ihre Freude haben, sagen mir die Herrn immer. Aber nein. Er macht mir keine Freude. Ich weiß nicht. Aber ich kann halt mit ihm nicht reden. Nun vielleicht liegts auch an mir. Die heutigen Kinder, die heutigen jungen Leute sind mir gar zu klug. Und kalt sind sie, eiskalt.«

Fräulein Annalis sah durchs Fenster zur Kegelbahn hin und fragte lächelnd: »Finden Sie?«

»Sie meinen die dort unten? sagte der Hofrat. Da weiß ich aber nicht, ob mir nicht mein Bub noch lieber ist als der Herr Studiosus Rikinger. Mein Bub macht jedenfalls weniger Lärm.«

»Ja, Herr Hofrat, sagte Fräulein Annalis. Klug und kalt sollen die jungen Leute nicht sein, aber wenns Lärm machen, weil ihnen warm wird, is es Ihnen dann auch wieder nicht recht! Mir kommt vor, Sie verlangen ein bißl zuviel, vielleicht überhaupt. Der Mensch muß wissen, auf welche Seiten er gehört.«

»Nun ja, sagte der Hofrat mechanisch. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr. Aber jetzt hab ich Sie wirklich wohl schon über Gebühr aufgehalten.« Er erhob sich und stand verlegen da.

Fräulein Annalis schien es nicht zu beachten und sagte: »Also nicht wahr, dem Ignaz sein Hans Sachs, das is schon was?«

»Ja, sagte der Hofrat. Ich fehle nie, wenn er singt.«

»Aber wie Sie früher mit dem Ignaz politisiert haben, sagte Fräulein Annalis, da habens ein recht saures Gesicht gemacht.«

»Nein, sagte der Hofrat mit seinem mühsamen Lächeln, politisieren darf man mit ihm wohl nicht. Aber es ist ja genug, daß er singt.«

»Sehns!« sagte Fräulein Annalis; es klang vorwurfsvoll.

»Was meinen Sie?« fragte der Hofrat.

»Ich mein, sagte Fräulein Annalis, man darf von einem Menschen nicht alles verlangen. Am End is keiner viel nutz, aber irgendwas kann jeder. Daran halt ich mich. Aber Sie wollen die Welt verbessern! Und Östreich auch noch! Ich glaub, das is zu schwer.« Und bevor er antworten konnte, sagte sie noch: »Und mich möchtens auch verbessern! Sie haben sich eine Annalis ausgemalt, und jetzt soll ich genau so sein oder Sie sind beleidigt! Aber Ihre Annalis bin ich halt nicht, ich meine die, wie Sie mich gern möchten. Wenn Sie aber g'scheit wären, würdens finden, daß man schon diese Annalis auch ganz gut brauchen kann, die da, wie sie halt jetzt einmal ist.« Leise wiederholte sie: »Sie könnten mich ganz gut brauchen.« Dann sagte sie: »Setzen Sie sich nur wieder hin! Was wollens denn in der Stadt? Tut Ihnen ganz gut, sich einmal ein bissel auszulüften. Und jetzt hab ich schon für Sie decken lassen, also machens mir keine Unordnung! Aber Whist wird nicht gespielt! Kegelscheiben könnens, wenns Lust haben. Man muß sich an den Hausgebrauch halten, Herr Hofrat!«

Der Hofrat setzte sich wieder, sah sie zweifelnd an und sagte leise: »Wenn ich hoffen könnte –?«

»Hoffen könnens gar nix, sagte Fräulein Annalis. Zum Hoffen sind wir alle zwei schon ein bißl zu alt. Und Sie haben mir doch auch grad erzählt, was dabei herauskommt! Sinds froh, wenns von Zeit zu Zeit zum Kammersänger Fiechl kommen dürfen, das ist eine Ehre, für die sich mancher Hofrat die Finger abschlecken möcht! In dem Haus ißt und trinkt man ganz gut, und außerdem hat er eine Schwester, die wirklich eine sehr nette Person sein soll, die wird Ihnen manchmal den Kopf waschen, Sie werden sehen, wie gesund Ihnen das ist! Also was Bessers werdens ja nicht so leicht finden, Herr Hofrat!«

