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Erinnerungen aus dem äußeren Leben.


Ich steh, ich steh auf einem breiten Stein,
Und wer mich lieb hat, holt mich ein.

Diesen Spruch habe ich in der lieben Heimat oft gesprochen in den Tagen, wo es mir noch lustig deuchte, im Pfänderspiel eine hübsche Dirne anzulocken und von ihr mit einem Kusse von dem festen Platze erlöst zu werden. Es lag nämlich im Mittelalter in der alten herrlichen Stadt Stralsund auf dem alten Markt ein sogenannter breiter Stein, unweit einer andern Stand- und Schaustelle, dort Kak, anderswo Pranger genannt. Dieser breite Stein hatte weiland gedient wie jetzt die Kanzel zu allerlei feierlichen Ausrufungen und Verkündigungen, namentlich: wann hohe Ehrenstellen in der Obrigkeit besetzt werden sollten, wurden sie dem Volke durch Ausrufungen von jener Stelle bekannt gemacht; Verlöbnisse wurden dort verkündigt, Verlobte stellten sich in Feierkleidern dahin und ließen unter Pauken- und Trompetenschall ihre Namen erklingen und so jedermänniglich zu Einrede und Einwand auffordern.

Auf eine ähnliche Weise meine ich mich hier auf dem breiten Stein hingestellt zu haben und nicht an seinem Nachbar, wenn ich auch nicht glaube, daß mir wie mit Jugendglück die liebebrennenden Herzen mit Küssen entgegenfliegen werden. Ich habe in einzelnen dünnen Linien die Umrisse meines öffentlichen Lebens hingezeichnet, meines Lebens, Wollens und Wirkens als deutscher Mann und Bürger. Beruf dazu hatte ich schon deswegen genug, weil es öffentlich vielfältiglich angefochten worden ist. Danton, ein welsches Ungeheuer, hat einmal das große Wort gesprochen: Mein Name sei geschändet! Nur sei das Vaterland gerettet! Aber doch, wenn es nicht die allerhöchsten Dinge gilt, wer möchte sich freiwillig schänden und anprangern lassen? Was hätte das liebe Vaterland des Gewinn, daß irgend eines seiner Kinder unverdient für einen Schurken oder Narren gälte? Darum stelle ich mich hier auf den breiten Stein und rufe: Hier steh ich, ein redlicher und verständiger Mann. Ist einer, der meint, mich davon auf die Nachbarstelle hinüberstoßen zu können, der komme! Ich lebe noch und will ihn bestehen.

Die meine Schicksale kennen, verstehen die Meinung dieser Verkündigung. Weiter wüßte ich über diese Umrisse nichts zu sagen, als daß in Beziehung auf die Schilderung meiner jugendlichen Jahre manches vielleicht zu breit ausgeführt scheinen möchte. Ich glaube nicht, daß mich hier mit einer gewissen Breite der Darstellung die Geschwätzigkeit des Alters beschlichen hat, sondern eine sehr natürliche Lust an vergangenen Dingen, die nicht bloß für mich vergangen sind. Jene Menschen und Dinge, ja das ganze Leben der Jahre von 1780 und 1790 stehen schon gleich ein Paar Jahrhunderten von uns geschieden, so ungeheure Risse haben die letzten fünfzig Jahre durch die Zeit gerissen. Ich bilde mir ein, jene breiten Bilder seien gleichsam als Bilder längst verschienener Tage auch den Jetztlebenden ergötzlich.

Ich selbst? Was bin ich, was bin ich nicht unter jenen nun längst verblaßten Bildern? Wie ich gesagt habe, ein fliegendes Blatt unter Millionen fliegenden Blättern, die auf dem Ozean der Zeiten fortschwimmen, bis sie auf immer versinken. Aber ich sehe keinen Grund, warum dieses Blatt, solange es oben schwimmt, dulden soll, daß man es mit Schmutz bewerfe? Der Sonnenstrahl der Ehre jedes einzelnen ist auch dem Vaterlande heilig; alles übrige ist gleichgültig. Vergessen auch die Menschen geschwind, Gottes Liebe vergißt kein Stäubchen in seinem All. Man kann von der Menschheit und ihrer heiligen, unendlichen Bestimmung, auch von der Bestimmung jedes einzelnen Sterblichen nicht hoch genug denken; und doch, wenn man sich die Pilgerwanderung des einzelnen auf diesem trugvollen neblichten Planeten, wie er umhertappt und an allen Ecken und Enden anstößt und selten den rechten Pfad findet, in der Wirklichkeit klar vorstellt, dann singt man darüber den Spruch des alten Heiden Pindar: Was ist einer? Was ist er nicht? Eines Schatten Traumbild ist der Mensch Pind. Pyth. VIII, 135. (D. H.).

Bonn, den ersten des Hornungs 1840.


Am Schlusse des zweiten Weihnachtstages des Jahrs nach der Erscheinung unsers Herrn Jesu Christi 1769 habe ich zuerst das Licht dieser Welt erblickt, und zwar als ein Wohlgeborner und Hochgeborner, und nach der Meinung einiger auch als ein Glücklichgeborner. Wohlgeboren konnte ich heißen, weil ich stark und gesund an das Licht dieser Welt fiel, zumal ich schon mit dem neunten Monat meines Alters gelaufen bin, was einige meiner Söhne mir nachgemacht haben; Hochgeboren, weil das Haus meiner Geburt damals durch eine hohe stattliche Treppe und durch Jugendlichkeit und Schönheit ein sehr ritterliches und hochadliges Ansehen hatte und in seinen Sälen und Gemächern mit Geschichten der griechischen Mythologie, ja mit dem ganzen Olymp, Jupiter und Juno mit Adler und Pfau an der Spitze, verziert war; Glücklichgeboren, weil Glaube und Aberglaube den an hohen Festen Hervorgekommenen allerlei Vorzügliches und Wundersames, als da sind Wahrsagen, Gespenstersehen usw. beizulegen pflegt.

Es hätte sich aber leicht begeben können, daß ich ein recht Unwohlgeborner geworden wäre. Einige Wochen vor dem Ziel meiner Ankunft auf Erden war nämlich in der Festung Stralsund vor dem Tribseer Tore ein Pulverturm Wie die Pulvergeschichte hier erzählt ist, habe ich sie oft aus dem Munde meiner alten Base gehört. Und doch verhält sie sich anders. Ein Sundischer Freund belehrt mich nämlich, daß der Pulverturm 1770, also ein Jahr später aufgeflogen. Ich habe also im Mutterleibe nicht springen können, sondern muß es auf den Armen oder auf dem Schoße der Mutter getan haben. So sieht man selbst aus dem Leben kleiner Menschen, wie Märchen entstehen. aufgeflogen, der die nächsten Gassen und Hunderte von Menschen zerschmettert hatte. Dieser Knall war längs dem Meere auf drei Stunden Weite mit so fürchterlicher Gewalt bis Schoritz durchgeklungen, daß ich darüber in der Mutter aufgeschreckt worden, und sie in der Angst wegen meiner ungewöhnlichen Sprünge gefürchtet hatte, ihr würde was Ungrades geschehen. Sie pflegte mich zur Erinnerung daran, wann ich zu wild war, wohl zuweilen den wilden Pulverjungen zu schelten. Doch legte sie als fromme Christin an solche Dinge eben keine Bedeutung, obgleich sie für die Bedeutung meines Namens Ernst ritterlich gekämpft und den Namen Philipp, den der Vater von meinem Herrn Paten beliebte, niedergesiegt hatte: wie denn die Frauen in solchen Dingen gewöhnlich zu siegen pflegen.

Wie es nun auch um alle diese Geborenheiten stehen mag, die Wahrheit bekennend muß ich aussagen, daß der Stamm, aus welchem ich entsprossen bin, unter anderm niedrigen Menschengesträuch ganz tief unten an der Erde stand, und daß mein Vater kein viel besserer Mann war, als der Vater des Horatius Flaccus weiland, nämlich ein Freigelassener. Er hieß Ludwig Nikolaus Arndt und war zu jener Zeit Verwalter der sogenannten Schoritzer Güter. Meine Mutter hieß Friederike Wilhelmine Schumacher. Jene Güter, von welchen meine Geburtsstätte Schoritz der Hauptsitz war, bestanden aus einem halben Dutzend größerer und kleinerer Höfe und einigen Bauerdörfern, und mein Vater war eine Art Oberverwalter und führte den Namen Herr Inspektor, und seine nächsten Unterleute hießen Schreiber. Dieser Besitz und ein großer Teil der Güter auf der angrenzenden Halbinsel Zudar waren weiland Lehen des rügenschen adligen Geschlechts der von Kahlden. Ein sehr reicher Herr von Kahlden hatte das damals noch junge und schöne Haus auf dem Rittersitze Schoritz um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gebaut, seinen schönen Besitz aber um die Zeit des Siebenjährigen Krieges an einen General Grafen von Löwen verkauft, schwedischen Statthalter über Pommern und Rügen, und hatte dafür andere große Güter in Pommern wieder erworben. Er war aber durch Krieg und unverständige Wirtschaft zuletzt in schlechte Umstände geraten und mußte nun hier in Schoritz, wo er den schönen Hof und Garten und mehrere Parks gebaut und angelegt hatte, eine Rolle spielen, welche der Volksglaube gewöhnlich solchen beilegt, die durch schwere und greuliche Unfälle gegangen sind. Mir hat er die ersten kalten und heißen Gespensterschauer durch den Leib jagen müssen: denn er machte in einem grauen Schlafrocke, mit einer weißen Schlafmütze auf dem Kopf und ein paar Pistolen unter dem Arm abendlich und mitternächtlich häufig die Runde auf seinem Hofe, indem er zwischen den beiden Scheunen über den Damm, der auf das Haus hinführte, langsam in das unterirdische Haus und die Keller marschierte und von da herausschreitend durch das Gartentor ging, wo er die Bienenstöcke musterte und dann verschwand. Dieser war das Gespensterschrecken; aber ein zweites gespenstisches Schrecken, womit der abenteuernde Mund des Gesindes meine und meiner Brüder jugendliche Phantasie fütterte, waren ein paar mächtige goldige Wasserschlangen, welche in dem großen Teiche hinter der Scheune hausen und den Kühen gelegentlich die Milch absaugen sollten. Von dem General Löwen hatte die Güter der Graf Malte Putbus gekauft, aus dem vornehmsten und ältesten Rittergeschlecht in der ganzen schwedischpommerschen Landschaft, Erblandmarschall des Fürstentums Rügen und Präsident der Regierung in Stralsund.

Mein Vater, im Jahr 1740 geboren, war der vorjüngste von vielen Geschwistern und Sohn des untertänigen Schäfers Arndt zu Putbus und Darsband. Der Vater dieses Schäfers war nach der Familienüberlieferung ein geborener Schwede, als schwedischer Unteroffizier ins Land gekommen und hatte sich in ein Bauerwesen der Herrschaft Putbus eingeheiratet. Mein Vater war, da der Schäfer in seiner Lage leidlich wohlhabend war, und da sein viel älterer, auch schon zu einigem Wohlstand hinaufgekommener Bruder Hinrich seine Jugend unterstützte, fleißig zur Schule gehalten worden und hatte den Unterricht des Kantors und Küsters Jahn zu Vilmnitz bei Putbus genossen, eines feinen alten Mannes, dessen ich mich ans meiner Kindheit noch wohl erinnere, und der für einen sehr vorzüglichen Orgelspieler und Rechenmeister galt. In dieser Schule hatte mein Vater eine tüchtige Rechenkunst und eine vorzügliche Handschrift gewonnen, so daß sein Herr, der Graf, ihn zu einem Heidereiter, wie man sie damals in Rügen nannte, oder einem kleinen Förster bestimmte und ihn, da er ein hübscher, rüstiger Bursche war, als seinen Jäger in Geschäften und auf Reisen mit sich nahm. Nun brach der Siebenjährige Krieg aus, und der Graf ward zu einer Art Generalintendanten des schwedischen Heers ernannt, das übers Meer kam und die vielen Feinde des großen Friedrich von Preußen vermehren sollte. Da der Graf die Redlichkeit und Anstelligkeit des Jünglings erkannt hatte, so gebrauchte er ihn nicht nur in seiner Kanzlei als Schreiber, sondern auch zu mancherlei zum Teil gefährlichen und mißlichen Sendungen, namentlich zur Geleitung von Geldfuhren von Hamburg her usw., und nahm ihn später auf mehreren Reisen nach Stockholm mit. Auf diese Weise ging mein Vater von seinem achtzehnten bis fünfundzwanzigsten Jahre durch eine tüchtige Schule des Lebens und hatte sich bei dem Aufenthalte in großen Städten und unter fremden Menschen, obgleich nur ein dienerlicher Mann, die Art eines gebildeten und gewandten Mannes zugeeignet. Bei seinem Herrn aber hatte er schon in den ersten Jahren seines Dienstes die Gunst gewonnen, daß er ihn frei ließ und ihn zu Hause in Putbus in Geschäften der Landwirtschaft und Schreiberei gebrauchte, bis er ihn zum Inspektor der Schoritzer Güter machte.

Meine Mutter, im Jahr 1748 geboren, war die Tochter eines kleinen Ackerbesitzers und Landkrügers in dem Kirchdorfe Lanken, eine Meile von Putbus. Auch sie hatte eine bessere Erziehung genossen, als man von der Lage ihrer Eltern erwarten durfte; denn sie war mehrere Jahre mit den Kindern eines reichen Pächters zu Garftitz bei Lanken, namens Bukert, mit unterrichtet worden und hatte aus der Schule die Anfänge von für die damalige Zeit ganz hübschen Kenntnissen zu Hause gebracht, so daß man sie zu den gebildeten Frauen rechnen konnte. Sie und ihre Geschwister waren überhaupt geistig sehr begabte Menschen mit mancherlei feinen Talenten, besonders zu Saitenspiel, Gesang und Bildnerei und allerlei sinnigen und ergötzlichen Erfindungen. Sie war aber wohl die Krone von allen, ernst, fromm, sinnig und mutig, und durch keine Geschicke so zu beugen, daß sie die Klarheit und Besonnenheit verloren hätte. Sie steht mir noch heute mit ihren schönen, großen, blauen Augen und ihrer prächtigen breiten Stirn, als wenn sie leibte und lebte, lebendig gegenüber.

Schoritz war denn höchst anmutig hart an einer Meeresbucht gelegen, welche die Halbinsel Zudar von der größern Insel abschneidet; ein neues noch glänzend geschmücktes Haus; ein großer Blumengarten und mehrere Baumgärten; dicht daran eine ganz kleine Halbinsel, die aber bei hoher Sturmflut oft zu einer Insel ward, mit hohen Birken und Eichen bepflanzt, worauf wir unsere Sommerspiele zu halten pflegten; gegen Osten des Hofes ringsum ein prächtiger Eichenwald, in welchem Tausende von Ackerraben ihren horstenden Wohnsitz zu haben pflegten; ein Viertelstündchen weiter der größere Wald Krewe. Auch sind mir aus diesen Tagen noch mehrere Freuden erinnerlich, besonders die freundlichen Gaben, welche zwei Menschen uns Kindern fast allwöchentlich zutrugen. Der erste war mein Oheim und Pate Moritz Schumacher, damals Verwalter des Hofes zu Putbus. Dieser segelte oder ritt nie nach Stralsund oder Greifswald, ohne daß er bei uns etwas abweges ansprach und Gebäck und Süßigkeiten und anderes Schönes aus seiner Tasche schüttelte. Der zweite war ein alter preußischer Hauptmann von Wotke aus Hinterpommern, der mit seinem grauen Gemahl auf dem Schoritzer Nebengute Silmnitz eine halbe Stunde von uns wohnte. Noch heute schwebt mir das alte gutmütige und rosig heitere Gesicht dieses Greises vor, der fast alle Abende zu uns kam und mit dem Vater eine Partie Karten oder Damenbrett spielte. Am besten aber hatten wir Kinder es, wenn er den Vater nicht zu Hause traf; dann nahm der freundliche Alte mich und meinen Bruder Karl auf die Knie und erzählte uns Kriegs- und Mordgeschichten und andere wundersame Abenteuer, worauf wir mit unbeschreiblicher Lust horchten. An Sonntagen erschien dann auch die Frau Hauptmannin, immer im vollen Staat nach der damaligen Weise, und der Alte dann meistens in Montur, mit herrlich gepuderter Perücke, den Degen an der Seite und die silbernen Sporen an den Stiefeln. An solchen Galatagen und vorzüglich an den hohen Festen bescherte er den Kindern sehr reichlich, und mit Recht schwebt sein liebes Bild nach mehr als sechzig verlidenen D. i. vergangenen; ein von Arndt nach dem plattdeutschen vörläden gebildetes Wort. (D. H.) Jahren als das Bild eines milden und freundlichen Christengels vor meinen in Wehmut dämmernden Augen. Denn dieser gute Greis war neben den Gaben auch ein Friedensengel und hat mich und meinen Bruder Karl öfter von verdienter Züchtigung befreit.

In Schoritz wurden also die ersten Kinderspiele durchgespielt. Es war im Jahre 1775 oder 1776, da zog der Inspektor Arndt von Schoritz ab, eine halbe Stunde weiter, und ward nun sein eigener unabhängiger Herr. Der Graf verpachtete nämlich diese Güter an mehrere Pächter, und mein Vater ward Pächter von Dumsevitz und Ubechel nebst einigen Dienstbauern. Weder er noch die Mutter hatten zu solchem Unternehmen hinreichendes Vermögen. Freunde in Stralsund, deren Vertrauen er verdient hatte, schossen ihm dazu die nötige Summe vor.

Wir wohnten nun zu Dumsevitz fünf oder sechs Jahre, ich meine, bis zum Jahre 1780. Wir waren ein Viergespann von Buben, und es kam hier bald noch eine Dirne und ein Knabe hinzu; so daß in Dumsevitz das halbe Dutzend voll ward, das späterhin noch um zwei Geschwister vermehrt werden sollte. Dies hier sind die Jahre der aufdämmernden Kindheit, und aus diesen sind mir die anmutigsten und idyllischesten Lebensbilder übriggeblieben, und auch glaube ich, sie haben meine glücklichsten Tage enthalten. Was nun das Äußere betrifft, so waren wir freilich aus dem Palast in die Hütte versetzt. Dumsevitz war ein häßlicher, zufällig entstandener Hof mit einem neuen aber doch kleinlichen Hause; indessen doch hübsche Wiesen und Teiche umher, nebst zwei sehr reichen Obstgärten, und in den Feldern Hügel, Büsche, Teiche, Hünengräber, alles in dem unordentlichen aber romantischen Zustande eines noch sehr unvollkommenen und ursprünglichen Ackerbaues. Die Natur war, mit Goethe zu reden, gottlob! noch nicht reinlich gemacht und ihre ungestörte Wildheit mit Vögeln, Fischen, Wild und Herden desto lustiger: auch streiften wir, dem fröhlichen Jäger, dem Vater und seinen Hunden folgend, oft darüber hin. Das hatten wir alles zu genießen, behielten aber Schoritz, wo uns ganz nahe befreundete Leute wohnten, und das nahe Silmnitz, worauf Ohm Moritz Schumacher als Pächter gezogen war, eigentlich immer noch als unsere Heimat, weil die Nachbarn und Nachbarskinder immer wöchentlich, oft auch täglich zusammenliefen. Dies geschah am meisten in dem Walde Krewe, wovon ein Teil zu Dumsevitz gehörte, und worin wir bei der Vogelfängerei und Vogelstellerei meistens freundlich, zuweilen auch feindlich zusammenstießen. Wir hatten überhaupt ein glückliches Leben. Es war die zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre nach dem Siebenjährigen Kriege eine stille heitere Zeit, und die Menschen fühlten sich außerordentlich wohlig und wählig und ließen bei Besuchen, Zusammenkünften und Festlichkeiten und bei Reisen zu entfernten Verwandten die Kinder an allem freundlich mit teilnehmen. Das beste aber war, daß wir mit keinem frühen Lernen gequält wurden und auch diese Dumsevitzer Jahre noch so spielend durchspielen durften. Das hatte seinen guten Grund.

Es hatte nicht seinen Grund in der Ansicht oder in dem Willen der Eltern, sondern in den engen und kleinen Umständen derselben. Es gab keine Schule in der Nähe, und ein rechter studierter Hauslehrer wäre ihnen zu teuer geworden. Einmal kam freilich einer an, ein alter verlegener Kandidat, Sohn eines Kantors in der Stadt Bergen, namens Herr Krai. Ich erinnere mich dieser Krähe noch mit Schaudern. Er war früher mit unserm werten Hausfreund, Herrn Pastor Krüger zu Swantow, mehrmals als Gast bei uns gewesen, wo wir über seinen wunderlich zugeknöpften Rock und seine gelbe Perücke gelacht hatten: ein langer, dürrer und griesgrämiger Mensch mit einer ungeheuren Nase und tiefliegenden schwarzen Augen. Welche Angst aber, als er wirklich bei uns einzog und uns in seinem kleinen Zimmer zusammenkniff! Da waren die wilden Vögel eingefangen. Aber diese Angst nahm glücklicherweise ein baldiges Ende. Er verließ unser Haus zu unserm Jubel etwa nach acht Tagen, indem er meinem Vater in einem Briefe erklärte, er könne nicht bleiben, wo man dem Lehrer der Kinder so wenig Achtung erweise, meine Tante Sophie habe ihn einen guten Morgen kaum angeknixt, und meine Mutter habe gestern statt Herr Krai, wie sich gebühre, lieber Krai gesagt.

Indessen liefen wir doch nicht wie die rohen Wildlinge herum, sondern wurden, wie ich noch meine, für dieses Alter vom sechsten bis zehnten Jahre recht gut erzogen. Man höre:

Mein älterer Bruder Karl – ich war der zweite – ward auf ein Paar Jahre nach Stralsund geschickt, wo er im Hause des ältesten Mutterbruders, Friedrich Schumacher, wohnte und in die Schule ging. Ich weiß noch, welch Erstaunen und Schrecken wir hatten, und wie sich die Geschichte bald in brüderlichen Spaß auflöste, als der Junge nach einem halben Jahre einmal zu Hause kam und anfangs nicht anders als in hochdeutscher Zunge sich mit uns zu unterreden herabließ. Denn das Hochdeutsche waren wir bisher nicht anders als von den Kanzeln oder beim Vorlesen aus Büchern oder bei feierlichen Gelegenheiten in den ersten Bewillkommnungen der Besuchenden zu hören gewohnt gewesen. Wir blieben aber dabei gar nicht hinter ihm: nämlich ich und Bruder Fritz, der dritte in der Reihe. Die Eltern hielten den Herbst und Winter, wo sie am meisten Muße hatten, ordentlich Schule mit uns; Schreiben und Rechnen lehrte der Vater, und die Mutter hielt die Leseübungen und machte unsere jungen flatternden Geister durch Erzählungen und Märchen lebendig, die sie mit großer Anmut vorzutragen verstand. Das Lesen ging aber in den ersten Jahren fast nicht über Bibel und Gesangbuch hinaus; ich möchte sagen, desto besser für uns. Sie war eine fromme Frau und eine gewaltige Bibelleserin, und ich denke, ich habe die Bibel wohl drei-, viermal mit ihr durchgelesen. Das Gesangbuch mußte auch fleißig zur Hand genommen werden, und den Samstag Nachmittag mußten die Jungen unerläßlich entweder ein aufgegebenes Lied oder das Sonntagsevangelium auswendig lernen. Das geschah, weil sie eine sanfte und liebenswürdige Schulmeisterin war, mit großer Freude und also mit großem Nutzen. Muße aber hatte sie ungeachtet einer nicht starken Gesundheit, der vielen wilden Kinder und der großen Wirtschaft, die mit Sparsamkeit geführt werden mußte, mehr als die meisten anderen Menschen. Wenn alles längst vom Schlaf begraben lag, saß sie noch auf und las irgend ein frommes oder unterhaltendes Buch, ging selten vor Mitternacht zu Bette und war im Sommer mit der Sonne wieder auf den Beinen. Weil ich nun auch ein solcher Kautz war, der selbst im Knabenalter wenig Schlaf bedurfte und deswegen Lerche (Lewark) zugenannt war, so habe ich in jenen Kindertagen und auch später noch manche Abende und Nächte bis über die Gespensterstunde hinaus mit ihr durchgesprochen und durchgelesen.

Weil ich diese Leserei der Vergangenheit hier im Gedächtnisse wieder überlese, so füge ich sogleich hinzu, was für diese Zeit dahin gehört. Es war wenigstens auf der Insel Rügen damals noch die Zeit des ungestörten christlichen Glaubens, und meine guten Eltern und die Base Sophie, meiner Mutter jüngste Schwester, welche mit uns lebte, waren treue fromme Menschen. Sie hatten in dem Magister Stenzler, dem Großvater des jetzigen Professors Stenzler in Breslau, Pastor in Gartz, einen vorzüglichen Prediger und Seelsorger. Keinen Sonntag ward die Kirche ohne den gültigsten Grund versäumt, bei schlechtem Wetter hingefahren, bei schönem und im Sommer hingegangen, wo der Vater denn seine älteren Buben neben sich herlaufen ließ. Diese durften aber auch bei keiner Katechismusprüfung in der Nachmittagskirche fehlen, sondern mußten zum zweiten Male über Feld laufen. Wenn der Vater dann nicht mitging, so gab er uns seinen alten Großknecht zum Führer, einen christlichen, biblischen Mann, Jakob Nimmo mit Namen, der mein besonderer Beschützer war. Weil ich kleiner zehnjähriger Junge mich nämlich damals eines sehr guten Gedächtnisses erfreute und großen Eifer und viel Belesenheit in der Heiligen Schrift hatte, so prangte ich durch die Stelle, die mir der Herr Magister eingab, bei der Kinderprüfung in der Kirche an der obersten Stelle und hatte viel größere Jungen und Dirnen, unter andern auch meinen älteren Bruder Karl und ein paar große Fräulein mit mächtigen Lockengerüsten, eine von der Lanken und eine von Barnekow unter mir. Weil ich nun beim Aufsagen und Vorlesen große Zuversicht hatte, und es da, wie blöde ich sonst auch war, wie aus einer Trompete aus mir herausklang, so rechnete der alte treue Jakob sich das gleichsam zu seiner Ehre an und ging wie triumphierend mit mir zu Hause.

