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Zweiter Teil

Bald saß ich in einem mit einer Plane überdachten Wagen mitten zwischen leeren Körben, und als das Pferd von ganz allein auf dem Pachthof anhielt, war es schon lange Nacht.

Der Pächter kam aus dem Haus; er trug eine Laterne, die an seiner Hand hin und her schaukelte und nur seine Holzschuhe beleuchtete. Er näherte sich uns und half mir, vom Wagen zu steigen; dann hob er seine Laterne bis zu meinem Gesicht hoch, trat zurück und sagte:

»Was für eine ulkige kleine Magd!«

Die Pächterin führte mich in eine Stube, in der zwei Betten standen. Sie zeigte mir das meine und sagte, daß ich am nächsten Tage allein mit dem Kuhhirten hierbleiben müßte, weil alle zum Johannisfest gingen.

Sobald ich am nächsten Morgen aufgestanden war, nahm mich der Kuhhirt mit in die Ställe; ich sollte ihm helfen, die Tiere zu füttern. Er zeigte mir den Schafstall und sagte mir, daß ich anstelle der alten Bibiche die Lämmer hüten sollte. Er erklärte mir, daß jedes Jahr die Lämmer von ihren Müttern getrennt würden und daß man eine zweite Schäferin brauchte, die sie hütete. Er erzählte mir auch, daß der Pachthof Villevieille heiße und daß hier niemand unglücklich sei, weil Meister Sylvain und Pauline, seine Frau, brave Leute wären.

Als alle Tiere versorgt waren, sagte der Kuhhirt in der Kastanienallee zu mir, ich solle mich neben ihn setzen. Von dort aus konnte man die Wegbiegung, wo es nach der Landstraße hinaufging, und das ganze Innere des Pachthofes überblicken. Die Gebäude bildeten ein Viereck, und der riesige Misthaufen in der Mitte strömte einen warmen Brodem aus, der stärker war als der Geruch des halbtrockenen Heus.

Eine tiefe Stille breitete sich um den Hof herum aus, ringsum sah man nur Fichten und Getreidefelder. Mir schien es, als sei ich in eine gottverlassene Gegend verschlagen worden, als müßte ich immer allein mit dem Kuhhirten und den Tieren bleiben, die ich in den Ställen rumoren hörte. Es war sehr heiß, ich war wie gelähmt von einem heftigen Verlangen nach Schlaf. Aber die Angst vor all dem, was mich umgab, hinderte mich daran, diesem Verlangen nachzugeben. Fliegen in allen Farben summten um mich herum. Der Kuhhirt flocht einen Weidenkorb, und die Hunde schliefen ruhig.

Bei Sonnenuntergang kam der Wagen, der die Pächtersleute wieder zurückbrachte, an der Wegbiegung zum Vorschein. Fünf Personen saßen darin, zwei Männer und drei Frauen. Als sie an mir vorbeifuhren, lächelte mir die Pächterin zu, und die anderen beugten sich vor, um mich zu sehen. Bald darauf wurde es lebendig auf dem Hof, und da es zu spät war, Suppe zu kochen, aßen alle nur ein Stück Brot und tranken eine Schale Milch.

*

Gleich am nächsten Tage ließ mich die Pächterin einen Mantel aus grobem Tuch anziehen, und ich folgte der alten Bibiche, um zu lernen, wie man Lämmer hütet.

Die alte Bibiche und ihre Hündin Castille hatten so große Ähnlichkeit miteinander, daß ich immer glaubte, sie entstammten ein und derselben Familie. Sie schienen gleichaltrig zu sein, und ihre trüben Augen hatten dieselbe Farbe.

Wenn die Lämmer vom Wege abwichen, sagte Bibiche:

»Bell, Castille, belle!«

Sie wiederholte das sehr schnell, wie ein einziges Wort, und selbst wenn Castille nicht bellte, ordneten sich die Lämmer wieder ein, so sehr ähnelte die Stimme der Alten der ihrer Hündin.

Als die Ernte begann, schien es mir, als ob ich einem sehr geheimnisvollen Vorgang beiwohnte. Männer mähten das Getreide, legten es mit kräftigem, regelmäßigem Schwung um, während andere es aufhoben und zu Garben banden, die sich aneinanderlehnten. Die Rufe der Schnitter schienen manchmal aus der Luft zu kommen, und ich konnte mich oft nicht enthalten, den Kopf zu heben, um in der Luft mit Getreide beladene Wagen vorbeifliegen zu sehen.

Bei den Abendmahlzeiten kamen alle zusammen. Jeder setzte sich an den Tisch – wo es ihm gerade paßte, und die Pächterin füllte die Teller bis zum Rande. Die jungen Leute bissen kräftig in ihr Brot, während die Alten jeden Bissen sorgfältig abschnitten. Alle aßen schweigend, und das halbweiße Brot sah in ihren schwarzen Händen noch heller aus.

Am Schluß der Mahlzeit sprachen die Älteren mit dem Pächter über die Ernte, während die Jungen mit Martine, der Oberschäferin, plauderten und lachten. Sie war es auch, die das Brot austeilte und Wein einschenkte. Lachend antwortete sie auf alle Scherze, aber wenn ein Bursche die Hand nach ihr ausstreckte, entwischte sie behende und ließ sich niemals greifen. Niemand beachtete mich; ich setzte mich ein wenig abseits auf einen Holzstoß und betrachtete die Gesichter. Meister Sylvain hatte große schwarze Augen, die ruhig auf jedem ruhten. Er sprach, ohne die Stimme zu heben, wobei er seine geöffneten Hände auf den Tisch stützte. Die Pächterin hatte ein ernstes und sorgenvolles Gesicht; man hätte meinen können, sie befürchte stets ein Unglück; und wenn die anderen in schallendes Gelächter ausbrachen, lächelte sie kaum.

Die alte Bibiche glaubte immer, ich wäre eingeschlafen. Sie kam und zupfte mich am Ärmel, um mich zu Bett zu bringen. Ihr Bett stand neben dem meinen. Während sie sich auszog, murmelte sie ihr Gebet, und sie löschte die Lampe, ohne sich um mich zu kümmern.

*

Gleich nach der Ernte ließ sie mich allein mit ihrer Hündin aufs Feld ziehen. Castille langweilte sich mit mir und lief alle Augenblicke weg, um auf den Hof zu ihrer alten Herrin zurückzukehren.

Ich hatte große Mühe, meine Lämmer zusammenzuhalten, die nach allen Seiten auseinanderliefen. Ich verglich mich mit Schwester Marie-Aimée, die immer sagte, daß ihre kleine Herde schwer zu hüten sei. Und doch bekam sie uns mit einem Glockenlauten zusammen oder verschaffte sich Ruhe, indem sie ihre Stimme ein wenig verstärkte; ich dagegen konnte meine Stimme verstärken oder mit der Peitsche knallen, solange ich wollte, die Lämmer verstanden es nicht, und ich mußte wie ein Hund um die Herde herumlaufen.

Eines Abends geschah es, daß mir zwei Lämmer fehlten. Ich stellte mich jeden Abend in die Stalltür, um nur immer eines nach dem anderen hereinzulassen. So konnte ich sie leicht zählen.

Ich trat in den Schafstall und versuchte, sie nochmals zu zählen. Das war nicht leicht, und ich mußte es aufgeben, denn ich zählte immer mehr, als es sein mußten.

Ich war überzeugt, daß ich das erstemal schlecht gezählt hatte, und sagte niemandem etwas davon. Am nächsten Morgen zählte ich sie, als ich sie aus dem Schafstall herausließ. Es fehlten doch zwei.

Ich war sehr unruhig; den ganzen Tag über suchte ich sie auf den Feldern, und als ich mich abends vergewissert hatte, daß sie immer noch fehlten, sagte ich es der Pächterin. Wir suchten mehrere Tage lang, aber die Lämmer blieben unauffindbar. Daraufhin nahmen mich die Pächtersleute, einer nach dem anderen, beiseite. Ich sollte gestehen, daß Männer gekommen wären und die Lämmer mitgenommen hätten, und sie versicherten mir, daß ich nicht gescholten würde, wenn ich die Wahrheit sagte. Aber sosehr ich auch beteuerte, daß ich nicht wüßte, was aus ihnen geworden sei – ich sah wohl, daß man mir nicht glaubte.

Jetzt hatte ich Angst auf den Feldern, seitdem ich wußte, daß sich Männer verstecken konnten, um Schafe zu stehlen. Ich glaubte stets, daß sich jemand hinter den Büschen bewege.

Ich lernte sehr rasch, die Schafe mit den Augen zu zählen. Und waren sie nun verstreut oder beieinander, ich wußte in einer Minute, ob die Rechnung stimmte.

*

Der Herbst kam, und ich langweilte mich immer noch. Ich sehnte mich nach den Liebkosungen Schwester Marie-Aimées. Mein Verlangen, sie wiederzusehen, war so groß, daß ich manchmal die Augen schloß und mir einbildete, sie käme den Pfad entlang. Ich hörte wirklich ihre Schritte und das Rascheln ihres Kleides auf dem Gras; wenn ich sie ganz nahe bei mir fühlte, öffnete ich die Augen, und sofort war alles verschwunden.

Lange Zeit dachte ich daran, ihr zu schreiben, aber ich wagte nicht, um das zu bitten, was man dazu brauchte. Die Pächterin konnte nicht schreiben, und niemand auf dem Hof empfing Briefe.

Ich faßte mir ein Herz und fragte Meister Sylvain, ob er mich wohl eines Tages in die Stadt mitnehmen wolle. Er antwortete nicht gleich; er blickte mich mit seinen großen ruhigen Augen fest an und sagte, daß eine Schäferin niemals ihre Herde verlassen dürfe. Er wollte mich gern von Zeit zu Zeit zur Messe ins Dorf führen, aber es war nicht damit zu rechnen, daß er mich in die Stadt mitnehmen würde.