Der Hofrat sagte: »Man weiß nie recht, wie Sie's meinen, Fräulein Annalis.«

»Gott sei Dank! sagte Fräulein Annalis. Das fehlet mir noch, daß sich die Mannsbilder mit mir auskennen möchten! Nein, nein, das ist vorbei, Herr Hofrat, damit müssen Sie sich schon abfinden, das ist jetzt alles vorbei!«

Es klopfte. Sie fragte verwundert: »Was is denn? Herein!« Der Prinz steckte seine lange Nase durch die Türe. Sie schlug die Hände zusammen: »Um Gotteswillen! Der Ignaz hat Ihnen doch ausdrücklich verboten?«

»Verratens mich nicht, Fräuln Annalis!« bat die frohe Knabenstimme.

»Jetzt da hört sich doch alles auf!« sagte Fräulein Annalis. Und da der Hofrat aufstand, fuhr sie fort: »Erlauben Hoheit, daß ich Ihnen den Hofrat Stelzer vorstelle!«

»Ich freue mich sehr«, sagte der Prinz neugierig. Aber plötzlich ärgerte er sich und sagte: »Wie oft soll ich Sie noch bitten, mich einfach als Doktor vorzustellen?«

»Ja wie denn? sagte Fräulein Annalis. Soll ich sagen: Doktor Adolar? Da müßt ich dann auch sagen: Hofrat Julius. Wenn ich aber sag: Doktor von Östreich, glaubt man noch, Sie sind ein Jud. Es geht halt nicht, Hoheit!«

»Die einfachsten Dinge gehen bei mir nicht!« klagte der Prinz. Und eilig bat er den Hofrat: »Aber behalten Sie doch Platz, lassen Sie sich gar nicht stören! Es is ein schreckliches Gefühl, wenn man in kein Zimmer kommen kann, ohne gleich die größte Unordnung anzurichten.«

»Hoheit, sagte Fräulein Annalis, wenn das der Ignaz erfährt! Er hat Ihnen doch ausdrücklich sagen lassen, daß er Sie heut nicht brauchen kann!«

»Ich hab ihn so gebeten!« klagte der Prinz.

Fräulein Annalis sagte: »Da läßt sich nichts machen, heut hat er halt seine jungen Leut bei sich.«

»Ich gehör doch auch zu den jungen Leuten!« schrie der Prinz, zornig aufstampfend.

»Aber doch in ein anderes Fach«, sagte Fräulein Annalis.

»Ich weiß schon, sagte der Prinz traurig. Er geniert sich vor den Studenten, mit mir bekannt zu sein.«

»Wenn man sich wen einladet, sagte Fräulein Annalis, muß man alles vermeiden, was ihm ungemütlich wär. Das müssens doch einsehen, Hoheit!«

»Warum bin ich denn den Studenten aber ungemütlich? sagte der Prinz. Ich will ja gar nichts als mit ihnen lustig sein, halt genau wie die andern auch! Sie wissen doch, Fräulein Annalis, daß ich ganz bescheiden bin!«

»Hoheit, sagte Fräulein Annalis ungeduldig, wenn die Studenten lustig sind, singens die Wacht am Rhein.«

»So?« sagte der Prinz, kleinlaut.

»Das gehört einmal dazu«, sagte Fräulein Annalis.

Nachdenklich sagte der Prinz: »Ich kann ja meinetwegen auch die Wacht am Rhein singen. Das heißt, ich müßt sie halt lernen.«

»Lieber nicht! sagte Fräulein Annalis. Die Studenten hätten keine Freud.«

»Wieso?« fragte der Prinz, erstaunt.

Fräulein Annalis sagte zögernd: »No, den Studenten käm vielleicht vor, daß die Wacht am Rhein dadurch grad nicht besser würde. Bevor man einen den Rosenkranz mitbeten laßt, schaut man sich ihn halt auch erst genauer an, wer er ist.«

»Ja so«, sagte der Prinz und war still.