Frühling und Sommer gingen freilich nicht ganz ohne Schule hin, indessen war die Schule unter den Gespielen in Feld und Wald und auf Wiesen und Heiden und unter Blumen und Vögeln wohl die beste. Doch ließ der Vater uns nicht immer bloß wild und wie aufs liebe Ungefähr herumlaufen, sondern wußte es meistens so einzurichten, daß mit bei dem Herumspringen und Herumspielen irgend etwas auszurichten und zu bestellen hatten. In der Zeit aber, wo auf dem Lande alle Hände angestrengt zu werden pflegen, mußten wir älteren Buben nach unsern kleinen Kräften auch schon mit heran, nämlich in der Zeit der Saat und der Ernte, vorzüglich in der letzteren. Da ward ich wohl zuweilen ein göttlicher Sauhirt oder Kuhhirt und mein Bruder Karl, der Rossetummler, der eigentlich den mir abgestrittenen Namen Philipp hätte haben sollen, ein flinker Rossehüter. Ich erntete wegen meiner sorgsamen Gewissenhaftigkeit, nicht mißzuhüten, auch hier Lob ein, und noch leuchten mir die ersehnten glänzenden Abendröten, wo ich fröhlich meine Kuhherde in den Hof trieb und dann geschwind in der Dämmerung noch auf einen Apfel- oder Kirschbaum kletterte, wo ich süße Beute für mich wußte. Meistens aber hatte die freundliche Base Sophie schon für mich gepflückt und aufgehoben.

Unser gewöhnliches Kinderhausleben ward durch die Sitte der damaligen Zeit, durch die Umstände der Familie und durch den Charakter der Eltern bestimmt. Die Sitte war damals beides feierlich und streng, und Kinder und Gesinde wurden bei aller Freundlichkeit und Gutherzigkeit der Eltern und Herrschaften immer im gehörigen Abstande gehalten. Es ward selbst in den untern Ständen im allgemeinen ebenso sehr, als man sich jetzt lotterig oder ungezogen gehen läßt, nach einer gewissen Vornehmigkeit und Zierlichkeit gestrebt. Der Vater war von Natur zu gleicher Zeit heftig und lebhaft und freundlich und mild, tummelte und beschäftigte die Jungen meist draußen herum, im Hause aber überließ er sie, wie es in diesem Alter sein mußte, fast ganz der Mutter. Die Mutter war von Charakter ernst und ruhig und eine Seele, die auf Schein und Genuß gar keinen Wert legte, auch kein Bedürfnis davon hatte. Diese Frau, welche ihre irdischen Sorgen und Geschäfte so treu und eifrig erfüllte, lebte doch fast wenig von irdischer Luft und irdischem Stoff. Kein Kaffee, kein Wein noch Tee ist fast jemals über ihre Lippen gekommen, Fleisch hat sie wenig berührt, sondern sich von Brot, Butter, Milch und Obst ernährt. Dieses mäßige Leben ward auch für die Kinder zur Regel gemacht, und wir älteren Bursche sind fast streng erzogen worden. Ebensowenig ward uns in Beschuhung und Bekleidung Weichlichkeit gestattet. War bei einem Nachbar, auch wohl bei einem Freunde, der wohl auf einer Meile Entfernung von uns wohnte, etwas zu bestellen, der Vater schrieb das Briefchen, das zahme Rößlein ward gesattelt, der Junge drauf gesetzt, und ohne Mantel und Überrock, es mochte Sonnenschein oder Regen und Schneegestöber sein, mußte er mit seinem Gewerb fortgaloppieren. Ja der Vater, noch jung und kräftig, fühlte mit unserer Pimplichkeit kein weichliches Mitleid. Fuhr er im Winter Stunden weit mit klingendem Einspännerschlitten zu Verwandten oder Freunden, so mußten die älteren Buben zur Seite oder hinten aufhocken, und, wenn sie fror, nebenbei springen, um sich zu erwärmen. Ja, mich erinnert's, wie ich als ein Junge von neun oder zehn Jahren im fremden Hause auf einem Stuhl oder Bett eingeschlafen lag, während die Männer Karten spielten; wie der Vater mich dann um elf oder zwölf Uhr nachts aufrüttelte und ich schlaftrunken in den Schlitten hinaus mußte; wie er dann zum Spaß recht absichtlich mehrmals umwarf, daß ich mich im Schnee umkehren mußte; wie ich denn auch immer alert sein mußte, wenn wir durch Koppeln und Dörfer kamen, die Schlagbäume zu öffnen. Wehe mir, wenn ich, mich aus dem Schnee herauswühlend, eine weibisch plinsende Gebärde gezeigt hätte!

Was nun Beschädigungen, Zerreißungen und Verletzungen an Kleidern und Leibern und andere dergleichen Nöte betraf, welche die Jugend sich selbstwillig oder gar mutwillig ohne Auftrag zugezogen hatte, so mochte sie zusehen, sie vor den Augen des Vaters zu verstecken, geschweige, daß sie bei ihm Hilfe oder Mitleid hätte suchen können. Kam dergleichen zufällig vor sein Angesicht, so ward neben Schmerz und Not Mutwille und Unvorsichtigkeit noch gebührlich gezüchtigt. Böse Fälle Von Bäumen oder Pferden, Versinkungen in Wasser und unter Eis und Wiederherausreißungen, wie alltäglich waren solche Geschichten! Ich erinnere mich, daß ich eines Tages, als Ohm Schumacher aus Stralsund und Magister Stenzlers nebst vielen Damen bei uns waren, und wir Kinder unsre Sonntagskleider angezogen hatten, auf dem Teiche an der Bleiche durchs Eis einbrach und schon einmal versunken war, als mein Bruder Karl mich beim Schopf faßte und herauszog. Ich machte mich nun mit den nassen triefenden Kleidern in die Gesindestube, wo ich an dem warmen Ofen meine Oberfläche leidlich abtrocknete. In diesem Zustande mußte ich, als es dunkel geworden, in dem Gesellschaftszimmer erscheinen. Die Männer spielten L'hombre; die Frauen saßen am Teetisch, und eine las aus dem Siegwart Siegwart, eine Klostergeschichte. Roman von Martin Miller (1770). (D. H.) vor: und ich Armer stand scheu und bange, irgendwie berührt oder befühlt zu werden, an der dunkeln Ofenecke, so sehr als möglich vom Lichte abgekehrt, und blinzelte über die Schultern der Frauen zuweilen mit auf die Bilder des Romans, aber meine Seele zagte und mein Leib zähneklappte. Da erschien meine Retterin, die gute Tante Sophie; sie fühlte zufällig meinen nassen Rock, zog mich ins Nebenzimmer, erfuhr mein ganzes nasses Abenteuer und erbarmte sich meines Elends. Flugs war ich ausgekleidet, mit einem warmen Hemd angetan und so ins Bett. Die nassen Kleider wurden getrocknet und geebnet, und den andern Morgen erschien ich zierlich und wohlgemut wieder in der Gesellschaft. Die Base aber hatte unter dem Titel von Zahnweh, wovon ich als Kind schon genug geplagt worden bin, mein Wegschleichen entschuldigt.

Ich habe eben gesagt, daß damals alles nach einer gewissen Vornehmigkeit und Zierlichkeit strebte. Dies ging durch alle Klassen durch bis zu denen hinab, welche an die alleruntersten grenzen. Mein Vater war der Sohn eines Hirten, ein Freigelassener, der bei einem großen Herrn gedient und durch die Gunst der Umstände sich ein bißchen aus dem Staube herausgebildet hatte. Er war ein schöner stattlicher Mann und hatte sich durch Reisen und Verkehr mit Gebildeten so viel Bildung zugeeignet, als ein Ungelehrter damals in Deutschland überhaupt gewinnen konnte. Er war an Verstand und Lebensmut vielen überlegen und war in vielen Dingen geschickter, schrieb sein Deutsch und seinen Namen richtiger und schöner als die meisten Landräte und Generale jener Zeit. Kurz, er war ein hübscher, anständiger Mann, wenigstens für das Ländchen Rügen, wie die Menschenkinder dort damals miteinander verkehrten, und hielt mit den würdigsten Geistlichen, Beamten und kleineren Edelleuten der Nachbarschaft Umgang. Man behalf sich da, wie die arme Zeit, wo alles äußerst wohlfeil und das Geld also sehr teuer war, mit der leichten nordischen Gastlichkeit, welche in unserer Landschaft durch die schwedischen Sitten, woran sie sich in anderthalb Jahrhunderten hatte gewöhnen müssen, vielleicht im ganzen Norddeutschland die frohherzigste war. In Jagd, Spiel und Verkehr ging alles auf das freundschaftlichste und herzigste miteinander um. Von den Geistlichen waren die Herren Stenzler und Krüger, von den benachbarten Edelleuten einige von Kahlden vom Zudar und ein von der Lanken öfter in unserm Hause. Mein frommer und freundlicher alter Christengel von Wotke war leider schon seit einigen Jahren wieder in sein hinterpommersches Kassubien gezogen.

Versteht sich, daß die Jungen des Pächters Ludwig Arndt Pächterjungen blieben, arme kleine Geelschnäbel, die in eigengemachten Jäckchen und Höschen und in geflickten Schnürstiefelchen vor den Herren ihre Bücklinge machen mußten. Aber die armen Schelme mußten doch schon ihre Bücklinge machen, und wie! Bei alltäglichen Gelegenheiten ging es alltäglich her, aber bei festlichen Gelegenheiten, bei Feierschmäusen, Hochzeiten usw., was waren das für Anstalten und Zurüstungen auch bei so kleinen Leuten, als die Meinigen waren! Ich erzähle aus den Jahren 1770 und 1780. Also stehe es!

Es ging bei solchen Gelegenheiten in dem Hause eines guten Pächters oder eines schlichten Dorfpfarrers ganz eben so her, wie in dem eines Barons oder Herrn Majors Von, mit derselben Feierlichkeit und Verzierung des Lebens; aber freilich steifer und ungelenker, also lächerlicher und alberner. Es war nur der Perückenstil oder der heuchlerisch welsch und jesuitisch verzierlichte und vermanierlichte Schnörkel- und Arabeskenstil, der von Ludwig XIV. bis an die französische Umwälzung hinab gedauert hat. Noch lächelt mir's im Herzen, wenn ich der Putzzimmer der damaligen Zeiten gedenke. Langsam feierlich mit unlieblichen Schwenkungen und Knicksungen bewegte sich die rundliche Frau Pastorin und Pächterin mit ihren Mamsellen Töchtern gegeneinander, um die Hüften wulstige Poschen geschlagen, das oft falsche, dicht eingepuderte Haar zu drei Stockwerken Locken aufgetürmt, die Füße auf hohen Absätzen chinesisch in die engsten Schuhe eingezwängt, wacklig einhertrippelnd. Die Männer nach ihrer Weise ebenso steif, aber doch tüchtiger. Bei diesen hatten die großen Bilder des Siebenjährigen Krieges den welschen Geschmack etwas durchbrochen. Man mochte mit Recht sagen, es waren die komischen Transfigurationen Friedrichs II. und seiner Helden. Mächtige Stiefeln bis über die Knie aufgezogen, schwere silberne Sporen daran, um die Knie weiße Stiefelmanschetten, in den Händen ein langes spanisches Rohr mit vergoldetem Knopf, ein großer dreieckiger Hut über den steif einpomadisierten und eingewächseten Locken und der langen Haarpeitsche – da war doch noch etwas Männliches darin. – Und die Jungen? Selbst diese kleinen unbedeutenden Kreaturen mußten schon mit heran. O es war eine schreckliche Kopfmarter bei solchen Festlichkeiten. Oft bedurfte es einer vollen ausgeschlagenen Stunde, bis der Zopf gesteift und das Toupet und die Locken mit Wachs, Pomade, Nadeln und Puder geglättet und aufgetürmt waren. Da ward, wenn drei bis vier Jungen in der Eile fertiggemacht werden sollten, mit Wachs und Pomade draufgeschlagen, daß die hellen Tränen über die Wangen liefen. Und wenn die armen Knaben nun in die Gesellschaft traten, mußten sie bei jedermänniglich, bei Herren und Damen, mit tiefer Verbeugung die Runde machen und Hand küssen.

Das Possierlichste bei diesen Abkonterfeiungen und Nachkonterfeiungen des feinen und vornehmen Lebens war noch der Gebrauch der hochdeutschen Sprache, welcher damals in jenem Inselchen auch für etwas Überaußes und Ungemeines galt und auch wohl gelten mußte, weil wenige damit ordentlich umzugehen verstanden, ohne dem Dativ und Akkusativ in einer Viertelstunde wenigstens einige hundert Maulschellen zu geben. Es gehörte nämlich unerläßlich zum guten Ton, wenigstens die ersten fünf bis zehn Minuten der Eröffnung und Versammlung einer Gesellschaft hochdeutsch zu radebrechen; erst wenn die erste Hitze der feierlichen Stimmung abgekühlt und die ersten Beklemmungen, welche der Überfluß von Komplimenten verursacht, über einer Tasse Kaffee verseufzt waren, stieg man wieder in den Alltagssocken seines gemütlichen Plattdeutsch hinunter. Auch französische Brocken wurden hin und wieder ausgeworfen, und ich weiß, wie ich mich in mir erlächelte, als ich das Welsche ordentlich zu lernen anfing, wenn ich an das Wun Schur! Wun Schur! (Bon jour) und á la Wundör! (á la bonne heure!), oder an die Fladrun (flacon), wie das gnädige Fräulein B. ihre Wasserflasche nannte, zurückdachte, und wie die Jagdjunker und Pächter, wenn sie zu Roß zusammenstießen, sich mit solchen und ähnlichen Floskeln zu begrüßen und vornehm zu bewerfen pflegten.

Ich galt in diesen Tagen für einen treuen, gehorsamen und fleißigen Jungen, aber zugleich für einen ungestümen und trotzigen, für einen solchen, der gern seinen eigenen Weg ging. Mein Bruder Karl war ein leichter, gewandter und liebenswürdiger Wildfang, zu Roß und zu Fuß der Kühnste und Geschwindeste, später im Jünglingsalter so geschwind, daß er im Laufe nie seinesgleichen gefunden hat. Fritz, zwei Jahre jünger als ich, war mild und gleichmütig, ein geistiges Kind und körperlich noch sehr zart. Die anderen waren klein. Ich war zugleich trotziger und blöder als beide und konnte von Fremden ihnen gegenüber daher leicht ins hintere Register gestellt werden.

Große Angst habe ich meinen guten Eltern in Dumsevitz einmal gemacht; in wirklicher Lebensgefahr bin ich dort zweimal gewesen.

Die Angst. Es war einen Abend, einen jener taulosen Abende, wo man beim Mondschein wohl bis zehn, elf Uhr das Korn noch einzufahren pflegt. Die Arbeit war geendet, Menschen und Kreaturen zu Hause, und die meisten auch schon zur Ruhe – siehe! da fehlte, als man die Köpfe überzählte, meine Kleinigkeit. Eine halbe Stunde geduldete man sich meiner Abwesenheit, weil man gewohnt war, daß ich schon in jenem Alter auf eigenen Wegen und Stegen wohl einsam auch im Dunkeln umherstrich; endlich aber ward man unruhig, und als es gegen die Mitternacht ging, stellte sich der ängstliche Gedanke ein, ich möchte in irgend einen Teich gefallen, übergefahren sein, oder gar das Gräßliche, ich sei vielleicht in der Scheune irgendwo im Stroh eingeschlafen und von rasch übergeworfenen Garben zugedeckt und lautlos und klagelos erstickt. Alles lief nun suchend umher. Meiner Base Sophie fiel ein, sie habe mich den vorigen Abend, wo die Binderinnen unweit dem Dorfe Preseke Gerste banden, im Mondschein längs dem Meeresstrande hingehen und dort lange am Ufer sitzen und gegen die pommerschen Gestade und den reizenden Vilm hinschauen sehen; vielleicht sitze ich dort wieder und erlustige Herz und Augen. Da war sie denn hingelaufen und hatte an dem Ufer weithin jeden Dornbusch und Distelbusch durchstöbert, ob ich etwa dahinter versteckt oder eingeschlafen sei. Aber vergebens. Nach langem und vergeblichem Suchen waren aus der liebenden Brust und dem hellen Munde Klagegetön und Weherufe hervorgebrochen und endlich bis zu dem verlorenen Schläfer hingeklungen. Ich war nämlich plötzlich und gespenstisch, durch die Mondscheinnebelgestalten hinstreichend, neben ihr erschienen und hatte ihr bei ihrem Erstaunen einen alten Hagedornbaum, wie sie in Rügen in den Feldern hie und da sehr groß und kraus stehen, gezeigt, wo der müde Junge sich abendlich hingehuckt hatte und eingeschlafen war. Sie riß mich nun mit geschwindesten Schritten zu Hause. Ich langte bald vor dem richterlichen Angesicht der Eltern an, kam aber diesmal, da der Zorn durch die Angst zermalmt war, mit leisen Verweisen davon.

In Lebensgefahr bin ich gewesen: das eine Mal, als ich unter das Eis geraten war, und mein Bruder mich faßte und herausholte; das zweite Mal, als nichts Geringeres als ein Wagenrad mir über den Kopf gelaufen war. Ich hatte mich nämlich auf einem großen vierspännigen Erntewagen ins Feld fahren lassen, war beim Zurückfahren des beladenen Wagens neben dem Knecht auf das Beipferd gestiegen, und bei einem Sprunge desselben herabgefallen – und siehe ein Rad des Wagens war mir hinter dem Ohre so über den Kopf gegangen, daß Haut und Haar blutig abgestreift worden. Doch war dem Knaben der Schädel nicht zerbrochen, sondern er blutete nur tüchtig. Wahrscheinlich hat, wie so oft im Fahren geschieht, das Rad, das mich nicht voll treffen sollte, erst einen Sprung über einen Stein und also halb in der Luft leichthin über meinen Kopf gemacht; sonst bleibt es unbegreiflich. Hier salbte und wusch die gute Tante mich wieder, damit ich nicht anderswo gewaschen würde. Als die Wunde vernarbte, durfte die Begebenheit unschädlich erzählt werden.

Dies waren Unfälle, und dergleichen nebst anderen Nöten mögen wohl mehr über unsere Köpfe hergefahren sein; aber sie sind längst vergessen, und es tauchen aus jener jetzt so fernen Vergangenheit nur Bilder von Freudenerinnerungen auf. Nur eine einzige bittere Erinnerung nahm ich mit, und zwar die Erinnerung der ersten lügenhaften Ungerechtigkeit, die an mir gefrevelt ist, und die auf lange hin einen tiefen Stachel in mir zurückgelassen hat. Denn des Unrechts, das ein lieber freundlicher Vater den Kindern ein paarmal mit dem Stock und der Rute angetan hat, und das nach dem Brauche jener Zeit ein ziemlich allgemeines Unrecht war, will ich nur kurz gedenken. Dieses Unrecht bestand darin, daß der kleine Trotzkopf, wenn er gezüchtigt ward, nicht weinen noch viel weniger für die erlittene Strafe sich bedanken und handküssen wollte; weswegen er in Verhältnis gegen seine tränenreicheren Brüder gewöhnlich die doppelte Bescherung erhielt.

Es war Herbstjahrmarkt zu Gartz. Die ganze Dumsevitzer Familie war bei dem Herrn Magister Stenzler zu Mittag gewesen und fand sich nachmittäglich um den Kaffeetisch der alten verwitweten Pastorin Magisterin von Brunst sitzend, deren Mann vorlängst auch Pfarrer des Städtchens Gartz gewesen. Dort in dem vollsten Gewimmel von Damen und Herren, als der Herr Magister mich vorzeigte und als einen fleißigen Schüler lobte, erhob sich aus dem Kreise der Damen eine damals noch junge rosige und mit den schönsten schwarzen Muschen auf den Wangen gezierte und mit Federbüschen und seidenen Bändern den Kopf umflatterte Mamsell, die Schwester der Frau Magisterin Stenzler, Mamsell Dittmar aus Greifswald, und machte gegen mich die förmliche Anklägerin. Der Gegenstand der Anklage war aber folgender:

Mein Bruder Karl und ich traten, wenn wir vormittags in die Kirche gingen, häufig in dem Hause des Herrn Magisters ab, wurden auch oft zu Mittag dabehalten, um nachmittags in das Katechismusexamen zu gehen, und dann den Rest des Sonntags mit dem Sohn des Hauses, Lorenz Stenzler, und einigen Junkern von Kahlden, welche gewöhnlich auch da waren, zu verspielen. Da ging es denn natürlich in dem Garten des Herrn Magisters auf dem alten Gartzer Schloßwall der weiland heidnischen Festung Carenza und bis in den Wald von Rosengarten hinein lustig und wild jugendlich und knabenlich her. Hühnernester und Eier in Scheunen und auf Speichern, Vogelnester in Hecken und Wäldern, Igel und Gewürm unter Sträuchern und Blumen suchen, und was anderer Jungenheit und Knabenheit mehr ist, nebst wilden Sprüngen und Spielen – das alles fehlte natürlich nicht. Nun hatte man aber einige Tage vor dem Jahrmarkt in dem Garten des Herrn Magisters gefunden, daß mehrere hinter einem kleinen Schuppen stehende Mistbeetfenster zertreten waren, und die Spuren von Knabenfüßen daneben. Davon stand in der Gesellschaft zufällig die Rede, und die rosige schwarzbemuschte Mamsell fuhr heraus: »Wer das getan hat, ist nicht zweifelhaft, das ist der wilde Monsieur Moritz, der immer wie ein loses Füllen daherspringt und mit so kecken Sprüngen über die Büsche und Blumen wegsetzt.« Mit diesen Worten wiesen ihre Blicke auf mich, so daß ich selbst den Unbekannten in dem Kreise gezeigt ward. Auch meine Eltern schienen der Aussage Glauben beizumessen; nur die Tante Sophie rief ebenso zuversichtlich, als die Anklage gesprochen hatte, in die Gesellschaft hinein: »Nein, der Moritz hat es gewiß nicht getan, der ist wohl wild, aber er pflegt nicht gern etwas zu beschädigen.« Der Moritz aber, der die Glaszerbrecher wohl kannte, (Bruder Karl und Herr Lorenz Stenzler waren beim Balgen auf das Mistbeet gefallen) ging wie ein beschneiter Hund von dannen und machte sich in den Stall zu dem Kutscher, um so unbemerkt und unsichtbar als möglich zur Zeit der Abfahrt zu den übrigen in den Wagen zu steigen. Zu Hause gab es denn des Abends noch eigne Scheltungen und Warnungen, wogegen ich weiter nichts tun konnte, als meine Unschuld beteuern, jedoch ohne die Verbrecher anzugeben.

Dies begab sich, wie ich meine, in dem letzten Jahre unsers Dumsevitzer Lebens und sank tief in mein Herz. Ich weiß, daß ich nimmer ins Haus und in die Gesellschaft zu bringen war, wenn die Frau Magisterin und ihre muschige Schwester uns besuchen kamen, sondern mich so lange zu den Hirten oder in die benachbarten Bauernhäuser, besonders zu meinem Spielgesellen Ludwig Starkwolf verlief und mich dort so lange enthielt, bis ich vermutet oder erlauscht hatte, daß die grauenvollen Menschen weg waren. Selbst gegen den verehrten und freundlichen Herrn Magister ward ich etwas scheu, weil ich meinte, er hätte bei der Anklage, die selbst meine guten Eltern verlegen und stutzig machte, meine Verteidigung übernehmen müssen.

So waren hier in Dumsevitz bei Gartz die ersten Knabenjahre verflossen. Im Jahre 1780, wenn ich mich recht erinnere, zog mein Vater von Dumsevitz ab in die südwestliche Ecke der Insel, eine Meile von Stralsund, wenn man das zwischenströmende Meer mitrechnet. Er übernahm zwei sundische Güter, Grabitz und Breesen, nebst zwei Bauerndörfern, Giesendorf und Gurvitz, deren Bauern Hofdienst leisteten, oder vielmehr er kaufte sich das noch auf vier Jahre rückständige Pachtrecht derselben mit einer ganz bedeutenden Summe von einem Obersten von Schlagenteufel. Der Vater dieses Obersten war im Munde des Volks fast zu einer mythischen Person geworden. Er war ein Hüter der Schafe gewesen, wie mein Großvater seliger, und es war dem jungen Hirten gelungen, sich eine gute Nacht unter die mondscheinlichen Tänze der Unterirdischen einzuschleichen und einem der kleinen Lilliputter sein unverlierbares Käppchen nebst Glöckchen, woran das Glück ihres Daseins geknüpft ist, zu entreißen. Das hatten die kleinen Leute von ihm mit großen Schätzen wiedergelöst, und dafür hatte er sich das Gut Grabitz gekauft, welches, ich weiß nicht durch welche Verhandlung, aus seiner Hand in den Besitz des Klosters St. Jürgen vor Rambin gekommen war S. Märchen I, S. 145 –149. (D.H.). Genug, der Schäfer war plötzlich reich und Eigentümer eines hübschen Gutes und endlich Edelmann geworden. Seine Söhne waren in herzoglich braunschweigische Dienste getreten, und mehrere derselben hatten als Offiziere in den braunschweigischen, in Englands Sold gegebenen Regimentern gegen die junge nordamerikanische Freiheit gefochten. Einige von ihnen, worunter auch der Oberst, kauften sich später Rittergüter in Pommern. Mit einem derselben, dem Major von Schlagenteufel, einem sehr würdigen Mann, begegnete mir eine Josephsgeschichte, die mich hätte eitel machen können. Als er aus Amerika zurückkam, besuchte er seine Heimat und auch seine Geburtsstelle Grabitz, und ließ sich meines Vaters Fünfzahl von Buben vorführen. Nach der Musterung griff er mich heraus und sagte zum Vater: »Wenn Sie mir einen der Jungen schenken wollen, nehme ich diesen.« Neben mir stand mein Fritz, ein ganz anderer Kerl, aber damals kränklich und winterweich; und ich errötete in mir und fühlte, daß der Herr Major sich vergriffen hatte.