Ich war darüber ganz bestürzt. Mir war, als sei mir ein großes Unglück widerfahren. Und jedesmal, wenn ich daran dachte, sah ich Schwester Marie-Aimée wie einen sehr kostbaren Gegenstand, den der Pächter aus Versehen zerbrochen hatte.

Am darauffolgenden Sonnabend sah ich die Pächtersleute wie gewöhnlich schon am frühen Morgen aufbrechen, aber statt bis zum Abend fortzubleiben, kamen sie schon am Nachmittag mit einem Händler zurück, der einen Teil der Lämmer kaufen wollte.

Ich hatte niemals geglaubt, daß man in so kurzer Zeit in die Stadt gelangen könne. Mir kam der Gedanke, eines Tages meine Schafe allein auf der Weide zu lassen, um zu Schwester Marie-Aimée zu laufen und sie zu umarmen. Ich sah bald ein, daß dies nicht möglich war, und so entschloß ich mich, nachts zu gehen. Ich hoffte, daß ich nicht mehr Zeit brauchen würde als das Pferd des Pächters und daß ich, wenn ich mitten in der Nacht aufbräche, zeitig genug zurück sein würde, um die Lämmer auf die Felder zu führen.

An jenem Abend legte ich mich völlig angekleidet ins Bett, und als die große Turmuhr Mitternacht schlug, nahm ich meine Schuhe in die Hand und verließ ganz sacht das Haus.

Ich schnürte so gut es ging meine Schuhe zu, wobei ich mich gegen einen Karren lehnte, und ich entfernte mich schnell in der Dunkelheit.

Sobald ich die Hofgebäude hinter mir gelassen hatte, bemerkte ich, daß die Nacht gar nicht so schwarz war. Ein heftiger Wind wehte, und dicke Wolken schoben sich am Mond vorbei. Der Weg war weit, und man mußte über eine halbzerfallene Holzbrücke gehen. Die ersten Regengüsse hatten den kleinen Fluß anschwellen lassen, und das Wasser floß über die Planken hinweg.

Angst packte mich, weil das Wasser und der Wind einen Lärm machten, wie ich noch keinen gehört hatte. Aber ich wollte keine Angst haben und schritt hastig über die glitschigen Planken.

Ich erreichte die Landstraße schneller, als ich gedacht hatte; ich bog links ab, wie ich es den Pächter hatte tun sehen, wenn er zum Markt in die Stadt fuhr. Aber ein Stückchen weiter gabelte sich plötzlich die Landstraße. Ich wußte nicht, welchen Weg ich einschlagen sollte. Bald entschied ich mich für den einen, bald für den anderen. Der linke zog mich mehr an; ich schlug ihn ein und schritt sehr rasch dahin, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

In der Ferne gewahrte ich eine schwarze Masse, die die ganze Gegend bedeckte. Sie schien langsam auf mich zuzukommen, und einen Augenblick lang war ich nahe daran, wieder umzukehren. Ein Hund, der zu bellen anfing, machte mir wieder ein wenig Mut, und beinahe im selben Moment erkannte ich, daß die schwarze Masse ein Wald war, durch den die Landstraße hindurchführte. Als ich ihn betrat, schien es mir, als sei der Wind hier noch stärker; er wehte in kurzen, heftigen Stößen, und die Bäume, die kräftig geschüttelt wurden, ächzten und beugten sich tief herab. Ich hörte ab und zu ein lang anhaltendes Pfeifen und das Krachen und Fallen von Ästen; dann vernahm ich Schritte hinter mir und fühlte, wie jemand meine Schulter berührte. Schnell drehte ich mich um, aber ich sah niemanden. Und doch war ich sicher, daß mich jemand mit dem Finger berührt hatte. Dann hörte ich wieder die Schritte, so, als ob eine unsichtbare Person um mich herumginge. Da begann ich so schnell zu laufen, daß ich nicht mehr fühlte, ob meine Füße den Boden berührten. Die Kieselsteine sprangen unter meinen Schuhen weg und prasselten hinter mir mit dem Geräusch von Hagelschloßen wieder auf die Erde. Ich hatte nur einen Gedanken: bis zum Ende des Waldes zu laufen.

Bald erreichte ich eine große Lichtung. Der Vollmond beleuchtete sie hell, und der Wind hob in seiner Wut ganze Haufen von Blättern auf, wirbelte sie nach allen Seiten durcheinander und warf sie wieder zurück.

Ich wollte stehenbleiben, um ein wenig zu verschnaufen, aber die großen Bäume schwankten mit betäubendem Lärm hin und her. Ihre Schatten, die schwarzen Tieren ähnelten, kamen jäh über die Landstraße gekrochen und glitten dann wieder zurück, um sich hinter den Bäumen zu verstecken. Einige dieser Schatten hatten Formen, die ich wiedererkannte. Aber die meisten zuckten und sprangen vor mir her, als wollten sie mich am Weitergehen hindern. Einige waren so furchterregend, daß ich all meinen Mut zusammennahm, um darüber zu springen, so sehr fürchtete ich mich, sie unter meinen Füßen zu spüren.

Der Wind legte sich, und der Regen begann in großen Tropfen zu fallen. Die Lichtung lag hinter mir, und als ich an einem Weg vorbeikam, der ins Unterholz führte, schien es mir, als sähe ich ganz am Ende eine weiße Mauer; ich ging ein wenig näher und erkannte, daß es ein schmales, hohes Häuschen war. Ohne lange zu überlegen, pochte ich an die Tür; ich wollte bitten, mir Schutz zu gewähren, bis der Regen aufgehört hätte. Ich pochte ein zweites Mal, und bald darauf hörte ich, wie sich im Hause etwas regte. Ich glaubte, daß man mir die Tür öffnen käme, aber nur das Fenster im ersten Stock wurde aufgemacht. Ein Mann mit einer baumwollenen Nachtmütze fragte:

»Wer ist da?«

Ich antwortete:

»Ein kleines Mädchen.«

Erstaunt wiederholte der Mann:

»Ein kleines Mädchen?«

Dann fragte er mich, woher ich käme, wohin ich ginge und was ich wollte.

Ich war auf all diese Fragen nicht gefaßt und nannte den Pachthof, den ich soeben verlassen hatte, aber ich log, als ich sagte, daß ich zu meiner Mutter zurückginge, die krank sei. Und ich bat ihn, mich doch, solange es regnete, in sein Haus hineinzulassen.

Er sagte, ich solle warten, und dann hörte ich ihn mit jemandem sprechen; darauf kam er zum Fenster zurück und fragte, ob ich allein sei. Er wollte auch mein Alter wissen, und als ich ihm sagte, ich wäre dreizehn Jahre, meinte er, ich müsse wohl gar nicht furchtsam sein, wenn ich nachts so durch den Wald ginge.

Er neigte sich einen Augenblick vor, als hoffte er, mein Gesicht sehen zu können, das ich zu ihm emporhob; dann wandte er den Kopf nach rechts und nach links und suchte mit seinen Blicken die Tiefe des Waldes zu durchdringen. Schließlich riet er mir, noch ein Stückchen weiterzugehen, wobei er mir versicherte, daß am Ende des Waldes ein Dorf sei und daß ich dort Häuser finden würde, wo ich mich trocknen könne.

Ich kehrte wieder in die Nacht zurück. Der Mond hatte sich jetzt ganz versteckt, und ein feiner Regen fiel. Ich ging noch sehr lange, bis ich das Dorf erreichte. Alle Häuser waren verschlossen, und man nahm sie in der Dunkelheit kaum wahr. Nur der Schmied war schon aufgestanden. Als ich an sein Haus kam, stieg ich die beiden Stufen hinauf, in der Absicht, mich bei ihm auszuruhen. Er war gerade dabei, eine große Eisenstange in die glühenden Kohlen zu schieben, und als er den Arm hob, um den Blasebalg zu ziehen, schien er mir so groß wie ein Riese.

Bei jedem Stoß des Blasebalgs flammte und sprühte das Feuer auf und erhellte mit seinem Schein die Wände, an denen Sensen, Sägen und Feilen aller Art hingen. Der Mann hatte die Stirn krausgezogen und blickte starr ins Feuer.

Ich fühlte, daß ich niemals wagen würde, ihn anzusprechen, und entfernte mich geräuschlos.

Als es Tag geworden war, sah ich, daß ich nicht mehr weit von der Stadt entfernt war. Ich erkannte sogar die Stellen wieder, zu denen uns Schwester Marie-Aimée während unserer Spaziergänge geführt hatte. Ich ging jetzt ganz langsam und schleppte die Füße nach, die mir sehr weh taten. Ich war so müde, daß ich mich zwingen mußte, mich nicht auf die Kieselsteinhaufen am Straßenrand zu setzen.

Das Geräusch eines Wagens, der wie toll daherjagte, ließ mich den Kopf wenden: sogleich blieb ich klopfenden Herzens wie angewurzelt stehen; ich hatte die rote Stute und den schwarzen Bart des Pächters erkannt. Er hielt sein Tier dicht neben mir an, und während er sich ein wenig herabbeugte, packte er mich mit einem Griff am Gürtel meines Kleides. Er setzte mich neben sich auf den Kutschbock, und nachdem er gewendet hatte, fuhr der Wagen eiligst davon.

