Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil

Die neue Herrschaft kam am nächsten Tage an. Die Knechte und die Magd waren schon in aller Frühe eingetroffen, und als die neuen Besitzer abends das Haus betraten, wußte ich schon, daß sie Monsieur und Madame Alphonse hießen.

Monsieur Tirande blieb zwei Tage auf Villevieille, und bevor er wieder wegfuhr, erinnerte er mich noch daran, daß ich nichts mehr mit der Hofarbeit zu tun, sondern nur seiner Schwiegertochter zu dienen hätte.

*

Gleich in der ersten Woche hatte Madame Alphonse Eugènes Zimmer in eine Wäschekammer umgewandelt. Mich hatte sie sogleich an einen großen Tisch gesetzt, auf dem mehrere Stücke Leinwand lagen, die ich zu allerlei Wäschestücken verarbeiten sollte.

Sie setzte sich neben mich und klöppelte Spitzen; tagelang saß sie so, ohne auch nur ein Wort mit mir zu sprechen.

Manchmal erzählte sie mir von den vollen Wäscheschränken ihrer Mutter.

Ihre Stimme war klanglos, und ihr Mund bewegte sich kaum beim Sprechen.

Monsieur Tirande schien seine Schwiegertochter sehr zu lieben. Jedesmal, wenn er kam, erkundigte er sich nach ihren Wünschen.

Sie liebte nur die Wäsche. So versprach er ihr jedesmal beim Abschied, ihr neue Leinwand zu kaufen.

Monsieur Alphonse erschien fast nur zu den Mahlzeiten. Es wäre mir sehr schwergefallen, zu sagen, womit er seine Zeit ausfüllte.

Sein Gesicht erinnerte mich an das der Oberin. Er hatte wie sie eine gelbe Haut und glänzende Augen; es schien, als schwele in seinem Innern eine Glut, die ihn jeden Augenblick verzehren konnte.

Er war sehr fromm, und jeden Sonntag fuhr er mit Madame Alphonse zur Messe in das Dorf, in dem Monsieur Tirande wohnte.

Anfangs wollten sie mich in ihrem Wagen mitnehmen; aber ich lehnte ab, da ich es vorzog, nach Sainte-Montagne zu gehen, wo ich Eugène oder Pauline einmal zu treffen hoffte.

Manchmal begleitete mich einer der Knechte, aber meist ging ich allein; ich schlug einen Seitenweg ein, der die Strecke beträchtlich abkürzte.

Das war ein holpriger und steiniger Weg, der zwischen Ginster den Hügel hinaufkletterte.

Oben auf dem Hügel angekommen, machte ich vor dem Haus des roten Jean halt.

Dieses Haus war niedrig und geräumig; die Wände waren ebenso schwarz wie das Stroh, das sie bedeckte. Und der Ginster, der es umgab, war so hoch, daß man hätte vorbeigehen können, ohne das Haus zu sehen.

Ich trat jedesmal ein, um dem roten Jean guten Tag zu sagen, den ich kannte, seitdem ich auf dem Pachthof Villevieille war.

Er hatte stets für Meister Sylvain gearbeitet, der ihn sehr schätzte. Eugène sagte, daß man ihn an alles heranlassen könne und daß er immer alles ordentlich mache.

*

Monsieur Alphonse aber wollte ihn nicht mehr beschäftigen; er sprach davon, ihn aus dem Häuschen am Hügel herauszusetzen. Der rote Jean war darüber so bekümmert, daß er nur noch daran dachte.

Gleich nach der Messe ging ich denselben Weg zurück. Jeans Kinder umringten mich, um das geweihte Brot in Empfang zu nehmen, das ich ihnen mitbrachte. Es waren ihrer sechs, und das älteste war noch nicht zwölf Jahre alt. Mein geweihtes Brot war kaum größer als ein Bissen; deshalb gab ich es Jeans Frau, die es in gleich große Stücke teilte.

Inzwischen trug der rote Jean einen Schemel für mich vors Feuer, und er selbst setzte sich auf einen Holzklotz, den er mit dem Fuß bis an den Kamin heranrollte. Seine Frau schürte das Reisigfeuer mit einer schweren Feuerzange; und in dem Kessel, der an einem Haken über dem Feuer hing, sah man große gelbe Kartoffeln kochen.

Gleich am ersten Sonntag hatte der rote Jean zu mir gesagt:

»Auch ich bin ein Waisenkind.«

Und nach und nach hatte er mir erzählt, daß er mit zwölf Jahren bei dem Holzfäller untergebracht worden war, der damals schon das Haus am Hügel bewohnte. Sehr schnell hatte er gelernt, bis in die Wipfel der Bäume hinaufzuklettern, um dort den Strick zu befestigen, der den Baum herabziehen sollte. Wenn dann das Tagewerk beendet war, ging er mit seinem Bündel Holz auf dem Rücken voraus, um schneller wieder ins Haus zu kommen, wo das Töchterchen des Holzfällers die Suppe zubereitete.

Sie war ebenso alt wie er, und sie waren gleich gute Freunde geworden.

Dann – an einem Weihnachtsabend – geschah das Unglück.

Als der alte Holzfäller glaubte, die Kinder seien fest eingeschlafen, ging er zur Mitternachtsmesse. Aber gleich nachdem er fort war, waren sie aufgestanden. Sie wollten, bis der Alte zurück war, das Weihnachtsmahl bereiten, und sie freuten sich schon im voraus auf die Überraschung.

Während das Mädchen Kastanien abkochte und den Honigtopf und den Krug mit Apfelwein auf den Tisch stellte, zündete der rote Jean mit großen Holzscheiten ein Feuer an.

Die Zeit verrann; die Kastanien waren gar, und der Holzfäller kam immer noch nicht heim. Um es wärmer zu haben, setzten sich die Kinder vor dem Feuer auf die Erde, und allmählich schliefen sie eng aneinandergelehnt ein.

Jean erwachte durch die Schreie, die das kleine Mädchen ausstieß. Zuerst begriff er gar nicht, warum sie mit so hocherhobenen Armen vor dem Feuer saß.

Als sie aufsprang und davonlief, sah er, daß sie lichterloh brannte.

Schon hatte sie die Gartenpforte geöffnet, und sie lief hinaus, wobei sie die Bäume beleuchtete. Da hatte Jean sie gepackt und in den Brunnen geworfen.

Das Feuer erlosch sofort, aber als Jean sie wieder herausziehen wollte, kam sie ihm so schwer vor, daß er glaubte, sie wäre tot. Sie rührte sich nicht mehr, und es dauerte lange, bis er sie aus dem Wasser gezogen hatte. Dann brachte er sie ins Haus zurück, indem er sie wie ein Holzbündel hinter sich herschleifte.

Die dicken Scheite waren zu roter Glut geworden; nur das größte, das ein wenig feucht war, rauchte und knisterte noch.

Das Gesicht der Kleinen war nur noch eine riesige schwarzviolette Geschwulst, und ihr halbnackter Körper ließ große rote Flecke sehen.

Sie war viele Monate krank, und als man sie endlich geheilt glaubte, stellte man fest, daß sie stumm geworden war.

Sie hörte sehr gut, sie konnte sogar lachen wie alle anderen, aber es gelang ihr nicht, auch nur ein einziges Wort deutlich auszusprechen.

Während mir der rote Jean all das erzählte, sah ihn seine Frau an, und ihre Augen bewegten sich dabei hin und her, als ob sie in einem Buch läse.

Ihr Gesicht zeigte tiefe Brandnarben, aber man gewöhnte sich sehr schnell daran und sah nur noch ihren Mund mit den weißen Zähnen und ihre ein wenig unruhigen Augen. Sie rief ihre Kinder mit langgedehnten Lauten, und die Kleinen liefen herbei und verstanden all ihre Gebärden.

Auch ich war untröstlich, wenn ich daran dachte, daß sie das Haus am Hügel verlassen sollten.

Sie waren die letzten Freunde, die mir blieben, und mir kam der Gedanke, Madame Alphonse von ihnen zu erzählen, in der Hoffnung, sie würde bei ihrem Mann durchsetzen, daß er sie bei sich behielt.

Eines Tages, als Monsieur Tirande und sein Sohn die Wäschekammer betraten und von allerlei notwendigen Veränderungen auf dem Hof sprachen, fand ich dazu Gelegenheit.

Monsieur Alphonse wollte keine Herden mehr haben. Er sprach davon, landwirtschaftliche Maschinen zu kaufen, die Tannen zu fällen und den Hügel urbar zu machen. Die Ställe sollten als Maschinenschuppen dienen, und aus dem Haus am Hügel sollte ein Futterspeicher werden.

Ich weiß nicht, ob Madame Alphonse ihnen zuhörte; sie arbeitete überaus aufmerksam an ihrer Spitze.

Sobald die beiden Männer gegangen waren, wagte ich, vom roten Jean zu sprechen.

Ich erklärte ihr, wie nützlich er Meister Sylvain gewesen war; ich erzählte, welchen Kummer er darüber empfand, dieses Haus verlassen zu müssen, in dem er schon so lange wohnte; und als ich endlich innehielt, ängstlich besorgt, was für eine Antwort ich wohl bekommen würde, zog Madame Alphonse ihre Häkelnadel heraus und sagte:

»Ich glaube, ich habe mich um eine Masche geirrt.« Sie zählte bis neunzehn und fügte dann hinzu: »Zu dumm, jetzt muß ich die ganze Reihe aufziehen.«

Als ich dem roten Jean davon berichtete, bekam er einen Wutanfall und streckte drohend die Faust gegen Villevieille aus. Aber seine Frau legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn an. Sofort beruhigte er sich.

Ende Januar verließ der rote Jean das Haus am Hügel, und mich überkam eine tiefe Traurigkeit.

*

Jetzt hatte ich keine Freunde mehr.

Ich erkannte den Hof nicht wieder; all jene Leute machten es sich dort bequem, und mir schien, als wäre ich es, die neu hinzugekommen war. Die Magd sah mich mißtrauisch an, und die Knechte vermieden es, mit mir zu sprechen.

Die Magd hieß Adèle. Den ganzen Tag hörte man sie brummen und mit den Holzpantoffeln schlurren. Sie machte selbst Lärm, wenn sie auf Stroh ging. Bei Tisch aß sie im Stehen, und wenn die Herrschaft etwas zu ihr sagte, gab sie unhöfliche Antworten.

Monsieur Alphonse hatte die Bank vor der Tür entfernen und statt dessen kleine grüne Sträucher pflanzen lassen, die mit einem Gitter umgeben waren.

Auch die alte Ulme, auf der an den Sommerabenden immer die Eule geschluchzt, hatte er fällen lassen.

Der alte Baum mußte dem Hause wohl schon sehr lange keinen Schatten mehr spenden: er hatte nur noch ganz oben einen Blätterbusch, und der wirkte wie ein Kopf, der sich herabneigte, um zu hören, was unten gesprochen wurde.