Die Güter Grabitz und Breesen mochten etwa zwölf bis dreizehn Last jährlicher Aussaat haben; das hübsche Dorf Giesendorf stieß dicht an Grabitz. Die Gegend war nicht so romantisch als die um Schoritz und Dumsevitz, welche gleichsam schon die Angrenze der paradiesischen Meerbuchten und Wälder von Putbus sind. Indessen wir waren gottlob! wieder ans Meer gekommen, fanden reichliche Obst- und Blumengärten, und auch noch ein paar Wäldchen, die Lau Lau, Loo: Wald. bei Grabitz, den Tannenwald bei Breesen und den größeren, noch näheren Tannenwald an dem Kloster St. Jürgen vor Rambin. Wir hatten die Herrlichkeit des Binnenmeeres fast mächtiger als bei Schoritz und Dumsevitz. Es bildet nämlich das Meer von dem Gellen bei Barhöft Barhöfd: Vorgebirg der Wogen. Bar, nord. Woge, franz. la barre und Pron an der pommerschen Küste und von der Insel Hiddensee ab einen drei bis vier Stunden tiefen und drei bis eine Stunde breiten Busen, wohinein die Ostsee bei Nord- und Nordoststürmen gewaltig zurückschlagend strömt. Unser Grabitz lag auf einer kleinen Erhöhung an fetten, weitgestreckten Wiesen und Weiden, die längs einem halben Dutzend Höfen und Dörfern weit am Strande hinlaufen. Wir hatten bei mächtigen Stürmen die schauerliche Freude, daß sich die Wogen etwa fünfzig Schritt von unserem Hofe heranwälzten. Alle Wiesen waren dann ein einziger unendlicher See, und welche Wonne, wenn solches im Dezember oder im Januar geschah und ein geschwinder Frost die Wasser in metallfestes und metallspiegeliges Eis verwandelte!

Hier ging das Leben und die Weise, wie es mit uns und unserer Erziehung und Unterweisung gehalten ward, im ganzen so ziemlich nach dem Dumsevitzer Zuschnitt fort; nur daß wir endlich in eine ordentliche Schule eingesperrt wurden. Es kam ein Hauslehrer, wahrscheinlich ein sehr wohlfeiler, weil kein teurer bezahlt werden konnte, oder weil wir für einen solchen noch zu jung zu sein schienen. Dieser, Herr Gottlob Heinrich Müller, hatte schon zehn Jahre und länger sogar die Söhne von Edelleuten und reichen Eigentümern unterrichtet; wie sollte er denn für die Knaben eines armen Pächters nicht gut genug sein? Herr Müller war ein Sachse, aus dem Städtchen Chemnitz, hatte dort die Schule bis an den Studenten hinauf besucht, war aber nicht Student, sondern im Siebenjährigen Kriege Soldat geworden. Ich glaube, er hat erzählt, die Preußen haben ihn zum Soldaten gepreßt, darauf die Schweden ihn gefangen, als schwedischer Unteroffizier hatte er sich endlich zur Ruhe gesetzt und für den Korporalstock die Fasces des Orbilius D. h. er war Schulmeister geworden. Orbilius ist ein von Horaz verspotteter Grammatiker und Schultyrann. (D. H.) ergriffen. Es war ein kleiner, vierschrötiger Mann mit einem runden, breiten Kopfe und buschigen, weißen Brauen, unter welchen ein Paar blitzende blaue Augen hervorfunkelten; trug immerfort Gamaschen, einen dickbepuderten, mit zwei großen Locken gezierten und mit einem ellenlangen dünnen Haarzopf behangenen Kopf und führte, wenn er spazieren ging, ein langes spanisches Riet in der Hand; seine Bewegungen waren schärfend eckig, wie auf dem Paradeplatz, seine Haltung strack, seine Stimme hell, sein Blick funklig, sein ganzes Wesen Grammatiker und Schultyrann. (D. H.) Christlichkeit, Redlichkeit und Zorn. Er unterrichtete uns und die sehr hübsche und schelmische Tochter eines Nachbarn, des Herrn Lange, welche später an einen Pastor verheiratet worden, im Schreiben, Rechnen, Christentum und etwas Geschichte und Erdkunde und einem bißchen Latein. Ich sage ein bißchen, denn er selbst wußte von allem kaum ein bißchen mehr. Das Fazit war, wir lernten in den zwei Jahren, die der gute soldatische alte Mann bei uns war, fast wenig zu, wenn es nicht ein Vorteil war, daß das Sitzfleisch mit einiger Regelmäßigkeit eingeübt ward, und daß er mit seinem echt sächsischen eifrigen Luthertum und durch Gesang und Katechismus das äußerliche Christentum in uns fester machte. Er war ein echter Sachse, wie ich sie im Erzgebirge und Vogtlande später habe kennen lernen, ein ebenso redlicher und gutmütiger als auslodernder und zornmütiger Mann, hatte dabei seinen alten Unteroffiziers- oder Lehrerstolz, der das Pächtergeschmeiß – wie er uns freilich leise gelegentlich merken ließ – und besonders den ungehobelten Pöbel der Bauern und Tagelöhner tief verachtete. Hier ein paar Anekdoten von seiner Art, welche uns, seine Schüler, noch zwanzig und dreißig Jahre nach seinem Grabe bei ähnlichen Gelegenheiten oft ergötzt haben.

In Grabitz stand ein altes, ungeheuer großes, aber schlechtes und gichtbrüchiges Haus, worin die starke Familie und das nicht kleine Gesinde des Pächters sich notdürftig behalf. In dem kleineren und jüngeren Backhause stießen einige Zimmer an den schönen Baumgarten, wohin Herrn Müllers Wohnung und Schule verlegt ward, welche auch künftig ihren Sitz dort behielt. Vorn am Eingänge in diesem Backhause hatte aber in einem Kämmerchen ein kleines, zierliches Knechtchen meines Vaters seinen Sitz, welches wegen seiner abenteuerlichen und bajazzischen Streiche, Schnurren und Einfälle jahrelang auf dem Hofe gehegt und etwas verhätschelt war. Dieses Kerlchen war wegen seiner Gewandtheit und Behendigkeit und wegen allerlei flinker und lustiger Ausrichtungen und Anstellungen, womit es die Einförmigkeit unseres stillen Landlebens durchschnitt, bei den Frauen und Kindern, welchen er zu allen Späßen, Spielen und Diensten bei Tag und bei Nacht immer fertig war, besonders gut angeschrieben. Dieses muntere Männchen, das als Knecht mit Knochenarbeit wenig bezahlen konnte, hieß Papier, und ward nur das Papierchen, von Herrn Müller das Babierchen oder verächtlich gar das Babierschnitzelchen genannt. Da er in laufenden Bestellungen nach Rambin und der Alten Fähre viel gebraucht ward, so mußte er oft auch den Müllerschen Läufer machen. Dieser hatte dem kleinen Menschen, da er sich über eine mitternächtliche Sendung durch Eis und Schnee beklagt hatte, einst mit seinem langen Rohr dräuend zugerufen: »Wie der Mann ist, brät man ihm die Wurst.« Das Babierchen hatte dies Wort aufgegriffen und unter dem Gesinde verbreitet, bei welchem Herr Müller hinfort nur der Wurstbrater hieß, ein Ökelname Ökelname, so spricht man in Norddeutschland, nicht Ekelname. Öken öka (nord.) vermehren. Also nur so viel als Beiname. Ökels, Aufsatz, Erhöhung, z. B. Aufsatz auf einem Bienenkorb., den auch seine Schüler in ihrer Unart leider zuweilen gebrauchten.

Unter seinen Schülern kam ich, als der in seinem Trotze oder vielmehr wegen seines Trotzes Gehorsame, wohl am besten weg; der leichte bewegliche Karl und die schöne, unruhige und lebhafte Katharina Langen wohl am schlimmsten; Fritz im mittlern Maße, welchem er doch einmal in Beziehung auf seinen herrlichen Kopf im Zorne zugeschrien hatte: »Frütreich, aus dir will ich einen Kerl machen, aber Briegel mußt du haben!« welches Wort begreiflicherweise auch ein Sprichwort unter uns ward.

Das Schwerste und Mißlichste für die Schüler war die Gesangstunde, welche des Morgens als Schulanfang gehalten ward. Der Alte sang mit desperat heftiger und kreischender Stimme, und es war selbst der Furcht oft unmöglich, sich eines verstohlnen Kicherns zu erwehren. Da ward denn nach der guten alten christlichen Weise mitten im Singen drunter gehauen, daß die Späne flogen, jedoch ohne daß der Gesang dadurch im mindesten aufgehalten wäre. Am gefährlichsten aber ward es, wann der Alte von den Seinigen Besuch bekam. Er hatte nämlich in Stralsund eine verheiratete Tochter, bei welcher seine Frau wohnte, und seinen Sohn, einen jungen Bäcker. Die kamen denn zuweilen Samstags oder Sonntags zu uns übers Wasser und blieben die Nacht und hielten Montags früh vor dem Frühstück und der Abreise gewöhnlich noch den Morgengesang mit uns. Ich weiß nicht, ob die alte Frau, sonst gar ein bescheidenes freundliches Mütterchen, von ihm eingesungen war, aber sie hatte eine helle durchgellende und durchquiekende Manier, so daß sie gewöhnlich den ganzen Gesang in Verwirrung brachte; wobei er denn doch mit großer Mäßigung des Zorns nur mit den Worten drein sprach: »Mutter, du mußt Don halten;« was auch als Scherzwort noch lange durch die Münde laufen sollte.

Ich war indessen vierzehn Jahr und mein Bruder Fritz zwölf Jahr alt geworden, Karl war wieder nach Stralsund in die Schule geschickt. Herr Müller ward verabschiedet, und Herr Gottfried Dankwardt, Kandidat der Theologie, nahm seine Stelle ein. Zu dieser Veränderung hatten die Freunde meines Vaters, die Herren Stenzler und Krüger, und die Vorstellungen meiner Mutter den Anstoß gegeben. Dieser Herr Dankwardt war der Sohn eines Arztes aus der Stadt Barth in Pommern, damals etwa ein Fünfundzwanzigjähriger, ein kleiner, blonder, fröhlicher und beweglicher Mann, in seinem innersten Wesen voll Freundlichkeit und Frömmigkeit, obgleich von dem Geniewesen der Sturm- und Drangperiode, welche in jenen Tagen von 1770–85 herrschte, stark angeweht und durchgeweht. Dies gab ihm manche Wunderlichkeiten und Schnurrigkeiten, welche wir Jungen wenig gewahrten, woran sich aber Mutter und Tante anfangs oft sehr stießen. Der Vater aber, der einen tiefen Sinn für alles Rechtschaffene hatte, nahm sich des Herrn Dankwardt treulich an und stellte ihn bald im Hause in das rechte Verhältnis.

Dieser gute und liebe Mann ist drei Jahre unter uns geblieben und hat sein Leben und Wissen in Liebe und Treue mit uns geteilt. Es war ein redliches Herz, ein guter Kopf, ein leidlicher Lateiner, mittelmäßiger Franzos, ein bißchen Engländer, Grieche fast gar nicht, indem das Griechische in jenen Tagen bei den Prüfungen der Kandidaten des Predigtamts nicht einmal gefordert ward. Dieses und das andere Gewöhnliche, was Hauslehrer alles lehren sollen und zu lehren pflegen, hat er mir und meinem Bruder Fritz nach Vermögen mitgeteilt, und wir haben daher sein Andenken in Ehren gehalten, wie er denn auch, solange mein Vater lebte, als er Pastor zu Bodenstede Richtig Bodstede. (D. H.) bei Barth und auf der Halbinsel Dars war, immer desselben lieber und willkommener Hausfreund geblieben ist. Er war nicht nur ein guter, frommer Lehrer und ein treuer, frommer Pastor, wie man die Worte im gewöhnlichen leichten Sinn ausspricht, sondern seinem innersten Wesen nach ein tapferer und begeisterter Kernmensch, in dessen kleinem, zartem Bau eine mächtige Seele hauste. Da er während der über mich verhängten Untersuchung wegen einiger bei mir gefundener und beschlagener Briefe aus den Jahren 1810 und 1811, worin er sich über den damals blühenden und glühenden spanischen Aufruhr nach seiner Weise ausgesprochen hatte, auch von Staats und Gerichts wegen befragt worden ist, und ich dem Ehrenmann Mühe im Alter gemacht habe, da er mir in meiner Jugend keine gemacht hatte, so muß ich von diesem seinem tüchtigen Menschenkern seinem teuren Andenken zu Ehren hier ein Beispiel überliefern, das er selbst in ungeheurer Zeit gegeben hat.

Als im Winter 1807 der französische General Mortier Stralsund berannt hatte, waren rings in die Dörfer an den pommerschen Küsten französische Wachposten gelegt; so auch in dem Kirchdorfe Bodenstede unweit Barth dem Dars gegenüber. Diese hatten angefangen nach welscher Weise mit den Weibern und Töchtern Überspiel zu versuchen. Das konnten diese Dörfler nicht leiden, Männer an die mächtigsten Gefahren und gelegentlich auch an Pulver und Blei gewöhnt Auf der Halbinsel Dars und in den Dörfern auf den gegenüberliegenden Küsten wohnt ein schöner, kräftiger Menschenschlag, dessen Gewerbe in der Jugend gewöhnlich das kühne Element des Meeres ist. Als ich im Winter 1817 meinen alten Meister zu Prerow auf dem Dars, einer reichen Pfarrstelle, wohin er von Bodenstede befördert war, zum letzten Male besuchte, stießen mich und meinen Bruder Karl zwei herrliche, schlanke Männer mit langen, eisenbeschlagenen Stangen in fliegenden Schlitten über das spiegelglatte Eis hin, welches damals zwischen dem Festlande und der Insel eine Brücke geschlagen hatte. Beide trugen englische Ehrenmünzen, hatten englisches Jahrgeld. Sie hatten auf der Victory des Admirals Nelson die Schlacht von Trafalgar mitgemacht. Der Schulze in Bodenstede, in dessen Hause ich mit dem Herrn Pastor mehrmals zu Tisch gesessen bin, war in seiner Jugend Steuermann eines Westindienfahrers gewesen.. Sie scharten sich im gerechten Zorn, die Franzosen erschraken vor ihrer Zahl und Rüstigkeit, wurden entwaffnet, gebunden, eingeschifft und etwa fünfzig Mann stark nach Stralsund an die Schweden als Gefangene abgeliefert. Das war eine kurze Freude. Die Tat erscholl in dem französischen Lager, und ein Kommando von mehreren hundert Mann ward abgesandt, das Dorf zu bestrafen. Der Schulze und mehrere Älteste von Bodenstede wurden gefesselt und sollten erschossen, das Dorf sollte geplündert, angezündet und abgebrannt werden. In dieser großen Not, als die Gefesselten den sicheren Tod erwarteten, trat der kleine Herr Pastor vor und redete den welschen Befehler mit den kühnen Worten an: »Mein Herr, Sie haben die Unschuldigen ergriffen, ich bitte, lassen Sie diese Männer los, die sind die Unschuldigen und Verführten; hier haben Sie den Verbrecher, mich nehmen Sie, mich erschießen Sie, wenn Gott es Ihnen erlaubt, mein Haus verwüsten und verbrennen Sie, ich bin der Verführer, der einzig Schuldige. Ich habe diesen armen Bauern gepredigt, daß sie bis auf den letzten Mann für ihren König stehen und den Feinden des Vaterlandes Abbruch tun müßten.« Diese Worte, aus kühnem und tapferm Herzen gesprochen, rührten den Welschen; er ließ die Gefangenen losbinden, legte ihnen eine leidliche Geldstrafe für seine Truppen auf und ließ zum Zeichen, daß er die befohlene Abbrennung Dorfes ausgeführt habe, einige elende, leere Hütten außerhalb des Dorfs, wo die Fischer ihre Heringe zu räuchern pflegten, niederbrennen. Diese Tat des Pfarrers war groß, größer die des edlen Welschen, der seinen bösen Mut bezwang. Warum habe ich seinen Namen nicht erfahren können?

Mit Herrn Dankwardt begann nun ein neuer Abschnitt in dem Leben der Jungen und eine Art der Schule und des Umgangs, wie solcher, die da vorhaben Bücherleser oder Studenten zu werden, welche der Schwede nach der Haupteigenschaft, wodurch sie sich auszeichnen sollen, Lesekerle nennt. Es gab der Kandidaten in der Nachbarschaft mehrere, welche zusammen wöchentlich etwas einem Klub Ähnliches hielten, wo sie sich besprachen und auch ihre Lesebuben zusammenführten. Auch ließen sie und die Prediger der Insel in einer recht ansehnlichen Lesegesellschaft alles Neueste der schönen und leichten Literatur rundlaufen, wovon natürlich auch uns und unserem Hause sein Teil zugute kam. Von den Knaben, welche durch diesen Kandidatenklub zusammengeführt wurden, waren unser nächster Nachbar Gottlieb von Kathen, ferner Buslaf von Platen und Christoph von Schmiterlöw die gewöhnlichsten Spielgesellen. Dieser Christoph war der allgemeine Spaßhammel. Er hieß nur der lange Stoffel, zuletzt gar der Löwe in der Wüste, denn der Herr Kosegarten hatte seine schöne Tante besungen und in sein Gedicht ein Abenteuer von einem Ritter Schmiterlöw eingewoben, der vor tausend Jahren weiland in den Kreuzzügen den Löwen in der Wüste erschlagen. Das ward ein Stichwort gegen unseren langen Helden, der es im preußischen Dienst doch bis zum Obersten eines Dragonerregiments gebracht hat, und wann wir uns diesen damals noch sehr ungeleckten und ungelenken Löwen zuwarfen, klang es: »Smit den Löwen her!« (Wirf den Löwen her!) Die sehr langen und tapferen Smiterlöwen – denn sie galten alle für Eisenfresser – waren übrigens vor etwas über hundert Jahren noch nichts als gute Kaufherren und Ratsherren in Stralsund: auch schon Würdigkeit, denn ein Ratsmann in dieser Hauptstadt des Landes Rügen galt schon längst einem Ritter ebenbürtig.

Von den Kandidaten waren Herr Theobul Kosegarten Der Dichter der »Jukunde«. (D. H.), Lehrer zu Götemitz, und Herr Nestius, Neffe des berühmten und gelehrten Propstes Pistorius zu Poseritz, wohl die ausgezeichnetsten. Darunter fuhr öfter von Greifswald herüberbrausend der wilde Johann Hagemeister, ein stürmischer, genialischer Jüngling, der aber später ein schönes Talent liederlich versaust und verbraust hat. Dieser und der überfliegende Kosegarten zündeten manches an und erregten das Leben, das aber bald wieder in stilleren Wellen hinfloß: denn der Vater hieß Zucht und Ordnung und die Mutter Besonnenheit und Klarheit; das enge Gefäß des Vermögens ließ auch keinen weiten und brausenden Wellenschlag zu.

Außer diesen mit Herrn Dankwardt verkehrenden und wechselnden Jünglingen kamen uns die alten Hausfreunde nicht abhanden. Herr Magister Stenzler und Pastor Krüger sprachen häufig bei uns ein und machten bei ihren Stralsundsfahrten gewöhnlich eine kleine Ausbeugung von der Landstraße nach Grabitz, wo sie mit den Ihrigen eine Nacht oder zwei schliefen. Auch sie trugen uns manche gute Bücher und Anweisungen ins Haus. Dies konnte besonders von Stenzler gelten, der nicht bloß ein vortrefflicher Prediger, sondern auch ein bedeutender Gelehrter war und eine ausgesuchte Bücherei hatte. Die Häuser dieser geistlichen Herren, sowie das unseres Ohms Moritz Schumacher zu Silmnitz, dann zu Rentz bei Gartz, und des Pächters Dalmer zu Schoritz wurden in der guten Jahreszeit von unserm Herrn Kandidaten und uns auch recht fleißig besucht. Gewöhnlich ging die Karawane den Sonnabend Mittag aus und kam Montag Nacht wieder heim. Es waren aber nur Spaziergänge von zwei, drei Stunden.

Außer diesen Freunden waren in Stralsund Verwandte, Bekannte und Geld- und Geschäftsfreunde des Vaters, die bei der Nähe von Grabitz, welches zur Alten Fähre nur eine Stunde hat, die Samstage und Sonntage fleißig zu uns herauspilgerten. Sie brachten gewöhnlich Wein oder die Zutaten zum Punsch mit. Unser Federhof lieferte Gänse, Schruthähne, Enten, Hühner und Tauben, und das gute Gewehr meines Vaters Hasen, Rebhühner, milde Enten und die herrlichsten Schnepfen, wovon der Strand und seine weiten Wiesen wimmelten, in großer Menge. Es war damals überhaupt eine große, allgemeine Gastlichkeit auf der Insel, die zum Teil wohl noch besteht, obgleich die Seebäder und ein wimmelnder Anzug und Durchflug von reisenden Pilgern da wohl etwas Eintrag getan haben mögen. Es ging ungefähr her wie in den Tagen des berühmten Gelehrten und Grobians Samuel Johnson, als er mit seinem Amanuensis Bothwell Nordschottland und sein westliches Inselmeer bereiste Vgl. Johnson, Journey to the western isles of Scotland (Lond. 1775) und Boswell, Journal of a tour to the Hebrides with Johnson (Lond. 1774). (D. H.) und bei Landedelleuten, Pächtern und Pfarrern die Freude der Trinkhörner und Muscheln in Bewegung setzte. Man fuhr, wenn der fröhliche, gesellschaftliche Trieb aufstieg, unangemeldet zu den Nachbarn oder Freunden; mochte man zu Fünfen oder zu Fünfzehn kommen, man kam willkommen. Umstände wurden nicht viel gemacht; Fische, Gefieder, Geräuchertes und Gesalzenes fehlten fast nirgends; Zucker, Kaffee, Tee waren in dem fast gar nicht bezollten Lande sehr wohlfeil; Bier und Branntwein fehlten nimmer, selten auch ein Glas Wein; immer aber war die ungeschminkte Gastlichkeit und Herzigkeit da. Dies war etwas so Abgemachtes, daß, wenn z. B. ein oder zwei wohlgepackte Wagen eben angeschirrt standen und abfahren wollten, und dann etwa ein dritter Wagen vorfuhr, der die Abfahrenden besuchen wollte, man diesen flugs wieder umwenden und mit zu denen, welche man besuchen wollte, fortrollen hieß. Auch für die Nacht, wann schlechte Wege oder böses Wetter die Heimfahrt nicht erlaubten, war in den meisten Häusern durch die Menge der reichlich gefüllten Federbetten gesorgt. Unsre sundischen Freunde brachten denn auch ihre Jugend mit, unter welchen wir mehrere treue Kameraden gewannen, welche uns neue Spiele und Künste zubrachten, besonders mehrere Arten Ballspiel und die Lust des Schiffbauens und Segelns auf unsern vielen Teichen, und für die Spiegeleisbahn des Winters den Schrittschuhlauf, wie für den Sommer die Freude des Vogelschießens. Für diese der großen Hauptstadt nachgemachte Sommerlust ward auf dem kleinen Tannenberg auf unsrer Weide hart bei Giesendorf, der Bakenberg zugenannt, eine mächtige Stange mit einem Vogel aufgerichtet, nach welchem wir oft zwei, drei Tage so lange mit Flitzbögen und Bolzen schossen, bis das letzte heruntergeschossene Stück einen der Schar zum König machte. Das gab dann, gewöhnlich in der Pfingstwoche, eine große Festlichkeit. Es ward ganz nach sundischer Weise mit großer Feierlichkeit unter dem Klang von Pfeifen und Hörnern vom Hofe ausmarschiert, einige mit Maien und Kränzen geschmückte Zelte waren aufgeschlagen, worin Butterbrot, Kuchen und Punsch gereicht ward, und wozu in der Regel die Menge Junge und Alte unsrer sundischen Freunde und der Nachbarn geladen wurden.

Diese Lust erinnert mich einer bösen Unlust, die ich erzählen muß, und die wahrscheinlich in eines der letzten Jahre unsers Grabitzer Lebens fällt. Bruder Fritz und ich hatten zu der Schützenfeierlichkeit als Einladungsprogramm jeder sein Gedicht gemacht. Diese wurden vorgelesen, und des Fritzens Worte gewannen als die wirklich lustigen und witzigen bei der zuhörenden Versammlung einen glänzenden Sieg, meine hochtönenden und bombastischen aber fanden keinen Anklang. Hier faßte mich der böse Neidteufel, und da der Fritz mir eben mit etwas in den Weg trat, rügte ich es derber, als recht war, und zwar mit dem beschämenden Gefühl des Neides.