Als wir in den Wald kamen, ließ Meister Sylvain die Stute im Schritt gehen. Er wandte sich mir zu, blickte mich an und sagte:

»Du kannst froh sein, daß ich dich erwischt habe; anderenfalls hätte man dich zwischen zwei Gendarmen zurückgebracht.«

Da ich nicht antwortete, fuhr er fort:

»Vielleicht weißt du nicht, daß es Gendarmen gibt, die kleine Mädchen wieder zurückbringen, wenn sie weglaufen wollen.«

Ich antwortete:

»Ich will Schwester Marie-Aimée besuchen.«

Er fragte:

»Fühlst du dich denn unglücklich bei uns?«

Ich antwortete abermals:

»Ich will Schwester Marie-Aimée besuchen.«

Er verstand offenbar nicht und fragte immer weiter, wobei er jede einzelne Person des Hofes nannte, um herauszubekommen, über wen ich mich zu beklagen hatte, und jedesmal antwortete ich dasselbe.

Schließlich verlor er die Geduld, richtete sich auf und sagte:

»So ein Dickkopf!«

Ich sah zu ihm auf und sagte, daß ich wieder weglaufen würde, wenn er mich nicht zu Schwester Marie-Aimée brächte. Ich blickte ihn unverwandt an und wartete auf seine Antwort; ich bemerkte wohl, daß er verlegen war. Er dachte eine ganze Weile nach, dann sagte er zu mir, wobei er die Hand auf mein Knie legte:

»Hör mir zu, Kleine, und versuch zu verstehen, was ich dir jetzt sage.«

Und als er geendet hatte, wußte ich, daß er sich verpflichtet hatte, mich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr bei sich zu behalten, ohne mich jemals in die Stadt mitzunehmen. Ich wußte auch, daß die Oberin alle Rechte über mich hatte und daß sie mich, wenn ich nochmals weglaufen sollte, gewiß einsperren lassen würde, unter dem Vorwand, daß ich nachts ganz allein im Wald herumliefe. Zum Schluß sagte er, er hoffe, daß ich das Kloster vergessen und ihn und seine Frau liebgewinnen würde, da sie ja nur mein Bestes wollten.

Ich war sehr verwirrt und unterdrückte nur mühsam ein großes Verlangen zu weinen.

»Na also«, sagte der Pächter, indem er mir die Hand hinstreckte, »seien wir gute Freunde, willst du?«

Ich gab ihm die Hand, und während er sie ein wenig zu stark drückte, antwortete ich:

»Ich will es gern.«

Er ließ seine Peitsche knallen, und bald waren wir aus dem Wald heraus.

Der Regen fiel immer noch, fein wie Nebel, und die Äcker erschienen noch dunkler. Auf einem Feld, das bis an die Landstraße heranreichte, kam ein Mann mit weitausholenden Gebärden auf uns zu. Einen Augenblick lang glaubte ich, er drohe mir, aber als er nahe heran war, sah ich, daß er irgend etwas unter seinen linken Arm geklemmt hatte, während er mit dem rechten in Höhe seines Kopfes etwas abzumähen schien. Ich war so unruhig, daß ich Meister Sylvain fragend anblickte. Im selben Moment sagte er, als ob er mir antwortete:

»Das ist Gaboret, der seine Saat bestellt.«

Einige Minuten später langten wir auf dem Pachthof an.

Die Pächterin erwartete uns auf der Türschwelle. Als sie mich erblickte, öffnete sie den Mund, als habe sie lange den Atem angehalten, und ihr ernstes Gesicht verlor für einen Augenblick den unruhigen Ausdruck. Ich ging an ihr vorbei, um meinen Mantel zu holen, und begab mich schnurstracks in den Schafstall.

Die Schafe drängten sich zum Ausgang. Sie hätten schon längst auf den Feldern sein müssen.

*

Den ganzen Tag über dachte ich an das, was mir der Pächter gesagt hatte. Ich begriff nicht, warum mich die Oberin daran hindern wollte, Schwester Marie-Aimée zu sehen. Aber ich begriff, daß Schwester Marie-Aimée nichts mehr für mich tun konnte, und ich fügte mich darein, in der Hoffnung, daß ein Tag kommen würde, da mich niemand mehr hindern könnte, sie zu besuchen.

Als es Schlafenszeit war, begleitete mich die Pächterin, um noch eine Decke auf mein Bett zu legen; und nachdem sie mir eine gute Nacht gewünscht hatte, verbot sie mir, sie mit »Madame« anzureden; sie wollte, daß ich sie ganz einfach Pauline rufe. Und sie ging, nachdem sie mir noch gesagt hatte, daß ich ein wenig das Kind im Hause sei und daß sie ihr möglichstes tun wolle, damit ich mich an den Hof gewöhne.

Am nächsten Tag gebot mir Meister Sylvain, mich während der Mahlzeiten neben seinen Bruder zu setzen. Er sagte lachend zu ihm, daß man mich nicht fasten lassen dürfe, da ich noch tüchtig wachsen müsse.

Der Bruder des Pächters hieß Eugène; er redete sehr wenig, sah aber stets diejenigen an, die sprachen, und in seinen kleinen Augen lag dabei oft etwas Spöttisches. Er war dreißig Jahre alt, wirkte aber nicht viel älter als zwanzig. Er wußte immer auf das zu antworten, wonach man ihn fragte, und ich wurde in seiner Gegenwart nie verlegen.

Er rückte an die Wand, um mir am Tisch mehr Platz zu machen, und er erwiderte dem Pächter nur:

»Du kannst beruhigt sein.«

Nun, da alle Felder bestellt waren, führte Martine ihre Schafe auf sehr entfernte Weideplätze. Der Kuhhirt und ich, wir führten unsere Tiere die Wiesen entlang und in die Wälder, wo es Heidekraut gab. Ich litt sehr unter der Kälte, trotz meines großen baumwollenen Mantels, der mir bis zu den Füßen reichte. Oft zündete der Kuhhirt ein Feuer an; er teilte die Kartoffeln und Kastanien mit mir, die er in der Glut röstete. Er lehrte mich, wie man herausbekommt, von welcher Seite der Wind weht, damit ich auch den geringsten Schutz gegen die Kälte ausnutzen konnte. Und während wir uns wärmten, sang er mir das Lied vom Wasser und vom Wein vor.

Das war ein Lied mit mindestens zwanzig Strophen. Wasser und Wein warfen sich gegenseitig vor, am Unglück des Menschengeschlechts schuld zu sein, während sie von sich selbst in höchsten Lobestönen sprachen. Ich fand, daß das Wasser im Recht war, aber der Kuhhirt sagte, daß der Wein auch nicht unrecht hätte. Wir blieben stundenlang beisammen. Er erzählte mir von seiner von der Sologne weit entfernten Heimat, daß er schon immer Kuhhirt gewesen sei und daß ihn einst, als er noch ein Kind war, ein Bulle umgeworfen und verletzt habe. Er war danach lange krank gewesen und hatte vor Schmerzen geschrien. Dann hatten die Schmerzen allmählich aufgehört, er aber war ganz krumm geblieben, so wie ich ihn sah. Er erinnerte sich der Namen aller Pachthöfe, auf denen er Kuhhirt gewesen war. Die Leute waren gut oder böse, aber niemals hatte er eine so gute Herrschaft gefunden wie auf Villevieille. Er fand auch, daß die Kühe Meister Sylvains denen seiner Heimat, wo sie klein waren und spitze, spindelförmige Hörner hatten, gar nicht ähnelten. Hier waren die Kühe groß und stark und ihre Hörner grob und rillig. Er liebte sie und sprach mit ihnen, wobei er jede beim Namen nannte. Sein Lieblingstier war eine schöne Weißkuh, die Meister Sylvain im Frühjahr gekauft hatte. Alle Augenblicke hob sie den Kopf, blickte in die Ferne, und plötzlich lief sie mit vorgestrecktem Maul los. Der Kuhhirt schrie aus vollem Halse:

»Steh, Weiße, steh!«

Meistens blieb sie von allein stehen, aber manchmal mußte man ihr den Hund nachjagen. Es kam auch vor, daß sie, weil sie trotzdem weiterlaufen wollte, mit dem Hund kämpfte, und erst wenn er sie ins Maul biß, kehrte sie zur Herde zurück.

Der Kuhhirt bedauerte sie und sagte:

»Wer weiß, wonach sie sich zurücksehnt.«

*

Im Dezember blieben die Kühe endgültig im Stall. Ich glaubte, daß es mit den Schafen ebenso sei. Aber der Bruder des Pächters erklärte mir, daß die Sologne ein sehr armes Land wäre und daß die Pächter nicht genügend Futter ernteten, um all ihr Vieh zu ernähren.

So zog ich also allein die Wiesen entlang und in die Wälder. Alle Vögel waren fort. Der Nebel breitete sich über die Sturzäcker, und die Wälder waren voller Schweigen. Es gab Tage, an denen ich mich so verlassen fühlte, daß ich glaubte, rings um mich sei die Erde versunken; und wenn ein Rabe vorbeiflog und in den grauen Himmel hineinkrächzte, so war mir, als künde seine kräftige, heisere Stimme alles Unglück der Welt.

Selbst die Schafe sprangen nicht mehr herum. Der Händler hatte alle Hammel mitgenommen, und die kleinen Weibchen wußten nicht, wie sie miteinander spielen sollten. Sie gingen, eines dicht ans andere gedrängt, und selbst wenn sie nicht fraßen, hielten sie den Kopf gesenkt.

Einige erinnerten mich an kleine Mädchen, die ich gekannt hatte. Ich streichelte sie, wobei ich sie zwang, den Kopf zu heben; aber ihre Augen blieben gesenkt, und ihre starren Pupillen glichen stumpfem Glas.

Eines Tages wurde ich von so dichtem Nebel überrascht, daß es mir nicht gelang, meinen Weg wiederzuerkennen. Ich befand mich plötzlich vor einem großen Wald, der mir ganz fremd war. Die Gipfel der Bäume verloren sich völlig im Nebel, und das Heidekraut schien ganz in Wolle gehüllt. Weiße Gebilde senkten sich von den Bäumen herab und glitten in langen, durchsichtigen Schwaden über dem Heidekraut hinweg.