Die Holzfäller meinten, es wäre gar nicht so einfach, ihn zu fällen. Wenn er zu Boden stürzte, konnte er leicht das Hausdach zertrümmern.

Nach langem Hin und Her und nachdem sie immer wieder um ihn herumgegangen waren, beschlossen sie endlich, ihn mit festen Stricken zu umschnüren und so zu ziehen, daß er auf den Misthaufen fallen mußte.

Zwei Männer waren einen ganzen Tag lang damit beschäftigt, und in dem Augenblick, da man glaubte, der Baum werde sich ruhig auf die Seite legen, löste sich einer der Stricke, und die alte Ulme schnellte wieder hoch und fiel dann genau nach der anderen Seite. Sie glitt am Dach herunter, riß den Schornstein und einen Haufen Dachziegel mit und legte sich dann, nachdem sie noch die Hausmauer beschädigt hatte, quer vor die Tür: und nicht ein einziger Ast berührte den Misthaufen.

Monsieur Alphonse konnte einen Wutschrei nicht unterdrücken. Er ergriff die Axt eines Holzfällers und versetzte dem Baum einen so heftigen Hieb, daß ein Stück Rinde absprang und durch das Fenster, dessen Scheibe zerbrach, in die Wäschekammer flog.

Madame Alphonse sah die Glassplitter auf mich fallen und sprang mit einer Lebhaftigkeit auf, die ich nicht an ihr kannte. Mit zitternden Händen und angstvollen Augen untersuchte sie aufs genaueste das Tischtuch, an dem ich gerade stickte.

Aber sie sah nicht, daß ich mit meinem Taschentuch eine kleine Schnittwunde abtupfte, die mir ein Glassplitter auf der Wange beigebracht hatte.

Sie fürchtete so sehr, ihren Wäschestapeln, die allmählich immer mehr wuchsen, könne etwas Furchtbares passieren, daß sie mich am nächsten Tage zu ihrer Mutter mitnahm, um mir dort zu zeigen, wie man Schränke einräumen mußte.

*

Madame Alphonses Mutter hieß Madame Deslois, aber wenn die Knechte von ihr sprachen, sagten sie immer »die Frau vom Schloß«.

Sie war nur ein einziges Mal nach Villevieille gekommen.

Sie war ganz nahe an mich herangetreten und hatte mich mit blinzelnden Augen angesehen.

Sie war groß und ging gebückt, gleichsam als suche sie etwas auf der Erde. Sie wohnte auf dem großen Gut Gué Perdu.

Madame Alphonse schlug einen Pfad ein, der sich längs des Flüßchens hinzog.

Es war Ende März, und die Wiesen standen schon voller Blumen.

Madame Alphonse ging ganz steif mitten auf dem Pfad, mir aber machte es großen Spaß, durch das weiche Gras zu laufen.

Bald kamen wir an den großen Wald, wo mir der Wolf ein Lamm geraubt hatte.

Dieser Wald flößte mir immer noch eine geheimnisvolle Furcht ein, und als wir den Fußpfad am Fluß verließen und einen Waldweg einschlugen, packte mich ein wahres Entsetzen.

Der Weg war jedoch breit; dort mußten sogar oft Wagen vorbeikommen, denn die Radspuren waren sehr tief.

Über unseren Köpfen rieben sich die Tannennadeln knisternd aneinander. Das rief ein sanftes, feines Geräusch hervor, das mit dem leise klirrenden und nur von tiefem Schweigen unterbrochenen Geflüster, das der verschneite Winterwald hatte hören lassen, überhaupt keine Ähnlichkeit mehr hatte. Dennoch konnte ich nicht umhin, mich immerfort umzudrehen.

Wir gingen nicht lange im Wald; der Weg bog nach links ab, und bald befanden wir uns auf dem Gut Gué Perdu.

Auch hier schlängelte sich das Flüßchen wie auf Villevieille hinter den Ställen vorbei; aber die Wiesen drängten sich hier eng aneinander, und man hätte meinen können, daß sich die Gebäude hinter den Tannen verstecken wollten.

Das Wohnhaus sah nicht so aus wie die Wohnhäuser auf den Höfen der Umgebung. Die alten Mauern des Erdgeschosses waren sehr dick, und der erste Stock sah aus, als wäre er nur vorübergehend aufgesetzt worden.

Ich fand durchaus nicht, daß dieses Haus wie ein Schloß aussah, es erinnerte mich vielmehr an einen alten Baumstumpf, aus dem ein kümmerlicher Trieb geschossen war.

Madame Deslois erschien auf der Türschwelle, als sie uns kommen hörte.

Wieder sah sie mich blinzelnd an. Sie sagte sogleich ganz laut, sie hätte vor acht Tagen einen Sou im Stroh verloren, und es wäre doch sehr seltsam, daß niemand ihn bisher gefunden hätte. Dabei wühlte sie mit dem Fuß die dünne Strohschicht auf, die vor der Tür lag.

Madame Alphonse hörte offensichtlich nicht zu. Ihre großen Augen starrten ins Innere des Hauses, und fast ungestüm erklärte sie, weshalb wir gekommen waren.

Madame Deslois wollte mich selbst in die Wäschekammer führen; sie steckte die Schlüssel in die Schränke und ließ mich dann allein, nachdem sie mich ermahnt hatte, ja recht vorsichtig zu sein und nichts durcheinanderzubringen.

Ich hatte die großen glänzenden Schränke schnell geöffnet und wieder zugemacht.

Am liebsten wäre ich sofort wieder weggegangen. Diese große kalte Wäschekammer schreckte mich wie ein Gefängnis: meine Schritte hallten auf den Fliesen, als befänden sich darunter tiefe Keller. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als sollte ich nie mehr aus dieser Wäschekammer herauskommen.

Ich spitzte die Ohren, um das Geräusch der Tiere in den Ställen zu hören, aber ich hörte nur Madame Deslois' Stimme, eine laute und rauhe Stimme, die durch die Wände hindurchdrang und sich überall vernehmen ließ.

Ich ging zum Fenster, um mich weniger allein zu fühlen; da öffnete sich jäh eine Tür hinter mir, die ich nicht bemerkt hatte. Ich wandte mich um und sah einen jungen Mann eintreten, der einen langen weißen Kittel anhatte und eine graue Mütze auf dem Kopf trug.

Er blieb stehen, gleichsam überrascht, jemanden hier vorzufinden, und ich sah ihn immer noch an, ohne die Augen von ihm losreißen zu können.

Er durchquerte die Wäschekammer, ohne daß unsere Blicke voneinander gelassen hätten, und er entfernte sich, wobei er gegen die Täflung der Tür stieß. Eine Minute später ging er am Fenster vorbei, und wieder begegneten sich unsere Blicke.

Mir war unbehaglich zumute, und ohne zu wissen warum, schloß ich die Türen, die er offengelassen hatte.

Gleich darauf kam mich Madame Alphonse holen, und wir schlugen wieder den Weg nach Villevieille ein.

Seit Monsieur Alphonse an Paulines Stelle getreten war, hatte ich die Gewohnheit angenommen, in einen nicht weit vom Hof entfernten Busch zu gehen und mich dort auf einer Stechpalme, die wie ein Sitz geformt war, niederzulassen.

Jetzt, als es Frühling wurde, ging ich um die Stunde, da die Knechte vor der Stalltür ihre Pfeife rauchten, dorthin.

Lange saß ich dort und lauschte den Abendgeräuschen, und dann überkam mich stets ein großes Verlangen, den Bäumen zu gleichen.

An jenem Abend mußte ich an den Mann auf Gué Perdu denken. Aber jedesmal, wenn ich die Farbe seiner Augen feststellen wollte, senkten sie sich so tief in die meinen, daß ich das Gefühl hatte, als würde ich ganz und gar durchleuchtet.

*

Am darauffolgenden Sonntag war Ostern. Adèle war mit in Monsieur Alphonses Wagen zur Messe gefahren. Ich blieb allein mit einem Knecht, um den Hof zu hüten. Nach dem Frühstück legte sich der Mann auf einen Strohhaufen vor der Tür, und ich lief weg und versteckte mich in meinem Busch.

Aufmerksam lauschte ich, um die Glocken zu hören. Aber der Hof lag zu weit von den Dörfern entfernt, und kein Laut drang zu mir herüber.

Meine Gedanken wanderten zu Schwester Marie-Aimée. Ich dachte auch an Sophie, die mich jedes Jahr wecken kam, damit ich die Glocken in der Stadt hören konnte, die alle zugleich das Osterfest einläuteten.

Einmal war sie nicht zur rechten Zeit aufgewacht; sie grämte sich so sehr darüber, daß sie im Jahr darauf einen großen Kieselstein in den Mund nahm, um zu verhindern, daß sie einschlief. Jedesmal, wenn sie der Schlaf übermannte, berührten ihre Zähne den Stein, und sogleich wurde sie wieder wach.

Ich dachte auch an das feierliche Hochamt, bei dem Colette immer mit so kraftvoller Stimme gesungen hatte. Ich sah uns wieder auf den Rasenplätzen umhertollen, sah die überaus geschäftige Miene Schwester Marie-Aimées bei den Vorbereitungen für das große Festmahl.

An jenem Abend aber sollte ich statt des feinen und liebevollen Antlitzes Schwester Marie-Aimées das unangenehme Gesicht Madame Alphonses und die stechenden Augen ihres Gatten sehen, die mir soviel Furcht einflößten. Und bei dem Gedanken, daß ich vielleicht noch lange Zeit auf dem Hof bleiben müßte, überließ ich mich einer tiefen Mutlosigkeit.

Als ich mich ausgeweint hatte, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß die Sonne schon viel tiefer stand. Durch das Geäst des Busches sah ich die langen und dünnen Schatten der Pappeln auf der Wiese immer länger werden, und auch dicht neben mir sah ich einen großen Schatten, der sich bewegte. Er kam näher, verharrte dann und näherte sich abermals.

Ich begriff sofort, daß jemand an meinem Versteck vorbeiging, und beinahe im selben Augenblick betrat auch schon der Mann mit dem weißen Kittel den Busch, wobei er sich bückte, um sich vor den Ästen zu schützen.

Ich verspürte am ganzen Körper ein eisiges Kältegefühl.

Ich faßte mich zwar sehr schnell, war aber nicht imstande, ein nervöses Zittern zu unterdrücken.

Er blieb aufrecht vor mir stehen, ohne zu sprechen.

Ich sah etwas Sanftes in seinen Augen; und ich fühlte, daß die Wärme in meinen Körper zurückkehrte.

Ich bemerkte, daß er wie Eugène ein farbiges Hemd und eine unter dem Kragen geknotete Krawatte trug; und als er zu sprechen begann, war es mir, als ob ich seine Stimme schon seit langem kannte.

Er hatte sich mir gegenüber an einen starken Ast gelehnt, und er fragte mich, ob ich denn keine Angehörigen mehr hätte.

Ich verneinte.