Jetzt muß ich endlich einer Stelle ganz besonders erwähnen, wohin von mir wenigstens selbst bis in die späteren Jahre, wo ich schon zwischen den Dreißigen und Vierzigen schwebte, wie zu einem festlichen Orte zu Fuß, Roß und Wagen viel gewallfahrtet worden ist. Diese Stelle heißt Posewald, eine kleine Stunde von Putbus, und ein zu Putbus gehörendes Gut. Dort wohnte der Patriarch unserer Familie, der alte Hinrich Arndt. Zu diesem, meines Vaters treuestem Bruder und Freund, ward gewöhnlich im Herbst und Winter, oft auf mehrere Wochen gezogen, zur Zeit, wo Äpfel, Birnen und Nüsse reiften, wo die Bienenstöcke abgestoßen wurden, und wann die Jagd begann. Der alte Graf Malte ließ nämlich seine Pächter ohne Umstände die kleine Jagd treiben; nur die Pürsch der Hirsche hatte er sich vorbehalten. Der alte Ohm aber und mein Vater, eigentlich alle Vaterbrüder, waren gewaltige Nimrode vor dem Herrn und hielten sich die vorzüglichsten Flinten und Jagd- und Hühnerhunde; mein Vater war vielleicht der Meister von allen, und nicht leicht flog eine Schnepfe unbestraft vor seinem Rohr vorüber. Wie oft bin ich am Strande auf der Jagd gegen dieses Geflügel oder auf der Abendblinke gegen die wilden Enten, oder auf den Brachfeldern gegen die Myriaden Brachvögel als Diener mit ihm gegangen und habe mit dem herabfallenden Gevögel die Weidtasche füllen müssen! Wenn sie nun hier in den waldreichen und buschreichen Revieren von Posewald, Nadelitz und Süllitz, welche Güter mein alter Ohm als Pächter innehatte, mit ihren Hunden streiften, so ward ich gewöhnlich aufs Pferd gesetzt, und zu beiden Seiten wurden Bänder an den Sattel gebunden, woran die armen Hasen und der Familie von Malepart geschwind abgestreifte Bälge aufgeknüpft wurden. Das mußte dann von Morgen bis Abend, oft durch Sturm, Regen und Schneegestöber so fortgehen – denn die Männer waren damals noch in einem rüstigen, weidlichen Alter – und ich durfte nicht mucksen, wie ich vor Nässe und Kälte innerlich auch oft schaudern mochte. Auch muckste ich nicht: denn es gab dabei so viele Abenteuer, und der alte Hinrich war ein so poetischer und romantischer Mensch, daß ich doch immer meine Ausbeute dabei fand.

Ich nenne den alten, wackern Bauern poetisch und romantisch und sollte eigentlich dieses Ländchen Putbus so nennen, welches mit seinen Hügeln, Wäldern, Hünengräbern, Grab- und Opfersteinen, Küsten, Inseln und Halbinseln selbst ganz eine Romanze und ein Gedicht ist. Der alte Hinrich, nichts weiter als ein etwas verfeinerter Bauer, war nur ein Bild davon, oder vielmehr er bildete es in Sitte und Gespräch ab. Es war ein schöner Mann, von mittlerem Wuchs, einem edlen Gesicht, blondem Haar und blauen Augen, fast immer fröhlich und heiter und gleich einem, der von Sorgen und sorglichen Dingen nichts weiß. Er war weniger gebildet als mein Vater, hatte aber doch einen schönen Naturgeist und eben deswegen gar kein Bedürfnis künstlicher Vergnügungen. So spielte er zum Beispiel wohl die Geige aber nie die Karten und saß, wann er seine Feldarbeiten übersehen und besorgt oder sich auf der Jagd ermüdet und der Gaben Gottes, die auf seinem Tisch immer in der reichsten Fülle aufgetragen wurden, mit uns genossen hatte, abendlich und mittäglich vor dem Tore seines Hofes auf breiten Steinen und hatte es dann gern, wenn man sich da zu ihm setzte und sich die Märchen und Abenteuer der Gegend, den Sprung des nordischen Helden Olaf Tryggveson ins Meer Dahlmann in seiner Dän. Geschichte, Teil I, setzt diesen Sprung, ich weiß nicht warum, in den Sund. Die Sagen von dem berühmten Normannskönig setzen ihn an die Küsten, diesen Putbusser Gestaden gegenüber. Diese erhalten für die Örtlichkeit eine Bestätigung durch die geographische Bestimmung der Schlachtgegend. Sie nennen einen Ort, der noch jetzt da ist, nämlich die Insel Svolthar, hinter welcher die verbündete Flotte der nordischen Könige und des norwegischen Jarls auf das Auslaufen Olafs aus der Peene gelauert und bei seinem Erscheinen hervorgesegelt seien. Diese Insel lann nach dem dumpfen Laut, wo das Volk de Zoudar ausspricht, keine andere gewesen sein als die Halbinsel Zudar, welcher noch jetzt alle größeren Schiffe, die von Stralsund aus ins weite Meer wollen, vorbeisegeln müssen. Sund bezeichnet überhaupt jede Meerenge und zwar von einer Breite, die ein rüstiger Schwimmer durchschwimmen kann. – (Über den Schauplatz dieser sagenhaften Schlacht herrschen die verschiedensten Ansichten. Außer Dahlmanns und Arndts Konjekturen gibt es noch zwei andere, und zwar verlegen Mohnike und Barthold die Schlacht in die Nähe der Greifswalder Oie (Barthold, Pommersche Geschichte I S. 334), während Francke sie bei Hiddensee stattfinden läßt. (Baltische Studien, Bd. 25.) D.H.) – da, wo der Kirchturm von Wusterhusen ragt, ist ein König mit der goldnen Krone ins Meer gesprungen: noch blinkt sein Kopf mit der goldnen Krone in der Johannismitternacht hervor – und die Geschichten der Schlachtfelder dieser Küsten, wo Karl XII. und der alte Dessauer miteinander gerungen hatten Am 15.November 1715 wurde Karl XII. von Leopold von Anhalt-Dessau bei Stresow geschlagen. (D. H.), von ihm erzählen und die Kanonenkugeln herbeitragen ließ, die seine Leute aus den Feldern um Nadelitz ausgepflügt und aus den Gräben und Teichen ausgegraben hatten. Denn der gute Alte erzählte gern und lebendig und ließ sich gern erzählen, wußte mancherlei von rügenschen und schwedischen Begebenheiten und hatte sich aus manchen alten Chroniken, die auf seinem Kanubrett lagen, auch für die allgemeine und deutsche Geschichte manches herausgelesen. Das Beste aber war der Mann selbst, den man sich aus seinen Worten und Taten mit Freuden herauslesen konnte. Er war immer herzig und beherzt und quoll aus dem Kreise seines beschränkten Lebens immer von Scherzen und Schwänken über. Keine Lust und kein Spaß war ihm zu lustig, nur unsittlich durften sie nicht sein, und er pflegte gern den Spruch zu führen – ich weiß nicht, woher er ihn hatte –: »Dr. Luther hat gesagt, wenn Gott keinen Spaß verstünde, möchte ich nicht im Himmel sein.« Ich nenne ihn den Patriarchen: das war der glücklich geborene Mensch wirklich; redlich, frei, tapfer und hilfreich, wann und wo er konnte, ließ er im Glauben an Gott und seine Weltregierung Unglück und Trübsal meistens still und leicht neben und unter sich hingehen und richtete sich am Sonnenschein des Lebens bald wieder auf. Mein Vater, ein Mensch mit leicht beweglichem und reizbarem Gefühl, war ihm sehr unähnlich, auch körperlich, ein großer, starker, brauner Mann; weil sie aber mit ihren Verschiedenheiten einander ergänzten, hatten sie sich nur um so lieber. Als der Älteste des Hauses und als geborner Patriarch hatte er nicht allein unter seinen Verwandten großes Ansehen, sondern genoß auch unter allen Nachbarn einer großen Achtung und hieß nur Vater Arndt, duldete auch von seinem Gesinde keinen andern Namen. Das Wort Herr war ihm verhaßt, wenn jemand ihm damit aufwarten wollte; er meinte, nur sein Graf Putbus sei ein Herr – und er hatte wohl nicht unrecht. Kraft dieser Würde anerkannter Vaterschaft durfte er auch manches, was man von andern Männern nicht mit gleicher Geduld hingenommen hätte. Mir gab er, als ich schon im Jünglingsalter stand, weil ich über den König von Schweden ein mißfälliges Wort gesprochen, eine klingende Schelle mit den Worten: »Junge, sollst du so von unserm König sprechen?« Einen andern Verwandten, welchem seine Frau Zwillinge in die Wiege gelegt hatte, und welcher über diesen Segen Gottes die Hände zusammenschlug, warnte und schalt er mit den Worten: »Du feiger Mensch! Meinst du nicht, daß Gott wird erhalten können, was er geboren werden läßt?« So blieb er bis ans Ende. Ich und meine Brüder besuchten ihn ein halbes Jahr vor seinem Tode (er starb im Winter 1811). Der Greis, in den Achtzigen, saß mit seinem alten Mütterchen schon zusammengefallen in seinem Stübchen, aber die alte Lebensflamme zuckte bei unserm Anblick frisch auf. Er setzte sich mit uns zu Tisch und ließ Wein auftragen und ward fast beredt wie in längst verschienenen Tagen und sagte beim Abschied ganz beherzt: »Kinder, ihr werdet mich bald in die Erde legen; dann sollt ihr recht fröhlich sein und von diesem Wein trinken: denn ich habe mit Gott mein Leben lang ein frohes Leben geführt.«

Dies war der Patriarch. Noch saß in einem stillen Stübchen eine liebende und freundlich lächelnde Parze am Spinnrocken, des Patriarchen Mutter und meines Vaters Mutter, deren alte Tage der treue und fromme Sohn mit der größten und zärtlichsten Sorge und Liebe gehegt und gepflegt hat. Das war das Bild einer schönen und stattlichen Alten, das Angesicht meines Vaters, bräunlich und schön wie König David weiland, auch sie immer herzig und wohlgemut; hat 96 Jahr auf Erden gelebt und mit ihren Küssen manchen Segen auf meine Wangen und mein Haupt gedrückt.

Nun müssen auch ihre andern Söhne heran, die ich in jenen meinen Jugendtagen und später hier und dort und in der Gegend gesehen habe, auch diese alle durch Stärke und Reisigkeit berühmt und in ihren jungen Jahren auch durch heftige und armbrechende Geschichten, weswegen in der Umgegend wohl von dem starken, heißen Arndtsblut die Rede ging. Es schien der Ahn, der alte schwedische Unteroffizier, in dem Geschlecht lange vorhalten zu wollen, und dies Blut soll auch in dem jüngeren Stamm der Söhne und Enkel hin und wieder etwas heiß hervorgequollen sein. Da war der eine Holländer (Kuhpächter) zu Darsband, früher gestorben, dessen ich mich nur dunkel aus meiner Kindheit erinnere; ein anderer, Johann Arndt, Putbusser Förster in der Granitz, von Gesicht und Wuchs dem Hinrich ähnlich, aber milderen und weicheren Gemüts, auch ein rüstiger Jäger, Vogelsteller und Fischer, mit einer sehr geschickten Hand, so daß er allerlei künstliche Arbeit weben und schneiden konnte. Dieser hatte in der alten Schwedenstärke alle seine Brüder übertroffen, so daß ihn in seinem jugendkräftigen Alter auch ein mächtiger Ringer nicht hatte von der Stelle rücken können. Endlich die beiden Jüngsten, Jochim und Christian, Zwillinge, die auf meinen Vater gefolgt waren. Der Jochim war auch ein kleiner Pächter, nicht hoch von Wuchs, aber sehr gewandt und lebensrüstig, auch voll angeborner Schneidigkeit und Kräftigkeit, ein Sorgenlos und Sausewind, wie ich keinen andern gekannt habe; aber das galt nur für seine Feierstunden, denn er war in seinen Arbeiten ein sehr ordentlicher, verständiger Mann. Diesen habe ich erst später kennen und erkennen gelernt. Er war fein und hübsch von Gebärde, mit leuchtenden Augen und festestem Blick, von der Art, die auch der Teufel nicht aus der Fassung bringen möchte. Mehr Verstand, klares Urteil und heiteres Wesen habe ich in wenigen Menschen gesehen; daher war er bei all seiner windigen und gutmütigen Lustigkeit zuweilen scharf, indem ihm die meisten Menschen wie Dummköpfe oder Träumer erschienen. Er war in den Jahren 1804 bis 1812, wo ich wenigstens wechselnd mich in der Heimat aufhielt, viel in meinem väterlichen und in den brüderlichen Häusern, und da habe ich in manche Nacht tief hinein mit ihm gesessen, gespielt und geplaudert. Denn das bedurfte er. Wann die Zeit kam, wo die andern Menschenkinder schlafen gehen, dann bat er noch gern ein Paar Gesellen, drei, vier Stunden in Karten oder Gespräch mit ihm durchzuspielen und ihm über die Nacht hinzuhelfen. Denn in ihm zeigte sich die eigentümliche Erscheinung, daß er in Verhältnis zu andern Sterblichen kaum die Hälfte der Stunden zum Schlaf bedurfte. Obgleich er in seiner Jugend ein sehr arbeitender Mann gewesen, so genügten dem sechzigjährigen Manne doch zwei, drei Stunden dazu. Dies war eine Naturbesonderheit, die sich darin offenbarte, daß ihm zwischen elf und zwölf Uhr, wann es gegen die Mitternacht ging, das starke Haupthaar wie im Schweiß gebadet ordentlich zu rauchen begann.

Der Nebenhäusler dieses Jochim, der Christian, war in seiner Jugend als ein wilder und freudiger Gesell davongegangen und von dem berühmten preußischen Dragonerregiment Anspach und Baireuth eingefangen worden, worin er es bis zum Wachtmeister gebracht. Auch er lebte als ein Ab- und Überständiger in seinen späteren Jahren in dem Hause des Posewalder Patriarchen, hoch und schlank, ein Zwölfzoller, und auch von ungewöhnlicher Stärke, noch mit den Spuren ehemaliger Schönheit. Er gehörte mit zur Poesie dieses Hauses, indem der alte, freundliche und sanfte Mensch unerschöpflich war, aus den Kreisen seines Lebens allerlei soldatische und volkliche Geschichten und Märchen zu erzählen; aber sein vorzüglichster Zauber für uns bestand in seiner schönen, klangreichen Stimme, mit welcher er eine Menge lustiger Volks-, Jäger- und Soldatenlieder abzusingen wußte. Er war nach dem Siebenjährigen Kriege Dragoner geworden und hatte unter dem großen Könige nur den Bayrischen Erbfolgekrieg oder den sogenannten Kartoffelkrieg mitgemacht. Von dem alten König Fritz erzählte er mit Wohlgefallen zwei ihm begegnete Geschichten.

Nachdem er ihn bei der Musterung des Regiments das erstemal nach seiner Heimat gefragt und erfahren hatte, er sei aus Rügen, aus der Grafschaft Putbus, hatte er ihn die ersten Jahre bei der Heerschau freundlich auf die Wangen geklopft und gerufen: »Ach! der schöne Putbusser!«

Im Bayrischen Erbfolgekriege hatte der König, die Vorposten durchreitend, von den österreichischen Plänklern der Kundschaftung der Stellungen wegen irgend einen Gefangenen gewünscht; aber man hatte keinen österreichischen Husaren auf flinkem Pferde erjagen können. Da ließ der preußische Oberst, der die Vorposten befehligte, eine Büchse holen und rief den Dragoner Arndt, einen ihm als wohlzielender Jäger bekannten Schützen, heraus. Dieser sprang vom Pferde, lud die Büchse, sah den König an und sprach: »Aber nur das Pferd, Ew. Majestät,« und mit den Worten stürzte ein Husarenschimmel; der Arndt geschwind auf sein Roß, den laufenden Husaren eingeholt und zum König gebracht. Der König drückte ihm zwei Goldfritzen in die Hand mit den Worten: »Brav, mein Sohn! Nicht unnütz einen Menschen erschießen.«

Auch gebe ich von seinen Soldatenliedern hier ein recht charakteristisches und wünschte nur, ich könnte gleich die Musik dabeisetzen. Hier ist es:

In Böhmerland bei Prag
Da hat der König von Preußen
Getanzet mit der Königin
Von Ungern und von Böhmerland
Gar lustig wohl auf dem Plan.

Sie tanzeten so vortrefflich herum,
Daß ihnen das Gehirn im Kopf war dumm.
Ein solcher Tanz kostet Mut –
Doch wenn ich's wiederum recht bedenk',
So tut es mich von Herzen kränk'n:
Meine Kameraden liegen in dem Blut.
Da heißt es nicht: Bruder, komm' herein!
Hier ist gutes Bier, hier ist guter Wein.
Nein, da kostet es Fleisch und Blut.

Potztausend! ei! ei! ei! ei! ei!
Eins hätt' ich bald vergessen:
Die Herren Sachsen waren auch mit dabei;
Sie machten ja solche weite Schritt',
Daß der Zehnte nicht konnte halten das Glied –
Da war der Tanz vorbei.

Ich sah aber in meiner Jugend nicht bloß das alte, heiße Arndtsblut als von sehr stattlicher und reisiger Natur, sondern noch andere Trümmer von Männern reisiger Größe und Stärke. Doch war diese Art nach dem Geständnis des alten Hinrich in seinen Tagen in der Herrschaft Putbus sehr ausgegangen. Der Graf Malte zu Putbus hatte nach dem Tode seines Vaters, des Tribunalspräsidenten Grafen Moritz Ulrich zu Putbus, der ein sehr milder Herr gewesen, die Herrschaft sehr verschuldet empfangen und war aus einem strengen Haushalter, der er anfangs aus Not sein mußte, zuletzt aus Gewohnheit ein harter Haushalter geworden. Er hatte große Dörfer zerstört und Pachthöfe daraus gemacht und überhaupt über seine Herrschaft ein so schweres Zepter geführt, daß sehr viele und zwar meistens die schönsten und rüstigsten Jünglinge zur See und zu Lande in die Fremde entwichen und nicht wiedergekommen waren.

Auf diese hier geschilderte Weise war das gastwirtliche Posewald eine Stelle, wo sich nicht bloß die Brüder und Gefreundten, sondern alle guten Leute aus der Umgegend häufig einfanden, auch manche höchst wunderliche und seltsame Käuze, woran jene Zeit und diese Gegend reich war. Ich täusche mich nicht, indem ich das Gedächtnis jener Tage wiederhole: die Menschen waren damals ungebildeter, aber eigentümlicher, mannigfaltiger und poetischer als jetzt; das Naturgepräge war noch nicht zur glatten Einerleiheit so abgeschliffen, man konnte mehr von ihnen lernen, mehr von ihnen haben.

Es war das wirklich eine poetische Epoche, wo das liebe Deutschland nach einem langen, matten Traum wieder zu einem eigentümlichen literarischen und poetischen Dasein erwachte: und das war das Schöne darin, daß die Zeitgenossen viel mehr, als es mir von den Jetztlebenden deucht, an jenem Dasein teilnahmen. Dies war nicht bloß bei den Studierten und Gebildeteren der Fall, sondern auch bei den Einfältigen und Ungelehrten, wie z. B. bei meinen Eltern und ihresgleichen Leuten. Schon war man über den Grandison und die Pamela Romane von Richardson. (D. H.), über Gellerts Schwedische Gräfin und Millers Siegwart zu Werthers Leiden, zu Eschenburgs und Wielands übersetzten Shakespearen fortgeschritten, und Lessing, Claudius, Bürger, Stolberg wurden von alt und jung mit Jubel begrüßt. Das Leben wehte frisch anhauchend aus der Luft der Zeit und ward nicht bloß von himmelstürmenden Jünglingen, wie Kosegarten und Hagemeister, in unser Haus hineingeblasen. In unsrer Schule fing Bruder Fritz zuerst an Verse zu machen, und zwar begann der Junge die römische Geschichte in Dramen darzustellen, versuchte sich auch in manchem andern, wovon ich noch einige gerettete Muster habe; auch wurden die Hausspäße und lächerlichen und komischen Begebenheiten der Nachbarschaft oft recht glücklich von ihm besungen. Das hat wahrscheinlich auch mich gereizt, der ohne ihn vielleicht keinen Vers gemacht haben würde. Ich habe wohl von der Natur nicht genug von jenem flüssigen und flüchtigen, phantastischen und magnetischen Fluidum erhalten, was den Dichter schafft, und wenn mir einzelne kleine lyrische Sächelchen hie und da leidlich gelungen sind, so ist es nach dem Sprichwort geschehen: Eine blinde Taube findet zuweilen auch eine Erbse. Der Fritz aber war ein ganz anderer Kerl, mit einem hellen Kopf und einem königlichen Gedächtnis und noch wohl mit mehr bildnerischem als poetischem Talent. Er redete und deklamierte wie ein König, konnte aller Menschen und Tiere, aller Alter und Geschlechter Töne, Stimmen und Gebärden nachmachen, zeichnete vortrefflich und hatte jenen stillen und leisen Witz, der von sich nichts weiß und nie sich selbst belächelt. Er war damals ein in seiner leiblichen Entwicklung zurückgebliebener, etwas weichlicher und kränkelnder Knabe und hockte viel hinter dem Ofen; woran wohl Unglücksfälle, die er mit Armbrüchen und Vergiftung durch verschluckte Kupferpfennige gehabt, mit schuld sein mochten. Später, schon mit dem fünfzehnten Jahre raffte er sich auf und erwuchs zu einem stattlichen und schönen Menschen, der auch mit der Faust als Fechter und Ringer vielen überlegen war. Leider hat dieser königliche Jüngling seine großen Gaben wenig entwickelt oder vielmehr verspielt. Er, der ein großer Maler, Bildhauer oder Schauspieler hätte werden können, auch, wenn er gewollt hätte, ein bedeutender Gelehrter, studierte die Rechte, ward Sachwalt, nahm zu früh ein Weib und mußte in den gewöhnlichen Lebenskarren eingespannt im Schweiß seines Angesichts ziehen Er starb im Juli 1815 als Bürgermeister von Bergen auf Rügen. Aus seinem Nachlaß veröffentlichte Arndt einiges in den »Schriften für s. l. Deutschen« I S. 1–172. (D. H.).

Dieser prächtige Junge brachte nun in unser Schulleben manche ergötzliche Lustigkeit, teils durch die Karikaturen, die er auf jedes weiße Papier hinwarf, teils durch die komischen und launigen Späße, die er in seinen Versen ausgoß, indem er mit einem Vetter, der mit uns in Grabitz erzogen und von ihm mit der Versewut angesteckt ward, in Tragödien, Komödien und allerlei Hanssachsischem Fastnachtspiel ordentlich poetische Wettkämpfe hielt. Dieser, der Sohn meines Ohms Moritz Schumacher, ein recht wackerer und fleißiger Junge, hieß zum Unterschied von ihm der kleine Fritz. Diese beiden besangen und bereimten alles Denkliche und mischten die kleine und große Welt in den wunderlichsten Tragikomödien durcheinander, der große Fritz mit bewußter Laune, der kleine Fritz in begeisterter Unschuld. Besonders trugen sie – worin ich als ein Erztaubenkrämer auch mitspielte – die Welt der Götter und Helden des Altertums auf die Kämpfe und Liebesabenteuer ihrer Taubenfamilien über.

Der kleine Fritz sang:

Das ist wahr, Priamus,
Du hast einen tapfern Fuß,
Zu kämpfen mit Achill,
Das ist dir nur ein Spiel.

und der große Fritz:

Ach! du tapfrer Hektor,
Wind' um deinen Hals dir Flor,
Traur' um Vater Priamus,
Achill biß ihn in den Fuß.

Der kleine Fritz:

Eisen hast du, Gott Vulkan,
Greife doch die Feinde an;
Selbst der alte Priamus
Girret deiner Frau den Gruß.

und der große Fritz:

Weh! Vulkan, du alter Schmidt!
Wo, wer solche Schmach erlitt?
Denn die ganze Götterburg
Geht mit deiner Venus durch.

Diese kindische Reimspielerei und was dahin gehörte, besonders die Begeisterung für die Dichter, die wir lasen, brachten durch meine Schuld eine Tragödie hervor, welche der guten Mutter mehr als eine Träne und uns allen manchen guten Braten gekostet hat. Hier ist die schwarze Geschichte:

Wir hatten uns in dem Baumgarten hart unter den Augen unsrer Schulfenster, wo ein schöner, sonnenbeglänzter Rasenplatz war, ein Ding gleich einem pegnitzischen Blumengarten angelegt. Der Rasen war nämlich in viele kleine Duodezgärtchen geteilt, und die Mitte jeder Abteilung war mit einem Haufen bunter, am Meeresstrande aufgesammelter Steinchen belegt. Jedes einzelne Gärtchen trug den Namen eines Dichters: Gellert, Hagedorn, Uz, Lessing, Bürger, Stolberg, Hölty, Claudius, Overbeck usw.; Goethens Großheit lag natürlich noch weit jenseits unsers Gesichtskreises. Damit nun diese bunt ausgelegten und mit Rasen umlegten Gärtlein recht grünen möchten, mußte Wasser zum Begießen geschafft werden. Das fehlte in dem Baumgarten, auch war kein Brunnen oder Teich in der Nähe. Da machte ich als der Stärkste der Teilnehmer mich ans Werk und beschloß einen kleinen Teich zu graben, worin sich Wasser sammeln könne. Das ward in der Tat in den Feierstunden einiger Wochen vollbracht, und bald füllten auch ergiebige Regen meine Grube mit Wasser. Da begab sich, daß die jungen Geschwader von etwa siebenzig, achtzig Gänsehäuptern, schon ziemlich erwachsen und wohlbefiedert, eines Abends in den Baumgarten getrieben wurden, um in seinem wohlbeschlossenen Bezirk die Nacht in sichrer Hut vor Hunden und Füchsen zu durchschlafen. Aber o weh! Die armen Gänschen hatten nicht geschlafen, sondern Wasser gesucht und gefunden, waren in meine tiefe Grube gestürzt, welche keinen leichten Ausgang bot, und hatten sich übereinander schlagend und strebend bis auf vier, fünf, die man auf den Leichen der übrigen noch lebendig fand, sämtlich erstickt.