Ich trieb die Schafe auf eine nahe Wiese zu; aber sie drängten sich eng zusammen und wollten nicht vorwärts. Ich lief vor ihnen her, um zu sehen, was sie am Weitergehen hinderte, und ich erkannte den kleinen Fluß, der am Fuße des Hügels vorbeifloß. Man sah das Wasser kaum, es schien unter einer dichten weißen Baumwolldecke zu schlafen. Ich betrachtete das Flüßchen eine Weile, dann führte ich meine Schafe am Waldrand entlang. Während ich herauszufinden suchte, auf welcher Seite der Pachthof lag, gingen die Schafe um den Wald herum und kamen bald an einen von Hecken gesäumten Weg. Der Nebel wurde immer dichter, und mir war, als schritte ich zwischen zwei hohen Mauern. Ich folgte den Schafen, ohne zu wissen, wohin sie mich führten. Plötzlich verließen sie den Weg und bogen rechts ab; doch ich hielt sie sogleich zurück: ich hatte im selben Augenblick das Portal einer Kirche bemerkt. Die Türflügel waren weit geöffnet, und zu beiden Seiten sah man zwei rote Lichter, die das graue Gewölbe erhellten. Riesige Pfeiler reihten sich schnurgerade aneinander, und ganz im Hintergrund ahnte man in kleine Vierecke unterteilte Fenster, die ein Licht schwach erleuchtete. Ich hatte große Mühe, die Schafe davon abzuhalten, auf diese Kirche zuzulaufen, und während ich sie zurücktrieb, bemerkte ich, daß sie über und über mit kleinen weißen Perlen bedeckt waren, die leise klirrten, wenn sich die Tiere schüttelten. Ich wußte nicht, was ich von alledem halten sollte. Dann überkam mich eine große Unruhe: ich dachte daran, daß Meister Sylvain mich ungeduldig erwarten mußte. Ich war überzeugt davon, daß ich den Pachthof sicher wiederfinden würde, wenn ich auf demselben Wege zurückginge, auf dem ich hergekommen war. Und so trieb ich die Schafe so geräuschlos wie möglich auf den Weg zurück, der mich hergeführt hatte. Plötzlich ertönte neben mir eine Männerstimme. Sie sagte:

»Laß doch die armen Tiere hineingehen.«

Und gleichzeitig trieb der Mann die Herde wieder zur Kirche zurück. Ich erkannte sogleich Eugène, den Bruder des Pächters. Er strich mit der Hand über den Rücken eines Schafes und sagte:

»Sie sehen hübsch aus mit ihren kleinen Rauhreifkügelchen, aber das ist nicht gut für sie.«

Ich war nicht erstaunt, ihn hier zu treffen. Ich zeigte ihm die Kirche und fragte, was das bedeute.

»Das war für dich bestimmt«, antwortete er mir. »Ich fürchtete, daß du die Kastanienallee nicht wiederfinden würdest, und habe deshalb an jeder Seite eine Laterne aufgehängt.«

Irgend etwas verwirrte sich in meinem Kopf; und erst nach einer Weile begriff ich, daß die großen schwärzlichen und mit der Zeit verwitterten Pfeiler nichts anderes waren als die Stämme der Kastanienbäume. Gleichzeitig erkannte ich die kleinen Fensterscheiben der großen Stube, die das Kaminfeuer erhellte.

Eugène zählte selbst die Schafe und half mir, ihnen ein warmes Strohlager zurechtzumachen. Aber als ich den Schafstall gerade verlassen wollte, hielt er mich zurück und fragte, ob ich wirklich nicht wüßte, was aus den beiden verlorengegangenen Lämmern geworden sei. Ein großes Schamgefühl überkam mich bei dem Gedanken, er könne glauben, daß ich lüge, und ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, während ich ihm versicherte, daß sie verschwunden wären, ohne daß ich etwas davon bemerkt hätte. Da erzählte er mir, daß er sie ertrunken in einem Wasserloch gefunden habe.

Ich glaubte, er würde mich wegen meiner Nachlässigkeit ausschelten. Aber er sagte sanft:

»Geh dich schnell wärmen! Du bringst ja den Reif der ganzen Sologne in deinem Haar mit.«

Ich nahm mir vor, am nächsten Tag das Wasserloch zu suchen. Aber in der Nacht schneite es so sehr, daß nicht daran zu denken war, auf die Felder zu gehen. Ich half der alten Bibiche beim Wäscheausbessern, und Martine setzte ihr Spinnrad in Bewegung, wobei sie Bänkellieder sang.

*

Abends, als alle gemütlich beieinander saßen, wollte das wütende Gebell der Hunde gar nicht aufhören. Martine schien unruhig. Sie horchte auf die Hunde, dann sagte sie, zum Pächter gewandt:

»Ich fürchte sehr, daß dieses Wetter uns Wölfe anbringt.«

Der Pächter erhob sich, um den Hunden gut zuzureden, und machte dann mit seiner Laterne einen Rundgang durch die Ställe.

Während des acht Tage anhaltenden Schneefalls kamen Hunderte von Raben auf den Pachthof geflogen. Sie waren so ausgehungert, daß nichts sie erschrecken konnte. Sie drangen in die Ställe und in die Scheune ein und verwüsteten die Kornmieten. Der Pächter tötete viele von ihnen. Einige wurden mit Speck in Kohl gekocht. Alle fanden, daß das sehr gut schmeckte; aber die Hunde wollten niemals etwas davon fressen.

*

Am Tage, da man die Herden zum ersten Male wieder hinaustrieb, waren die Tannen noch ganz mit Schnee bedeckt. Auch der Hügel war noch ganz weiß; er schien sich dem Pachthof ein gutes Stück genähert zu haben. All dieses Weiß blendete mich; ich fand nichts mehr an seinem Platz, und alle Augenblicke fürchtete ich, den blauen Rauch nicht mehr zu sehen, der über den Dächern des Pachthofs emporstieg.

Die Schafe fanden nichts zu fressen; sie liefen nach allen Seiten auseinander. Aber ich duldete nicht, daß sie sich zerstreuten, denn sie selbst glichen wandelndem Schnee, und ich mußte höllisch aufpassen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Es gelang mir, sie am Rande einer Wiese zusammenzuhalten, die an einen großen Wald grenzte. Alle Bäume waren damit beschäftigt, sich vom Schnee zu befreien, der sie niederdrückte: die großen Äste warfen ihn mit einem Ruck ab, während andere, schwächere, sich sacht wiegten und ihn so zur Erde gleiten ließen.

Ich hatte diesen Wald niemals betreten. Ich wußte nur, daß er sich sehr weit hinzog und daß Martine ihre Mutterschafe manchmal dorthin führte. Die Tannen waren dort sehr groß und das Heidekraut sehr hoch.

Seit einer Weile blickte ich auf ein großes Büschel. Mir war, als hätte es sich bewegt, und zwar im gleichen Augenblick, als daraus ein Geräusch ertönte, wie wenn man beim Gehen auf dürres Reisig tritt.

Sofort wurde ich unruhig. Ich dachte: Da ist jemand! Das Geräusch wiederholte sich, war aber jetzt viel näher, ohne daß sich etwas regte. Ich suchte mich zu beruhigen, indem ich mir sagte, daß dies sicher ein Hase oder irgendein anderes kleines Tier sei, das seine Nahrung suche. Aber trotz aller Vernunftgründe, die ich erfand, blieb ich doch davon überzeugt, daß dort jemand war.

Mir war so beklommen zumute, daß ich mich entschloß, wieder ein Stück zum Pachthof hin zurückzugehen. Ich machte ein paar Schritte auf meine Schafe zu, aber im selben Moment drängten sie sich hastig zusammen und entfernten sich mehr und mehr vom Walde.

Ich suchte schnell herauszubekommen, was sie so hatte erschrecken können, da sah ich dicht vor mir inmitten der Herde einen gelben Hund, der ein Schaf in seinem Maul davonschleppte. Zuerst dachte ich, Castille sei tollwütig geworden, aber im selben Augenblick stürzte Castille auf mich zu und verkroch sich unter meinen Röcken, wobei er ein jammervolles Geheul ausstieß. Nun erriet ich, daß es ein Wolf gewesen war. Er hatte das Schaf, das er wegtrug, mit seinem Maul genau in der Mitte gepackt. Mühelos kletterte er die Böschung hinauf, und als er über den breiten Graben sprang, der ihn vom Walde trennte, kamen mir seine Hinterläufe wie Flügel vor. In diesem Augenblick hätte ich nichts Außergewöhnliches dabei gefunden, wenn er über die Bäume hinweggeflogen wäre.

Eine Weile stand ich da, ohne zu wissen, ob ich Angst hatte oder nicht. Und dann fühlte ich, daß ich meine Augen vom Graben nicht losreißen konnte. Meine Lider waren so steif geworden, daß es mir schien, als könne ich sie niemals wieder schließen. Ich wollte schreien, damit man mich auf dem Pachthof höre, aber ich bekam keinen Ton heraus. Ich wollte auch laufen, aber meine Beine zitterten so sehr, daß ich mich auf die feuchte Erde setzen mußte.

Castille heulte immer noch, als bekäme er Prügel, und die Schafe blieben zu einem Haufen zusammengedrängt stehen. Als ich sie endlich auf den Pachthof treiben konnte, suchte ich eiligst Meister Sylvain. Er erriet sofort, was geschehen war, als er mich erblickte. Er rief seinen Bruder und nahm die beiden Flinten vom Haken, während ich versuchte, die Stelle anzugeben, wo der Wolf verschwunden war. Sie kamen erst im Dunkeln zurück, ohne ihn gefunden zu haben.

Man sprach den ganzen Abend nur davon. Eugène wollte wissen, wie der Wolf aussah, und die alte Bibiche ärgerte sich, als ich sagte, daß er ein langhaariges gelbes Fell gehabt habe wie Castille, daß er aber trotzdem viel schöner gewesen sei.