Er ließ einen jungen, mit Knospen besetzten Zweig durch seine Finger gleiten und sagte, ohne mich dabei anzusehen:

»So haben Sie also niemanden auf der ganzen weiten Welt?«

»O nein«, antwortete ich lebhaft, »ich habe ja Schwester Marie-Aimée!«

Und ohne ihm Zeit zu lassen, mich noch weiter auszufragen, sagte ich, wie sehr ich sie liebe und mit welcher Ungeduld ich den Augenblick erwarte, da ich wieder zu ihr zurückkehren dürfte.

Ich war so glücklich, von ihr sprechen zu können, daß ich gar nicht mehr aufhörte.

Ich sprach von ihrer Schönheit und ihrer Klugheit, die, wie mir schien, unübertrefflich waren.

Ich sprach auch von ihrem Kummer am Tage meiner Abreise, und ich malte mir die Freude aus, die sie bei meiner Rückkehr empfinden würde.

Während ich erzählte, wandte er die Augen nicht von meinem Gesicht, aber sein Blick schien in viel weitere Ferne zu gehen.

Nach einem kurzen Schweigen fragte er wieder:

»Lieben Sie denn hier niemanden?«

»Nein«, sagte ich, »alle, die ich liebte, sind fort.« Und ein wenig bitter fügte ich hinzu: »Sogar den roten Jean haben sie fortgejagt!«

»Aber trotz allem«, sagte er, »ist doch Madame Alphonse nicht böse.«

Ich antwortete, daß sie weder gut noch böse sei und daß ich sie ohne Bedauern verlassen würde.

In diesem Augenblick hörte man Räder kreischen; das war der Wagen Monsieur Alphonses, der heimkehrte, und ich erhob mich und ging.

Er trat ein wenig zur Seite, um mich vorbeizulassen, und er blieb allein im Busch zurück.

An jenem Abend war Adèle guter Laune, und ich nutzte den Augenblick, um sie zu fragen, ob sie die Knechte von Gué Perdu kenne. Sie antwortete mir, sie kenne nur die ganz alten, denn seit Madame Deslois Witwe sei, blieben die neuen nicht lange bei ihr.

Eine unerklärliche Furcht hielt mich davon ab, von dem jungen Mann im weißen Kittel zu sprechen; und Adèle bewegte das Kinn und fügte hinzu:

»Zum Glück ist ihr ältester Sohn aus Paris zurückgekommen; jetzt werden es die Knechte wohl nicht mehr so schlecht haben.«

Am nächsten Tage war ich, während Madame Alphonse an ihrer Spitze häkelte, mit einer Näharbeit beschäftigt, und ich dachte dabei an den Arbeiter im weißen Kittel.

Ich konnte ihn in Gedanken nicht von Eugène trennen; er drückte sich genauso aus, und ich fand auch, daß sie eine gewisse Ähnlichkeit hatten.

Gegen Abend glaubte ich, ihn an den Ställen vorübergehen zu sehen, und unmittelbar darauf stand er auch wirklich auf der Schwelle zur Wäschekammer.

Seine Augen glitten über mich hinweg und blieben dann an Madame Alphonse haften; hocherhobenen Hauptes stand er da, und sein linker Mundwinkel war ein wenig heruntergezogen.

Als Madame Alphonse ihn sah, sagte sie mit schleppender Stimme:

»Sieh da, Henri!«

Sie ließ sich auf beide Wangen küssen und zeigte dann auf einen Stuhl neben sich. Er aber schob die Leinwand beiseite und setzte sich ein Stück weiter weg auf die Tischkante.

Da Adèle gerade durch die Wäschekammer ging, sagte Madame Alphonse zu ihr:

»Wenn Sie meinen Mann sehen, sagen Sie ihm, daß mein Bruder hier ist.«

Es dauerte eine Weile, ehe ich begriff; dann aber wurde mir jäh klar, daß er der älteste Sohn von Madame Deslois war.

Ein mir bisher unbekanntes Schamgefühl ließ mich heftig erröten, und ich bedauerte es plötzlich unendlich, daß ich zu ihm von Schwester Marie-Aimée gesprochen hatte.

Mir schien, als hätte ich das Schönste, was ich besaß, in den Wind gestreut, und trotz aller Anstrengungen konnte ich zwei Tränen nicht zurückhalten, die an meinem Munde hängenblieben, bevor sie auf das feine Linnen tropften, das ich säumte.

Henri Deslois blieb lange so auf der Tischkante sitzen.

Immer wieder fühlte ich seinen Blick auf mir ruhen, und er kam mir vor wie ein schweres Gewicht, das mich hinderte, die Stirn zu heben.

Zwei Tage später begegnete ich ihm abermals im Busch.

Als ich ihn auf der Stechpalme sitzen sah, wurden mir die Beine schwach, und ich blieb stehen.

Er erhob sich sofort, um mir Platz zu machen, ich aber starrte ihn immer weiter an.

Seine Augen waren ebenso sanft wie das erstemal, und gleichsam als erwarte er, daß ich ihm wieder eine Geschichte erzähle, fragte er:

»Haben Sie mir heute abend nichts zu sagen?«

Alle Worte, die mir einfielen, kamen mir überflüssig vor, und ich schüttelte verneinend den Kopf.

»Das vorigemal war ich doch Ihr Freund«, fuhr er fort.

Diese Erinnerung vergrößerte noch meinen Schmerz, und ich sagte nur:

»Sie sind Madame Alphonses Bruder.«

Ich verließ ihn und wagte nie mehr, in den Busch zu gehen.

Er kam oft nach Villevieille.

Ich vermied es, ihn anzusehen, aber seine Stimme verursachte mir immer ein großes Unbehagen.

*

Seit der rote Jean fort war, wußte ich nicht recht, was ich mit meiner freien Zeit nach der Messe anfangen sollte. Jeden Sonntag ging ich an dem Haus am Hügel vorüber; manchmal guckte ich durch die Ritzen der Fensterläden, und wenn ich mit der Stirn zufällig an das Holz stieß, gab es einen Laut von sich, der mich entsetzt zurückweichen ließ.

Eines Sonntags bemerkte ich, daß die Tür gar kein Schloß hatte. Ich drückte mit dem Finger auf den Knauf, und sogleich ging die Tür mit großem Lärm auf. Ich war nicht darauf gefaßt, daß sie so schnell aufgehen würde, nun stand ich da, und am liebsten hätte ich sie wieder zugemacht und wäre davongelaufen. Als das Geräusch dann verstummt und die Sonne ins Zimmer gedrungen war, das sie in ein großes helles Viereck verwandelte, entschloß ich mich, ebenfalls einzutreten, wobei ich die Tür aufließ.

Im großen Kamin fehlten sowohl der Kesselhaken als auch die hohen Feuerböcke; nur die dicken Holzklötze, die den Kindern des roten Jean als Sitzgelegenheit gedient hatten, standen noch in der großen Stube. Die Rinde war ganz abgeschabt, und die Oberfläche war vom vielen Gebrauch ganz glänzend geworden, wie gebohnert. Das zweite Zimmer war vollständig leer, es war nicht gepflastert, und die Bettpfosten hatten Löcher in den gestampften Boden gebohrt.

Die Hintertür war ebenfalls unverschlossen, und bald war ich im Garten.

Auf den Beeten fand sich hier und da noch ein wenig Wintergemüse, und die Obstbäume standen in voller Blüte.

Die meisten von ihnen waren sehr alt, mehrere waren höckerig geworden, und ihre Äste senkten sich herab, als empfänden sie sogar die Blüten als eine zu schwere Last.

Am Ende des Gartens weitete sich der Hügel zu einem sanften Abhang, der bis zu einer unermeßlichen Ebene hinabreichte, auf der Herden weideten; und ganz hinten bildete eine Reihe Pappeln eine Art Barriere, die dem Himmel den Zugang zur Ebene verwehrte.

Nach und nach erkannte ich jedes Fleckchen wieder. Dort am Fuße des Hügels ist der kleine Fluß. Ich kann das Wasser nicht sehen, aber die Weiden scheinen zur Seite zu treten, um ihn hindurchzulassen.

Er verschwindet hinter den Gebäuden von Villevieille, deren Dächer die gleiche Farbe haben wie die Kastanien – und da ist er auch schon auf der anderen Seite. Hier und da schimmert er zwischen den Pappeln hindurch und dringt dann in den großen Tannenwald ein, der ganz schwarz wirkt und das Gut Gué Perdu verbirgt: an ihm entlang war ich damals Madame Alphonse gefolgt, als wir zu ihrer Mutter gingen ... Ihr Bruder mußte an dem Tage, da er plötzlich vor mir im Busch aufgetaucht war, auf dem gleichen Pfad gekommen sein.

Heute ging niemand diesen Pfad entlang. Alles war in zartes Grün gehüllt; und so aufmerksam ich auch zwischen den blühenden Bäumen hindurchspähte – kein weißer Kittel ließ sich sehen.

Auch den Busch suchte ich mit den Augen, aber er wurde durch die Dächer des Hofes verdeckt.

Henri Deslois war seit dem Osterfest bereits mehrmals dorthin gekommen. Ich hätte nicht sagen können, woher ich das wußte; aber an diesen Tagen konnte ich einfach nicht anders, ich mußte im Busch umherlaufen.

Am Tage zuvor war Henri Deslois in die Wäschekammer gekommen, als ich gerade allein war: er hatte eine Bewegung gemacht, als ob er mich ansprechen wollte.

Sogleich hatten sich meine Blicke auf ihn geheftet, wie das erstemal, und er war fortgegangen, ohne etwas zu sagen.

Und nun, da ich in diesem uneingezäunten, ganz und gar von blühendem Ginster umgebenen Garten stand, überkam mich der Wunsch, immer dort zu wohnen.

Ein großer Apfelbaum neigte sich zu mir herab und tauchte die Spitzen seiner Äste in die Quelle.

Die Quelle brach aus einem hohlen Baumstamm hervor und rieselte in kleinen Bächen zwischen den Beeten hindurch.

Dieser Garten voll Blumen und klarem Quellwasser erschien mir als der schönste Garten der Welt, und jedesmal, wenn ich mich nach dem Hause umwandte, das der Sonne weit geöffnet war, erwartete ich, daß irgendein ganz besonderes Wesen heraustreten würde.

Dieses niedrige, ungestrichene Haus schien mir voller Geheimnisse: ab und zu drang jäh und unregelmäßig ein leises Schurren daraus hervor, und plötzlich glaubte ich doch richtig das Geräusch zu hören, das Henri Deslois verursachte, wenn er auf Villevieille den Fuß auf die Schwelle setzte.

Ich lauschte, gleichsam als hoffte ich, ihn kommen zu sehen. Aber das Geräusch der Schritte wiederholte sich nicht, und bald bemerkte ich, daß der Ginster und die Bäume vielerlei geheimnisvolle Töne von sich gaben.

Ich stellte mir vor, ich sei ein ganz junger Baum, den der Wind nach Belieben entwurzeln konnte. Derselbe frische Lufthauch, der die Ginsterbüsche wiegte, strich über mich hin und zerzauste mein Haar; und um es dem Apfelbaum gleichzutun, beugte ich mich herab und tauchte meine Finger in das klare Quellwasser.