»Und auch: ein Prinz, der Kegel scheibt! sagte Fräulein Annalis. Schauns, Hoheit, gewisse Sachen gehen halt nicht. Habens gar kein Stilgefühl?«

Der Prinz wurde heftig: »Wenn wir aber, wir, den Leuten sagen würden: gewisse Sachen gehen halt nicht? Ich werde noch finden, daß mein Onkel weniger Vorurteile hat als irgendeiner seiner Untertanen.«

»Sehns, nach und nach kommens schon auf den richtigen Weg! sagte Fräulein Annalis. Zuletzt kommt ein Prinz immer wieder auf seinen richtigen Weg. Deshalb traut man ja keinem.«

»Ich weiß schon, sagte der Prinz. Ihnen sind auch die Studenten lieber! Und ich bin Ihnen gar nichts!« Und mit seiner kindischen Heftigkeit sagte er: »Bitte! Sie können das ja ganz offen sagen, Sie werden nicht eingesperrt!«

Fräulein Annalis sagte, gelassen: »Die Sache ist die, mir ist der Prinz Adolar, dieser hier, viel lieber als der Student Kikinger, aber Studenten sind mir lieber als Prinzen! Außer wenn das vielleicht verboten ist, das wär mir unangenehm, denn eingesperrt möcht ich wirklich nicht werden! Is es vielleicht verboten, Herr Hofrat?«

»Was in Östreich eigentlich verboten und was in einem gegebenen Fall grad erlaubt ist, sagte der Hofrat, das kann Ihnen kein Mensch sagen, Fräulein Annalis! Da müßtens schon den lieben Gott fragen. Und ich fürcht, der weiß es auch nicht!«

Der Prinz freute sich über den Hofrat und sagte listig: »Aber wenn ein Hofrat dabei is, Herr Hofrat, da is doch bei uns überhaupt alles erlaubt, nicht?«

»Hoheit scheinen einen in der Bevölkerung weitverbreiteten Irrtum zu teilen, sagte der Hofrat trocken. Nämlich, daß wir die Dynastie sind, wir Hofräte. Ich kann Hoheit aber versichern, es sieht nur so aus!«

In seiner Art, oft plötzlich grundlos zu erschrecken, sagte der Prinz: »Ich habe Ihnen durchaus nicht zu nahe treten wollen, Herr Hofrat!«

Nun erschrak der Hofrat und sagte: »Hoheit müssen mich mißverstanden haben, ich habe mir bloß einen ja vielleicht nicht ganz passenden Scherz erlaubt, wozu man sich von Fräulein Annalis leicht verleiten läßt.«

»Jetzt bin natürlich ich wieder schuld!« sagte Fräulein Annalis, lachend.

»Mir ist das aber eigentlich alles sehr ernst, sagte der Prinz, traurig. Es ist ja sehr lieb von Ihnen, Fräuln Annalis, daß Sie den Prinzen Adolar wenigstens gelten lassen, wenn Sie schon die Prinzen nicht mögen. Ich mag sie ja auch nicht! Und grad darum möcht ich ja so gern mit den Studenten zusammen sein, damit sie sehen: A das ist ja gar kein Prinz, das ist doch einer wie wir! Aber dazu läßt man mich nie kommen! Hundertmal hab ich Sie gebeten, ich möcht so gern den Nußmenschen kennen lernen, von dem Sie mir immer erzählen! Aber wies heißt, ein Prinz is in der Näh, macht sich jeder aus dem Staub, wenigstens grad die, von denen man was haben könnt! Ich muß aber zu Menschen kommen, ich muß, ich kann nicht weiter allein so durchs Leben stolpern! Gehts denn wirklich nicht, Fräuln Annalis, daß ich ein bißl in die Kegelbahn darf?«

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Hoheit! sagte Fräulein Annalis. Sie wissen doch, wie der Ignaz is, wenn er einmal was nicht will! Und schauns, Hoheit, ich glaub wirklich, Sie überschätzens auch, Sie Menschensucher, Sie überschätzen die Kegelbahn! Mit dem Nußmenschen aber wird sichs schon einmal machen lassen. Jetzt ist er fort.«

»Fort?« fragte der Prinz, gierig.