*

Am nächsten Tage war Martine dran. Sie hatte gerade ihre Schafe herausgelassen, und sie war noch nicht bis ans Ende der Kastanienallee gekommen, als man sie erstickte Schreie ausstoßen hörte.

Alle verließen das Haus und liefen hin. Ich war als erste bei Martine. Sie stand gebückt und zog aus Leibeskräften an einem Schaf, das ein Wolf erwürgt hatte und nun wegschleppen wollte. Er hielt das Schaf am Halse gepackt und zog seinerseits ebenso stark wie die Schäferin.

Martines Hund biß ihn wild in die Schenkel, aber der Wolf schien nichts zu spüren, und als Meister Sylvain einen wohlgezielten Schuß auf ihn abgab, rollte er hin, ein Stück vom Halse des Schafes im Maul.

Martines Augen waren weit aufgerissen, und ihr Mund war ganz weiß geworden. Ihre Haube war vom Kopf herabgeglitten, und der Scheitel, der ihr Haar teilte, ließ mich an einen Pfad denken, auf dem man gefahrlos spazierengehen konnte. Der entschlossene Ausdruck, den ihr Gesicht anfangs gezeigt hatte, war einer leichten, schmerzlichen Verzerrung gewichen, und ihre Hände öffneten und schlossen sich in einer regelmäßigen Bewegung. Sie lehnte jetzt nicht mehr an der Kastanie, sondern näherte sich Eugène, der den Wolf betrachtete. Auch sie sah ihn eine Weile an, dann sagte sie ganz laut:

»Armes Tier! Was für einen Hunger muß es gehabt haben!«

Der Pächter lud den Wolf und das Schaf auf denselben Schubkarren, um sie auf den Hof zu fahren. Die Hunde folgten ängstlich schnuppernd.

Mehrere Tage lang jagten der Pächter und sein Bruder in der Umgebung. Wenn Eugène an mir vorbeiging, blieb er immer stehen und sagte mir ein freundliches Wort. Er versicherte mir, daß die Flintenschüsse die Wölfe fernhielten und daß man in dieser Gegend selten welche sähe. Trotzdem wagte ich mich nicht mehr in den großen Wald. Ich zog lieber auf den Hügel, der nur mit Ginster und Heidekraut bedeckt war.

*

Zu Beginn des Frühjahrs lehrte mich die Pächterin die Kühe melken und die Schweine füttern. Sie sagte, sie wolle eine tüchtige Bäuerin aus mir machen. Unwillkürlich mußte ich an die Oberin denken, als sie in verächtlichem Ton zu mir gesagt hatte:

»Du wirst die Kühe melken und die Schweine füttern!«

Es hatte so ausgesehen, als habe sie mir damit eine Strafe auferlegen wollen, und nun empfand ich nichts als Freude, wenn ich mich mit den Tieren beschäftigen konnte. Um mehr Kraft aufzubringen, preßte ich meine Stirn gegen die Weichen der Kuh, und bald füllte sich mein Eimer. Auf der Milch bildete sich Schaum, der in allen Farben spielte, und wenn die Sonnenstrahlen darüber hinwegglitten, sah er so wunderschön aus, daß ich nicht müde wurde, ihn zu betrachten.

Ich ekelte mich nicht davor, die Schweine zu füttern. Ihr Futter bestand aus gekochten Kartoffeln und saurer Milch. Ich tauchte meine Arme in den Eimer, um alles gut durchzumischen, und es machte mir immer großen Spaß, sie eine Weile auf ihr Futter warten zu lassen. Ihr grelles Quieken und ihre lebhaften Bewegungen mit dem Rüssel belustigten mich jedesmal.

*

Im Mai fügte Meister Sylvain meiner Herde eine Ziege hinzu. Er hatte sie gekauft, damit seine Frau ihr Baby besser nähren könne, das sie nach zehnjähriger Ehe bekommen hatte.

Diese Ziege war schwerer zu hüten als die ganze Herde zusammen. Sie war schuld daran, daß die Schafe in den Hafer gingen, der schon hoch stand.

Der Pächter bemerkte es und zankte mich aus; er beschuldigte mich, in irgendeinem Winkel geschlafen zu haben, während die Herde sein Feld verwüstete.

Ich mußte jeden Tag an einer Schonung junger Tannen vorbei. Mit drei Sprüngen war die Ziege dort, und während ich sie suchte, fraßen meine Lämmer den Hafer.

Das erstemal wartete ich lange und hoffte, daß sie von allein zurückkäme. Mit schmeichelnder Stimme lockte ich sie. Endlich entschloß ich mich, sie zu holen. Aber die Tannen standen so dicht, daß ich nicht wußte, wie ich in das Wäldchen eindringen sollte.

Dennoch konnte ich nicht weitergehen, ohne zu wissen, was aus der Ziege geworden war. Ich glaubte die Stelle wiederzuerkennen, wo sie verschwunden war, und ich kroch hinein, beide Hände vor dem Gesicht, um es vor den Ästen zu schützen. Fast im selben Moment erblickte ich sie durch meine gespreizten Finger; sie war ganz nahe. Ich streckte die Hand aus, um sie bei einem Horn zu packen, aber sie wich zurück, wobei sie Zweige beiseite bog, die mir dann heftig ins Gesicht schlugen. Schließlich gelang es mir doch, sie zu packen, und ich führte sie zur Herde zurück.

Es war jeden Tag dieselbe Geschichte. Ich trieb meine Schafe so weit wie möglich weg vom Hafer und stürzte dann der Ziege nach.

Es war eine ganz weiße Ziege, und mir war gleich aufgefallen, daß sie Madeleine ähnelte. Sie hatte die gleichen auseinanderstehenden Augen. Immer wenn ich sie zwang, aus dem Tannenwäldchen herauszugehen, sah sie mich lange mit starren Augen an.

In diesen Augenblicken dachte ich immer, Madeleine habe sich in eine Ziege verwandelt. Manchmal bat ich sie inständig, doch nicht wieder davonzulaufen, und ich war überzeugt, daß sie mich verstand, wenn ich ihr Vorwürfe machte.

Als ich eines Tages mit völlig aufgelöstem Haar aus dem Tannenwäldchen herauskam, machte ich eine Kopfbewegung, wobei mir das Haar übers Gesicht fiel. Sofort sprang die Ziege zur Seite und stieß ein ängstliches Meckern aus; mit gesenkten Hörnern kam sie auf mich zu; aber ich senkte ebenfalls den Kopf und schüttelte mein Haar, das bis auf die Erde herabhing. Da ergriff sie in unbeschreiblich komischen Sprüngen die Flucht. Jedesmal, wenn sie in das Tannenwäldchen eindrang, rächte ich mich, indem ich ihr mit meinem Haar Angst einjagte.

Eines Morgens überraschte mich Meister Sylvain dabei, wie ich gerade auf sie zustürzte. Er brach in ein tolles Gelächter aus, das mich völlig verwirrte. Ich hielt sofort inne und versuchte, mein Haar wieder hochzustecken.

Die Ziege hatte sich mir wieder genähert. Sie sah mich an, wobei sie den Hals vorstreckte und sich ganz komisch wand, bereit, bei der geringsten Gebärde wieder auszureißen. Der Pächter konnte sich gar nicht beruhigen; er hielt sich die Seiten, krümmte sich und lachte aus vollem Halse. Man sah von ihm nur seinen Kittel, seinen Bart und den großen Hut. Bei dem schallenden Gelächter überkam mich ein heftiges Verlangen zu weinen, und mir schien, er würde nun immer so bleiben: zusammengekrümmt und lärmend.

Als er sich endlich beruhigt hatte, fragte er mich freundlich aus. Ich erzählte ihm von den Bosheiten der Ziege. Da drohte er ihr mit dem Finger und fing wieder an zu lachen.

Am nächsten Morgen nahm Martine sie mit. Aber schon am zweiten Tag erklärte sie, daß sie lieber den Hof verließe als diese Ziege, die vom Teufel besessen sei, weiter zu hüten.

Die alte Bibiche sagte, daß man Ziegen schlagen müsse. Aber ich erinnerte mich noch genau an den einzigen Stockhieb, den ich ihr einmal versetzt hatte; ihre Weichen hatten dabei einen so seltsamen Ton von sich gegeben, daß ich niemals wieder gewagt hatte, sie zu schlagen.

So ließ man sie draußen vor dem Pachthof frei herumlaufen, und eines Tages verschwand sie, ohne daß man je erfahren hätte, was aus ihr geworden war.

Der Johannistag kam heran, und Eugène meinte, man solle mich zur Feier des Jahrestages meiner Ankunft auf dem Pachthof ins Dorf mitnehmen.

Aus Anlaß dieses Festtags schenkte mir die Pächterin ein gelbes Kleid, das sie selbst als junges Mädchen getragen hatte.

Das Dorf hieß Sainte-Montagne. Es hatte nur eine einzige Straße, an deren Ende die Kirche stand.

Martine zog mich rasch mit sich fort, denn die Messe hatte bereits begonnen. Sie stieß mich auf eine Bank und setzte sich selbst in die Bankreihe vor mir.

Der feierliche Eindruck, den die Kirche auf mich gemacht hatte, als ich sie betrat, wurde beinahe augenblicklich zerstört. Hinter mir sprachen zwei Frauen unaufhörlich vom Markt, der tags zuvor stattgefunden hatte, und die Männer, die hinten an der Kirchentür standen, unterhielten sich ganz ungeniert und laut.

Erst als der Pfarrer auf die Kanzel stieg, trat Stille ein. Ich glaubte, er würde eine Predigt halten, aber er verlas nur die Heiratsaufgebote; bei jedem Namen, den er aussprach, beugten sich die Frauen kichernd nach rechts oder links.