Noch eines jugendlichen Spiels muß ich hier erwähnen, das, wie ich mich erinnere, von mir ausging, der eine besondere Freude an Geschichten und Märchen hatte, nämlich unser Geschichten erzählen oder Geschichten treiben, wie wir es nannten. Wir größeren Jungen waren nämlich übereingekommen, daß während der winterlichen Zeit, wo die Abende und Nächte sich bei den Hyperboreern fast zu sehr längen, die Langeweile durch Geschichten, welche jeder umschichtig in seiner Reihe zu erzählen hätte, von uns gekürzt werden sollten. Dies ward denn auch mit großer Freude in lustige Tat verwandelt und während mehrerer Winter von uns fortgesetzt; denn die Lust daran ward so mächtig, daß wir oft um acht Uhr schon zu Bett eilten – denn im Bette, und zwar in einem dunkeln Kämmerlein ward Erzählung getrieben – damit die Geschichten recht lange genossen werden könnten. Hier suchte nun jeder, was er aus Erdkunde und Naturkunde Wundersames behalten oder vom lebendigen Munde anderer sich aufgelesen hatte, in neuer Gestaltung und Erfindung zusammenzuweben. Auch ward der Vertrag ebenso gewissenhaft gehalten, als er feierlich geschlossen war, und ich erinnere mich nicht, daß jemals nur eine beschwerliche Unterbrechung eingetreten, geschweige daß dem Erzähler etwas Bitteres oder Unangenehmes eingewandt wäre. Wir hörten vielmehr immer mit der anständigsten Geduld zu. Ich für meinen Teil hatte mir einen fabelhaften Goldadler, den ich mit Mandeln und Rosinen und Feigen und Pomeranzen fütterte, vor einen luftigen Wagen gespannt, und er hat mich zu Magnetinseln und in Diamantgruben, in die Höhlen von Riesen und Zauberern und in die goldenen Paläste der Unterirdischen, ja durch die Mongolenwüste Kobi bis unter die gefährlichen Flügel des Vogels Rock getragen. Auch jene Kleinigkeit hing offenbar mit der poetischen Influenza jener Tage zusammen. Für uns hatte es wenigstens den Vorteil, daß wir zu rechter Zeit reden und erzählen lernten; für mich aber führte es die angenehme Beschwerde herbei, daß ich noch fünf, sechs Jahre später, wo ich im Kreise kinderbegabter Freunde erschien, meinen Goldadler satteln und anschirren mußte. So hatte sich der Ruf unsers Geschichtentreibens verbreitet.

Bei allen diesen kindischen und kindlichen Spielen und Entwicklungen des jungen Lebens hin und her, worin schon einzelne höhere und edlere Keime lagen, blieb der gewöhnliche Zustand doch in den Schranken des elterlichen Standes und Vermögens. Der rüstige, damals noch in der Fülle der Kraft blühende Vater mutete uns mit Recht die Übungen und Arbeiten zu, welche er hatte durchgehen müssen; er sah es überhaupt gern, wenn wir aus eignem Triebe oder im wackern Wettkampf uns Strengen und Härten auflegten, die er eben nicht befohlen hatte. In der Erntezeit, wo viele Hände, und diese oft recht geschwind, gebraucht werden mußten, wurden auch die Jungen oft einige Stunden vor der Sonne aus dem Bette getrieben und mußten oft lange vor der Schulstunde Ochsen und Rosse herbeitreiben oder herbeireiten, oft auch den ganzen Tag in diesen oder ähnlichen jungenlichen und hirtlichen Geschäften ausharren. Waren junge Füllen zuzureiten oder Pferde durch die Teiche zu schwemmen, Bruder Karl, der nun wieder bei uns war und den Kaufmann, wofür er bestimmt schien, wieder gegen den Landmann vertauscht hatte, und ich wurden darauf gesetzt, oft wenn es ins Wasser ging, ganz nackt, der Vater mit der knallenden Peitsche hinter uns. Noch erinnert's mich, daß ich, als ich einmal ein unbändiges Tier splitterfasernackt durch einen Teich ritt, von diesem beim Herausspringen in Nesseln und Dornen abgeworfen ward, daß mir das Fell brannte. Zu solchen Abenteuern durfte nicht sauer gesehen werden. Baden im nahen Meere, Fischen in den vielen Teichen und in den Gräben und Bächen der überschwemmten Wiesen auf Karauschen, Krebse, Krabben, Hechte und Aale, Vogelstellen im Herbste in unsrer trauten Lau, Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen – alles das verstand sich als die Regel eines tüchtigen Landlebens von selbst.

Bei all diesen Arbeiten, Übungen und Vergnügungen, wie sie das Land darbietet, ward doch immer sehr streng auf die Zeit gehalten. Wir trieben einen mächtigen Taubenverkehr und hegten in unserm Wäldchen einen hübschen Dohnenstrich, der, weil die Ostseeküsten von Zugvögeln jeder Art zu wimmeln pflegen, uns oft Hunderte von Krammetsvögeln und Drosseln lieferte; auch wurden andre seltnere und buntgefiederte Gäste oft lebendig eingefangen und in Käfichten aufgehoben. Aber die Schulstunde mußte genau mit acht Uhr früh gehalten werden. Ich und der Fritz liefen also im Oktober und November, oft im schlimmsten Regen und Schneegestöber, schon in der Morgendämmerung und vor dem Frühstück auf unsern Vogelstrich, die Beute abzuholen und das durch Wind, Regen oder lose Buben Verwirrte wieder in Ordnung zu stellen. Wenn wir dann beschneit oder durchnäßt und zähneklappernd zurückkamen und uns an den Frühstückstisch setzten, jammerte es die Frauen wohl, aber der Vater lachte dazu und lobte den Jungen, der lustig in alles Wetter hineinsah.

Hier glaube man nur nicht, daß der Vater ein harter Mann war; nein, er war von Natur fröhlich, freundlich und mild, meinte aber nach der Art jener Zeit, welche eine gute Art war, daß ein Junge, der wohl einmal Stein und Stahl anfassen müsse, nicht in Baumwolle eingepackt werden dürfe. Auch gehörte er nicht zu den Vätern, welche den Stock häufig gebrauchen. Ich habe ihn selten gefühlt; doch die letzte wohlverdiente Züchtigung etwa in meinem fünfzehnten Jahre hatte ich dem Asmus omnia sua secum Matthias Claudius, der seine Werke unter diesem Titel herausgab. (D. H.) zu danken. Der Vater war ermüdet und verdrießlich wegen eines unangenehmen Verlustes aus Stralsund zu Hause gekommen und hatte sich früh zu Bett gelegt. Ich und Bruder Lorenz, der vierte in unsrer Reihe, saßen im Nebenzimmer und lasen das berühmte Lied vom Riesen Goliath, wobei wir in ein gefährliches, immer von neuem beginnendes Kichern gerieten. Zweimal gebot, ja bat der Vater Ruhe zu halten und riet uns, lieber auch schlafen zu gehen; als wir das drittemal in Lachen ausplatzten, da platzte er herein und stillte unsre Überlust mit ungebrannter Asche.

Ich war wirklich in meinen Jugendtagen ein unglücklicher Kicherer und Lachenausberster und mußte mich bei jeder Gelegenheit vor mir selbst in acht nehmen. An meinem Bruder Fritz habe ich das nie gemerkt, sondern er lächelte nur bei Gelegenheiten, wo ich und die andern mit lautem Lachen ausplatzten. Ich weiß nicht, ob das viele und leichte Lachen ein niedriges Gemüt verrät, wie man im Jesus Sirach liest; aber das scheine ich zu wissen, daß ein erhabenes Gemüt in der Regel kaum lächelt, wo die meisten lachen. Ich habe Goethens Gesicht oft darauf angesehen: ich glaube, das hat auch nur lächeln können.

Ein solches verderbliches Lachen, das den väterlichen Stock wieder gegen uns hätte reizen können, überfiel uns einmal beim Frühstück. Wir aßen unsre Milchsuppe aus einer bunten, gemalten Schüssel, in deren Innerm der Vers: Wie schön leucht't uns der Morgenstern gemalt zu lesen war. Nun ward es unter uns zum Schibboleth: »Du issest bis zum Stern«; »du bis leuchtet« – und darüber brachen wir eines Morgens los und fürchteten, es würde nun die andern Morgen auch so gehen. Da bat ich, indem der Vater schon wieder einige Male Stille! gerufen hatte, die liebe Base Sophie, uns den nächsten Morgen eine ungemalte und unbeschriebene Schüssel aufzusetzen, und so ward die Gefahr glücklich abgewandt.

Wir hatten nun bis in den Anfang meines siebzehnten Jahres so fortgelebt, wie es sich eben machte, und meine Eltern konnten wohl nicht daran denken, mich studieren zu lassen. Da kam es durch fremde Hilfe, wahrscheinlich durch Anregung und Vermittlung der Herren Stenzler und Brunst, daß ich plötzlich in die gelehrte Schule nach Stralsund verrückt ward. Mehrere Gönner, welche unbekannt bleiben wollten, hatten für diesen Zweck einen Zusammenschuß getan, und im Februar des Jahres 1787 ward ich in die Sekunda jener Schule eingeführt und bekam bei dem Herrn Konrektor Furchau meine Wohnung. Dies war ein Sprung! Der arme und blöde Landjunge erschien im schlechtesten Aufzuge unter vielen zum Teil zierlichen und nach ihrer Weise vornehmen Jünglingen der ersten Familien der pommerschen Hauptstadt. Ich trug einen grünen Rock von eigengemachtem Zeuge; wenn es ein bißchen besser sein sollte, einen grauen plüschenen, ans einem alten Rocke meines Vaters zusammengenäht und von dem Landschneider etwas zu wulstig weit zugeschnitten; meine Stiefel ungefähr in ähnlicher Art von dem Leisten des Meisters Silverstorp in Rambin. Man kann denken, mit welcher Gier die zierlichen Stadtpfauen über die so aufgeputzte Landkrähe herfuhren, und wie die Krähe sich anfangs zurückmachte. Indessen Not bricht Eisen, und da mich einige etwas unsanft anzutasten wagten, fühlte ich mein ungeduldiges Arndtsblut aufsieden, und bald lagen ein Paar Bursche zusammengeknickt zu meinen Füßen. In dieser Beziehung hatte ich bald Ruhe; denn in der ganzen Klasse war etwa nur ein einziger, der mich allenfalls hätte bestehen können, mein nachheriger Schwager Ascher: dieser aber ließ mich ungeheiet. Die Klasse war damals durch die lange Kränklichkeit des eben verstorbenen Subrektors Borheck sehr vernachlässigt. Ich konnte mich darin bald mit den besten Schülern messen. Zwar verstand ich noch kein Wort Griechisch, aber in dieser Sprache sah es bei jedermänniglich damals schlecht in Sekunda aus. Nach des Subrektors Tode ward der Unterricht in dieser Klasse von den Lehrern der Prima mit bestritten und ging nur bruchweise fort, und mir blieb immer Zeit genug, durch Privatunterricht, den ich im Griechischen nahm, mit den übrigen, die alle nicht hoch standen, in wenigen Monaten auf gleiche Höhe zu gelangen. Im Frühling langte denn der neue Subrektor, Herr Ruperti Vor zwei Jahren als Superintendent in Göttingen gestorben., aus Hannover an und erhob den Unterricht und die Zucht der Sekunda bald zu einer hohen Stufe. Ich habe in dieser Klasse zwei Jahre und in der Prima ein Jahr zugebracht und für einen der fleißigeren und besseren Schüler gegolten; was bei allem dem nicht viel sagen will. Warum?

Will ich etwa die Unterweisung, Verwaltung und Einrichtung der Lehrer tadeln oder schelten? Ich gewiß nicht.

Es war gerade eine glücklichere Epoche der Stralsundischen Schule, als sie lange nicht gewesen. Ihr Vorstand war Magistrat und Konsistorium der Stadt. In dem damaligen ersten Bürgermeister und Königlichen Landrat Herrn Dinnies, einem gelehrten und eifrigen Mann, hatte sie einen würdigen Musageten. Der Rektor, Herr Groskurd, früher Direktor des Deutschen Lycei in Stockholm, war die Gewissenhaftigkeit und Ordnung selbst, ein Mann, welcher binden und zusammenhalten konnte. Wenn seine Art mir und andern damals zuweilen an Pedanterie zu grenzen schien, so habe ich späterhin solche Eigenschaften und die Farben und Schatten, welche sie in einem gewissen Alter gewinnen, als eine unvermeidliche Notwendigkeit doch achten gelernt. Auch war Groskurd keineswegs ein verbrauchter oder verworrener Lehrer, wiewohl ich gestehen muß, daß ich seinen beiden Kollegen der oberen Ordnung mehr zu danken habe. Diese beiden standen glücklicherweise auf der Altersstufe, wo die Lehrer einer Schule durch Beweglichkeit und Schwunghaftigkeit des Geistes die wirksamsten und wohltätigsten sind. Ruperti, ein Jüngling von vierundzwanzig Jahren, kam eben an, mit schönen Kenntnissen, mit schöner Begeisterung und Liebe für sein Amt begabt. Furchau, der Konrektor, ein Sohn der Reichsstadt Bremen, der zweite Mann nach dem Rektor, mochte eben ein Dreißiger sein, ein kleiner, runder, freundlicher Mann voll Lebendigkeit und Geistigkeit. Er hatte sich in der Wissenschaft nach allen Seiten hin umgesehen, war ein tüchtiger Philolog und Literator und folgte seinen Studien mit dem rastlosesten Fleiße, ein Mann von Geschmack, würziger Laune und feinstem Bienenwitz, der anmutigste und heiterste Gesellschafter und von einem glänzenden Vortrage, durch den Tacitus, Sophokles und Homer deutschen Klang und Sprache bekamen. Er führte für die beiden alten Sprachen und für Literargeschichte in Prima das Zepter. Leider war er jedoch in diesen Jahren öfter kränkelnd, so daß mehrere seiner Vorlesungen für uns halb verloren gingen. Ich wohnte in seinem Hause und hatte mein Stübchen seiner Bibliothek gegenüber. In ihr sah es ungefähr aus, wie jetzt auch in meiner kleinen Bücherei. Die meisten Bücher standen freilich in den Brettern, aber unordentlich durcheinander; ein großer Teil, besonders die zunächst von ihm gebrauchten, lagen auf Tischen, Stühlen und dem Fußboden in Verwirrung umher. Doch hatte er mitten in der Unordnung eine große Ordnung des Gedächtnisses und wußte das Verlangte und Gesuchte meistens augenblicklich zu finden. In dieser immer offenen Bibliothek konnte ich naschen, wie ich wollte, und meinen Bedarf hin und her schleppen, um so mehr, da der Herr Konrektor bald ein Hausfreund meines Vaters ward, mit welchem er in Stadt und Land mehrere gemeinsame Freunde hatte. Mehr aber noch als von Furchau ward man in seinen Studien von Ruperti gefördert, bei welchem jeder fleißige Schüler immer den freiesten Zutritt und die bereiteste Hilfe fand.

Also an Geist, Gelehrsamkeit und Lebendigkeit fehlte es dieser Schule damals in keinem Wege. Aber doch hatte die Heynische Philologie, woraus diese Männer sämtlich hervorgegangen waren, einen Mangel, welcher dem Meister oft genug vorgeworfen ist, den Mangel der Vernachlässigung der Lehre von den Sprachformen, den Mangel der grammatischen Strenge. Hat doch Heyne selbst gegen diese Anklage sich damit entschuldigt, daß er sich den Dichterphilologen nannte, als welchem es nicht auf die feinen Klaubereien der Grammatik, sondern auf das innere Leben der Alten, auf Geschmacks- und Schönheitsfindung und -bildung ankomme.

Meine Stellung in Stralsund war ungefähr folgende:

Die ersten anderthalb Jahre meines dortigen Aufenthalts genoß ich die obenerwähnte Unterstützung, von welcher ich den eigentlichen Belauf nie erfahren habe. Diese hörte dann auf, da meines Vaters Verhältnisse sich unterdessen wesentlich erweitert und verbessert hatten. Daneben hatte ich Freitische, mehr als ich bedurfte, indem mein Vater in der Stadt so viele Freunde und Bekannte hatte, daß sie sich um mich rissen: diese Freitische beide für den Mittag und den Abend. Die letzten aber benutzte ich nicht immer, weil sie mir zuviele Zeit raubten, und nahm zu Hause mit einem Butterbrot und Glase Wasser oder Bier vorlieb. Das war auch des Morgens mein Frühstück; und auf diese Weise ist es auch in der Folgezeit meistens von mir gehalten worden, so daß ich bis zu meinem vierzigsten Jahre Kaffee und Tee nur bei außerordentlichen Gelegenheiten genossen habe. Später, erst näher dem fünfzigsten, hat die Gemütlichkeit und Bequemlichkeit des häuslichen Lebens meiner zweiten Ehe mich auch an diese Genüsse gewöhnt, welchen ich nun im Ansteigen des hohen Alters weise, aber zu spät, wieder zu entsagen beginne. Das aber, was Fichte selbst aus seinem geschlossenen Handelsstaat nicht auszuschließen langte, Wein, Punsch und deren Gesellen (den Branntwein jedoch selten und nur einzelne Gläschen) habe ich nimmer verschmäht. Auch schien ich von der Natur zu einem bacchischen Leben gestempelt zu sein: der Wein ist mir von jeher wohl bekommen, eine Tasse Kaffee hingegen, wenn sie ja einmal über meine Lippen kam, machte mir vor meinen Dreißigen das Blut so wallen und die Hände so zittern, daß ich kaum einen Buchstaben gerade aufs Papier bringen konnte.

Diese Freitische hatten für mich allerdings ihre Gefahr. Zuerst verlor ich etwas von Zeit dabei; aber dies war das Kleinste. Das zweite war schlimmer, das für einen Jüngling von siebzehn, achtzehn Jahren zu gute und reiche Leben. Es waren fast lauter angesehene und reiche Häuser, wo ich zu Tische ging; die Gastlichkeit, die Gütigkeit der Freunde war überdies nach Landesgewohnheit unermeßlich; das Leben in jenen Tagen überhaupt weidlich und wohlgemutig, und, da die politischen Stürme nur erst in der Ferne brausten, auf anmutigen und fröhlichen, auch wohl auf künstlerischen und ästhetischen Sinnengenuß gerichtet. Hier muß etwas von den Menschen gesagt werden.

Stralsund ist eine große Stadt, durch ihre Leiden und Freuden und durch große Kämpfe, worin die Namen Wallenstein, Gustav Adolf, Friedrich Wilhelm der große Kurfürst, Karl XII. und der alte Dessauer Leopold von Anhalt, mitklingen, eine glorreich berühmte Stadt. Im Mittelalter war sie nach Danzig, der alten Hauptstadt Hinterpommerns, die mächtigste und prächtigste Stadt im Pommerlande, und noch sieht man ihren Marktplätzen, dem herrlichen Rathause und den drei größten Kirchen den alten vergangenen Glanz an. Sie entwuchs wenige Jahrzehende nach ihrer Gründung im Anfänge des dreizehnten Jahrhunderts der Macht der Fürsten von Rügen und nach deren Erlöschung der pommerschen Herzoge und war die nächsten Jahrhunderte nur dem Namen nach eine abhängige, der Tat nach aber fast eine freie Reichsstadt. Wegen Fehden mit den Fürsten und der Landschaft oft abgeschlossen und auf ihre Ringmauern oder höchstens auf einige Gebiete in der Insel Rügen angewiesen, hatte sich in ihr in einiger Ähnlichkeit mit der herrlichen Reichsstadt Köln ein ganz eigner Volksdialekt gebildet, der mit dem umwohnenden Lande wenig gemein hat und in seinem Ton und Akzent bis diesen Tag sich mit einer gewissen Dünnheit und Weichlichkeit bricht, welche zu der Tatenkraft und Rüstigkeit ihrer Bürger von weiland und jetzt wenig paßt. Diese Stadt wie die anderen größeren schwedisch-pommerschen Städte hatte aus der Zeit der gewaltigen Hanse bis zu unsrer alles stürzenden und ändernden Epoche große und achtbare Freiheiten und für ihre Obrigkeiten und Stiftungen in Rügen und Pommern höchst bedeutendes Gut und weite Gerichtsbarkeit gerettet. Sie war selbst unter schwedischer Herrschaft bis zum Untergange des Heiligen Römisch-Deutschen Reichs als eine ehrwürdige Ruine der Vergangenheit, gleichsam noch als eine eigne Herrlichkeit stehen geblieben. Nun bestanden jene Trümmer alten Glanzes damals noch mit einem feinen und würdigen Schein. Der Magistrat, d. h. Bürgermeister und Rat, zog in der Stadt und auf seinen sehr zahlreichen Gütern und fast ebenso zahlreichen Gerichtsbarkeiten wie eine Art Majestät auf; die verschiedenen Bürgerausschüsse und Genossenschaften hielten sich unter ihnen oder ihnen gegenüber in achtbarer Geschlossenheit und Ehrenfestigkeit; und jeder einzelne Bürger als Mitgenoß einer so altberühmten und glorreichen Gemeinschaft trat auf dem sundischen Pflaster stolzer einher als die Bürger der andern Städte auf dem ihrigen. Und die Stadt Stralsund hatte schöne, stattliche Menschen und konnte auch in Hinsicht der Frauen, selbst in den unteren Klassen, wie Korinth bei den Griechen, für eine schönweibrige Stadt gelten. Ein schönes Menschengeschlecht findet man auch in den andern großen Städten Pommerns, vorzüglich in Wolgast und Barth, viel weniger in Greifswald, welches schlechtes Wasser und schlechte Luft und natürlich also, obgleich eine Universitätsstadt, auch schlechtes Licht hat.

Die Sitten waren freilich, wie ich angedeutet habe, sinnlich auf Genuß und Lebenslust gestellt; hohes und höchstes Glück und Unglück, hohe und höchste Fragen und Kämpfe ahnten in jenen Tagen wenige. Aber wie auch vieles locker, ja lockerer als recht war, es war doch von dem alten Glauben und der alten Treue und von den etwas versteiften, aber doch wohlanständigen Gebräuchen und Gestalten genug übrig, um das Ganze des Lebens mit einer gewissen äußeren Würdigkeit zusammenzuhalten und zu tragen. Einzelne Schäden wurden durch ziemlich allgemein herrschenden Wohlstand, Rechtlichkeit und Gutmütigkeit reichlich vergütet. Nur ein Schaden war da, der aber durch den ausgebrochenen russisch-schwedischen Krieg während des größten Teils meiner sundischen Anwesenheit fehlte, nämlich die schwedisch-pommersche Soldateska. Die Offiziere derselben waren meistens schwedische oder pommersche, einige auch mecklenburgische Edelleute, aber die Gemeinen aus allen Weltgegenden zusammengeworbenes Gesindel, viel mehr als in dem benachbarten Preußen, wo die Kantonspflichtigkeit wenigstens doch einen ehrenwerten Stamm von einheimischen Gemeinen lieferte. Dieser Schaden war bei der Art der Zusammensetzung ein unheilbarer und den Sitten höchst verderblicher, und die zwei dort liegenden Regimenter Fußvolk nebst einer Abteilung Artillerie, Ingenieure und Pioniere waren ein Krebs in dem gesunden Fleische der Bürgerschaft. Auch begab sich hier damals das Unerfreuliche, daß der größte Teil der Offiziere durch eignen Übermut und Unart von der bessern Gesellschaft der Stadt abgeschlossen leben mußte.

In dieser Stadt war ich nun in die gute Gesellschaft hineingestellt und hatte es in ihr nur zu gut, besonders an solchen Tagen, wo mein Vater, der alte Ohm von Posewald und andere Hausfreunde oder Gefreundte zum Vergnügen oder in Geschäften in der Stadt erschienen und dann in einem Atem zu Mittag und zu Abend, wobei die Gastgelage oft bis tief in die Nacht hinein reichten, bei den Freunden rings in der Runde eingeladen wurden. Ich verlor mich aber nicht weder in einer breiten und eitlen noch in einer schwelgerischen und sinnenberauschenden Geselligkeit, sondern behielt meinen Vorsatz fest im Auge und war in der gewöhnlichen alltäglichen Zeit eher zu ernst und abgeschlossen, als daß ich ein Leichter oder gar ein Leichtfertiger hätte gescholten werden dürfen. Es hatten sich in den beiden letzten Grabitzer Jahren in meiner Familie Vorfälle und Verhältnisse ergeben, deren Erzählung nicht hierher gehört, die aber in meinem Gemüte tiefe Nachbebungen hinterließen, welche ich jahrelang gespürt habe, und deren Folgen, indem sie, wie zu geschehen pflegt, in andern Fibern und Nerven ihren Sitz aufgeschlagen, vielleicht in unbewußten Bebungen noch in mir fortzittern. Ich kam sehr ernst gestimmt und mit sehr ernsten Entschlüssen nach Stralsund, welchen ich dort auch keinen Augenblick untreu geworden bin. Ich war gesund, stark und rüstig und hatte mir vorgenommen, es um jeden Preis zu bleiben. Mitten aus den Genüssen des dortigen fröhlichen, sinnlichen Lebens, mitten aus den Genüssen des breiter und weiter gewordenen elterlichen Lebens in dem Hause Löbnitz, wo meine Eltern jetzt wohnten, riß ich mich strenge wieder zu meiner Schule und noch strenger zu den freiwilligen Mühen und Strapazen, welchen ich meinen Leib unterwarf. Ein blöder, unverdorbener, unschuldiger Junge war ich in die Schule getreten; aber der Trieb, von dem Gott einst über dem Paradiese gesprochen hatte: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, ließ sich in den Seltsamkeiten und Träumereien, die um dieses Alter in unbestimmten Suchten und Sehnsuchten spielen, auch ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, schon genug merken, und ich betete und rang keusch und unschuldig zu bleiben, um so eifriger, da ich wohl gewahrte, wie es unter den größeren Schülern mehr als einen leichtfertigen und liederlichen Gesellen gab, der solche schwere und düstere Käuze, als ich solchen wohl zuweilen erschien, auslachte und verspottete. Alle Wälder, Büsche und Strandufer um Stralsund bis auf zwei, drei Stunden in der Weite haben meine spazieren laufenden und noch im Oktober und November zum Bade eilenden Fußtritte gefühlt. Die Stunden, welche dabei und bei fröhlichen Gastgeboten draufgingen, mußten der Nacht abgespart werden. Gottlob! ich bedurfte wenig Schlaf, hätte sein aber vielleicht mehr bedurft, wenn ich mich der Abhärtung und Abmattung weniger bedürftig gefühlt hätte. So mußte in den Jahren 1787, 1788 und 1789 der einsame Schüler durch Wald und Feld streichen; er rief sich dabei die Horazischen Worte: Hoc tibi proderit olim zum Tröste zu, und der Spruch hat sich bewährt: es ist aus solchen einsamen Umnebelungen und Verfinsterungen später einiger Sonnenschein hervorgegangen.