»Ja, sagte Fräulein Annalis. Wie die Schwalben fort sind, ist er auch fort. Aber eines Tages steckt er schon wieder den Kopf zur Türe herein und tut, als wärs gestern gewesen, daß er einen zum letztenmal gesehen hat.«

»Sehen Sie, sagte der Prinz, neidisch. Er geht einfach fort! Der kann fort.«

»Gehns doch mit!« sagte Fräulein Annalis, spöttisch.

»Ich kann nicht, sagte der Prinz, arglos. Ich hab mein Ehrenwort geben müssen, wie das letztemal meine Schulden bezahlt worden sind. Es is schon viel, daß ich zu Ihnen heraus darf. Was ich da schon oft zusammenlügen muß! Man glaubt, ich hab eine Geliebte!« Er lachte vergnügt. Und er wiederholte, mit einem listigen Gesicht: »Man kann sichs nicht anders erklären, als daß ich irgendwo da heraußen eine Geliebte haben muß.«

»Ich werd noch in einen guten Ruf kommen!« sagte Fräulein Annalis.

Ganz bestürzt sagte der Prinz: »Das möcht ich nicht! Das möcht ich wirklich nicht!« Er sah sie ratlos an. Und zögernd, zweifelnd fuhr er fort: »Es wär Ihnen vielleicht unangenehm?«

»No soll ich mich vielleicht noch freuen?« fragte Fräulein Annalis.

»Nein natürlich nicht!« sagte der Prinz, rasch. Und er fügte zur Entschuldigung hinzu: »Aber die Auffassungen sind da so verschieden!« Und er wiederholte noch einmal, bekräftigend: »Natürlich nicht!«

»Sehns, sagte Fräulein Annalis, was Sie noch alles anrichten werden!«

Der Prinz ließ seinen dünnen Hals hängen und sagte kleinlaut: »Das wär mir aber sehr peinlich! Das wär mir wirklich sehr peinlich! Was könnt man denn da nur tun?« Er schlich durch das Zimmer. Plötzlich blieb er stehen und sagte: »Aber nein, Fräulein Annalis! Wer Sie kennt, traut Ihnen das doch nicht zu!«

»No mir vielleicht noch eher als Ihnen«, sagte Fräulein Annalis.

Der Prinz wendete sich rasch nach ihr um und rief überrascht: »Nicht wahr? Natürlich!« Er dachte noch einmal darüber nach und sagte dann, die Worte dehnend: »Ja das auch! Ich hab bei Frauen nie Glück gehabt. Das weiß man doch, nicht wahr?«

»Schad«, sagte Fräulein Annalis.

»Warum denn?« fragte der Prinz, verwundert.

»No das wär vielleicht noch der beste Weg für Sie, sagte Fräulein Annalis langsam. Ich mein, um unter die Menschen zu kommen. Was Sie sich ja doch immer so wünschen!«

»Glauben Sie?« sagte der Prinz, nachsinnend.

»Schauns Ihre Herrn Vettern an! sagte Fräulein Annalis. Die sind bei weitem nicht so vereinsamt, weil sie das Ballett haben.«

Der Hofrat lachte. Das wunderte den Prinzen, und er sagte mit großem Ernst: »Nein, Herr Hofrat, darin scheint mir doch ein ganz bemerkenswerter Gedanke zu stecken. Ich kann mir schon denken, was die Fräuln Annalis meint! Denn dies könnte ja wirklich für unsereinen so eine Art Brücke sein, zum Übergang ins Volk nämlich und in die Menschheit. Von diesem Gesichtspunkte aus hab ich es ja bisher noch gar nicht betrachtet.«