Mir kam nicht einmal der Gedanke ans Beten. Ich betrachtete Martine, die vor mir kniete und betete. Ihre braunen Ringellocken quollen unter der gestickten Haube hervor. Sie hatte breite Schultern, und ihr weißes Mieder wurde in der Taille von einem schwarzen Band zusammengehalten. Wenn man sie ansah, mußte man unwillkürlich an etwas Neues und Frisches denken.

Und die Oberin hatte mir doch gesagt, daß Schäferinnen unsaubere Mädchen wären.

Ich sah Martine wieder vor mir inmitten ihrer Schafe, mit ihrem kurzen gestreiften Rock, den straff sitzenden Strümpfen und den mit Leder überzogenen Holzschuhen, die sie wie richtige Schuhe wichste. Trotzdem paßte sie gut auf ihre Herde auf, und die Pächterin versicherte, daß sie jedes einzelne ihrer Schafe kenne.

Als die Messe aus war, verließ mich Martine, um zu einer alten Frau hinzulaufen, die sie zärtlich umarmte. Dann verlor ich sie aus den Augen und stand plötzlich allein da, ohne zu wissen, wohin ich gehen sollte.

Da sah ich, gar nicht weit von mir entfernt, den Gasthof »Zum weißen Roß«, aus dem lautes Stimmengewirr und Geschirrklappern drang. Die Leute gingen immer in Gruppen hinein, und bald war niemand mehr auf dem Platz.

Ich wollte gerade wieder in die Kirche gehen, um dort zu warten, bis mich Martine holen käme, als ich Eugène herbeieilen sah. Er nahm mich bei der Hand und sagte lachend:

»Wenn dein Kleid nicht so gelb gewesen wäre, hätte ich dich sicher vergessen.«

Er sah mich spöttisch und belustigt an.

Er führte mich zum Schullehrer und bat ihn, mir Frühstück zu geben und mich mitzunehmen, wenn er mit seinen Kindern spazierenginge.

Der Lehrer war wie die Herren in der Stadt gekleidet, während Eugène nur einen blauen Kittel anhatte, und ich war sehr erstaunt, als ich hörte, daß sie sich duzten.

Während ich auf das Frühstück wartete, gab mir der Lehrer ein Märchenbuch zu lesen; und als es dann Zeit zum Spazierengehen war, wäre es mir lieber gewesen, ich hätte allein bleiben und das Buch zu Ende lesen können.

Auf dem Dorfplatz drehten sich im Sonnenschein und in einer Wolke von Staub die Burschen und Mädchen im Tanz. Mir kam ihr Herumschwenken übertrieben und ihre Fröhlichkeit zu lärmend vor.

Ich fühlte eine große Traurigkeit in mir aufsteigen; und als uns bei sinkender Nacht der Wagen zum Pachthof zurückbrachte, empfand ich es als eine wahre Erleichterung, wieder von Stille und dem Duft der Wiesen umgeben zu sein.

*

Als ich ein paar Tage später von den Feldern heimkehrte, machte plötzlich ein Schaf, das an einer Hecke entlangtrottete, einen großen Satz. Als ich näher kam, sah ich, daß seine Nase blutete. Ich vermutete, es hätte sich an einem langen Dorn gestochen, und nachdem ich es abgewaschen hatte, dachte ich nicht mehr daran. Am nächsten Tage war ich zu Tode erschrocken, als ich es mit einem Kopf wiedersah, der beinahe ebenso groß war wie der ganze Körper. Auf den Schrei hin, den ich ausstieß, eilte Martine herbei, und der Schrei, der ihr selbst entfuhr, ließ alles zusammenlaufen.

Ich erklärte nun, was tags zuvor geschehen war, und der Pächter versicherte, daß das Schaf gewiß von einer Schlange gebissen worden sei.

Man mußte ihm feuchte Umschläge machen, und es sollte im Stall bleiben, bis die Geschwulst zurückgegangen war.

Ich war wirklich gern bereit, das arme Tier zu pflegen; aber als ich allein mit ihm war, packte mich Entsetzen.

Dieser abscheuliche Kopf, der auf dem kleinen Körper hin und her wackelte, flößte mir eine sinnlose Angst ein. Die übernatürlich großen Augen, das riesige Maul und die steifen, hochaufgerichteten Ohren ergaben zusammen etwas so Ungeheuerliches, wie man es sich nur schwer vorstellen kann. Das Schaf hielt sich immer in der Mitte des Stalles auf, gleichsam als hätte es Angst, sich an der Wand zu stoßen. Ich versuchte mich ihm zu nähern, indem ich mir immer wieder sagte, daß es doch nur ein Schaf sei. Aber sobald es sich mir zuwandte, schoß ich wie ein Pfeil zur Tür. Dennoch hatte ich großes Mitleid mit ihm. Manchmal schien es mir, als mache mir dieses hin und her wackelnde Gesicht Vorwürfe. Dann geriet in meinem Kopf irgend etwas durcheinander, und ich fühlte mich dem Wahnsinn nahe. Ich war mir darüber im klaren, daß ich es fertigbringen würde, das Schaf verhungern zu lassen.

Ich erzählte das alles dem Kuhhirten, der gleich bereit war, die Pflege des Schafes zu übernehmen, solange die Geschwulst anhielt. Er machte sich über mich lustig: er begriff nicht, wie man sich vor einem kranken Schaf so sehr fürchten konnte.

Ich hatte jedoch bald Gelegenheit, ihm ebenfalls einen Dienst zu erweisen, und ich war sehr froh darüber.

Als er eines Morgens den Stier losbinden wollte, war er fehlgetreten und vor ihm hingefallen. Der Stier beschnüffelte ihn schnaubend und prustend. Er war ganz jung, man hatte ihn auf dem Pachthof aufgezogen, und er fing schon an, sich störrisch zu gebärden.

Der Kuhhirt fürchtete, der Stier würde wild werden, und er war davon überzeugt, daß sich das Tier künftig daran erinnern würde, daß es ihn schon einmal vor sich auf dem Boden hatte liegen sehen.

Ich hätte ihn gern beruhigt, aber ich wußte nicht, was ich ihm in diesem Falle sagen sollte. Und dann war ich ganz überrascht, weil er mir plötzlich so alt vorkam: er hatte seinen Hut auf die Erde geworfen, und ich bemerkte zum erstenmal, daß sein Haar ganz grau war.

Den ganzen Tag über dachte ich an ihn, und am nächsten Morgen konnte ich mich nicht enthalten, in den Kuhstall zu gehen, während er die Kühe eine nach der anderen herausließ.

Er starrte den Stier unverwandt an, der ungeduldig an seiner Kette zerrte. Ich näherte mich dem Tier, streichelte es und band es los.

Der Kuhhirt ließ den Stier an sich vorbei, der wie toll hinauslief, und folgte ihm dann hinkend, nachdem er mich ganz erstaunt angesehen hatte.

Vor dem Stier fürchtete ich mich viel weniger als vor dem verschwollenen Schaf, und jeden Tag ging ich in den Kuhstall, wobei ich alle möglichen Vorsichtsmaßregeln traf, damit ich von niemandem gesehen wurde.

Dennoch hatte mich Eugène gesehen. Er nahm mich beiseite, senkte seine kleinen Äuglein in die meinen und fragte:

»Warum bindest du den Stier los?«

Ich fürchtete, daß man den Kuhhirten ausschelten würde, wenn ich die Wahrheit sagte; und so suchte ich nach einer Ausrede, fand aber keine. Schließlich sagte ich, daß ich ihn ja gar nicht losbände. Da sagte Eugène in seiner üblichen spöttischen Art zu mir:

»Solltest du zufällig doch eine Lügnerin sein?«

Nun erst erzählte ich ihm alles, und schon am Sonnabend darauf war das Tier verkauft.

*

Ich hatte oft bemerkt, wie gut Eugène zu allen war. Wenn der Pächter mit seinen Arbeitern Zwistigkeiten hatte, rief er zum Schluß jedesmal seinen Bruder, der die Angelegenheit mit ein paar Worten in Ordnung brachte.

Er beschäftigte sich mit den gleichen Arbeiten wie Meister Sylvain. Aber er weigerte sich, auf den Markt zu gehen: er sagte, daß er es nicht einmal fertigbringen würde, auch nur einen Käse zu verkaufen.

Er hatte einen langsamen, wiegenden Gang, und es schien, als habe er ihn dem seiner Ochsen angepaßt.

Er verbrachte fast jeden Sonntag in Sainte-Montagne. Wenn das Wetter zu schlecht war, blieb er zu Hause und las in der großen Stube. Oft belauerte ich ihn, in der Hoffnung, er würde einmal sein Buch vergessen; aber er vergaß es niemals. Ich war untröstlich, daß ich auf dem Pachthof nichts zu lesen fand. So sammelte ich denn alle Papierschnitzel auf, die irgendwo herumlagen.

Die Pächterin hatte das schließlich bemerkt, und sie sagte, daß ich einmal geizig werden würde.

Eines Sonntags, als ich gewagt hatte, Eugène um ein Buch zu bitten, schenkte er mir ein dickes Liederheft.

Den ganzen Sommer über schleppte ich es mit mir auf den Feldern herum. Zu den Liedern, deren Texte mir besonders gut gefielen, komponierte ich mir selber Melodien. Aber dann wurde ich dessen überdrüssig. Als ich einmal der Pächterin vor Allerheiligen beim Großsaubermachen half, entdeckte ich mehrere alte Jahreskalender.

Pauline sagte, ich solle sie auf den Boden hinauftragen; aber ich tat so, als hätte ich es vergessen, und ließ sie in der Schublade, in der sie sich befanden, und heimlich nahm ich mir einen nach dem anderen mit. Sie waren voll von heiteren Geschichten, und der Winter verging, ohne daß ich bemerkte, wie kalt es war.