Doch soll keiner glauben, daß ich immer als der Einsame und Freudenlose erschien; nein, ich fand auch meine Kameradschaft, und zwar eine recht liebe. Manches Gemeinsame in Studien verband mich vorzüglich mit Karl Asmund Rudolphi Der Berliner., Sohn einer armen Predigerwitwe, welche eine kleine Mädchenschule hielt, und mit Johann Arnold Pommeresche Beide sind mir bis in den Tod treueste Freunde geblieben. dessen Vater, Königlicher Kammerrat und Procurator Fisci, mein besonderer Gönner und Wohltäter war. Außer diesen konnte ich den liebenswürdigen und geistreichen Friedrich Reincke (in späteren Jahren ein treuester Freund), Johann Jakob Grümbke, Ernst von Gagern, Bernhard Cummerow und Johann Israel zu meinen Getreuen zählen. Eisbahn, Kegelbahn, Schlittenfahrten, Spaziergänge mit solchen lieben Gesellen fehlten nicht, noch einzelne lustige Wanderungen in der Insel Rügen oder auch mit diesem und jenem gelegentlich zu meinen lieben Eltern nach Löbnitz. Hierzu kam noch, daß mein Bruder Fritz, der aber von mir sehr verschiedene (ich meine keine schlimmen) Wege ging, nach zwei Jahren sogleich als Primaner die Schule und neben mir ein Stübchen bezog, und daß Lorenz Stenzler, der Sohn des ehrwürdigen Pastors zu Gartz, mir als Stubengesell beigetan ward. Ich als der Ältere und schon Geübtere sollte diesem gelegentlich helfen und half auch; was Fritz, der hier auch bald einen guten Namen gewann, weniger bedurfte.

Doch blieb für mein Gutes und Bestes das elterliche Haus immer die Oberburg meiner Gefühle und Gedanken, und zu wievielen Orten und Menschen ich auch freundlichen Zutritt hatte, nirgendshin zog es mich so mächtig als zu diesen Wurzeln meines Daseins. Dieses Haus und die ganze Lage desselben hatte sich bald nach meinem Abzuge nach Stralsund vier Meilen weiter gegen Nordwesten Muß heißen Südwesten. (D. H.) auf das Festland und in viel größerer Breite hingestellt. Mein Vater hatte drei Meilen von Stralsund an der großen Straße zwischen Stralsund und Rostock die sogenannten Löbnitzer Güter (mehrere Höfe und Dörfer) gepachtet. Diese Güter gehörten auch unter die Herrschaft Putbus, welche von der verwitweten Gräfin zu Putbus, Wilhelmine Gräfin von der Schulenburg, verwaltet wurden, welche für ihre Söhne, die Kinder des verstorbenen Grafen Malte zu Putbus, die Vormundschaft führte. Mein Vater hatte diese Pachtung wohl vorzüglich dem Einfluß zu danken, den unser Patriarch Hinrich zu Posewald bei der Gräfin Witwe hatte. Dieses große Unternehmen schlug ihm bald sehr vorteilhaft aus. Die französische Umwälzung und andere Zeitereignisse trieben die Preise des Getreides viele Jahre zu einer ungewöhnlichen Höhe, und wer Landgüter bebaute, konnte nun gewinnen.

Hier war nun wieder etwas von Schoritz, und mehr als Schoritz, obgleich das heilige Meer fehlte. Löbnitz war auch eine verlassene Schönheit, deren Glanz zum Teil freilich abgebleicht war, aber deren Jugend Schoritz sicher um vieles überglänzt hatte. Löbnitz war ein Sitz der Grafen von Schwerin gewesen. Der Vater meines Gönners und Freundes, des schwedischen Generals Grafen Philipp Schwerin, hatte noch darauf gewohnt. Nach dem Tode desselben hatten er und seine Brüder ihre pommerschen Güter dem Grafen Malte von Putbus verkauft. Es war auch im erblassenden Glanze immer noch ein sehr schöner Hof. Das Haus mit zwei stattlichen Flügeln zählte zwei große Säle und über zwanzig Zimmer, deren ein Teil noch goldene Leisten und Getäfel, seidene Tapeten und schön geformte Öfen hatte, die andern mit vergoldeten Tapeten verziert waren, die einen mit Kriegstaten Karls XII., die andern mit Abenteuern des Ritters von der traurigen Gestalt geschmückt. Der Erbauer des Hauses, ein Oberst Graf Schwerin, war nämlich ein Kämpe des großen Schwedenkönigs und Vetter des berühmten preußischen Feldmarschalls gewesen. Unter dem Hause, das zwischen grünen Wiesen auf einem sandigen Hügel lag, dehnte sich der von einem tiefen Bach durchströmte Lustgarten aus, mit seinen Lindenalleen, Lusthäuschen, Hecken und Grotten, alles in dem Stil von 1740 und 1750. Gegen das Ende des Gartens stieg man einen kleinen Olymp hinan, um welchen die hölzernen Bilder der Dei majorum et minorum gentium standen, ein kleiner Hügel, von welchem man auf die Stadt Barth und auf alle Türme der umliegenden Kirchdörfer eine hübsche Aussicht hatte. Nahe am Hause hart am Bache war eine mit Efeu und Jasmin umwebte Grotte, die Grotte der Königin betitelt. Darin hatte die schwedische Königin Ulrike Luise, Gustavs III. Mutter und Friedrichs II. Schwester, erzählte der alte siebzigjährige Gärtner Benzin, zur Sommerzeit häufig die Kühlung gesucht. Im Hause zeigte man die Zimmer mit goldnem Getäfel und grünen seidnen Tapeten, worin sie gewohnt und geschlafen hatte. Sie hatte hier nämlich einst monatelang ihren Wohnsitz genommen in der Zeit, als ihr Gemahl mit dem schwedischen Reichsrat den härtesten Streit um die Herrschaft gestritten, und als der Vater des Generals, Philipp Schwerin, schwedischer Reichsherr und Oberpräsident des Tribunals in Wismar, Löbnitz bewohnte. Außer diesem Garten gab es noch zwei wohlbesetzte Baumgärten und rings um den Hof Wiesen und zur Ähnlichkeit mit Schoritz ganz nahe zwei liebliche Eichenwäldchen gleich der Lülo und für die Krewe ein ähnliches etwas entfernteres Wäldchen mit den Trümmern einer alten Burg, worum Gespenster und Hexen und allerlei wunderliches Gesindel ihr Wesen trieben, und eine Viertelstunde weiterhin einen großen, prächtigen Buchenwald. Der Bach aber, die Zier und Freude des Gartens, ergoß sich nach einem Lauf von zehn Minuten in den Fluß die Barth, der unweit Barth, ein paar Stunden von hier sich ins Meer gießt, immer nur ein Flüßchen, aber doch ein anmutiges, auch wegen der Tiere und Fische, die es hegte, und wegen der Badegelegenheit, die es uns im Sommer reichte.

Hier wohnten also meine Eltern und Geschwister nun recht nett und behaglich; doch ward ihr Einzug bald durch eine Familientrauer bezeichnet, indem mein dreijähriges Schwesterchen Karoline, ein sehr liebliches Kind, besonders zu meinem tiefen Schmerze, an der Bräune starb. Doch gab der liebe Gott dafür im Sommer bald wieder Ersatz durch ein Dirnchen, welches das jüngste und letzte Kind des Hauses bleiben und viele Verluste heilen sollte. Es ward deswegen Dorothea oder Gottesgab genannt.

Löbnitz war von Stralsund drei Meilen entfernt, von jenen Meilen, welche, wie die gemeine Rede spricht, der Fuchs gemessen und den Schwanz zugegeben hat. Ich war unterdessen durch meine spartanischen Übungen recht fuchsbeinig geworden und lief diese Strecke oft in vier guten Stunden. Dies geschah häufig des Sonnabends nachmittags, und den Montag in aller Frühe ging es wieder zur Stadt und Schule, oft mit Gelegenheit, oft in der Weise, daß der Vater anspannen und mich den halben Weg fahren ließ. Gelegenheit gab es auch im Sommer und Winter genug: erstlich die fahrende Hamburger Post, die hart an unserm Hause hinfuhr, aber nach der damaligen Art den fürchterlichsten Schneckengang ging und in jedem Dorf und bei jeder Schenke anhielt; zweitens hatte mein Vater auf den Vorwerken drei bis vier sogenannte Holländer oder Kuhpächter und einige Müller und Schmiede, welche Waren hin- und zurückführend auch oft zur Hauptstadt kutschierten; drittens zogen im Herbst und Winter Reihen von zehn bis zwölf mit Korn oder Weizen beladenen Vierspännern ihr zu. Die Abfahrt derselben geschah gewöhnlich um zwei, drei Uhr in der Frühe, und sie waren, indem sie unterwegs einigemal zum Füttern anhielten, gegen sieben bis acht Uhr zur Stelle, so daß ich mit der Schule nicht in Verdruß geriet. Da lag der Schüler denn auf den dickgefüllten Säcken, in irgend einen alten Mantel seines Vaters gehüllt, und ließ es mutig auf sich schneien und regnen; oft aber leuchteten die winterlich blitzenden Sterne auch freundlich über seinem Haupte, und noch jetzt sehe ich Siebengestirn und Arktur und Orion, die im Winter ein gewaltiges Licht führen, wehmütig darauf an, wieviele Freuden und Leiden des Jünglings, der an ihnen damals oft die Stunden zählte, unterdessen unter ihrem unsterblichen Laufe auch dahingerollt sind. Die Schulferien, versteht sich von selbst, wurden fast immer bei den Eltern verlebt, wenn nicht zuweilen für Posewald und Putbus eine Woche abgegeben ward.

Der Herbst von 1789 war herbeigekommen und vor dem Anfang desselben die gewöhnlichen öffentlichen Darstellungen und Prüfungen. Mein Vater war dabei anwesend gewesen, und ich war unter andern guten Schülern ordentlich durch öffentliches Lob ausgezeichnet worden; doch sollte und wollte ich noch ein zweites Jahr in Prima bleiben. Es ging in jenem Herbst beinahe ein Dutzend Primaner ab nach Göttingen (dem gewöhnlichen Ausflug der Sundischen, wohin auch die Lehrer, alle weiland Göttinger, immer wiesen), Erlangen und Greifswald; und da gab es mehrere Tage hintereinander nichts als Einladungen und Abschiedsschmäuse. Dies war mir und meinem Blute wahrscheinlich zuviel geworden. Ich geriet in außerordentliche Stimmungen und Kämpfe mit mir selbst, und es lief in mir herum, ich würde, wenn ich mein Schülerleben hier so fortsetzte, zu einem weichlichen und liederlichen Lappen werden. Also etwas anderes – aber was? Landmann oder eine Art Schreiber und Rechnungsführer bei irgend einem Landmann. Ich wußte wohl selbst nicht viel zu meinen noch zu wollen. Genug, einen guten Nachmittag ging ich aus dem Frankentor, wo Karl XII. in einer Mauernische weiland sein strohenes Lager gehabt hatte Er kampierte dort während der Belagerung Stralsunds vom 10. Okt. bis 22. Dez. 1715. (D. H.), in die Welt hinein. Den Vormittag hatte ich für meinen Vater noch Geschäfte besorgt, unter anderm 400 Thaler für ihn eingenommen, die ich ihm herausschickte. Ich mochte zehn oder zwölf Thaler in meinem Sack haben; damit und mit meinen besten Kleidern auf dem Leibe und einem Bündel Wäsche unter dem Arm lief ich davon, schrieb aber meinem lieben Vater in der damaligen Fassung und Stimmung meines Herzens einen so pathetischen Brief, als wenn ich auf das Nordkap oder die Magelhaensstraße zusteuern wollte. Ich ging gegen Süden fort die große Straße, welche nach Greifswald führt, in eine Weltgegend hinein, wohin ich noch nie den Fuß gesetzt hatte. Es muß in den ersten Tagen des Weinmonds gewesen sein. Als es nachtete, begann es zu regnen; ich kam in ein Dorf, wo es keine Schenke gab, und trat in eines Schäfers Haus, Nachtquartier begehrend. Die Leute sahen mich verwundert an, nahmen mich jedoch auf und gaben mir, da sie kein übriges Bett hatten, einige Kissen und ein Laken mit auf den Heuboden, worein ich mich wickelte und königlichen Schlaf hielt; denn die vorige Nacht war auf dem Abschiedsschmäuse meines lieben Reincke durchschwärmt worden. Jedoch krähte der Ruf von einem halben Dutzend Hähnen, die auf einem Balken über mir Posto gefaßt hatten, mich einige Male auf. Dies war mein erstes Nachtlager, das ich unter wildfremden Menschen hielt, gleichsam eine kleine Schicksalsvorzeichnung. Den andern Morgen sah ich Greifswald vor mir liegen, wagte aber nicht, um oder in die Stadt zu gehen, aus Furcht, ich möchte auf irgend einen mir bekannten Studenten stoßen. Ich ging also nun am linken Ufer des Ricks hin und steuerte den ganzen Tag, im schönsten Sonnenwetter nur schlendernd, in den Westen hinein und gelangte so, ich weiß nicht auf welchem Wege, in ein Dorf an der Peene unweit Demmin, wo ich das zweite Nachtlager hielt. Den dritten Tag frühmorgens in und durch Demmin über die Peene, ohne Paß und Kundschaft; ich ward aber von keinem Menschen gefragt. Nun deuchte ich mir weit genug von der Heimat zu sein, um irgendwo in dieser Fremde mich zu verdingen. Ich ging also längs der Peene hin auf mehrere Rittersitze und Pachthöfe, fragend, ob sie nicht irgend einen jungen Schreiber oder Rechnungsführer nötig hätten. Nachdem ich so mehrere Nein entgegengenommen hatte, kam ich nachmittags zu Zemmin an, wo ein alter Hauptmann von Parsenow wohnte. Dieser empfing mich auf meine Frage sehr freundlich, ließ mir sogleich Speise und Trank auftragen und ein nettes Schlafzimmerchen anweisen, unterhielt sich dann des Breiteren mit mir und erklärte, ich gefalle ihm, und er wolle mich gern behalten, wenn mein Vater einwillige. Diesem müsse ich es melden und seine Antwort abwarten. Es lief also ein Brief mit der Post nach Löbnitz, und den fünften Tag kam statt aller Antwort mein Bruder Karl und mein Ohm Moritz Schumacher, der damals bei meinen Eltern lebte, mit einem vierspännigen Wagen und einem Brief meines Vaters, worin er mir freundlich schrieb, ich möge doch nach Hause kommen, er lasse mir die freieste Wahl, ob ich ein Bauer oder ein Studierter werden wolle; wähle ich das erste, so könne ich die Landwirtschaft ja nirgends besser und bequemer lernen als unter seiner Anleitung, Beschäftigung werde er mir schon zu geben wissen.

Ich war dieser Entwicklung sehr froh; denn jene Dunstwolken, die mich aus Stralsund weggescheucht hatten, waren durch die harten Wanderungen und soldatischen Nachtquartiere schon weggesunken. So setzte ich mich denn mit den Meinigen auf den Wagen, und den folgenden Nachmittag waren wir in Löbnitz.

Das war also ein Entweichen, wenn man will, ein Entlaufen von der Schule, wie es schien, ohne Grund. Doch muß es in meinem Wesen und in dem Gedränge von Gefühlen und Sorgen, die meine Brust beklemmten, einen tieferen Grund gehabt haben, den ich selbst jetzt nicht begreifen kann. Denn gerade die Tage vor meiner Flucht war ich mit meinen Freunden und besonders mit meinem lieben Friedrich Reincke vorzüglich fröhlich gewesen. Was meine Eltern davon gedacht haben, weiß ich nicht; sie haben sich wohl mit allerlei Ängsten über mich gequält: denn wie konnten sie mir in mein dunkles Herz sehen, da ich selbst nicht klar hineinschauen konnte? Daß sie aber Schlechtes von mir geglaubt haben, bezweifle ich. Sie kannten mich ja, und der beste Beweis, daß ich nicht wegen Schlechtigkeiten und für Schlechtigkeiten davongegangen, lag wohl in der unberührten, bedeutenden Summe, die ich für meinen Vater einkassiert und ihm zugeschickt hatte. Die Welt aber oder das sogenannte große Publikum hatte auch hierüber seine Fabeln gemacht und von bösen Liebschaften und von noch Schlimmerem umhergeschwatzt, welchem damals gewiß kein Jüngling tapferer aus dem Wege lief als gerade ich. Das kam auf dem zehnten, zwanzigsten Seitenwege, wie es zu geschehen pflegt, endlich auch zu meinen Ohren. Ich verachtete es und habe damals und im Laufe des Lebens noch mehr gelernt, daß nichts törichter und kindischer ist, als um Urteil, Vorurteil und Nachurteil der Menge zu buhlen und aus solcher Rücksicht nur einen Strohhalm breit von seinem gewöhnlichen Wege abzulenken.

Die Eltern ließen mich nun einige Wochen so ruhig bei sich fortleben, als ob nichts geschehen wäre, und ich nur meine Ferien bei ihnen gehalten hätte. Dann sprach der Vater mit mir und meinte, es sei doch wohl das Beste, daß ich, da ich einmal den Weg betreten habe, bei den Studien bleibe; so kamen die Freunde und Brüder allmählich heran; so die Briefe meiner Lehrer. Und die Meinung des Konrektors Furchau fiel dahin aus: wenn ich glaube, meiner Gesundheit wegen auf dem Lande leben zu müssen, so könne ich da ja auch in allerschönster Muße für mich fortstudieren. Dieser letzte Vorschlag leuchtete mir ein, und ich nahm ihn an. Meine Sachen und Bücher wurden aus Stralsund abgeholt. Was ich zur Fortsetzung meiner Studien von Büchern usw. wünschen konnte, versprachen die Lehrer und andere Freunde mir immer zu verschaffen, und sie haben es verschafft. Und ich habe auf diese Weise wirklich in allerschönster Muße und mit nicht mattem Fleiße vom Herbste 1789 bis zu Ostern 1791 anderthalb Jahre zu Löbnitz verlebt. Jedoch wurden neben diesen edleren Übungen die Strapazen und Abhärtungen tapfer fortgesetzt. Soldatische Lager auf harten Brettern oder Reisig, Übernachtungen unter freiem Himmel, wo ich mich, in meinen Mantel gehüllt, unter irgend einem Baum oder hinter einem Heuhaufen hinstreckte, Wanderungen oft meilenweit nach allen Seiten hin, besonders nächtliche Wanderungen, die ich begann, wann die andern schlafen gingen – alles um den in üppiger Jugendkraft schwellenden Leib Tapferkeit und Gehorsam zu lehren. Das erstaunte die Eltern und betrübte sie wohl zuweilen, und ich sah sie über mein Wesen und Treiben oft kopfschütteln; aber da ich das Meinige sonst verständig zu tun schien und mich nicht närrisch gebärdete, so mußten sie mich schon gewähren lassen.

Dieser merkwürdige Abschnitt in meiner kleinen Lebensgeschichte war auch einer in dem ganzen Zeitalter. Die französische Umwälzung begann. Diese machte eben nicht den Abschnitt oder Durchschnitt der Zeit, sondern war auch nur etwas von ihr Gemachtes. Die unbewußte und guten Teils unschuldige sinnliche und auf das Bequeme und Zierliche in Leben und Kunst gerichtete Behaglichkeit, welche von dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis dahin durch ein Vierteljahrhundert geherrscht hatte, war ausgeschöpft und ausgeleert und in Schlaffheit und Empfindelei übergegangen, und nach allen Seiten hin in Sitten und Neigungen, in Kunst und Wissenschaft, in Theologie und Philosophie entstanden mit einem Male entweder neue Richtungen und Strebungen, oder die Geburten des alten Daseins schienen so reif und fertig, daß die Menschen wenigstens neue Richtungen und Strebungen erwarten konnten. Es war zu gleicher Zeit sowohl ein neues politisches als ein neues philosophisches Streben in die Welt getreten und ward mit ungeheurer Geschwindigkeit und Lebendigkeit in den Zitierungen und Erschütterungen, die es mit sich führte, von der Hütte bis zum Palaste mitempfunden und nachempfunden. Und selbst in den engeren Kreisen unsers Hauses und bei der Festigkeit und Beständigkeit, welche meine Eltern in ihrem Wesen schienen gewonnen zu haben, ward diese neue Epoche der europäischen Entwicklung zwar nicht mit Plötzlichkeit aber doch in Absätzen von je fünf zu fünf Jahren merklich verspürt.

Mein Vater hatte die Pachtung von Löbnitz nebst seinen Zubehören auf achtzehn Jahre übernommen und hat diese achtzehn Jahre bis zum Sommer 1805 dort in Friedlichkeit durchgewohnt. Das Haus blieb das alte in rügenscher Freundlichkeit und Gastlichkeit, nur daß bei größerer Wohlhabenheit der Kreis der besuchenden Freunde und Nachbarn sich erweiterte, und bei dem jugendlichen Aufschuß der Kinder auch die Schar der Gesellen und Gesellinnen sich mehrte. Es war Raum im Hause, und die Mutter konnte allenfalls zwanzig Betten aufmachen. Da gab es Vergnüglichkeit und Wirtlichkeit. Und gern ergingen die Freunde sich bei uns; denn der Vater verstand auf eine seltene Weise Anständigkeit mit Freiheit zu vereinigen und dabei seine vielen Arbeiten und Geschäfte so zu ordnen, daß darin nichts aus dem ordentlichen Geleise kam. Er war im Sommer immer mit der Sonne, im Winter um fünf, sechs Uhr auf, brachte in den ersten Stunden seine Hauptbücher in Ordnung und besorgte dann die dringenden Geschäfte bis zum Frühstück, darauf in noch einigen Stunden mit den Söhnen und Großknechten die laufende Wirtschaft, und dann hatte er immer noch ein paar Stunden für den geistigen Menschen übrig. Es war ein stiller, frommer Natursinn in diesem guten Menschen, und er konnte bei rollendem Gewitter oder im Morgen- und Abendrot mit gefalteten Händen stundenlang auf seinem Olymp sitzen und schweigend und anbetend in die Unendlichkeit hineinschauen. Auch die liebe Mutter blieb unverrücklich in ihrer klaren und sichern Natürlichkeit, wie sehr auch der Welt der alte Boden, worauf sie bisher geruht hatte, durch gefährliche Unterminierung zu entsinken begann.

Da in diesem Hause nun nicht bloß die alten Freunde und Gefreundten und die Nachbarn aus und ein gingen, sondern nun auch die studierenden Genossen und die umwohnenden Geistlichen, der gute Pastor Dankwardt zu Bodenstede mit eingerechnet, und in den Ferien oft auch unsre werten sundischen Lehrer als Gäste hinzukamen, und die Söhne nun auch allmählich anfingen, ihre Geelschnäbel in Gesprächen und Streiten zu wetzen, so fehlte es auch an edlerer Lebendigkeit nicht; und auch die politische Teilnahme an den Weltbegebenheiten wuchs von Jahr zu Jahr, ohne daß sie hierlandes noch einen heftigen Charakter angenommen hätte. Auch ich war mit darin, noch zwar nicht tief eingebrannt, obgleich ich schon seit manchen Jahren nicht bloß ein eifriger Vorleser sondern auch ein emsiger Selbstleser der Zeitungen gewesen war.

Nachdem ich hier in Löbnitz im väterlichen Hause wieder anderthalb Jahre recht wohl verlebt hatte, bezog ich die Universität Greifswald, um Theologie zu studieren, ein Studium, zu welchem der Sohn eines Landpfarrers und Landmanns, wenn er nicht unfromm ist, auf die allernatürlichste Weise hingezogen wird. Ich lebte in Greifswald zwei Jahre. In der Theologie hat mir der Dr. Schlegel genutzt, damals Generalsuperintendent des Landes, ein gelehrter, nur im Vortrage etwas zu sehr springender Mann; in Naturwissenschaften der Schwede Brismann, ein heller, lebendiger Kopf; in der Philosophie Muhrbeck, auch ein Schwede, ein scharfer Denker und eifriger Wolfianer, von einem trefflichen Vortrage und tüchtiger Gelehrsamkeit: dieser alte Schwede war von unendlicher Lebhaftigkeit und Heftigkeit; noch klingt mir's in den Ohren, wie er, wenn er meinte, Kant in den Temperamenten aller vier Winde zusammengehauen zu haben, im Feuer seines philosophischen Zorns im gebrochenen Schwedisch-Deutschen ausrief: »Und nun? Was will du nu, Kant, Vir juvenis?« Geschichte, Erdkunde und die Sprachen, für welche hier eben keine vorzüglichen Vorleser waren, trieb ich fleißig für mich.

Im Frühling des Jahres 1793 bin ich von Greifswald nach Jena gegangen und habe dort bis zum Herbst 1794 gelebt. Griesbach, Schütz, Reinhold, Fichte, Ulrich muß ich unter meinen Lehrern hervorheben, auch Paulus, welcher damals jung und frisch noch nicht lange gelehrt hatte. Schütz, damals ganz von der Allgemeinen Literaturzeitung beschlagen, betrieb seine Vorlesungen leider wie ein Nebengeschäft. Aus der Philosophie, welche alles begeisterte und auch unter meinen Genossen manchen trocknen Kopf verrückt machte, habe ich wenig Scharfes und Spitzes ziehen und gewinnen können, doch hat mich Fichtes tapfre Persönlichkeit begeistert; Ulrich war lebendig, witzig und geistreich und las Geschichte der Philosophie und Literargeschichte mit mehr Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit als Reinhold und Schütz. Für Geschichte war hier außer Griesbach nichts: der alte Heinrich war trocken und einförmig wie die Wüste Sela, und der eben auftretende Woltmann bedeckte seine vornehme Oberflächlichkeit mit schön klingenden Worten; er schillerte damals durchweg ohne Schillers edle Seele.