»Ja die gewünschte Fühlung mit dem Volk, sagte Fräulein Annalis, werdens noch am sichersten bei eim Mädl finden. Jedenfalls eher als auf der Kegelbahn!« Sie bemerkte seine Verlegenheit und sagte lachend: »Ja wenn Sie aber schon so erschrecken, wenn man bloß davon redt! In Oberöstreich sin mir halt ordinäre Leut!« Sie lachte laut. »Dem Herrn Hofrat hats ja auch einen Riß geben, weil er aus Mähren is, da sind die Menschen schon viel zivilisierter.«

»Nein, nein, rief der Prinz, halten Sie mich doch nicht für zimperlich! Ich bin Ihnen im Gegenteil sehr dankbar! Recht verstanden, kann das für mich eine ganz neue Anregung werden! Was Sie da gesagt haben, Fräuln Annalis! O ja, o ja!« Er sprang auf seinen schwankenden Beinen durchs Zimmer, mit dem langen Zeigefinger heftig die Verdickung seiner Nase reibend.

»Wieviel Anregungen, Hoheit, kommen bei Ihnen im Tag eigentlich vor?« fragte Fräulein Annalis, ihren Ton wieder so fest zuschließend, daß ihm nichts mehr anzuhören war.

Der Prinz blieb stehen, sah sie verlegen an und sagte: »Mein Gott, man glaubt halt immer, vielleicht hilft dir das, vielleicht wirds das sein! Und so versucht man halt alles der Reihe nach! Und wenn Sie nun, was ja einiges für sich zu haben scheint, meinen, daß das vielleicht ein Weg wär, wenn ich auch wie meine Vettern –« Seine Stimme sank herab, er strengte sich an nachzudenken, und sein langes gelbliches Gesicht war auf einmal wieder ganz alt.

»Es tät Ihnen vielleicht ganz gut«, sagte Fräulein Annalis.

»Nur läßt sich das halt aber auch nicht so forcieren!« sagte der Prinz entschuldigend. Und seine helle Knabenstimme bat: »Sie müssen schon Geduld mit mir haben, Fräulein Annalis! Mit mir braucht man halt eine große Geduld!«

Ein Gong erscholl. Der Hofrat fuhr nervös auf. »Ja, sagte Fräulein Annalis. Wir haben jetzt auch ein Gong. Der Ignaz behauptet, das gehört zur wahren Eleganz.« Und sie sah vergnügt auf den alten Tierarzt und ihre Mutter im schwarzen Kopftuch an der Wand.

»O! sagte der Prinz traurig. Da muß ich wohl jetzt fort? Nicht wahr, dem Herrn Kammersänger wärs nicht recht, wenn ich blieb?«

»Sans so gut! sagte Fräulein Annalis, erschreckt. Er möcht uns schön auszanken! Wenn er sich einmal einbildet, daß er was nicht will, da gibts nichts! Das könntens jetzt schon wissen, Hoheit! Vielleicht nächsten Sonntag! Da will er vielleicht!« Sie lachte. »Es kann ja sein, daß er schon heut auf einmal sagt: Warum kommt eigentlich der Prinz nie, wann die Studenten da sind? Das kann man ja bei ihm nie wissen. No da könnens dann nächsten Sonntag kommen!« Sie stand auf und sagte, den Prinzen ermahnend, der mit seinen verzagten großen Augen an dem Zimmer hing und sich nicht trennen konnte: »Also?«

»Ich geh schon, sagte der Prinz, gehorsam. Es ist aber schad! Ich hätt Ihnen grad heut noch so viel zu sagen gehabt, Fräuln Annalis!«

»Also schreiben Sie sichs halt auf, sagte Fräulein Annalis, daß Sies nicht vergessen! Fürs nächste Mal!«

»Und, sagte der Prinz, indem er sich zum Hofrat wendete, es tut mir leid, ich hätt auch gern die Gelegenheit benützt, mich bei Ihnen über manches zu unterrichten, Herr Hofrat!«

Der Hofrat verneigte sich. Fräulein Annalis sagte: »Bohren's doch nicht jeden Menschen an, Hoheit! Sie glauben rein, jeder ist bloß ein Konversationslexikon für Sie! Lassens schon einmal die Leut in Ruh!«

»Ich geh schon«, wiederholte der Prinz, zur Türe springend, mit seinen knickenden Beinen.