Am Tage, als ich sie auf den Boden hinaufbrachte, durchstöberte ich alles, um nachzusehen, ob ich nicht noch andere entdeckte. Aber ich fand nur ein kleines Büchlein ohne Einband, dessen Blätter an den Ecken umgebogen waren, so als hätte es jemand lange mit sich in der Tasche umhergetragen. Die ersten beiden Seiten fehlten, und die dritte war so schmutzig, daß man die Buchstaben kaum erkennen konnte. Ich ging zur Bodenluke, um mehr Licht zu haben, und aus dem Kolumnentitel über jeder Seite ersah ich, daß es sich um die »Abenteuer des Telemach« handelte.

Ich schlug das Büchlein aufs Geratewohl auf, und schon die wenigen Zeilen, die ich las, weckten mein Interesse so sehr, daß ich es sofort in die Tasche steckte.

Als ich gerade wieder hinuntergehen wollte, kam mir der Gedanke, Eugène könnte es dort hingelegt haben und jeden Augenblick wiederkommen, um es zu holen; so legte ich es also wieder auf den schwarzen Balken zurück, wo ich es gefunden hatte. Jedesmal, wenn ich Gelegenheit fand, auf den Boden zu gehen, überzeugte ich mich davon, daß es noch da war, und ich las darin, solange ich konnte.

*

Um diese Zeit wurde noch eins von meinen Schafen krank. Seine Weichen waren so eingefallen, als hätte es seit langem nichts gefressen. Ich fragte die Pächterin, wie ich es pflegen sollte.

Die Pächterin hörte auf, ihr Huhn zu rupfen, und fragte mich, ob das Schaf sehr gespannt sei.

Ich antwortete nicht gleich. Ich fragte mich, was das Wort »gespannt« bedeuten mochte. Dann dachte ich, daß wohl alle kranken Schafe »gespannt« sein müßten. Und so sagte ich ja und fügte wie zur Bekräftigung noch schnell hinzu:

»Es ist ganz eingefallen.«

Die Pächterin fing an zu lachen und sagte in scherzhaftem Ton zu Eugène, der ein Stückchen weiter weg stand und vor sich hin pfiff:

»Hören Sie sich das an, Eugène! Sie hat ein Schaf, das zugleich gespannt und eingefallen ist.«

Nun lachte auch Eugène: er meinte, ich sei ihm ja eine schöne Schäferin, und schließlich erklärte er mir, daß Schafe gespannt wären, wenn sie einen geschwollenen Leib hätten.

Zwei Tage später sagte Pauline zu mir, sie und Meister Sylvain hätten nun wohl eingesehen, daß aus mir niemals eine gute Schäferin werden würde, und sie hätten daher beschlossen, mich im Hause zu behalten. Die alte Bibiche taugte zu nichts mehr, und seit Pauline ihr Kind hatte, konnte sie allein nicht mehr alles schaffen.

Schon bei den ersten Worten war mir klar, daß es mir auf diese Art ein leichtes sein würde, oft auf den Boden hinaufzugehen, und deshalb bedankte ich mich stürmisch bei der Pächterin.

*

Nun, da ich Magd auf dem Pachthof war, mußte ich Hühner und Kaninchen schlachten. Ich konnte mich nicht dazu entschließen, und die Pächterin begriff nicht, warum mir das so sehr widerstrebte. Sie sagte, ich sei wie Eugène, der immer davonlief, wenn man ein Schwein abstach.

Um meinen guten Willen zu zeigen, wollte ich dennoch versuchen, ein Huhn zu schlachten. Es zappelte in meinen Händen, und bald war das Stroh um mich herum ganz rot. Als es sich nicht mehr rührte, ließ ich es in der Scheune, bis die alte Bibiche kam, um es zu rupfen; die aber machte sich schön über mich lustig, als sie das Huhn aufrecht inmitten einer Schwinge voll Körnern vorfand. Es fraß gierig, als wollte es sich so schnell wie möglich von der Wunde erholen, die ich ihm beigebracht hatte. Die alte Bibiche packte es, und als sie ihm nun das Messer an den Hals gesetzt hatte, wurde das Stroh noch viel röter als zuvor.

Während der Mittagsruhe ging ich auf den Boden, um ein wenig zu lesen. Ich öffnete das Buch aufs Geratewohl, und ich entdeckte, sooft ich es auch las, immer wieder etwas Neues.

Ich liebte dieses Buch, ich verglich es mit einem gefangenen Jüngling, den ich heimlich besuchte. Ich stellte mir vor, daß er wie ein Page gekleidet sei, der mich, auf dem schwarzen Balken sitzend, erwartete. Eines Abends unternahm ich eine schöne Reise mit ihm.

Nachdem ich das Buch zugeklappt hatte, lehnte ich mich zur Bodenluke hinaus. Der Tag neigte sich schon, und die Tannen schienen weniger grün. Die Sonne kuschelte sich in die weißen Wolken, die sich aufbauschten und einbuchteten wie Daunen.

Ohne zu wissen, wie es geschah, schwebte ich plötzlich mit Telemach über dem Wald. Er hielt mich an der Hand, und unsere Köpfe berührten das Blau des Himmels. Telemach sagte nichts, aber ich wußte genau, daß wir geradewegs in die Sonne hineinfliegen würden.

Unten rief die alte Bibiche nach mir. Trotz der Entfernung erkannte ich genau ihre Stimme. Sie mußte sehr böse sein, da sie so laut schrie. Aber ich kümmerte mich nicht darum; ich sah nur den glänzenden Flaum rings um die Sonne, der sich teilte, um uns hindurchzulassen.

Ein Schlag auf den Arm holte mich wieder auf den Boden herunter. Die alte Bibiche zog mich von der Luke fort und sagte:

»Ist denn das eine Art, mich so schreien zu lassen? Mehr als zwanzigmal rufe ich dich jetzt schon, damit du deine Suppe essen kommst.«

Bald darauf fand ich das Buch nicht mehr auf dem Balken. Aber ich trug einen Freund in meinem Herzen, den ich lange Zeit in Erinnerung behielt.

*

Zwei Tage vor Weihnachten traf Meister Sylvain alle Vorbereitungen zum Schweineschlachten. Er schärfte zwei große Messer, und nachdem er mitten im Hof ein frisches Strohlager aufgeschüttet hatte, ließ er das Schwein heraus, das laut zu quieken anfing, gleichsam als hätte es geahnt, was ihm bevorstand. Meister Sylvain band ihm die Pfoten mit Stricken zusammen, und während er diese an starken Pflöcken festmachte, sagte er zu seiner Frau:

»Versteck die Messer, Pauline, es braucht sie nicht zu sehen.«

Pauline drückte mir so etwas wie eine tiefe Pfanne in die Hand, die ich geschickt halten sollte, um das Blut aufzufangen, ohne daß ein Tropfen verlorenging.

Der Pächter näherte sich dem Schwein, das auf die Seite gefallen war. Er kniete sich mit einem Bein vor dem Schwein hin, und nachdem er es am Hals abgetastet hatte, streckte er die Hand nach seiner Frau aus, die ihm das größere Messer reichte. Er setzte die Spitze an der Stelle an, die sein Finger bezeichnete; dann stieß er langsam zu.

In diesem Augenblick glich das Quieken, das das Schwein ausstieß, menschlichen Schreien.

Aus der Wunde drang ein Tropfen Blut, der herunterlief und einen langen roten Streifen hinterließ. Dann spritzten zwei Blutstrahle am Messer hoch und ergossen sich über die Hand des Pächters. Als das Messer bis zum Griff eingedrungen war, stemmte sich Meister Sylvain eine Weile mit seinem ganzen Gewicht darauf, und er zog es ebenso langsam heraus, wie er es hineingestoßen hatte.

Als ich diese ganz rot verschmierte Klinge wieder hervorkommen sah, fühlte ich, daß meine Lippen kalt wurden und ich keinen Speichel mehr im Munde hatte.

Meine Finger lockerten sich, und die Pfanne neigte sich auf eine Seite.

Meister Sylvain sah das, er blickte zu mir auf und rief seiner Frau zu:

»Nimm ihr die Pfanne ab!«

Ich war unfähig, ein Wort hervorzubringen, aber ich machte ihr ein Zeichen, daß das nicht nötig sei. Der so ruhige Blick des Pächters hatte meine Erregung verscheucht, und von da an hielt ich mit fester Hand die Pfanne unter den Strahl brodelnden Blutes.

Als das Schwein aufgehört hatte zu schreien, trat Eugène auf uns zu. Er schien verblüfft, als er mich so aufmerksam die letzten roten Tropfen auffangen sah, die einer nach dem anderen wie Tränen herabrollten.

»Wie!« rief er aus. »Du hast all das Blut aufgefangen?«

»Aber ja«, antwortete der Pächter, »und das beweist, daß sie nicht so ein Hasenherz ist wie du.«

»Das stimmt schon«, sagte Eugène, zu mir gewandt. »Es schmerzt mich zu sehr, zuzusehen, wenn Tiere geschlachtet werden.«

»Ach was«, sagte Meister Sylvain, »die Tiere sind dazu da, uns zu ernähren, wie das Holz dazu da ist, uns Wärme zu spenden.«

Eugène wandte sich ab, gleichsam als schäme er sich seiner Schwäche.

Er hatte schmale Schultern, und sein Hals war ebenso rund wie der Martines.

Meister Sylvain sagte, er wäre ganz das Ebenbild seiner Mutter.

Ich hatte ihn niemals zornig werden sehen. Man hörte ihn immer mit leiser und wohlklingender Stimme singen.

Abends kehrte er, rittlings auf dem Rücken eines seiner Ochsen sitzend, von den Feldern heim, und oft sang er dasselbe Lied.