Ein abermaliges Geräusch ließ mich zum Haus hinschauen, und ich war gar nicht erstaunt, als ich Henri Deslois im Türrahmen erblickte.

Er stand da, mit bloßem Kopf und herabhängenden Armen.

Er ging ein paar Schritte in den Garten hinein, und seine Augen blickten in die Ebene hinaus.

Sein Haar war seitlich gescheitelt, und über den Schläfen wölbte sich eine sehr hohe Stirn.

Lange verharrte er so, ohne sich zu rühren; dann wandte er sich mir ganz zu.

Nur zwei Bäume trennten uns. Er trat noch einen Schritt vor und griff dann mit einer Hand nach einem ganz jungen Bäumchen, das vor ihm stand und dessen Blütenzweige gleichsam einen Blumenstrauß über seinem Kopf bildeten. Um mich her war alles so licht, daß es mir schien, als glitzere die Rinde der Bäume, als strahle jede Blume, und in Henri Deslois' Augen lag so viel Zärtlichkeit, daß ich mich ihm ohne jede Befangenheit näherte.

Er bewegte sich nicht, aber als ich vor ihm stehenblieb, wurde sein Gesicht weißer als sein Kittel, und seine Lippen zitterten.

Er ergriff meine Hände, preßte sie fest gegen seine Schläfen und sagte ganz leise:

»Ich bin wie ein Geiziger, der seinen Schatz wiedergefunden hat.«

In diesem Augenblick begann die Kirchenglocke von Sainte-Montagne zu läuten. Die Klänge schwebten zum Hügel herauf und verloren sich hoch oben, nachdem sie sich eine Weile über unseren Köpfen ausgeruht hatten.

Die Stunden schwanden mit dem Tag; die Herden verließen eine nach der anderen die Ebene; weißer Dunst stieg von dem kleinen Fluß auf; dann glitt die Sonne hinter die Pappelbarriere, und die Ginsterblüten wurden nach und nach dunkler.

Henri Deslois begleitete mich bis zu dem Weg, der zum Hof führte; er ging vor mir auf dem schmalen Pfad, und als er mich kurz vor der Kastanienallee verließ, fühlte ich, daß ich ihn mehr liebte als Schwester Marie-Aimée.

Das Haus am Hügel wurde unser Haus.

Jeden Sonntag traf ich dort Henri Deslois, und wie zur Zeit des roten Jean brachte ich das geweihte Brot mit, das wir lachend miteinander teilten.

Wir fühlten eine Art Freiheitsrausch in uns, der uns im Garten herumtollen ließ, bis unsere Schuhe ganz durchnäßt waren vom rieselnden Quellwasser.

Henri Deslois sagte:

»Am Sonntag werde auch ich siebzehn Jahre.«

Manchmal unternahmen wir lange Spaziergänge in die den Hügel umgebenden Wälder.

Henri Deslois wurde nicht müde, mir zuzuhören, wenn ich von meiner Kindheit und von Schwester Marie-Aimée erzählte. Wir sprachen auch von Eugène, den er kannte. Er sagte, daß Eugène einer von den Menschen sei, die man gern zu Freunden hat.

Ich sagte ihm auch, was für eine schlechte Schäferin ich gewesen sei; und obwohl ich glaubte, er werde sich über mich lustig machen, erzählte ich ihm die Geschichte mit dem geschwollenen Schaf. Er lachte mich nicht aus, sondern strich mir mit einem Finger über die Stirn und sagte:

»Es gehört viel Liebe dazu, um so etwas zu heilen!«

*

Eines Tages blieben wir vor einem unabsehbaren Kornfeld stehen. Tausende von Schmetterlingen flatterten über den Ähren. Henri Deslois sprach nicht, und ich betrachtete die Ähren, die sich neigten und wieder aufrichteten, als wollten sie Anlauf nehmen, um zu fliehen. Man hätte meinen können, daß ihnen die Schmetterlinge Flügel brachten, um ihnen zu helfen. Aber die Ähren mochten sich noch so sehr bewegen, es gelang ihnen nicht, sich von der Erde loszureißen.

Ich sagte das Henri Deslois, der das Kornfeld lange betrachtete; dann sagte er schleppend, gleichsam als spräche er zu sich selbst:

»Dem Menschen geht es ebenso; zuweilen tritt ein sanftes Geschöpf in sein Leben, das den weißen Schmetterlingen der Ebene gleicht; er weiß nicht, ob es von der Erde emporsteigt oder sich von oben herabsenkt; er fühlt, daß er mit diesem Geschöpf vom vorüberstreichenden Wind und dem Honig der Blumen leben könnte. Aber wie die Wurzel den Halm an die Erde fesselt, verknüpft ihn ein geheimnisvolles Band mit seiner Pflicht, die stark ist wie die Erde.«

Seine Stimme schien mir schmerzlich bewegt, und mir war, als zögen sich seine Mundwinkel noch tiefer herab. Aber fast im selben Moment blieben seine Augen an mir hängen, und er sagte mit fester Stimme:

»Haben wir Vertrauen zueinander.«

*

Der Sommer verging, dann der Herbst. Und trotz des schlechten Dezemberwetters konnten wir uns nicht entschließen, das Haus am Hügel zu verlassen.

Henri Deslois brachte Bücher mit, und wir lasen sie in dem Zimmer, das nach dem Garten hinausging, wo wir auf den Holzklötzen saßen. Wenn es dunkel wurde, kehrte ich zum Hof zurück, und Adèle, die glaubte, daß ich in meiner freien Zeit zum Tanz ins Dorf ginge, wunderte sich immer, daß ich so traurig war.

Henri Deslois kam fast täglich nach Villevieille. Ich hörte ihn schon von weitem kommen. Er ritt auf einer ungesattelten und ungezäumten großen weißen Stute, die schwerfällig dahintrottete und ihn über Sturzäcker und Pfade trug. Es war ein geduldiges, sanftes Tier. Sein Herr ließ es frei im Hof herumlaufen, während er seiner Schwester guten Tag sagen kam. Sobald Monsieur Alphonse ihn hörte, kam er in die Wäschekammer.

Sie unterhielten sich dann über die Verbesserung der Felder oder über gemeinsame Bekannte. Doch schlich sich in das Gespräch immer ein Wort oder ein Satz ein, der mir galt und einem sichtbaren Gedanken Henri Deslois' glich.

Oft begegnete ich dem Blick Monsieur Alphonses, und meistens wurde ich unwillkürlich rot.

Eines Nachmittags, als Henri Deslois lächelnd hereintrat, rief ihm Monsieur Alphonse entgegen:

»Wissen Sie was, ich habe das Haus am Hügel verkauft!«

Die beiden Männer starrten sich an: sie wurden beide so bleich, daß ich fürchtete, sie würden auf der Stelle tot umfallen. Dann erhob sich Monsieur Alphonse von seinem Stuhl und lehnte sich an den Kamin, während Henri Deslois sich vergeblich abmühte, die Tür zu schließen.

Madame Alphonse ließ ihre Spitzenarbeit auf die Knie sinken, und sie sagte, als wiederhole sie eine Lektion:

»Dieses Haus ist zu nichts nutze, und ich bin sehr froh, daß es verkauft ist.«

Henri Deslois setzte sich so dicht neben mir auf den Tisch, daß er mich beinahe berührt hätte, und er sagte mit ziemlich fester Stimme:

»Ich bedaure, daß ihr es verkauft habt, ohne mit mir darüber zu sprechen, denn ich hatte die Absicht, es zu kaufen.«

Monsieur Alphonse krümmte sich wie ein Wurm. Er bemühte sich krampfhaft, in ein schallendes Gelächter auszubrechen, und stieß dann lachend hervor:

»Kaufen, kaufen! Aber was hätten Sie denn damit gemacht?«

Henri Deslois legte die Hand auf meine Stuhllehne und antwortete:

»Ich hätte darin gewohnt wie der rote Jean.«

Monsieur Alphonse begann vor dem Kamin auf und ab zu gehen; sein Gesicht war quittengelb geworden; er hatte die Hände in den Hosentaschen, und seine Füße lösten sich bei jedem Schritt so schnell vom Boden, daß man meinen konnte, er zöge sie mit einer Schnur hoch, die er in den Händen hielt.

Dann stützte er sich uns gegenüber auf den Tisch, musterte uns nacheinander mit seinen stechenden Augen und sagte plötzlich, wobei er mit dem ganzen Oberkörper vorschnellte:

»Nun, ich habe es verkauft, und damit ist alles aus!«

Während des darauffolgenden Schweigens hörte man die weiße Stute mit den Hufen an der Schwelle scharren, gleichsam als riefe sie ihren Herrn.

Henri Deslois ging zur Tür, kam aber noch einmal zu mir zurück, um meine Näharbeit aufzuheben, die mir aus den Händen geglitten war, ohne daß ich es bemerkt hatte.

Er umarmte seine Schwester, und bevor er ging, sah er mich an und sagte:

»Bis morgen!«

*

Am nächsten Morgen erschien Madame Deslois in der Wäschekammer.

Sie kam geradewegs auf mich zu und schleuderte mir beleidigende Worte entgegen.

Monsieur Alphonse brachte sie jedoch mit einer Handbewegung zum Schweigen; dann wandte er sich mir zu und sagte in freundlichem Ton:

»Madame Alphonse läßt Ihnen durch mich sagen, daß ihr viel daran liegt, Sie bei sich zu behalten. Sie wünscht nur, daß Sie künftig mit uns zur Messe gehen.« Er versuchte zu lächeln, als er hinzufügte: »Sie werden im Wagen hinfahren.«

Es war das erstemal, daß er mich direkt ansprach. Seine Stimme schien mir ein wenig verschleiert, als sei es ihm peinlich, mir das zu sagen.

Ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken kam, daß Madame Alphonse sicher nichts von alledem wüßte und daß er log. Er ähnelte in diesem Augenblick der Oberin so sehr, daß ich mich nicht enthalten konnte, ihm Trotz zu bieten.

Ich antwortete, daß ich nicht gern im Wagen führe und daß ich auch weiterhin nach Sainte-Montagne gehen würde.

Er biß sich auf die Unterlippe.

Da kam Madame Deslois drohend auf mich zu und schrie, daß ich eine unverschämte Person sei. Sie sagte dieses Wort immer wieder, als fände sie kein anderes.

Sie schrie es immer lauter und verlor bald jedes Maß. Das Weiße in ihren Augen wurde ganz rot, und sie hob die Hand, um mich zu schlagen.

Ich wich jäh zurück und trat hinter meinen Stuhl. Der Schlag traf, den Stuhl, warf ihn um, und Madame Deslois mußte sich am Tisch festhalten, um nicht zu fallen.

Ihr heiseres Schreien flößte mir Abscheu ein.