Fräulein Annalis rief ihm nach: »Und gebens nur acht, daß Sie der Ignaz nicht erwischt! Wenn er Ihren Wagen sieht, kanns gut werden!«

Der Prinz drehte sich an der Türe noch um und sagte stolz: »Ich hab den Wagen gar nicht mit. Denken Sie! Ich bin gar nicht im Wagen gekommen. Ich bin in der Elektrischen heraus! Denken Sie, Fräulein Annalis! Einfach in der Elektrischen! Und jetzt fahr ich einfach mit der Elektrischen wieder hinein, ja!« Er lachte sie vergnügt an.

»Nein, was Sie für Heldentaten verüben!« sagte Fräulein Annalis.

»Nicht wahr?« rief der Prinz von der Stiege, glücklich. Und geheimnisvoll setzte er hinzu: »Ich schleich mich hinten im Garten herum, auf den Weinberg hinaus! Da erwischt er mich nicht!« Und sie hörten ihn über die Stiege springen, immer gleich drei Stufen auf einmal hinab, und seine helle Knabenstimme hallte noch herauf: »Adieu, Fräuln Annalis! Adieu!«

»Das scheint eigentlich ein sehr netter junger Mensch zu sein«, sagte der Hofrat.

»Für einen Prinzen! sagte Fräulein Annalis, achselzuckend. »Oben sinds schließlich, wenn mans genau nimmt, ebenso Menschen. Man darf auch nicht ungerecht sein.« Sie ging über die Stiege voraus. Dann sagte sie noch: »Wenn er nur nicht so verweichlicht wär! Daß ein Prinz das hohe C hat, is ja wirklich schön von ihm. Denn bei denen, die malen oder dichten, weiß man doch nie, aber beim hohen C gibts keinen Schwindel. Nur kommts ihm halt gar so wichtig vor!« Und sie wiederholte: »Er kommt sich zu wichtig vor. Und ein Latsch is er halt! Wenn man das aber vielleicht nicht sagen darf, nehm ichs zurück, Herr Hofrat!«

»Es scheint, daß sich die Leute von Ihnen alles sagen lassen«, sagte der Hofrat.

»Weils spüren, sagte Fräulein Annalis, daß ichs gut mein.«

»Oder daß Ihnen schließlich alles recht ist«, sagte der Hofrat.

»Das is ja dasselbe, sagte Fräulein Annalis. Nur wenn einem jemand recht ist, meint man ihms gut. Und sehns, Herr Hofrat –« Sie lachte. »Sehns, wenn halt Ihre Wähler das gespürt hätten, wärens vielleicht nicht durchgeplumpst!«

»Nun ja«, sagte der Hofrat, der sich an ihren Ton noch nicht recht gewöhnen konnte.

Sie traten in das Bauernzimmer. Niemand war da. »He, Hies! rief Fräulein Annalis. Was is denn? Wo sind denn alle?«

Der Diener meldete: »Der Herr Kammersänger hat befohlen, daß ich für ihn und für die Herrn Studenten das Essen in die Kegelbahn bringen soll.«

»Und die Gräfin?« fragte Fräulein Annalis.

Der Diener meldete: »Der Herr Kammersänger hat gesagt, daß ich die Frau Gräfin fragen soll, ob die Frau Gräfin abends hier bleibt. Da hab ich der Frau Gräfin gesagt, daß sie der Herr Kammersänger fragen laßt, und da hat die Frau Gräfin gesagt, daß sie hier bleibt. Dann aber hat der Herr Kammersänger gesagt, daß er da lieber mit den Herrn Studenten in der Kegelbahn bleibt, und er laßt der Frau Gräfin einen guten Appetit wünschen. Da hat die Frau Gräfin gesagt, daß sie doch jetzt schon in die Stadt muß, weils ihr sonst zu spät wurd, und sie laßt sich der Fräuln Annalis noch schönstens empfehlen. Und der Herr Radauner hat telephoniert, daß der Herr Höfelind seinen schlechten Tag hat, und da muß ihn der Herr Radauner trösten.«