So kurz zeichne ich meine Studentenjahre an, weil sich darin für meine Entwicklung scheinbar nichts Merkwürdiges begeben hat. Ich wandelte auf dem alten Wege fort, ward aber allmählich freier und leichter. Gottlob! nicht leichtfertig. Am meisten half mir dafür wohl das gute Beispiel aus dem Vaterhause, viel gewiß auch das Urteil und Vorurteil, welches mich ganz beherrschte, daß ein Theologus keusch und unbefleckt sein müsse. Am meisten halfen doch wohl Gott und Glück, welches auch Gottes ist; aber gewiß tun auch jene angeführten Items ihr Großes. Ich will hiermit nicht andeuten, als habe ich gleichsam ein strenges Klausnerleben geführt. Nein, keineswegs. Ich habe mit der andern Jugend studentisch und deutsch gejubelt und mitgelebt, auch manche fröhliche Nacht mit dreingesetzt, was ich mehr als andere durfte, ohne in meinen Fleiß zu große Risse zu machen: ich bedurfte wenig Schlaf. Dann aber wallte mein Leben wieder stiller auf einsamen Pfaden dahin. Überhaupt, damit ich für meine Jünglingsjahre mich nicht zu rühmen scheine, bemerke ich nach meiner Erfahrung hier einmal für allemal, daß die Jugend in einer eigenen, unschuldigen und phantastischen Idealität gegen Verderben und Liederlichkeit schon Waffen hat, welche für spätere Jahre auf einem ganz andern Amboß ausgeschmiedet werden müssen.

Mein lieber Bruder Fritz war in Jena auch ein Jahr mit mir zusammen. Ich hatte aber damals gar wenig von ihm; unsre Wege liefen zu weit auseinander. Wenn ich mich auch zuweilen in den wilden, jugendlichen Strudel stürzte, so brauste er doch oft ordentlich mit ihm fort, und schlürfte sein kaiserliches Studententum mit aller Lust und Überlust in vollsten Zügen aus. Ich sage oft; denn weit mehr als ich konnte dieser wundersame und reichbegabte Mensch auch wieder die Einsamkeit ertragen und oft vier Wochen in einem verborgenen Dorfstübchen versitzen, wohin er sich seine Bücher schleppte und im Genuß der Alten und auch der Kantischen und Fichtischen Philosophie schwelgte. Er war ein trefflicher Lateiner, überhaupt bei einem königlichen Gedächtnisse, das ihm alles Nötige immer sogleich aus dem Stegreif darreichte, ein gewandtester und klarster Sprecher und erschien deswegen gern bei allerlei öffentlichen Disputationen, wo die Leute erstaunten, daß dieser, den sie selten in den Hörsälen sahen, und der nur durch seinen Degen berühmt war, in omni scibili sich so gewandt und fertig zeigte.

Meine Universitätsreisen machte ich nach meiner Weise zu Fuß, wie auch andere Ein- und Ausflüge durch das liebe Vaterland, und zwar nicht bloß, um den starken Mann zu zeigen oder zu machen, sondern auch, um Land und Menschen kennen zu lernen; was von Tage zu Tage mehr ein leidenschaftlicher, ich möchte fast sagen, naturhistorischer Trieb in mir ward. Bei meiner Heimkehr von Jena wanderte ich über Leipzig, Dessau, Quedlinburg, durch den Harz und Braunschweig bis Celle und fuhr dann durch die Lüneburger Heide mit der Post nach Hamburg, wo ich einige Wochen blieb und Schrödern in mehreren Rollen und auch als König Lear bewunderte. Wandsbeck besuchte ich, sah Asmus' Haus und nicht ihn. Auch hatte ich eine Furcht, auf berühmte Männer einzudringen; ich habe da, wo die meisten zuviel tun, zuwenig getan. Auch Goethen hatte ich nur noch von fern gesehen. Gegen Ende des Oktobers dieses Jahres 1794 war ich in Löbnitz.

Hier saß ich nun wieder zwei behagliche Jahre, indem ich meine beiden jüngsten Geschwister unterrichtete und für mich studierte, ich sollte lieber sagen repetierte. Ich hatte in den letzten sechs Jahren seit meiner Flucht vom sundischen Gymnasium, wo ich mein freier Herr geworden war, mit recht lüsternem Heißhunger, wie aller lebendigen Jugend wohl begegnet, mancherlei genascht, mitunter auch wohl manche rohe und wüste oder meinem Magen wenigstens unverdauliche Speise hinuntergeschluckt. Dies fing nun an gleich im Meer versunkenen Inseln sich zur Oberfläche des Lichts zu erheben und einiges auch sich zu gestalten. Ich war lange ein Dämmerer gewesen, und ein Träumer sollte ich in vielen Dingen wohl immer bleiben. An Reibung und Reizung fehlte es mir selbst im ländlichen Hause meines Vaters nicht; und so flossen diese zwei Jahre meist fröhlich dahin.

Im Herbst 1796 lud mich der alte Hausfreund Kosegarten zu sich, der mehrere Jahre als Rector scholae in Wolgast gelehrt und dann die beste Pfarre im Lande, die zu Altenkirchen auf Wittow, erlangt hatte. Ich sollte seine Kinder unterrichten, die aber in der Tat für den Unterricht noch zu jung waren. Ich ging gern zu ihm, weil er eine ausgewählte Bibliothek hatte. Ich war nun Kandidat der Theologie, auf eine unbeschreiblich leichte Weise von dem alten Schlegel tentiert und zum Predigen berechtigt; und ich predigte auch zuweilen, und zwar mit Schall und Beifall. Ich kann nicht sagen, daß ich mir selbst so vielen Beifall gab, wiewohl ich merkte, daß ich Leichtigkeit und Flüssigkeit genug hatte. Ich hatte wenigstens einige vortreffliche Prediger gekannt und mir selbst ein Muster gestellt, das nicht leicht war. Ja gerade hier auf Wittow, wo die Leute anfingen etwas von mir zu meinen, kam ich ganz von dem Entschlusse ab, ein Geistlicher zu werden. Warum? Ich bildete mir ein, weil ich nach und nach erfuhr, daß die meisten Stellen in Pommern und Rügen, welche Königlichen Patronats waren, oft fast wie durch Kauf und Verkauf, gelindest doch durch nicht immer löbliche Verbindungen in Stockholm gewonnen wurden; es war aber wohl, weil die Welt mich nach einer andern Seite hinzog, weil ich den rechten Beruf nicht hatte, weil ich auch, wenngleich mir damals noch unbewußt, von der allgemeinen theologischen Lauigkeit der Zeit ergriffen war. So ist es also in der Ordnung gewesen, daß ich mich von den fetten rügenschen Pfründen nicht habe locken lassen sondern den schwarzen Rock nicht angezogen habe. Denn locken konnten rügensche Pfarrstellen wohl den pfaffischen und weltlichen Sinn, deren mehrere bei den damaligen Kornpreisen 2000 und 3000 Taler schwer Geld eintrugen, deren Inhaber Gerichtsherren ihrer Kirchdörfer waren, mit vier schwarzen Rappen vom Bock fuhren und sich Kirchherren schrieben. Nein, nicht alle – auch mein Kosegarten nicht, den kein Hochmutsteufel plagte, – sondern nur einer, der auch andere schnurrige Eitelkeiten zur Schau trug. Ich traf diesen Herrn einmal in einer Gesellschaft von Edelleuten und fragte ihn, warum er sich bei einer öffentlichen Ankündigung Kirchherr unterschrieben habe, mit einem in Rügen ganz ungewöhnlichen Worte. Er entgegnete mir keck, das sei sein gebührlicher Titel und schicke sich in der Insel für einen Gerichtsherrn recht gut, um so mehr, da in Schweden selbst alle gemeine Pfarrer ihn gebrauchen. »Ei!« entgegnete ich ihm da etwas boshaft, »Herr Pastor, Sie haben das Wort nur unrichtig übersetzt: das schwedische Wort Kyrkoherde ist ebenso weit vom Kirchherrn, als der umwandelnde Apostel Paulus vom Papst zu Rom: es heißt nicht Herr der Kirche, sondern Hirt der Kirche; ich denke, Sie bleiben beim Wort Pastor

Doch diese Anekdote beiseite hatte meine liebe Insel gerade damals und zum Teil in den besten und ersten Pfründen mehrere durch Kenntnisse, Sitten und Charakter sehr ausgezeichnete Männer, von welchen ich nur den trefflichen Stenzler in Gartz, der leider früh heimgegangen war, die Pröpste Pistorius zu Poseritz, Picht zu Gingst, Schwarz zu Wyk auf Wittow, die Superintendenten Pritzbur zu Gartz und Droysen in Bergen und meinen Dr. Kosegarten in Altenkirchen hier nenne. An solchen hätte sich ein junger Mann wohl aufbauen und für die würdige Führung des heiligen Amts bereiten und stärken können.

Ich wollte denn der Geistlichkeit Ade sagen und mich in die volle Weltlichkeit hineinstürzen. Ich war jetzt achtundzwanzig Jahre alt, und eine große Sehnsucht lockte mich, die Welt zu sehen. Mein Vater reichte mir die Mittel, ich verstand mich zu behelfen; und so ging es ganz leidlich, wenn auch nicht freiherrlich, doch zuweilen herrlich. So bin ich denn anderthalb Jahre in mancherlei Abenteuern, die nicht hierher gehören, zu Fuß, zu Wagen, zu Schiff herumgepilgert vom Frühlinge 1798 bis in den Herbst 1799, habe ein Vierteljahr in Wien gelebt und mir das Ungerland betrachtet; dann über die Alpen nach Italien. Dort hat mich in Toskana der wieder ausbrechende Krieg überrascht und mich geschwinder weggetrieben, als ich gedacht hatte; ich habe Rom, Neapel und Sizilien nicht zu sehen bekommen. Als die Kriegsflamme aufzulodern begann, war ich in Nizza, dann in Marseille, den ganzen Sommer in Paris; den Herbst bin ich über Brüssel, Köln, Frankfurt, Leipzig, Berlin langsam heimgezogen Vgl. E. M. Arndts Reisen durch einen Teil Deutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799 (4 Bde., Leipzig 1804). (D H.). Auch diesen Ausflug, wie sovieles in meinem Leben, was ich leider beklagen muß, habe ich mehr aus Instinkt als für einen bewußten Zweck getan. Ohne bestimmte Richtung und Ziel, ohne Vorbereitungen und Vorarbeiten für die Straßen, die ich durchlaufen wollte, bin ich fast zu leicht durch die Welt fortgeschlendert. Ich habe diese Reise fast wie Bruder Sorgenlos gemacht, fast als wäre ich ein hochgeborner Reichsfreiherr gewesen, die straffe Börse und die blanken Wechsel desselben abgerechnet. Indessen ich bin später gewahr geworden, daß in mir ein dunkles Ziel lag, das ich damals nicht gewahrte. Ich habe die Dinge, Menschen und Völker dieser Welt doch sehen und erkennen gelernt. Ich glaube aber nun, da mir die Augen über dem, was ich alles ersehen habe, oft übergehen wollen, es wäre ein Unglück, wenn ein Mensch sehen könnte, wann und wodurch ihm auf seinem Pilgerlaufe das Gesicht wächst.

Ich war wieder in der Heimat. Die Frage war: Was nun? Diese ward zunächst durch die Liebe entschieden. Eine alte Liebe, zuweilen mit dünnen weißen Aschen bedeckt, hatte fünf Jahre im stillen gebrannt; sie schlug ans Licht auf. Durch sie bin ich nach Greifswald gekommen und Universitätsmann geworden. Diese kleine, unberühmte Universität Greifswald war eine der ältesten, deutschen Lehranstalten und besaß so bedeutende Güter und Stiftungen, daß sie wenigstens etwas besser und berühmter hätte sein können, als sie war. Aber ihre Leitung und Verwaltung ruhten auf keinen ernsten und sicheren Grundsätzen, sondern liefen ganz zufällig, wie die obersten Leiter eben wollten. Denn sie war außer andern Übeln, die sie drückten, erstlich in eine Versorgungsanstalt für die Schweden ausgeartet. Manche gute schwedische Köpfe, die in Lund und Upsala oder als Dichter und Redner auf Reichstagen nachher berühmt geworden, haben in Greifswald ihre Studien gemacht und ihre akademischen Anfänge als außerordentliche oder ordentliche Professoren. Zweitens war sie eine Versorgungsanstalt für die Söhne und Töchter der Professoren und mancher angesehenen Familien der Stadt. Ich heiratete die natürliche Tochter des Professors der Naturgeschichte Dr. Quistorp, Charlotte Marie und ward Privatdozent und das folgende Jahr, nicht ohne den Einfluß dieser Familie, Adjunkt der philosophischen Fakultät mit etwa 300 Talern Gehalt, im Jahre 1805 außerordentlicher Professor Arndt wurde erst am 11. April 1806 zum Professor ernannt (Höfer, E. M. Arndt und die Universität Greifswald, S. 57 f.). (D. H.) mit einer Verbesserung von etwa 200 Talern. Meine Frau schenkte mir im Sommer 1801 einen schönen Sohn, der ihr das Leben kostete.

An dieser kleinen Universität war ich zehn Jahre befestigt, von welchen ich ungefähr die Hälfte auf Reisen und in Schweden zugebracht, die zweite Hälfte gelehrt habe. Als ich antrat, waren einige sehr würdige Alte da und etwa ein halbes Dutzend Jüngere, die meistens erst zugleich mit mir begannen, und von welchen einige berühmt geworden sind: Parow, Rudolphi, Rühs, Schildener, Muhrbeck. Dies brachte durch das junge Blut etwas Belebung und Erregung in den Greifswalder Schlaf. Es hat sein Mißliches mit solchen Mühlen der Gelehrsamkeit, welchen das Wasser, d. h. die Studenten, zu sehr fehlt; es tritt leicht Vertrocknung und Erstarrung oder Verfaulung ein. Es hat sein Gutes mit ihnen, daß der Wetteifer die jungen Kräfte beim Anspannen und Ziehen nicht übertreibt und zur Notreife austrocknet und auf solche Weise Talente, die später wirksam werden können, zersplittert und aufreibt. Manche von uns, obgleich wir nach Art des Landes leicht mit dem Tage fortlebten, waren doch strebsam und fleißig und lernten beim Lehren, welches die herrliche Notschule ist, daß sie die Gewissenhaften nötigt, ein Chaos von Gesammeltem und Aufgespeichertem, was in ihrem Gehirn noch in völliger Unordnung über- und untereinander liegt, in Ordnung und Klarheit zu stellen. Ich begann als Lehrer mit allerlei, welchem ich kaum halb gewachsen war, blieb endlich bei geschichtlichen Vorlesungen stehen, hatte oft zahlreiche Zuhörer und war gesund und fleißig. Noch gedenke ich jener Tage neben manchen traurigen Erinnerungen mit Lust.

Außer den ebengenannten jungen Männern lebte ich mit andern würdigen Altersgenossen und erprobten Freunden, deren Namen ich mit Dankbarkeit hieher sehe: Dr. Billroth, Dr. Gesterding (jetzt beide Bürgermeister der Stadt), Dr. Ernst von Gagern und Wilhelm Ledebur, auch ein ehemaliger Sundenser, den wir leider frühe begruben. Unter den älteren waren die würdigen Männer, Archiater Professor Weigel, Professor Muhrbeck der Alte, Generalsuperintendent Schlegel, Professor Dr. Ziemßen, Professor von Hagemeister, später Oberappellations- und Geh. Revisionsrat, und Oberappellationsrat Sonnenschmidt meine Gönner und Beschützer.

Doch ward von hier außer zu dem allerbesten elterlichen Hause oft auch in die Insel Rügen gepilgert zu meinem Patriarchen in Posewald, zum General von Dyke auf Losentitz und zum Superintendenten Pritzbur in Gartz, auch zwei Patriarchen anderer Stufen als der wackre, alte Hinrich Arndt. Ich fühlte oft die Sehnsucht, diese herrlichen Menschen zu suchen, die ich in fünf, sechs Stunden von Greifswald erreichen konnte. Was ich da empfangen habe, das läßt sich auf kein Papier bringen. Es waren herrliche Abdrücke von Gottes Ebenbilde, drei Patriarchen, aus denen sich Kraft saugen ließ, wenn die luftigen Geister der Spekulation, die oft in dünner und unerquicklicher Gespenstigkeit wie Herbstwinde durch die dürren Stoppeln durch die öden Bücherblätter hinpfeifen, einen in die kalte und leere Nebelwelt forttragen wollten.

Hier ward ich auch bald ein politisch schreibender und handeln müssender Mensch. Mein Freund Steffens hat ein Buch geschrieben des Titels: Wie ich wieder Lutheraner ward. Ich will hier wenigstens kurz andeuten, wie die einzelnen Keime nach und nach sich zu einem großen politischen Kraut oder Unkraut entwickelt und erhoben haben. Ich beschreibe hierin zugleich das ähnliche Keimen, Wachsen und Erstehen der Gefühle und Ansichten von Millionen deutscher Menschen.

Mit Recht betrachtet man den Anfang der französischen Umwälzung als den Punkt des Übergangs der sinnlich sentimentalen und ästhetischen Epoche zu der überschwenglich philosophischen und politischen und als den Beginn des Erlöschens oder doch Untertauchens aller andern Gefühle und Ansichten. Aber in einem gewissen Sinn hatten sich bei mir doch schon viel früher, schon im Knabenalter, manche eigentümliche und einseitige Ansichten festgesetzt, welche noch jetzt bei meinem schneeweißen Kopf oft besserer Warnung und Einsicht nicht weichen wollen. Ich hatte als kleiner Junge als Zeitungsvorleser und Chronikenleser zwischen meinem neunten und zwölften Jahre schon gewisse politische Verhärtungen und Versteifungen. Ich brauche diese Worte absichtlich, weil ich die Sache als Fehler in mir erkannt habe. Ich bin von jeher vielleicht ein übertriebener Königischer (Royalist) gewesen. Ich glaube, ich bin es geworden, wie die meisten Menschen ganz unbewußt etwas werden durch die ersten Gewöhnungen des frühen Alters. Mein Vater war wenig ein politischer Mann, er ließ selbst in späteren Jahren, wo die politischen Stürme auch zu unsrer Heimat immer näher und dräuender heranbrausten, zwischen 1800 und 1806, die Begebenheiten und die Urteile und Streite über die Begebenheiten meistens unbekümmert und lächelnd an sich vorübergleiten. Nur bei dem Namen Gustavs III. von Schweden geriet er in Glut. Diesen und die Schönheit und die glänzenden Auftritte desselben hatte er in den ersten glücklichsten Jahren jenes Königs in Stockholm mit jugendlichen Augen gesehen. Auch hatte er höchstens für ein paar andere schwedische Namen noch einige Liebschaft. Alles andre blieb ihm fremd. Aber es waren zwei andre meiner Gefreundten, welche Feuer in mir anschüren konnten, der alte Hinrich zu Posewald und mein anderer Ohm und Pate Moritz Schumacher. Hinrich war ganz Schwede – war sein Großvater vielleicht in ihm wieder aufgelebt? – und riß mich mit seiner Heftigkeit unwiderstehlich in die Schwedenliebe und Schwedenverehrung hinein; er lebte auch, soviel sein niederer Lebensstandpunkt es erlaubte, in ihren Geschichten und in allen Geschichten und Anschauungen des gewaltigen norddeutschen und skandinavischen Luthertums. Darin konnte der herrliche Wasa, Gustav Adolf, wohl für Millionen Könige gelten. Wie sollte ich denn die Könige nicht angebetet und über alle Republiken, griechische, römische, platonische und fichtische, gestellt haben? Moritz Schumacher auf der andern Seite war ein heftiger Preuße ganz gegen die Neigungen meiner meisten Landsleute, welche, an eine gewisse gutmütige Lockerheit und sorglose Ungebundenheit mit großer einzelner Freiheit des schwedischen Wesens gewöhnt, jenseits der Peene etwas Korporalischfreudenloses und Fiskalischhartes zu sehen glaubten. Moritz Schumacher war durch seine Art und Neigung ganz natürlich zu dieser preußischen Begeisterung gekommen. Er war ein feiner, hübscher, schlanker Mensch, mit einer trefflichen Gesangstimme und andern Talenten und liebte das Eitle und Blanke. Mein Vater war ein bäuerlicher und, obgleich nicht ungebildet, ein ganz bürgerlicher Mann und drängte sich nimmer zu Vornehmen und Adligen hinauf. Ganz anders aber mein Herr Ohm Moritz. Rügen wimmelte damals weit mehr als jetzt von kleinen Edelleuten, welche als Hauptleute oder Majore in ihrer Jugend im preußischen Heere gedient hatten. Diese suchte er, wie er nur konnte, auf und erzählte jedes Wort des gnädigen Herrn Hauptmanns und Rittmeisters, jeden Einfall, den die gnädige Frau ihm gegenüber hatte fallen lassen, als eine Gnade; ja, der Apfel und die Birne, welche die Frau Majorin oder das gnädige Fräulein ihm beim Abschiede in die Tasche gesteckt hatte, bekam dadurch einen Geruch und Geschmack, als hätte er sie im Paradiesesgarten gepflückt. Auch trug er sich ganz, legte Schabracke und Sattel, schnallte Stiefeln und Sporen, drückte den Hut über Zopf und Locken wie ein alter preußischer Rittmeister. Von dieser seiner Gesellschaft holte er sich die preußische Farbe. Wie sollten diese Männer den Namen und die Taten des großen Friedrich nicht vergöttert haben? Diese ritterliche Vergötterung trug er mit in unser Haus und blies also auch von dieser Seite etwas Königisches in mein Herz. Auch dieses große Königsbild ward so vor meine Kindheit gestellt und neigte meinen politischen Glauben der Monarchie zu. Ich bin später der Nichtachtung des großen Helden beschuldigt worden; ich glaube es nicht verdient zu haben Nicht leugnen kann ich, daß, als jene meine angefochtenen Urteile über den großen König in die Welt ausgingen, wir alle noch mehr oder minder das alte Deutsche Reich im Herzen hatten und von den verblaßten Bildern und unbestimmten Gefühlen seiner weiland Herrlichkeit umdämmert und belastet einhergingen. Wie oft wollten wir immer den Gedanken noch nicht einlassen, daß es in seiner früheren Gestalt seit Jahrhunderten zu einer bleichen und welken Mumie verschrumpft war und in starrer unbehilflicher Ohnmacht, die ihren Leichenbestatter zu erwarten schien, dalag! Kaum seit einem Menschenalter können wir begreifen, was ein König von Friedrichs Art für die Stärke und den Ruhm des ganzen Deutschlands in seinen Tagen bedeutet hat und in künftigen Tagen noch mehr bedeuten wird als heute.. Ganz gemäß solchen ersten Jugendlehren und Jugendeindrücken geschah es denn auch, daß ich kleiner Zeitungsleser bei Debatten immer für England gegen Amerika stritt, da doch die meisten Alten amerikanische Parteigänger waren.

Und die Franzosen und ich? Auch da war mein politischer Glaube wohl in erster Jugend entstanden. Ich habe oben mehrmals erwähnt, wie ich in den Jahren, wo wegen der kleinen Umstände der Eltern mir aller regelmäßig fortlaufende Unterricht versagt war, doch mit reichlicher Lesung alter Geschichtbücher und Chroniken gefüttert ward. Unter diesen waren auch die deutschen und ins Deutsche übersetzten Bücher Pufendorfs und anderer, welche den Dreißigjährigen Krieg und die herrschsüchtigen Hinterlisten und mordbrennerischen Taten Ludwigs XIV. beschrieben haben. Dies hatte mir Abneigung, ja oft Abscheu gegen das ganze mitspielende Volk eingeflößt. Daher freute ich mich zur Zeit jenes Zeitungsvorlesens über jede ihrer Niederlagen und war im Haß gegen sie auch ganz Engländer.

Nun brach in meinem blühenden Jünglingsalter die große französische Umwälzung und mit ihr die große Umwälzung und Umrollung der Herzen von halb Europa los. Diese ward allenthalben und auch bei uns im Hause für und wider heftig bestritten, hatte aber auch da mehr Freunde als Feinde; und ich mußte mich trotz meiner Abneigung gegen das Volk doch oft zu den ersten gesellen, weil die Verschuldungen der Regierungen vor Ludwig XVI. entsetzlich gewesen, weil manche von den Führern aufgestellte Lehren und Grundsätze unleugbar gerecht und heilig waren, wie sehr sie später auch entheiligt und befleckt worden sind. Doch jammerte mich jeder französische Sieg über die Deutschen und über die andern gegen sie Verbündeten, ohne daß ich Deutschland schon nach voller deutscher Pflicht gefühlt hätte. Ich saß noch weit vom Schauplatz und Getümmel am Baltischen Meere und hatte noch mehr ein schwedisches als deutsches Herz. Ich war wohl heftig und ungestüm, auch gewiß keine knechtische und dienerliche Seele, aber nicht geboren, mich mit einer Schwärmerei, welche selbst den Greis Klopstock hat Lieder und Gegenlieder singen lassen, in ein Chaos verworrener und nebelvoller Ansichten und Leidenschaften hinabzustürzen. Vielleicht bin ich dazu zu sehr als Philister geboren, der gern sogleich von allem klaren Bescheid haben möchte, mag auch zuviel von jener bleiernen Schwere in mir tragen, welche in dem charakteristischen Fluche des Volkes Schwere Not die ursprüngliche Weltansicht desselben ausdrückt, wie der Schwede mit den Teufeln und die romanischen Südländer bei erregteren Gefühlen mit jenem Dinge, welches die größte sinnliche Lust anspielt, um sich werfen müssen. Diese philistrige Natur, welche das Edelste und Höchste in seiner allgemeinsten poetischen Reinheit anzuerkennen sich sträubt, mag sich schon in den Horazischen Versen, welche ich in die Stammbücher meiner Kommilitonen zu malen pflegte, offenbaren, als da sind: Nil admirari und Perfer et obdura, daß ich mich also früh schon gegen die erhabensten Täuschungen sträubte.