Es war die Geschichte eines Soldaten, der wieder in den Krieg zieht, nachdem er festgestellt, daß seine Braut einen anderen geheiratet hat.

Pauline sprach stets in respektvollem Ton mit ihm. Sie begriff nicht, wie ich ihm gegenüber so ungezwungen sein konnte.

Als sie mich das erstemal abends auf der Bank vor der Tür hatte sitzen sehen, hatte sie mir ein Zeichen gemacht, hereinzukommen. Aber Eugène hatte mich zurückgerufen mit den Worten:

»Komm, hör dir doch die Waldeule an!«

Oft saßen wir noch auf der Bank, wenn alle schon schlafen gegangen waren.

Die Eule kam bis zu der alten Ulme, die vor der Tür stand. Ihr leises Heulen schien uns gute Nacht zu sagen; dann flog sie davon, und ihre großen Flügel strichen in der Stille über uns dahin.

Mehrmals erklang vom Hügel her eine singende Stimme. Ich erschauerte. Diese volle Stimme, die in die Nacht hineintönte, erinnerte mich an die Colettes.

Wenn die Stimme verstummte, ging Eugène ins Haus zurück; ich aber blieb, in der Hoffnung, sie noch einmal zu hören. Dann sagte er stets zu mir:

»Komm nur rein, es ist ja doch Schluß.«

Als es dann wieder Winter geworden war und wir nicht mehr vor der Tür sitzen konnten, blieb doch zwischen uns so etwas wie ein geheimes Band bestehen. Wenn er über jemanden spottete, suchten seine listigen Äuglein die meinen, und wenn er in einem schwierigen Fall sein Urteil abgab, blickte er immer zu mir hin, gleichsam als warte er darauf, daß ich es billige.

Mir war, als hätte ich ihn schon immer gekannt, und tief im Innern nannte ich ihn meinen großen Bruder.

Oft fragte er Pauline, ob sie mit mir zufrieden sei, und Pauline antwortete ihm, daß man mir nichts zweimal zu zeigen brauche. Sie warf mir einzig und allein vor, daß ich keinen rechten Überblick über meine Arbeit hätte. Sie meinte, daß ich das Pferd oft am Schwanze aufzäume.

Ich hatte Schwester Marie-Aimée nicht vergessen, aber ich sehnte mich nicht mehr so sehr nach ihr, ich fühlte mich glücklich auf dem Pachthof.

*

Im Juni kamen wie jedes Jahr Männer, um die Schafe zu scheren. Sie brachten eine schlechte Nachricht mit: in der ganzen Umgegend wurden die Schafe, sobald sie geschoren waren, krank, und viele gingen ein.

Meister Sylvain ergriff Vorsichtsmaßregeln, aber trotz allem hatten wir bald etwa hundert kranke Schafe.

Der Tierarzt behauptete, daß wir viele retten könnten, wenn wir sie im Fluß badeten. Daraufhin stellte sich der Pächter bis zum Gürtel ins Wasser und tauchte ein Schaf nach dem anderen unter. Er war ganz rot, und der Schweiß, der ihm von der Stirn rann, fiel in großen Tropfen in den Fluß.

Abends legte er sich mit Fieber ins Bett, und am dritten Tage starb er an einer Lungenentzündung.

Pauline konnte gar nicht an ihr Unglück glauben, und Eugène schlich mit entsetzten Augen in den Ställen umher.

*

Bald nach dem Tode des Pächters besuchte uns der Besitzer des Pachthofs. Das war ein kleiner dürrer Mann, der es nicht einen Augenblick lang auf ein und demselben Platz aushalten konnte, und selbst wenn er einmal stehenblieb, schien es mir immer, als tanze er auf einem Bein.

Er hatte ein glattrasiertes Gesicht und hieß Monsieur Tirande.

Er trat in die große Stube, in der Pauline und ich saßen, ging einmal mit gebeugtem Rücken darin auf und ab und sagte dann zu mir, wobei er auf das Kind zeigte:

»Nehmen Sie es mit hinaus, ich habe mit der Pächterin zu reden.«

Ich ging auf den Hof, und während ich so tat, als führe ich das Kind spazieren, ging ich vor dem offenen Fenster hin und her.

Pauline hatte sich nicht von ihrem Stuhl gerührt. Ihre gefalteten Hände lagen auf den Knien, und sie neigte den Kopf vor, gleichsam als suche sie etwas sehr Schwieriges zu begreifen. Monsieur Tirande sprach, ohne sie anzusehen. Er schritt dabei immer zwischen dem Kamin und der Tür auf und ab, und das Geräusch seiner Absätze auf den Fliesen vermischte sich mit dem Klang seiner brüchigen Stimme.

Er ging ebenso schnell weg, wie er gekommen war; und unruhig geworden, fragte ich Pauline, was er ihr gesagt habe.

Sie nahm ihr Kind auf den Arm, und weinend erzählte sie mir, daß Monsieur Tirande sie fortschicken wolle, um den Hof seinem Sohn zu übergeben, der vor kurzem geheiratet hatte.

Am Wochenende kam Monsieur Tirande mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter wieder. Sie besichtigten zuerst die Ställe, und als sie dann ins Haus kamen, blieb Monsieur Tirande einen Augenblick vor mir stehen und sagte, daß seine Schwiegertochter beschlossen habe, mich in ihre Dienste zu nehmen.

Pauline hörte das, und hastig trat sie einen Schritt auf mich zu; im selben Augenblick jedoch kam Eugène mit den Papieren in der Hand herein, und alle setzten sich um den Tisch.

Während sie damit beschäftigt waren, diese Schriftstücke zu lesen und zu unterzeichnen, betrachtete ich die Schwiegertochter Monsieur Tirandes. Diese war eine hochgewachsene Brünette mit großen Augen und gelangweiltem Gesichtsausdruck. Sie verließ mit ihrem Mann den Pachthof, ohne ein einziges Mal zu mir hingesehen zu haben.

Als ihr Wagen am Ende der Kastanienallee verschwunden war, erzählte Pauline Eugène, was Monsieur Tirande zu mir gesagt hatte. Eugène, der gerade hinausgehen wollte, wandte sich jäh nach mir um. Er schien empört zu sein, und seine Stimme klang ganz verändert, als er sagte, daß diese Leute über mich verfügten wie über einen ihnen gehörenden Gegenstand; und während Pauline mein Schicksal beklagte, erzählte mir Eugène, daß Monsieur Tirande seinerzeit auch Meister Sylvain gezwungen hatte, mich auf den Hof zu nehmen. Er erinnerte Pauline daran, wie ich dem Pächter leid getan hatte, als er sah, wie schwächlich ich war, und er versicherte mir, daß er es sehr bedaure, mich nicht auf einen neuen Pachthof mitnehmen zu können.

Wir standen alle drei in der großen Stube. Ich fühlte Paulines verzweifelten Blick auf mir ruhen, und Eugènes Stimme kam mir vor wie ein süßer Gesang.

Als der Sommer zu Ende ging, mußte Pauline den Pachthof verlassen. Ich beschäftigte mich nun täglich damit, die Wäsche in Ordnung zu bringen: sie sollte nicht ein einziges schadhaftes Stück mitnehmen. Ich gab mir Mühe, so kleine Stopfstiche zu machen, wie es mich Schwester Justine gelehrt hatte, und ich legte alles sorgfältig zusammen.

Abends sah ich Eugène auf der Bank vor der Tür sitzen. Die Dächer des Schafstalls glänzten im Mondlicht, und der Misthaufen war in weißen Dunst gehüllt, der einem Tüllschleier glich.

Kein Laut drang aus den Ställen. Man hörte nur das Knarren der Wiege, die Pauline schaukelte, um ihr Kind einzuschläfern.

Sobald das Korn eingefahren war, begann Eugène mit den Umzugsvorbereitungen. Der Kuhhirt führte seine Kühe fort, und die alte Bibiche fuhr mit dem Wagen mit, der alles Geflügel wegbrachte.

Bald waren nur noch die beiden weißen Ochsen auf dem Hof, die Eugène niemandem anvertrauen wollte. Er band sie an das Wägelchen, das Pauline und ihr Kind davonführen sollte.

Der kleine Junge war in einem Korb voller Stroh eingeschlafen, und Eugène hob ihn in den Wagen, ohne ihn zu wecken. Pauline deckte ihn mit ihrem Schal zu, und nachdem sie vor dem Haus noch ein großes Kreuz geschlagen hatte, faßte sie die Zügel, und das Wägelchen rollte die Kastanienallee entlang.

Ich wollte sie bis zur Landstraße begleiten und ging zwischen Eugène und Martine hinter den Ochsen her.

Wir schritten schweigend dahin. Von Zeit zu Zeit trieb Eugène seine Ochsen an, indem er sie leicht mit der Hand berührte.

Wir hatten schon ein beträchtliches Stück auf der Landstraße zurückgelegt, als Pauline plötzlich bemerkte, daß es schon dunkel zu werden begann. Sie hielt das Pferd an, und als ich auf das Trittbrett geklettert war, um sie zu umarmen, sagte sie traurig:

»Leb wohl, mein Kind! Führe dich gut.« Und mit tränenerstickter Stimme fügte sie hinzu: »Wenn mein armer Sylvain noch lebte, er hätte dich niemals zurückgelassen.«

Martine umarmte mich lächelnd.

»Vielleicht sehen wir uns einmal wieder«, sagte sie.

Eugène nahm seinen Hut ab, drückte mir lange fest die Hand und sagte langsam:

»Leb wohl, mein kleiner Kamerad, ich werde dich nie vergessen.«

Nachdem ich ein Stück gegangen war, blickte ich zurück, um sie alle noch einmal zu sehen, und obwohl es immer dunkler wurde, sah ich, daß Eugène und Martine Hand in Hand gingen.


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