»Bravo, Hies! sagte Fräulein Annalis. Jetzt ist die Sache nach allen Seiten hin klar! Und jetzt schauens nur, daß in der Kegelbahn alles am Schnürl geht! Unser Diner hier kann ich schon allein leiten, wir nehmens auch nicht so genau, wir zwei, nicht wahr, Herr Hofrat?« Und als der Diener fort war, sagte sie: »Ja so kommt man unverhofft zum schönsten Tete-a-tete. Glück muß der Mensch haben!« Und ihr großes unbewegliches Gesicht wurde ganz hell, sie neigte sich, wie von ihren schweren Schultern bedrückt, und sah mit ihren verschwiegenen grauen Augen den Hofrat an, der ihr gegenüber an der langen leeren Tafel saß, den Platz oben ließen sie für den Hausherrn frei.

Dem Hofrat wars eher ängstlich, er sagte nachdenklich: »Nun ja, das Leben ist manchmal recht seltsam.«

»Jetzt fangen Sie, sagte Fräulein Annalis, nicht auch noch zu philosophieren an, Sie sind kein Prinz! Höchstens ein verwunschener, das könnt ja sein! Aber da müssens schon geduldig warten, bis ich Sie vielleicht entzaubern werd, ich glaub aber nicht!« Ihr frohes Gesicht paßte gar nicht zu der ernsten Stimme, die traurig sagte: »Ich glaub nicht, Herr Hofrat, ich glaubs halt nicht!«

»Freudenbecher, ein Bier!« schrie der Student Franz Josef Kikinger. Und gleich gings von allen Seiten wieder los: »Freudenbecher, warum krieg ich kein Bier?« Und: »Freudenbecher, wo bleibt mein Bier?« Und: »Freudenbecher, ich will ein Bier!« Und die Kegelbahn erdröhnte: »Freudenbecher, ein Bier, ein Bier, Freudenbecher, ein Bier!« Die Studenten hetzten das Skelett, das atemlos vom Tisch ans Faß und wieder zum Tisch sprang, in großer Sorge um seine Rockschöße, weil die Studenten durchaus verlangten, die Hauptpartie der Hose zu sehen. Aber plötzlich krachte des Kammersängers Baß schwarz ins helle Geschrei der jungen Stimmen: »Freudenbecher! Freudenhektoliter! Freudensündflut!«

»Meine Devotion!« sagte der Freudenbecher, schlug die Hacken zusammen und hielt die Bierkrügel salutierend an die Stirne.

»Hörrre!« sagte der Kammersänger, mit dem R schnarrend, um zu verbergen, daß er seiner Stimme nicht mehr ganz sicher war.

Der Freudenbecher riß seine flehentlichen Augen auf.

»Hörrre mit den Ohrwascheln, grunzte der Kammersänger. Wedel nicht mit den Augen, sondern hörrre! Wedle mit den Ohrrren, Freudenbecher!«

»Könnt mir vielleicht der Herr Studiosus Kikinger seine leihen? sagte das Skelett. Die sind größer!«

Der Student Franz Josef Kikinger fuhr auf, der Kammersänger riß ihn zurück und sagte: »Kusch! Du bist betrunken! Ich bin auch betrunken! Alle sind betrunken! Wer is nicht betrunken? Warum is mein Direktor nicht betrunken? Wo is mein Direktor? Ich will meinen Direktor hauen! Wo is der Hund?« Plötzlich saß er aber wieder aufrecht, es stieß ihn auf, er sprach schluckend: »Freudenbecher, hörrre!«

»Auserlesener Herr Kammersänger!« sagte der Freudenbecher.

»Richtig! sagte der Kammersänger. Also höre, Freudenausguß! Wer bin ich?«

»Der Herr Kammersänger Ignaz Fiechl«, sagte der Freudenbecher, stramm.