Ich wollte die Wäschekammer verlassen; aber Monsieur Alphonse hatte sich vor die Tür gestellt, wie um sie zu bewachen, und so stand ich denn Madame Deslois wieder gegenüber, nur der Tisch war zwischen uns.

Sie sprach jetzt mit erstickter Stimme. Sie sagte Worte, deren Sinn ich nicht verstand. Ich fand nur, daß sie von einem unerträglichen Geruch begleitet waren. Endlich hörte sie auf, nachdem sie aus Leibeskräften geschrien hatte:

»Ich bin seine Mutter, verstehen Sie!«

Monsieur Alphonse kam abermals auf mich zu, faßte mich am Arm und sagte:

»Also, hören Sie zu!«

Ich machte mich los, indem ich ihn zurückstieß, und rannte aus dem Haus.

Die letzten Worte Madame Deslois' drangen in meinen Kopf wie ein spitzer Hammer.

»Ich bin seine Mutter, verstehen Sie!«

O teure Mutter Marie-Aimée, wie gut warst du doch im Vergleich zu dieser anderen Mutter, und wie liebte ich dich in diesem Augenblick! Wie strahlten deine vielfarbig schillernden Augen, wie erhellten sie dein schwarzes Gewand, und wie rein trat dein Antlitz unter der weißen Haube hervor! Ich sah dich so deutlich, als hättest du wirklich vor mir gestanden.

*

Ich war ganz erstaunt, als ich mich vor dem Haus am Hügel wiederfand; und erst da bemerkte ich auch den wirbelnden Schneesturm. Ich suchte im Hause Schutz und ging sofort in das zum Garten hin gelegene Zimmer.

Ich suchte meine Gedanken festzuhalten, aber sie wirbelten in meinem Kopf umher wie Schneeflocken, die gleichzeitig von der Erde aufzusteigen und vom Himmel herabzufallen schienen; und sosehr ich mich auch anstrengte, einen klaren Gedanken zu fassen, mir kamen immer nur Bruchstücke eines Kinderliedes in den Sinn, das die kleinen Mädchen bei ihren Kreisspielen sangen.

In diesem stillen Hause fühlte ich mich wohl.

Es hörte auf zu schneien, und die Bäume kamen mir ebenso schön vor wie an dem Tage, da ich sie in voller Blüte gesehen hatte; und jäh stand das, was sich soeben zugetragen hatte, mir wieder vor Augen.

Wieder sah ich Madame Deslois' Hand mit den eckigen Fingern; ein Schauer schüttelte mich; was für eine abscheuliche Hand, und wie groß sie war!

Und dann der Blick Monsieur Alphonses, als er mich am Arm packte! Nun, da ich diesen Blick wieder vor mir sah, erinnerte ich mich, ihn schon einmal bei einem kleinen Mädchen gesehen zu haben. Eines Tages hatte ich eine vom Baum gefallene Frucht stehlen wollen. Die Kleine war auf mich zugestürzt mit den Worten:

»Gib mir die Hälfte ab, dann sage ich es nicht.«

Mich aber überkam ein tiefer Abscheu, mit ihr zu teilen, und auf die Gefahr hin, von Schwester Marie-Aimée gesehen zu werden, hatte ich die Frucht wieder unter den Baum gelegt.

Und während ich an all das dachte, packte mich ein heftiges Verlangen, Schwester Marie-Aimée wiederzusehen. Am liebsten wäre ich sofort aufgebrochen, aber gleichzeitig dachte ich daran, daß Henri Deslois am Tag zuvor beim Fortgehen gesagt hatte: »Bis morgen!« Vielleicht war er schon auf dem Hof, wartete auf mich und machte sich Sorgen, wo ich stecken mochte. Ich verließ das Haus, um nach Villevieille zu laufen.

Aber schon nach ein paar Schritten sah ich ihn auf dem Wege daherkommen.

Die weiße Stute kletterte mühsam den verschneiten Pfad herauf.

Henri Deslois war bloßen Hauptes wie das erstemal, als er hierhergekommen war; sein Kittel blähte sich im Winde, und er hielt sich an der Mähne seines Tieres fest.

Die Stute blieb vor mir stehen.

Ihr Herr neigte sich herab und ergriff meine beiden Hände, die ich zu ihm emporhob.

In seinem Gesicht lag etwas Gequältes, was ich noch nie an ihm bemerkt hatte. Ich sah auch, daß sich seine Brauen zusammenzogen wie die Madame Deslois'.

Ein wenig außer Atem sagte er:

»Ich wußte, daß ich Sie hier treffen würde.«

Er öffnete nochmals den Mund, und ich war fest davon überzeugt, daß seine Worte mir Freude bereiten würden.

Er drückte meine Hände noch fester und sagte dann mit derselben atemlosen Stimme:

»Hassen Sie mich nicht!« Er wandte die Augen von mir ab, als er hinzufügte: »Ich kann nicht länger Ihr Freund sein.«

Im selben Augenblick glaubte ich, daß mir jemand einen heftigen Schlag auf den Kopf versetzte.

In meinen Ohren rauschte es laut, es war, als ob jemand etwas zersägte. Ich sah, wie Henri Deslois erschauerte, und hörte ihn noch sagen:

»Oh, ist mir kalt!«

Dann fühlten meine Hände nicht mehr die Wärme der seinen; und als ich endlich begriff, daß ich allein auf dem Weg stand, sah ich nur noch einen weißgrauen Fleck, der geräuschlos den verschneiten Pfad entlangzugleiten schien.

*

Langsam ging ich auf der anderen Seite des Hügels den Abhang hinunter. Lange stapfte ich durch den Schnee, der unter meinen Füßen knirschte.

Ich hatte schon die Hälfte des Weges zurückgelegt, als mir ein Bauer Platz in seinem Wagen anbot. Er fuhr ebenfalls in die Stadt, und bald stand ich vor dem Waisenhaus.

Ich läutete, und gleich darauf betrachtete mich die Pförtnerin prüfend durch das Guckloch.

Ich erkannte sie. Es war immer noch Schönauge.

Wir hatten ihr diesen Spitznamen gegeben, weil sie ein großes weißes Auge hatte. Als auch sie mich erkannt hatte, öffnete sie mir. Sie hieß mich eintreten, aber noch bevor sie die Pforte hinter mir geschlossen hatte, sagte sie:

»Schwester Marie-Aimée ist nicht mehr hier.«

Ich antwortete nicht; da sagte sie nochmals:

»Schwester Marie-Aimée ist nicht mehr hier.«

Ich hörte es wohl, gab aber nicht weiter acht darauf; alles war wie im Traum, wo einem die seltsamsten Dinge zustoßen, ohne daß man sich darüber wundert.

Ich blickte in ihr weißes Auge und sagte nur:

»Ich kehre zurück.«

Da schloß sie die Pforte hinter mir und befahl mir, unter dem Schutzdach stehenzubleiben, während sie die Oberin benachrichtigen ging.

Als sie zurückkam, sagte sie, daß die Oberin erst mit Schwester Désirée-des-Anges sprechen wolle, bevor sie mich empfange.

Auf ein Klingelzeichen hin erhob sich Schönauge und machte mir ein Zeichen, ihr zu folgen.

Es hatte wieder angefangen zu schneien.

Im Zimmer der Oberin war es fast stockdunkel. Ich sah zuerst nur das Feuer, das zischend aufflammte. Eine Stimme ließ mich genauer hinschauen.

»Sie kommen also wieder zurück?« sagte die Oberin.

Ich versuchte meine Gedanken festzuhalten; eigentlich wußte ich gar nicht recht, ob ich wirklich zurückkam. Sie fuhr fort:

»Schwester Marie-Aimée ist nicht mehr hier.«

Ich glaubte immer noch den bösen Traum zu träumen und hustete, um daraus zu erwachen; dann blickte ich ins Feuer und suchte zu ergründen, warum es so zischte. Abermals ergriff die Oberin das Wort:

»Sind Sie krank?«

»Nein«, antwortete ich.

Die Wärme belebte mich wieder, und ich fühlte mich wohler.

Endlich begriff ich, daß ich zurückgekehrt war und daß ich vor der Oberin stand. Ich begegnete ihrem starren Blick, und sogleich fiel mir alles wieder ein.

»Sie haben sich nicht sehr verändert«, sagte sie spöttisch. »Wie alt sind Sie denn?«

Ich antwortete, daß ich achtzehn sei.

»Nun«, entgegnete sie, »draußen in der Welt sind Sie nicht gerade viel größer geworden.«

Sie stützte einen Ellbogen auf den Tisch und fragte, warum ich zurückkehre.

Um Schwester Marie-Aimée wiederzusehen, wollte ich zuerst antworten, aber ich hatte Angst, sie würde mir nochmals sagen, daß Schwester Marie-Aimée nicht mehr da sei; deshalb schwieg ich.

Sie nahm einen Brief aus einer Schublade, den sie mit der flachen Hand glättete, und sagte mit verdrossener Miene, wie jemand, den man wegen einer Lappalie stört:

»Dieser Brief hatte mich schon wissen lassen, daß Sie ein hochmütiges und freches Ding geworden sind.« Sie schob den Brief mit einer müden Handbewegung von sich, und nachdem sie tief Atem geholt hatte, fuhr sie fort: »Sie werden der Küche zugeteilt, bis man einen anderen Platz für Sie gefunden hat.«

Das Feuer zischte ohne Unterlaß. Ich blickte immer noch hinein, ohne herauszubekommen, von welchem der drei Scheite das Zischen ausging.

Die Oberin hob ihre monotone Stimme, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie setzte mich davon in Kenntnis, daß Schwester Désirée-des-Anges mich streng überwachen werde und daß es mir nicht erlaubt sei, mit meinen ehemaligen Gefährtinnen zu reden.

Ich sah, wie sie mit der Hand nach der Tür wies, und ich ging hinaus in den Schnee.

Ganz hinten, jenseits der Alleen, erblickte ich die Küche. Schwester Désirée-des-Anges stand lang aufgeschossen und aufrecht vor der Tür und erwartete mich. Alles, was ich von ihr sah, war ihre Haube und ihr schwarzes Gewand, und ich stellte sie mir alt und vertrocknet vor.

Mir kam der Gedanke, mich aus dem Staube zu machen; ich brauchte bloß zur Pforte zu laufen und Schönauge zu sagen, ich wäre nur zu Besuch gekommen; sie würde mich hinauslassen, und alles wäre erledigt. Aber statt auf die Pforte zuzugehen, lenkte ich meine Schritte nach den Gebäuden, in denen ich meine Kindheit verbracht hatte.

Ich wußte nicht, warum ich das tat, aber es zog mich unwiderstehlich dorthin. Gleichzeitig spürte ich auch, daß ich sehr müde war, und ich hätte mich gern langgestreckt, um mich richtig auszuschlafen.

Die alte Bank stand immer noch an ihrem Platz; ich fegte mit der Hand den Schnee herunter, der sie bedeckte, und setzte mich, wobei ich mich an die Linde lehnte, wie einstmals der Herr Pfarrer.

Ich wartete auf irgend etwas und wußte doch nicht worauf. Ich blickte nach dem Fenster von Schwester Marie-Aimées Zimmer.

Die schönen gestickten Musselinvorhänge waren nicht mehr da, und das Fenster mochte den anderen jetzt auch noch so sehr gleichen, ich fand trotzdem, daß es sich von den anderen unterschied; und wenn sich die dichten Kattunvorhänge auch an keinem Fenster häßlich ausnahmen – dieses eine wirkte durch sie wie ein Antlitz mit geschlossenen Augen.

Allmählich senkte sich die Nacht auf die Alleen herab, und in den Zimmern wurden die Lichter angezündet.

Ich wollte von der Bank aufstehen; ich dachte: Schönauge wird mir jetzt die Pforte öffnen.

Aber plötzlich sagte eine mitleidsvolle Stimme neben mir:

»Ich bitte Sie, Marie-Claire, bleiben Sie nicht so im Schnee sitzen!«

Ich hob den Kopf: vor mir stand eine ganz junge Nonne, deren Gesicht so schön war, daß ich mich nicht erinnern konnte, jemals etwas Schöneres gesehen zu haben.

Sie neigte sich herab, um mir beim Aufstehen zu helfen, und da ich mich nur mit Mühe aufrecht halten konnte, zog sie meinen Arm durch den ihren und sagte:

»Stützen Sie sich auf mich!«

Ich bemerkte sofort, daß sie mich auf die Küche zuführte, deren breite Glastür hell erleuchtet war.

Ich dachte an nichts mehr. Spitze harte Schneekörner zerstachen mir das Gesicht, und ich fühlte, daß meine Lider heftig brannten. Als wir die Küche betraten, erkannte ich zwei junge Mädchen wieder, die vor dem großen viereckigen Herd standen: Véronique, die Schnippische, und die dicke Mélanie, und mir war, als hörte ich wieder die Stimme Schwester Marie-Aimées, die sie immer so zu rufen pflegte.

Nur die dicke Mélanie machte mir ein verstecktes Zeichen, als ich vorbeiging; dann betrat ich mit der jungen Schwester ein Zimmer, das von einer Nachtlampe erhellt war.

Dieses Zimmer war durch einen großen weißen Vorhang in zwei Hälften geteilt.

Die junge Schwester holte hinter dem Vorhang einen Stuhl hervor und sagte, ich solle mich setzen; und sie ging, ohne noch etwas hinzuzufügen.

Bald darauf kamen die dicke Mélanie und Véronique, die Schnippische, um die Betten der kleinen eisernen Bettstelle, die neben mir stand, frisch zu überziehen.

Als sie damit fertig waren, wandte sich Véronique, die bisher vermieden hatte, mich anzusehen, nach mir um und sagte, daß niemand je geglaubt hätte, ich würde einmal zurückkommen. Ihr Gesicht drückte bei diesen Worten Verachtung aus, gleichsam als würfe sie mir etwas Schimpfliches vor.

Die dicke Mélanie faltete die Hände unter dem Kinn. Sie hielt den Kopf noch immer so schief wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie sagte mit einem freundlichen Lächeln:

»Ich bin sehr froh, daß man dich der Küche zugeteilt hat.« Und während sie das Bett ein wenig aufschüttelte, fuhr sie fort: »Du nimmst meinen Platz ein; bisher habe ich hier geschlafen.« Sie zeigte mit dem Finger auf den Vorhang und dämpfte dabei die Stimme: »Dort schläft Schwester Désirée-des-Anges.«

Als sie das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, näherte ich mich dem Eisenbett.

Jener große weiße Vorhang beeindruckte mich. Mir kam es vor, als bewegten sich Schatten in den tiefen Falten, die das Nachtlicht nicht erhellte.

Die Glocke, die zum Essen rief, lenkte meine Aufmerksamkeit ab. Ich erkannte ihren Klang wieder, und unwillkürlich zählte ich die Schläge.

Dann war alles wieder still, und die junge Schwester trat abermals ins Zimmer. Sie brachte mir eine Schale dampfender Fleischbrühe.

Sie schob den Vorhang zur Seite und machte beinahe die gleiche Bewegung wie Mélanie, als sie sagte:

»Hier ist Ihr Zimmer, und dort ist meines!«

Ich war sogleich beruhigt, als ich sah, daß ihr kleines Eisenbett ebenso aussah wie meins. Allmählich wurde mir klar, daß ich Schwester Désirée-des-Anges vor mir hatte, aber ich wagte nicht, daran zu glauben, und so fragte ich sie.

Sie nickte, und während sie ihren Stuhl dicht neben meinen rückte und ihr Gesicht so hielt, daß das Licht darauf fiel, sagte sie:

»Ich glaube wahrhaftig, Sie erkennen mich nicht wieder!«

Ich sah sie an, ohne zu antworten.

Nein, ich erkannte sie nicht, ich war sogar sicher, sie noch nie gesehen zu haben, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß man ihr Gesicht, auch wenn man es nur ein einziges Mal gesehen hatte, je vergessen konnte.

Mit einer drolligen kleinen Schmollmiene sagte sie:

»Ich sehe schon, daß Sie sich gar nicht mehr an die arme Désirée Joly erinnern.«

Désirée Joly? – Ah, und ob ich mich ihrer erinnerte! Sie war damals noch ein junges Mädchen und Novize; ihr Gesicht war rosiger, als Rosen es sind, sie war von zierlichem Wuchs und immer heiter und liebenswürdig. Wenn sie bei unseren Kreisspielen mitmachte, sprang sie so übermütig umher, daß Schwester Marie-Aimée oft zu ihr sagte:

»Aber Mademoiselle Joly, nicht so hoch, man sieht ja Ihre Knie!«

Und wenn ich jetzt Schwester Désirée-des-Anges auch noch so aufmerksam betrachtete, es war mir unmöglich, die geringste Ähnlichkeit zwischen ihnen zu entdecken. Sie sagte:

»Ja, die Nonnentracht verändert uns sehr!« Mit einer lebhaften Bewegung streifte sie ihre Ärmel zurück und fügte dann mit derselben kleinen Schmollmiene hinzu: »Vergessen Sie, daß ich Schwester Désirée-des-Anges bin, und erinnern Sie sich, daß Désirée Joly Sie einst sehr liebhatte.« Und lebhaft fuhr sie fort: »Ich, oh, ich habe Sie gleich erkannt. Sie sehen immer noch aus wie als kleines Mädchen.«

Als ich ihr sagte, daß ich mir Schwester Désirée-des-Anges sehr alt und bösartig vorgestellt hatte, antwortete sie:

»Wir haben uns beide getäuscht; man hatte Sie mir als eitel und hochmütig geschildert. Aber als ich Sie so ganz verlassen mitten im Schnee weinen sah, dachte ich mir, daß Sie vor allem Kummer haben, und deshalb kam ich zu Ihnen hin.«

Nachdem sie mir ins Bett geholfen hatte, teilte sie das Zimmer wieder durch den Vorhang, und bald darauf schlief ich ein.

Aber ich schlief nicht gut. Alle Augenblicke wachte ich auf, immer lag mir ein großer Stein auf der Brust, und wenn es mir gelang, ihn herunterzuwälzen, zersprang er in viele Stücke, die wieder auf mich zurückfielen und meine Glieder zermalmten.

Dann träumte ich, daß ich mich auf einer Landstraße befand, die über und über mit scharfen Steinen besät war. Ich kam nur äußerst mühsam vorwärts; zu beiden Seiten der Straße waren Felder, Weinberge und Häuser.

Alle Häuser waren mit Schnee bedeckt, während zugleich die Sonne fruchtbeladene Bäume beschien.

Ich verließ die Landstraße und ging auf die Felder, und ich blieb vor jedem Baum stehen, um von den verschiedenen Früchten zu kosten; aber alle waren bitter, und mit einem Ekelgefühl warf ich sie weg.

Ich versuchte, in die schneebedeckten Häuser einzudringen, aber keines hatte eine Tür. So kehrte ich zur Landstraße zurück, aber rings um mich häuften sich nun so viele Steine, daß ich keinen Schritt mehr vorwärts kam. Da begann ich um Hilfe zu schreien: ich schrie aus Leibeskräften, aber niemand hörte mich. Und als ich fühlte, daß mich dieser riesige Steinhaufen bald unter sich begraben würde, strengte ich mich so sehr an, mich von ihm zu befreien, daß ich davon erwachte.

Einen Augenblick lang glaubte ich, daß ich noch träumte; die Zimmerdecke kam mir ungewöhnlich hoch vor. Die Stange, an der der weiße Vorhang befestigt war, glänzte an einigen Stellen, und der an die Wand genagelte Buchsbaumzweig warf seinen Schatten bis in die Ecke, in der die Muttergottes ihre Arme ausbreitete.

Dann krähte ein Hahn. Er krähte noch mehrere Male, gleichsam als wolle er sein erstes Krähen damit auslöschen, das nur ganz kurz gewesen war und wie ein Angstschrei geklungen hatte.

Die Nachtlampe fing an zu knistern. Sie flackerte lange, bis sie endlich ganz erlosch; und als es im Zimmer dunkel geworden war, hörte ich die leisen und regelmäßigen Atemzüge Schwester Désirée-des-Anges'.

*

Lange vor Tagesanbruch erhob ich mich, um mit den mir übertragenen Küchenarbeiten zu beginnen.

Mélanie zeigte mir, wie man die riesigen Kochtöpfe heben mußte.

Es gehörte ebensoviel Geschicklichkeit wie Kraft dazu. Ich brauchte länger als eine Woche, bis es mir überhaupt erst gelang, sie von der Stelle zu rücken.

Mélanie war es auch, die mir beibrachte, die schwere Glocke zu läuten, die am Morgen zum Wecken rief: sie zeigte mir, wie man den Rücken beugen mußte, wenn man am Glockenstrang zog. Ich hatte bald heraus, wie man es anstellte, daß der Ton gleichmäßig schwang, und es machte mir jeden Morgen, mochte es nun regnen oder schneien, großen Spaß, die Glocke zu läuten.

Sie hatte einen hellen Klang, den der Wind verstärkte oder dämpfte, und ich wurde nicht müde, ihm immer wieder zu lauschen.

An manchen Tagen läutete ich so lange, daß Schwester Désirée-des-Anges das Fenster öffnete und mit komisch-flehender Stimme rief:

»Genug, genug!«

Seit ich in der Küche war, sah Véronique, die Schnippische, immer ganz auffällig an mir vorbei, wenn sie mit mir sprach, und wenn ich sie nach dem Platz irgendeines Gegenstandes fragte, zeigte sie ihn mir nur mit einer Handbewegung.

Schwester Désirée-des-Anges folgte ihr dann stets mit den Augen, und um ihre Mundwinkel zuckte es spöttisch.

Sie war zwar nicht mehr so übermütig wie damals, als sie noch Novize war, aber immer noch fröhlich und spottlustig.