»Das wundert mich nicht, sagte der Kammersänger. Jetzt aber! Was bist du?«

»Ein Nichts«, sagte der Freudenbecher.

»Richtig!« sagte der Kammersänger.

»Richtig!« brüllte der Student Franz Josef Kikinger.

»Ein Nichts! wiederholte der Freudenbecher. Aber ich weiß es von mir. Dagegen der Herr Studiosus Kikinger weiß es von sich nicht!«

»Kusch!« sagte der Kammersänger zu dem Studenten Franz Josef Kikinger und hielt ihn zurück. Dann maß er mit seinem wankenden Blick das regungslose Skelett und sagte dumpf: »Ein Nichts! Ferner aber bist du noch etwas! Denn ich ernenne dich hiermit! Freudentropfen, ich ernenne dich zu meinem Bruckner!« Und ihn mit seiner kurzen fleischigen Hand segnend, fuhr er feierlich fort: »Der Bruckner, unser großer Anton Bruckner, du Viech, ein Oberöstreicher, während du nur so ein windiger Wiener bist, hanba! Der Bruckner hat dem Richard Wagner in Wahnfried Bier einschenken dürfen! Und du darfst mir Bier einschenken, du bist mein Bruckner! Heil der Mutter, die dich gebar! Seliger Held!«

Die Studenten schrien: »Heil!«

»Und jetzt bring mir aber einen Enzian! lallte der Kammersänger. Das Bier muß sich setzen!«

»Meine Devotion!« sagte der Freudenbecher, zwei Finger mit den Spitzen an seinen Mund legend.

»Und dann, sagte der Kammersänger nach dem dritten Enzian, dann mußt jetzt aber deine Hosen herzeigen! Sonst kriegst kein Dekret als Bruckner! Wenn einer ein Dekret kriegen will, muß er was hinunterschlucken! Die Hosen! Wir müssen heut die Hosen sehn!«

»Die Hosen!« schrie der Student Franz Josef Kikinger, auf das Skelett stürzend.

»Die Hosen!« schrien die Studenten und hielten ihn fest, bis er bezwungen war. Er lag auf dem Boden, den Kopf zwischen den Beinen des Studenten Franz Josef Kikinger, und so wurde er enthüllt. Die Studenten jauchzten. Der Student Franz Josef Kikinger aber sagte: »Meine Devotion!«

»Pfui, wie gemein! brüllte der Kammersänger. Laßts'n los! Pfui, wie gemein!«

Sie ließen ihn, sie konnten vor Lachen nicht mehr, da war es auf einmal ganz still; nur von unten in der Ferne flog das leise Fiedeln her. Sie lauschten. Die Windlichter flackerten in der dunklen Kegelbahn. Aber durchs Fenster sah der liebe Mond.

Der Kammersänger grunzte, das Bier hatte sich gesetzt, er war wieder ganz klar. Da schauten seine listigen kleinen Augen über den Tisch, und er sagte: »Meine Herrn, Ihr seids wohl gemein!«

Ganz still war es um den Tisch. Das Fenster hatte sich ausgehakt, leise schlug es im Wind an. Das Fiedeln unten erlosch.

»Ihr seids gemein, wiederholte der Kammersänger. Aber das ist ja das Herrliche!« Und breit und stark schritt seine große Stimme in die Nacht hinaus: »Das ist ja das Herrliche, daß der Deutsche so gemein sein kann als er will, denn er weiß, es macht ihm nichts! Das ist ein Deutscher, der alles hat, und wenn er will, singen alle kleinen Engerln in ihm, aber er kann auch den Teufel loslassen, wenn er will! Das muß man wissen. Dann aber's Maul halten! Mit dem Reden, Kinder, kriegt mans doch nie heraus. Saufen, Kinder, dann aber 's Maul halten und horchen, wie schöns da drinnen is, in einer deutschen Brust! Ja, der Mond schaut auch schon her, der möcht das auch gern sehn, das is ein Feiner! Schauts euch den alten Mond an, Kinder!«

So sprach zu seinen Studenten ihr Hans Sachs in der Nacht auf der Kegelbahn.


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