Abends trafen wir uns dann in unserem Zimmer. Sie brachte mich stets zum Lachen mit ihren drolligen Bemerkungen über die kleinen Tagesereignisse.

Zuweilen geschah es aber auch, daß mein Lachen in einem schmerzlichen Schluchzen endete; dann legte sie die Hände zusammen wie die Heiligen, blickte zum Himmel auf und sagte:

»Oh, wie wünschte ich, daß Ihr Kummer verflöge!«

Dann warf sie sich stets auf die Knie, um zu beten, und oft schlief ich ein, noch ehe ich sie sich hatte erheben sehen.

Die Küchenarbeit fiel mir sehr schwer. Ich half Mélanie beim Scheuern der Töpfe und der Fliesen.

Sie nahm den größten Teil der Arbeit auf sich; sie war stark wie ein Mann und stets hilfsbereit. Sobald sie merkte, daß ich müde war, setzte sie mich gewaltsam auf einen Stuhl und sagte lächelnd, aber bestimmt:

»Mach eine Pause.«

Gleich in den ersten Tagen nach meiner Rückkehr hatte sie mich daran erinnert, wie schwer es ihr gefallen war, den Katechismus zu lernen. Sie hatte nicht vergessen, daß ich ein ganzes Jahr lang alle meine Freistunden damit zugebracht hatte, sie ihn auswendig lernen zu lassen. Und nun war es eine Freude für sie, mich dafür einmal ein wenig ausruhen zu lassen.

Véronique war damit betraut, das Gemüse zuzubereiten und das Fleisch in Empfang zu nehmen.

Steif und mager stand sie neben der Waage, auf die die Fleischerburschen das Fleisch legten.

Oft stritt sie mit ihnen, fand immer, daß die Stücke entweder zu groß oder zu klein geschnitten waren.

Die Burschen wurden schließlich grob, und Schwester Désirée-des-Anges beauftragte mich, an Véroniques Stelle das Fleisch abzunehmen.

Dennoch kam sie am nächsten Tag wieder zur Waage, aber ich stand bereits da, und Schwester Désirée-des-Anges erklärte mir, wie man abwiegen mußte.

*

Eines Morgens stieß einer der beiden Fleischerburschen einen Ausruf des Erstaunens aus, als er meinen Namen nennen hörte. Schwester Désirée-des-Anges trat näher, und ich sah den Burschen ganz erstaunt an: er war das erstemal hier; aber bald erkannte ich ihn, es war der älteste Sohn vom roten Jean. Freudestrahlend kam er auf mich zu; er erzählte sofort von seinen Eltern, die endlich auf dem Schloß Gué Perdu eine gute Stelle gefunden hätten. Er selbst fände keinen Geschmack an der Feldarbeit und hätte bei einem Fleischer in der Stadt in die Lehre gehen wollen.

Er kam aber sofort wieder auf sein erstes Thema zurück und sagte mir, daß das Gut Gué Perdu ganz in der Nähe von Villevieille liege, und er fragte mich, ob ich es kenne; ich nickte.

Dann fuhr er fort zu erzählen, sagte, daß seine Eltern nun schon seit mehreren Monaten dort lebten und daß in der Woche zuvor anläßlich der Hochzeit von Monsieur Henri Deslois ein schönes Fest stattgefunden hätte.

Ich hörte noch einige Worte, deren Sinn ich aber nicht verstand; dann verwandelte sich das helle Tageslicht in der Küche in schwarze Nacht, und ich fühlte, daß sich die Fliesen unter mir senkten und mich in ein bodenloses Loch hinabzogen.

Ich bemerkte noch, daß mir Schwester Désirée-des-Anges zu Hilfe eilte, aber schon hatte sich ein wildes Tier an meiner Brust festgekrallt, das Laute ausstieß, die sich furchterregend anhörten: sie glichen einem entsetzlichen Schluchzen, das immer an ein und derselben Stelle abbrach. Dann wurde es wieder hell um mich, und ich gewahrte die Gesichter Schwester Désirée-des-Anges' und Mélanies über mir. Auf beider Lippen lag das gleiche besorgte Lächeln, und das breite Gesicht Mélanies hatte große Ähnlichkeit mit dem feinen Antlitz Schwester Désirée-des-Anges', aus dem alle Farbe gewichen war.

Ich richtete mich auf, ganz erstaunt, daß ich am hellichten Tage im Bett lag; aber ich stand nicht auf. Ich erinnerte mich wieder des kleinen roten Jean, und während vieler Stunden versuchte ich, meinen Schmerz zu unterdrücken.

Als Schwester Désirée-des-Anges zur Schlafenszeit ins Zimmer trat, setzte sie sich ans Fußende meines Bettes. Sie faltete ihre Hände wieder wie die Heiligen und sagte dann zu mir:

»Erzählen Sie mir von Ihrem Kummer.«

Ich begann zu reden, und mir war, als trüge jedes Wort, das ich aussprach, ein wenig von meinem Leid mit sich fort. Als ich alles gesagt hatte, holte Schwester Désirée-des-Anges die »Nachfolge Jesu Christi« und fing an, laut zu lesen.

Sie las in einem sanften und ergebenen Tonfall, und manche Worte dehnte sie so sehr, daß sie wirkten wie eine allmählich verstummende Klage.

An den folgenden Tagen sah ich den kleinen roten Jean wieder; er sprach abermals von Gué Perdu, und während er von der Zufriedenheit seiner Eltern und der Güte des Herrn erzählte, sah ich das Haus am Hügel wieder vor mir, mit seinem blühenden Garten und der Quelle, von der aus ein unter Ginster verborgenes Bächlein bis zum kleinen Fluß hinabrieselte.

Oft sprach ich zu Schwester Désirée-des-Anges von diesem Haus, und sie hörte mir andächtig zu. Sie kannte die ganze Umgebung und alle seine Winkel und Ecken; eines Abends, als sie nachdenklich sitzen blieb und ich sie nach dem Grund fragte, antwortete sie, wobei sie in die Ferne blickte:

»Der Sommer ist bald zu Ende, und ich glaube, daß die Bäume im Garten noch voller Früchte hängen.«

*

Im September kamen viele Nonnen die Oberin besuchen.

Schönauge meldete sie stets durch ein Glockenzeichen an. Und jedesmal, wenn die Glocke ertönte, ging Véronique hinaus, um zu sehen, wer käme; und für jede Nonne, die sie wiedererkannte, hatte sie ein häßliches Wort.

Gegen Abend schlug die Glocke noch einmal an; Véronique, die an der Tür stand, rief:

»Sieh mal einer an, da ist eine, die niemand erwartet hätte!«

Und indem sie den Kopf zur Küchentür hereinsteckte, sagte sie:

»Es ist Schwester Marie-Aimée.«

Die große Suppenkelle glitt mir aus den Fingern und fiel bis auf den Boden des Topfes.

Ich stürzte zur Tür, wobei ich Véronique beinahe umriß, die mich nicht durchlassen wollte.

Mélanie lief hinter mir her, um mich zurückzuhalten.

»Komm zurück«, rief sie, »die Oberin sieht dich!«

Aber ich war schon bei Schwester Marie-Aimée. Ich warf mich ihr so heftig an die Brust, daß wir beinahe beide gefallen wären.

Mit beiden Armen preßte sie mich an sich. Sie zitterte am ganzen Körper und war wie trunken.

Sie nahm meinen Kopf und küßte mein ganzes Gesicht, gleichsam als wäre ich wieder ein ganz kleines Mädchen.

Ihre Haube knisterte wie Papier, und die weiten Ärmel fielen bis über die Ellbogen zurück.

Mélanie hatte recht: die Oberin sah mich; sie hatte gerade die Kapelle verlassen und kam nun die Allee entlang, in der wir standen.

Schwester Marie-Aimée erblickte sie; sie hörte auf, mich zu küssen, und legte ihre Hand auf meine Schulter, während ich hastig den Arm um ihre Taille schlang, in der Furcht, die Oberin könnte mich von ihr trennen.

Nun blickten wir ihr beide entgegen. Sie ging an uns vorbei, ohne die Augen zu heben; den ehrerbietigen Gruß Schwester Marie-Aimées schien sie gar nicht bemerkt zu haben.

Sobald sie an uns vorbei war, zog ich Schwester Marie-Aimée auf die alte Bank herab. Sie zögerte und sagte, bevor sie sich setzte:

»Man könnte meinen, daß alle Dinge uns hier erwarten.«

Sie setzte sich, ohne sich an die Linde zu lehnen, und ich ließ mich vor ihr im Grase nieder.

Ihre Augen strahlten nicht mehr; es war, als hätten sich die Farben vermischt; dieses ganze so feine Gesicht wirkte kleiner und schien sich in die Tiefe der Haube zurückzuziehen. Ihr Brustschleier rundete sich nicht mehr wie einst über der Brust, und an ihren Händen zeigten sich blaue Adern.

Ihr Blick ruhte schmerzlich auf dem Fenster ihres Zimmers, dann glitt er über die Lindenalleen, schweifte im großen viereckigen Hof umher, und während er auf dem Haus der Oberin verweilte, entschlüpften ihr die leise gemurmelten Worte:

»Wir müssen wohl den anderen verzeihen, wenn wir wollen, daß uns verziehen wird!«

Ihr Blick kehrte zu mir zurück, und sie sagte:

»Deine Augen sind traurig.«

Sie legte ihre Handflächen über meine Augen, gleichsam als wollte sie etwas in ihnen auslöschen, was ihr nicht gefiel; und während sie sie mir noch zuhielt, sagte sie mit derselben murmelnden Stimme:

»So manches Leid kommt über uns!«

Sie zog nun ihre Hände zurück, um sie mit den meinen zu verschlingen, und ohne den Blick von mir abzuwenden, sagte sie mit einem Ausdruck, in dem eine flehentliche Bitte lag:

»Mein sanftes Mädchen, hör auf mich: werde niemals eine arme Nonne!« Ein tiefer Seufzer des Bedauerns entrang sich ihr, dann fuhr sie fort: »Unser schwarz-weißes Gewand kündet den anderen, daß wir starke und reine Geschöpfe sind, und alle Tränen werden vor uns geweint, und alle Schmerzen wollen von uns gelindert werden; aber um uns und unsere Schmerzen kümmert sich niemand; es ist, als hätten wir kein Gesicht.« Dann sprach sie von der Zukunft. Sie sagte: »Ich gehe jetzt dorthin, wohin die Missionare gehen. Dort werde ich in einem Hause des Schreckens leben und alles, was es an Häßlichkeit und Fäulnis in der Welt gibt, unaufhörlich vor Augen haben.«

Ich lauschte ihrer tiefen Stimme; es war, als schwele in ihrem Innern eine Glut, die ihr die Kraft gab, alles Leid der Welt auf sich zu nehmen.

Nun lösten sich ihre Finger aus den meinen. Sie streichelte mir die Wangen, und ihre Stimme wurde ganz sanft, als sie zu mir sagte:

»Die Reinheit deines Gesichts wird mir immer unvergeßlich bleiben.« Und während ihr Blick über mich hinwegging, fügte sie hinzu: »Gott hat uns die Erinnerung gegeben, und es liegt in keines Menschen Macht, sie uns zu nehmen.«

Sie erhob sich, und ich begleitete sie bis zum Ausgang, und als Schönauge das schwere Tor wieder hinter ihr geschlossen hatte, lauschte ich noch lange dem dumpfen und langgezogenen Geräusch.

An jenem Abend kam Schwester Désirée-des-Anges später als sonst ins Zimmer. Sie hatte an den Fürbittegebeten für Schwester Marie-Aimée teilgenommen, die wegging, um Aussätzige zu pflegen.

*

Der Winter kam noch einmal wieder.

Schwester Désirée-des-Anges hatte bald meine Neigung für das Lesen bemerkt; sie brachte mir – eines nach dem anderen – alle Bücher aus der Schwesternbibliothek.

Es waren meist Kinderbücher, bei denen ich immer gleich mehrere Seiten übersprang. Ich bevorzugte Reisebeschreibungen und las nachts beim Scheine des Nachtlämpchens.

Schwester Désirée-des-Anges zankte mich aus, wenn sie aufwachte, aber sobald sie wieder eingeschlafen war, holte ich mein Buch abermals hervor.

Ganz allmählich hatten wir innige Freundschaft geschlossen; der weiße Vorhang trennte nachts nicht mehr unsere Betten; wir waren voreinander nicht mehr befangen und hatten immer die gleichen Gedanken.

Sie hatte Humor, aber er artete niemals aus. Nur eines schien ihr lästig im Leben: ihr Nonnengewand. Sie fand es schwer und unbequem, und mit überdrüssiger Miene sagte sie:

»Wenn ich mich anziehe, ist es mir stets, als begäbe ich mich in ein Haus, in dem es immer stockfinster ist.«

Abends entledigte sie sich seiner sehr schnell, und sie war überglücklich, wenn sie in ihrem Nachtgewand im Zimmer umhergehen konnte.

Sie sagte mit leichtem Schmollen:

»Allmählich gewöhne ich mich ja daran, aber in der ersten Zeit zerkratzte mir die Haube die Wangen, und das Kleid zog mir die Schultern herunter.«

Im Frühling fing sie an zu husten. Es war ein leiser, trockener Husten, der sich nur von Zeit zu Zeit bemerkbar machte. Ihr langer, dünner Körper wirkte noch zerbrechlicher. Aber sie bewahrte ihre Heiterkeit; sie beklagte sich nur darüber, daß ihr Kleid immer schwerer würde.

*

Während einer Mainacht schlief sie sehr unruhig, und sie träumte ganz laut.

Ich hatte die ganze Nacht gelesen, und plötzlich bemerkte ich, daß es schon hell wurde. Ich blies das Nachtlicht aus und versuchte ein wenig zu schlafen.

Ich war schon halb eingeschlummert, als Schwester Désirée-des-Anges plötzlich sagte:

»Öffnen Sie das Fenster, heute kommt er!«

Ich glaubte, sie träume noch, aber sie wiederholte mit klarer Stimme:

»Öffnen Sie das Fenster, damit er herein kann!«

Ich erhob mich, um mich zu vergewissern, ob sie noch schlief; da sah ich sie aufrecht im Bett sitzen. Sie hatte die Decken zurückgeschlagen und löste die Bänder ihrer Nachthaube. Sie nahm sie ab und schleuderte sie ans Fußende des Bettes; dann schüttelte sie den Kopf, wobei ihr das kurze lockige Haar über die Stirn herabfiel, und da erkannte ich auch Désirée Joly wieder.

Ein wenig erschrocken stand ich auf; sie wiederholte:

»Öffnen Sie das Fenster, damit er herein kann!«

Ich machte das Fenster weit auf, und als ich mich wieder umwandte, streckte Schwester Désirée-des-Anges ihre gefalteten Hände der aufgehenden Sonne entgegen, und mit plötzlich versagender Stimme flüsterte sie:

»Ich habe mein Kleid abgelegt, ich konnte es nicht mehr ertragen.«

Ruhig streckte sie sich aus, und nichts bewegte sich mehr in ihrem Gesicht.

Ich hielt lange den Atem an, um dem ihren zu lauschen; dann holte ich tief Luft, gleichsam als sollte dadurch mein Atem auch in ihre Brust dringen.

Aber als ich ganz nahe an sie herantrat und sie ansah, begriff ich plötzlich, daß der letzte Atemzug schon ihrem Munde entflohen war. Ihre weitgeöffneten Augen schienen einem Sonnenstrahl entgegenzublicken, der wie ein Pfeil auf sie zukam.

Vor dem Fenster flogen Schwalben hin und her, und sie stießen Schreie aus wie kleine Mädchen; bisher nie gehörte Geräusche dröhnten mir in den Ohren.

Ich blickte zu den Fenstern der Schlafsäle hinauf, in der Hoffnung, daß vielleicht irgend jemand hören könnte, was ich zu sagen hatte.

Aber mein Blick begegnete nur dem Zifferblatt der großen Turmuhr, die über die Linden hinweg ins Zimmer zu blicken schien: der Zeiger stand auf der Fünf. Da breitete ich die Decken wieder über Schwester Désirée-des-Anges und verließ das Zimmer, um zum Wecken zu läuten.

Ich läutete lange; die Klänge schwebten weit, sehr weit weg, dorthin, wo auch Schwester Désirée-des-Anges hingegangen war.

Ich läutete, weil ich glaubte, die Glocke verkünde der Welt, daß Schwester Désirée-des-Anges tot war.

Ich läutete auch, weil ich hoffte, daß sie noch ein einziges Mal mit ihrem schönen Gesicht zum Fenster hinausschauen würde, um mir zuzurufen:

»Genug, genug!«

Plötzlich riß mir Mélanie den Glockenstrang aus der Hand. Die Glocke, die weitausholend schwang, kam nicht gleich in die richtige Ruhelage und gab noch ein paar Töne von sich, die einer Klage glichen.

»Bist du denn verrückt! Du läutest nun schon länger als eine Viertelstunde«, sagte Mélanie zu mir.

Ich antwortete:

»Schwester Désirée-des-Anges ist tot.«

Véronique trat mit uns ins Zimmer; sie bemerkte sogleich, daß der weiße Vorhang die beiden Betten nicht mehr voneinander trennte; und mit einer verächtlichen Bewegung sagte sie, sie fände es schamlos, daß eine Nonne ihr Haar sehen ließe.

Mélanie wischte jede Träne, die ihr die Wangen herunterrollte, gleich mit dem Finger fort. Sie hielt den Kopf noch schiefer als sonst, und sie sagte ganz leise zu mir:

»Sie ist noch hübscher als vorher.«

Die Sonne überflutete jetzt das Bett und hüllte die Tote völlig ein.

Ich blieb den ganzen Tag bei ihr.

Einige Nonnen kamen, um sie zu sehen. Eine von ihnen deckte ein Leinentuch über ihr Gesicht; aber sobald sie aus dem Zimmer war, nahm ich es wieder fort.

Mélanie hielt mit mir die Totenwache. Als sie das Fenster geschlossen hatte, zündete sie die große Lampe an, damit, wie sie sagte, Schwester Désirée-des-Anges nicht schon jetzt ins Dunkel sehen müsse.

*

Acht Tage später trat Schönauge in die Küche. Sie kam mir Bescheid sagen, daß ich mich fertigmachen sollte, um noch am selben Tage abreisen zu können. Sie hielt zwei Goldstücke in der Hand, die sie nebeneinander auf eine Ecke des Herdes legte, und während sie mit der Fingerspitze darauf tippte, sagte sie:

»Unsere Mutter Oberin gibt Ihnen vierzig Francs.«

Ich wollte nicht weggehen, ohne mich von Colette und Ismérie zu verabschieden, die ich oft jenseits des Rasenplatzes erblickt hatte.

Aber Mélanie versicherte mir, daß sie nur Verachtung für mich empfänden.

Colette begriff nicht, daß ich noch nicht verheiratet war, und Ismérie konnte mir meine Liebe zu Schwester Marie-Aimée nicht verzeihen.

Mélanie begleitete mich bis zur Pforte.

Als wir an der alten Bank vorbeikamen, sah ich, daß eins ihrer Beine abgebrochen war und daß sie halb im Grase lag.

An der Pforte stieß ich auf eine Frau mit harten Augen, die in gebieterischem Ton zu mir sagte:

»Ich bin deine Schwester.«

Ich erkannte sie nicht.

Zwölf Jahre waren seit unserer Trennung vergangen.

Kaum waren wir draußen, hielt sie mich am Arm zurück, und mit einer Stimme, die ebenso hart war wie ihre Augen, fragte sie mich, wieviel Geld ich hätte.

Ich zeigte ihr die beiden Goldstücke, die ich gerade bekommen hatte.

»In diesem Fall«, sagte sie, »tust du besser daran, in der Stadt zu bleiben, denn hier findest du leichter eine Stellung.«

Während wir weitergingen, teilte sie mir mit, daß sie mit einem Landwirt aus der Umgebung verheiratet sei, und sie gab mir zu verstehen, daß sie keine Lust habe, sich meinetwegen Unannehmlichkeiten zu machen.

Wir waren vor dem Bahnhof angelangt.

Sie zog mich mit auf den Bahnsteig, weil ich ihr helfen sollte, einige Pakete zu tragen; als sich ihr Zug in Bewegung setzte, sagte sie mir Lebewohl, und ich stand da und sah zu, wie sie sich immer mehr entfernte.

Fast im selben Augenblick hielt ein anderer Zug. Die Beamten rannten auf dem Bahnsteig herum und riefen:

»Zum Zug nach Paris auf den anderen Bahnsteig!«

Da sah ich auch schon Paris vor mir, mit seinen riesigen palastähnlichen Häusern, deren Dächer so hoch waren, daß sie sich in den Wolken verloren.

Ein junger Beamter stieß mich im Vorbeilaufen an; er blieb vor mir stehen und fragte:

»Wollen Sie nach Paris, Mademoiselle?«

Ich zögerte nicht lange und antwortete:

»Ja, aber ich habe keine Fahrkarte.«

Er streckte die Hand aus.

»Geben Sie her«, sagte er, »ich hole Ihnen eine.«

Ich vertraute ihm eins meiner Goldstücke an, und er lief eilends davon.

Ich stopfte die Fahrkarte und das Kleingeld, das er mir zurückbrachte, in meine Tasche; dann führte er mich über die Gleise, und hastig stieg ich in den Zug.

Der junge Beamte blieb einen Augenblick vor der Wagentür stehen, dann entfernte er sich, drehte sich aber immer wieder um. Er hatte sanfte Augen und einen ernsten Gesichtsausdruck, wie Henri Deslois.

Der Zug pfiff, und es war, als wollte er mir ein Warnsignal geben; und als er mich dann davontrug, hallte sein zweiter Pfiff noch lange nach, wie ein lauter Schrei.


 << zurück