Ich hatte endlich das Volk selbst gesehen, und sein Liebenswürdiges und Leichtes wie sein Trügerisches und Lügenhaftes war mir kein Geheimnis geblieben. Ich war durch Belgien und längs dem Rhein langsam ins Vaterland zurückgezogen, hatte mich in Brüssel, Aachen, Köln, Koblenz und Mainz aufgehalten und allenthalben die von jenem übermütigen Volke zertretenen und geschändeten Trümmer der alten deutschen Herrlichkeit gesehen. Ich hatte Unmut und Ärger genug, aber wahrlich noch keinen rechten Zorn empfunden. In Frankfurt und bei Höchst war ich mitten unter Gefechte geraten. Der französische General Baraguai d'Hilliers hatte mich mehrere Tage in Frankfurt eingesperrt; am Main waren die Plänkler an beiden Ufern hin und her gesprengt; der Spessarter Landsturm Albinis hatte mich umbraust. Das war meinen Augen und Ohren noch nicht viel mehr als ein Schauspiel gewesen, obgleich ich mich allerdings von Herzen gefreut haben würde, wenn durch einen Engel Gottes, wie weiland den Scharen Sanheribs geschehen, die Franzosen um Frankfurts Mauern in einer Nacht alle als Leichen gelegen hätten. Aber nicht lange, so erwachte der Zorn, ach! der freilich kein Glück bedeutende Zorn, der mir aber doch über manchen schweren Tag hingeholfen, mich an manchem schwersten Tag sogar beglückt hat. Denn glückselig ist der Mensch nur in dem Maße, als er am gewaltigsten empfindet, wenn nämlich das Empfinden der Art ist, daß ihm das Denken darüber nicht ausgeht; denn sonst wird es ein zermalmender Mühlstein.

Napoleon war einige Tage nach meiner Abreise von Paris aus Ägypten zurückgekommen. Ich sah die herrische Gestalt der Zeit sich schwingen und fortschwingen, folgte seinen Listen, seinen Schlachten, seinen Weltklängen und Faustgriffen. Begriff ich ihn schon klar? Ich weiß nicht; aber nach der Schlacht von Marengo wandelte mich ein Grauen an vor dieser Gestalt, vor dieser von so vielen und von so hohen Menschen vergötterten Gestalt: es schien ein unbewußtes Grauen vor dem Jammer der nächsten zehn Jahre zu sein. Der Zorn aber, ein Zorn, der bei der deutschen und europäischen Schmach oft ein Grimm ward, kam mit dem Frieden von Luneville und mit den schimpflichen Verhandlungen und Vermäkelungen, worin Talleyrand und Maret des Vaterlandes Los und Lose ausschnitten und ausfeilschten. Die Jahre 1805 und 1806 rissen endlich die beiden letzten Stützen nieder, woran sich ein bißchen Deutsches geschienen hatte halten und erhalten zu können. Jetzt war das Letzte geschehen, alles einzelne Deutsche, das Kleinste wie das Größte, das Ruhmvollste wie das Dunkelste, lag nun in einem großen, gemeinsamen Jammer über- und untereinander hingeworfen, und der übermütige, welsche Hahn krähte sein Viktoria! über den Trümmern der geschändeten Herrlichkeit. Da war der Tag gekommen, wo alle einzelne Gefühle und Urteile und Vorurteile und Lieben und Vorlieben in dem großen Schutt mit zusammensanken. Was Kaiser und Könige verloren und ausgegeben hatten, davon mußten sich endlich auch die Kleinen lösen! Als Österreich und Preußen nach vergeblichen Kämpfen gefallen waren, da erst fing mein Herz an, sie und Deutschland mit rechter Liebe zu lieben und die Welschen mit rechtem, treuem Zorn zu hassen. Es war nicht allein Napoleon, nicht der listige, geschlossene, höhnische, in dem Lande, wo Honig Gift ist, geborne Korse, auf welchen die Lügenhaften später als auf ihren großen Sündenbock allen Zorn Europas hinzuhetzen gesucht haben, den ich zornig haßte, den ich am meisten haßte – sie waren es, die Franzosen, die Trügerischen, Übermütigen, Habsüchtigen, die hinterlistigen und treulosen Reichsfeinde seit Jahrhunderten – sie haßte ich im ganzen Zorn, mein Vaterland erkannte und liebte ich nun im ganzen Zorn und in ganzer Liebe. Auch der schwedische Partikularismus war nun auf einmal tot, die schwedischen Helden waren in meinem Herzen nun auch nur andre Töne der Vergangenheit; als Deutschland durch seine Zwietracht nichts mehr war, umfaßte mein Herz seine Einheit und Einigkeit.

Fast zu gleicher Zeit erließ ich zwei kleine politische Schriften. Die erste unter dem Titel Germanien und Europa war nichts als eine etwas wilde und bruchstückige Aussprudelung meiner Ansicht der Weltlage von 1802; die zweite, Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen, behandelte ein heimatliches Übel. Sein Inhalt war ungefähr folgender:

Die Inseln und Küstenländer dieser Ostsee sind nach geschichtlicher Wahrscheinlichkeit ursprünglich nicht von Slawen und Wenden bewohnt worden.

Bei den Stößen, welche die Zerstörung des großen Gotenreichs durch die Hunnen in der letzten Hälfte des vierten Jahrhunderts und die fortwährende Drängung der Hunnen gegen Westen veranlaßt haben, ist die ungeheure Bewegung entstanden, welche Völkerwanderung genannt wird. In jenen Tagen, wo auf die Begebenheiten, die an der Weichsel und Oder vorgefallen sein können, auch kaum ein Schimmer von Licht fällt, sind die Slawen und Wenden auch wohl von Osten nach Westen weiter vorgeschoben und haben die verlassenen oder entvölkerten Landschaften Ostgermaniens besetzt.

Als die Deutschen, die nach dem großen Karl versunken waren, unter den Sachsenkaisern im zehnten Jahrhundert sich wieder erhoben, begannen sie ihre Herrschaft auch gegen Nordosten auszubreiten, und der Krieg gegen die slawischen Völkerschaften begann, ward unter ihnen und ihren Nachfolgern bis ans Ende des zwölften Jahrhunderts fortgeführt und endigte trotz der mutigsten und hartnäckigsten Gegenwehr der Slawen mit ihrer Ausrottung oder Unterjochung.

Die deutsche Herrschaft rückte vor, deutsche Städte und Festungen wurden gebaut, welche die wendischen Bewohner meistens ausschlossen, deutsche Einwanderungen und Ansiedelungen begünstigt und in den verwüsteten Landen unter und über den Wenden gegründet. Was früher germanisch gewesen, ward nach und nach wieder germanisiert.

Wir finden in Pommern und Rügen, als der neue Zustand geschichtlich ans Licht zu treten beginnt, fast allenthalben mehr oder weniger strenge Leibeigenschaft oder Hörigkeit aber durchaus nicht in so eigenmächtig willkürlichem Maße als im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert.

Aus den Gesetzen des sechzehnten Jahrhunderts sehen wir, daß Dienste und Leistungen fast allenthalben bestimmt, daß sie nicht ungemessen waren; daß auch die Edelleute keine Bauerhöfe oder Bauerdörfer willkürlich zerstören und in große, mächtige Güter verwandeln durften.

Für die Insel Rügen, wo im achtzehnten Jahrhundert die Willkür und Plackerei die ungemessenste war, und der Dienst und die Abhängigkeit der armen Leute sich als die härtesten darstellten, ergibt sich, daß der Bauer dort im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in einer viel besseren und unabhängigeren Lage war als in Pommern. Wir haben über die bäuerlichen Verhältnisse derselben die Schrift eines rügenschen Edelmanns, des Landvogts von Normann auf Tribberatz, im sechzehnten Jahrhundert unter dem Titel Rügenscher Landgebrauch verfaßt. Es ist vorauszusetzen, daß der Landvogt, selbst ein adliger Gutsbesitzer, für die Bauern keine parteiische Darstellung abgefaßt hat. Auch verschweigt er ihre Gebrechen und Fehler keineswegs, sondern stellt sie dar als übermütig, streit- und schlagsüchtig, hoffärtig und wild und als solche, die es im ungebundenen und herrischen Wesen den Junkern fast gleich tun wollen. Das seien die natürlichen und heillosen Folgen zu großen Wohlstandes und übertriebener Freiheit, daß die Frechheit und der Übermut sogleich neben ihnen wuchere. Aus dem Landbuche erhellt, daß die rügenschen Bauern Gewinner Erbpächter; abgeleitet von Winne: Häuer, Pacht. (D. H.) waren, welche eine große Einlage in das von ihnen bewohnte Gut gemacht hatten; daß, wann sie freiwillig oder aufgekündigt (was an gesetzlich bestimmte Bedingungen gebunden war) von dem Gute zogen, ihnen die ganze volle Wehr, alle Gebäude nebst Saaten und Hofraide Lebendes und totes Inventar. (D. H.) ausbezahlt werden mußten; sie waren auch bei ihrem Abzuge von jeglicher Gutspflichtigkeit frei und mochten als Leute ihres eigenen Willens ziehen, wohin sie wollten. Beim Todesfall und beim Antritt des Besitzers mußte das Besthaupt und der Gewinn entrichtet werden. Als Mitrichter und Mitschützer ihrer Rechte saßen sie bei Feld- und Gard- oder Kreisgerichten neben den Edelleuten und verheirateten – was dem alten Landvogt in seiner adligen Gestrengheit sehr mißfällt – ihre Söhne und Töchter häufig in adlige Geschlechter hinein.

Wir finden in jenem sechzehnten Jahrhundert beides in Pommern und Rügen eine Menge einzelne Höfe und ganze Dörfer, wovon um die Mitte des siebzehnten auch keine Spur mehr da ist. Nach der Erlöschung des alten Herrscherstammes empfingen die Schweden durch die Friedensschlüsse, welche den scheußlichen Dreißigjährigen Krieg endigten, das Land verwüstet, entvölkert und verknechtet. In solchem Zustande übernahmen es die Schweden, der früheren deutschen Zustände weder kundig noch sorglich. Auch die besten ihrer Verwalter und Einrichter wurden von den Vorteilen und Ansichten des Pommerschen Adels und der Pommerschen Juristen (worunter der berühmte Möwe, später von Mevius obenan steht), welche an die deutschen Acker- und Landverhältnisse ganz das Maß des späteren Römischen Rechts legten, damals und in den folgenden Zeiten geleitet. So sind die wenigen leidlich oder mittelmäßig freien Leute in dieser Landschaft auf dem Lande fast ganz verschwunden, und alle Rechte, die wenigstens als Brauch und Herkommen noch bestanden hatten, in die böseste und unermeßlichste Knechtschaft hinein verdeutet. So ist es denn geschehen, besonders seit dem Schluß des Siebenjährigen Krieges, seit den Jahren 1760 bis in die von 1790 hinein, daß der Bauerstand nicht nur allenthalben mit ungemessener Dienstbarkeit belastet, sondern durch Verwandlung der Dörfer in große Pacht- und Rittergüter endlich sehr zerstört worden. Diese Wut des sogenannten Bauernlegens (quasi castratio) herrschte nicht bloß bei den einzelnen Besitzern vom Ritterstande, sondern ergriff auch die Verwaltung des Domanii und der Güter der Städte und Stifter, wiewohl die Bauern, welche in den letztgenannten Besitzungen noch übrig sind, nicht mit unangemessener Willkür behandelt und mißhandelt werden durften. Kurz, für das schwedische Pommern galt noch um das Jahr 1800 der Lichtenbergische Scherz in seiner vollen Bedeutung einer hübschen Preisfrage: Eine Salbe zu erfinden zur Einschmierung der Bauern, damit sie drei-, viermal im Jahre geschoren werden können.

Diese Greulichkeit hatte ich mit angesehen, und sie hatte mich empört. In Rügen war noch in meinen Tagen eine Menge Dörfer verschwunden, und die Bewohner der Höfe waren als arme, heimatlose Leute davongetrieben, so daß die früher Knechte gehalten hatten, nun selbst auf den großen Höfen wieder als Knechte und Mägde dienen mußten. Ja es gab Edelleute, welche große Dörfer ordentlich auf Spekulation kauften, Wohnungen und Gärten schleiften, große und prächtige Höfe bauten und diese dann mit dem Gewinn von 20 000 und 30 000 Talern wieder verkauften. Dies veranlaßte an mehreren Stellen förmliche Bauernaufruhre, welche durch Soldatenentsendungen und Einkerkerungen gedämpft werden mußten. Auch wurden, wie es munkelte – was aber des verhaßten Gegenstandes wegen vertuscht ward – einzelne böse Edelleute und Pächter gelegentlich wie Tiberius durch nächtliche Überfälle unter Kissen erstickt. Aber dergleichen Greulichkeiten waren nur eine kurze Warnung, und die Dinge liefen darum nichtsdestoweniger ihren gewöhnlichen häßlichen Lauf.

Wie diese Verwüstung der Menschen der Hartherzigkeit oder Habsucht unbarmherziger oder verschuldeter Herren preisgegeben war, so war es auch die Persönlichkeit der an die Scholle gebundenen Leute. Fast in allen deutschen Landen, wo Leibeigenschaft oder Hörigkeit herrschte, war durch festen Brauch oder bestimmtes Gesetz ein leidliches Maximum gesetzt, wodurch ein Mannsen oder Weibsen oder Kind aus solchen Banden gelöst werden konnte. Selten überstieg es für den Mann zwölf bis zwanzig, für das Weib zehn, für das Kind fünf Reichstaler. Hierlandes war gar kein fester Brauch noch sicheres Gesetz, sondern mancher Herr ließ sich für die Freiheit von einem rüstigen und schönen Jüngling hundert, ja wohl hundertundfünfzig und von einer ähnlichen Magd fünfzig oder sechzig Taler bezahlen, konnte auch die Freilassung überhaupt gegen jede Summe ganz verweigern.

Nach den Gesetzen sollten die Bauern, deren Wehr gelegt ward, nebst ihrer ganzen Familie wenigstens mit voller Freiheit und mit ihrer ganzen lebendigen Hofraid ausziehen, welche oft einen ganz beträchtlichen Wert ausmachte, da es Vollbauern gab, die wohl zwölf Pferde, zehn bis zwölf Kühe, einige Ochsen und dazu Schweine, Schafe und Geflügel auf ihrem Hofe hegten. Hätte man ihnen dies alles nebst der Freiheit lassen müssen, so hätte mancher schlechte Herr sich vielleicht zweimal bedacht, ehe er zum Zerstören und Abtreiben gegriffen hätte. Ich erweckte nun meinen lieben Bruder Fritz, der damals als Tribunalsadvokat und später als Bürgermeister in der Stadt Bergen auf der Insel Rügen lebte, und er trieb durch ordentliche Prozesse einige Edelleute zugunsten der Bauern zu Paaren. Er zog sich dadurch bittern Haß und auch wohl Nachteile und Verluste seiner Einnahme und Weltstellung zu, doch gewann er auch unter den Milden und Frommen des Adels mehrere treueste Freunde. Solche waren und blieben unter andern der alte, würdige Herr von Scheelen zum Stedar und der Freiherr von Barnekow auf dem paradiesischen Ralswyk.

Mein Büchlein machte natürlicherweise Haß und Lärm, nicht bloß bei dem Adel, welchen ich darin am meisten anzuklagen schien, sondern auch bei andern Halbvornehmen und bei manchen reichen und junkerisch gesinnten Großpächtern, welche schrien, ich sei ein Leuteverderber und Bauernaufhetzer. Selbst manche Rezensenten schienen mir dies in die Schuhe zu gießen, und einer sagte mit dürren Worten, es stehe das Verhältnis zwischen den Großgütern und Bauern im schwedischen Pommern gar so übel nicht; man merke es meiner Schrift wohl an, daß ich Bauern angehöre und den Druck in meiner Familie gefühlt habe; das habe mich denn wohl, wenngleich unabsichtlich und unbewußt, die Dinge oft einseitig und parteiisch betrachten und darstellen lassen.

Bei dieser Gelegenheit muß ich gleichsam ex domo pro domo sprechen. Mein Vater war freilich eines Schäfers Sohn und der Freigelassene eines Grafen, aber ich hatte von Kindauf nichts von diesen Verhältnissen gefühlt. Als ich ins Knabenalter trat, war er ein unabhängiger und angesehener stralsundischer Gutspächter; als ich Jüngling ward, wohnte er auf dem schönen ehemaligen Grafensitz Löbnitz und hatte Macht und Patrimonialgerichtsbarkeit wenigstens über dreihundert Seelen. Es ward aber mit jenen Patrimonialgerichtsbarkeiten, welche einige uns jetzt noch als ein gar hübsches, patriarchalisch-väterliches Verhältnis zwischen dem großen Grundbesitzer und seinen Bauern anzupreisen wagen, so unverantwortlich leichtsinnig gehalten, daß sogar das Königliche Domanium, nicht allein der Adel sie dem ersten besten oft rohesten und gemeinsten Pächter mitverpachteten. Mein Vater war kein Mann, irgend ein Recht aus Habsucht oder Hartherzigkeit zu mißbrauchen; aber ich habe von andern genug kleine und große Frevel üben sehen, auch dann noch üben sehen, als für die Bewachung dieser so vielen Mißbräuchen, und Willküren ausgesetzten Untergerichte in der Person des nachherigen Oberappellationsrats Sonnenschmidt ein sehr würdiger und gelehrter Oberlandesfiskal angestellt ward. Und groß ist meine Freude gewesen, als für diese sovielen schleichenden Ungerechtigkeiten preisgegebenen Gerichte mehrere allgemeine Kreisgerichte eingesetzt sind.

Aber gegen mich tobten nun nicht bloß Haß und Lärm, sondern mir ging eine förmliche Anklage zu Leibe. Mehrere Edelleute, an ihrer Spitze ein Freiherr Schultz von Ascheraden auf Schloß Nehringen bei Demmin, ein Käufer und Vermäkler von Bauerndörfern in der oben erwähnten spekulativen Weise, und ein Brüderpaar von Bagevitz in Rügen, die sich in ihren Geschlechtern sehr weise deuchten, stellten sich zusammen und lieferten mein Buch in die Hände meines Königs Gustavs IV. Adolf und zeigten ihm rot unterstrichen mehrere Stellen in demselben, wo ich über einzelne längst verblichene schwedische Herrscher in Beziehung auf die Regierung meiner Heimat einige, wie ihnen deuchte, zu freie und ungebührliche Urteile gefällt hatte. Die Herren hätten mir gar gern einen Majestätsprozeß auf den Hals gehetzt. Der König in erster Aufwallung hatte das Buch mit seiner gefährlichen Bleifederrote an den damaligen Generalgouverneur über Pommern und Kanzler der Universität Greifswald, Freiherrn von Essen, geschickt mit dem Auftrage, den frechen Schriftsteller zur Verantwortung und Untersuchung zu ziehen. Der General von Essen lud mich nach Stralsund Ich hatte ihm das Büchlein zugeeignet. Auch er hatte unter dem pommerisch-rügenschen Adel Verwandte, die aber nicht zu den Drängern gehörten., deutete mir die Personen meiner Ankläger ungefähr an, welche sich aber auch an andern Stellen schon hatten laut vernehmen lassen, und zeigte mir die angeröteten Gefährlichkeiten mit der Frage, wie ich mir aus dem schlimmen Handel zu helfen gedenke? Denn der König scheine höchst angeblasen und entrüstet. Ich bat ihn um das Buch und um eine Bleifeder, unterstrich nun auch eine Menge Stellen, worin die Greulichkeit und Ungerechtigkeit dieser Verhältnisse dargestellt war, und bat ihn, er möge diese nun auch Sr. Majestät zur Ansicht und Betrachtung vorlegen. Das hat er getan, und der König hat geantwortet: »Wenn dem so ist, so hat der Mann recht.« Und so bin ich nach Greifswald zurückgefahren, und ist mir auch kein Haar gekrümmt worden. Vielleicht haben die von meiner Hand unterstrichenen Stellen mit beigetragen, daß die Leibeigenschaft nach einigen Jahren durch jenen König aufgehoben und die Patrimonialgerichtsbarkeit durch Königliche Kreisgerichte ersetzt ist.

Nach diesen und andern kleinen Arbeiten meiner Greifswalder Lebensjahre beschloß ich meine Reise nach Schweden zu machen und einen Wunsch zu befriedigen, den ich lange im Herzen getragen hatte, jenes nordische Land, welches zum deutschen Volke und zur deutschen Geschichte soviele Beziehungen hat und zu meiner Heimat damals die nächste Beziehung hatte, durch eigne Anschauung und Mitlebung lebendiger kennen zu lernen, als ich es durch Bücher und durch die vielen bei uns lebenden und verkehrenden Schweden bisher erkannt hatte. Ich begehrte zu dieser Reise, die ich ganz auf eigne Kosten machte, Urlaub und erhielt ihn. Diesmal zu meinem großen Schmerz. Denn eben als ich ihn erhalten hatte, traf ein Brief von einem reichen Freunde und Landsmann aus Hamburg ein, der mich einlud, mit ihm ganz auf seine Kosten, bloß damit er einen heitern und beherzten Reisegesellen hätte, auf anderthalb Jahre einen Durchflug durch die ganze Pyrenäische Halbinsel zu machen. Wie gern hätte ich diese Seltenheit benutzt! Aber ich hatte mich so gefesselt, daß ich nicht wohl zurückkonnte: denn ich hatte meinem Urlaubsgesuch für Schweden derlei Gründe untergelegt, deren schnelle Aufgebung den Freiherrn von Essen erzürnen konnte.

So fuhr ich denn im Herbst 1803 nach Schweden und kam nach einem vollen Jahre im Herbst 1804 zurück Vgl. E. M. Arndt, Reise durch Schweden im Jahre 1804 (4 Teile. Berl. 1806). (D. H.), zu einer Zeit, wo der politische Teufel in Nord- und Süddeutschland ungestümer und gewaltiger zu rumoren anfing. Bald kam das Jahr 1805 mit dem österreichischen Unglück, dann das schrecklichere Jahr 1806, welches Preußen niederwarf. Jetzt flog mein Erster Teil des Geistes der Zeit in die Welt. Ich saß und lag jenen Sommer des Jahres 1806 in Stralsund, wo ich in der Regierungskanzlei für die schwedischen Angelegenheiten arbeitete. Ich sage ich lag. Ich ward in einem Zweikampf mit einem schwedischen Offizier, der den schönen apollischen Beinamen Gyllensvärd (χρυσάωρ) führte, von einer Kugel durchschossen und lag ein Paar Monate auf dem Bette hingestreckt. Ich habe hierüber nichts zu sagen. Man lehrt, du sollst nicht töten, du sollst nicht zweikämpfen; aber es gibt hier gar wunderliche Fälle. Wir saßen, ich unter mehreren liebsten Freunden, beim Trunke in einem öffentlichen Garten, die Herzen vom Wein durchglüht, die Gespräche munter. Da ließ der Schwede ein schlechtes Wort über das deutsche Volk fallen, gerade indem ich ihm sein schwedisches ins Gesicht lobte. Es ward mir zumute wie dem Moses in Ägyptenland; wir gerieten aneinander und schossen den dritten Tag eine halbe Stunde von Stralsund am Meeresstrand auf fünfzehn Schritt aufeinander. Als die Kugel mich durchfuhr, sank ich wie in Ohnmacht zusammen und glaubte, ich hätte den Tod im Leibe. Es war etwa sechs Uhr abends, der schönste Abendsonnenschein, und ich grüßte mit liebenden Augen die gegenüberliegenden Küsten meiner schönen, grünen Insel wie zum letztenmal. Aber das war nur ein fliegender Zuck der Natur gewesen, bald stand ich wieder selbstmächtig auf den Beinen, ging mit meinem Sekundanten in die Stadt, ließ mich zerschneiden und verbinden und mußte dann freilich noch ein sechs, acht Wochen auf dem Streckbrett liegen. Sonderbar!? Als die Kugel in mich hineinfuhr, war ihr Marsch mir ein ganz bekanntes Gefühl. Gerade mit demselben Gefühl war ich im Traum einige Male von Kugeln durchbohrt: so als wenn man einem einen kalten Eiszapfen durch den Leib stieße. Ich fragte: »Was ist das? und woher?« O Origenes Origenes nimmt mit Plato an, daß die menschliche Seele in wechselnden Schicksalen durch eine unendliche Reihe von Welten hindurchgehe, und hält den Traum für eine Wiedererinnerung aus früheren Zuständen. (D. H.)!

Kurz vor diesem Kugelspiel hatte ich in Greifswald eine Todesangst ausgestanden höchst lächerlicher Art, wobei ich meines asmussischen Riesen Goliath und der mit frommen Reimen bemalten Milchschüssel gedenken konnte. Ich ging nämlich auf zum Königlichen Hoflager, mich untertänigst zu neigen und zu bedanken, daß Se. Majestät mich zum außerordentlichen Professor mit Gehaltszulage ernannt hatte. Der König empfing mich in einem weiten Saal ganz allein mit seinem gewöhnlichen, feierlichen Ernst; aber hinter ihm standen zwei Gemächer offen, wohin mein Gesicht stand, und wo der General Armfelt und der Oberkammerherr Graf Stenbock miteinander Possen trieben, und zwar mit so lächerlichen Männchen, daß es der Gegenwart der königlichen Majestät bedurfte, damit ich nicht in Lachen ausplatzte. Da hatte ich meine Angst: denn Possierlicheres gab es nichts als jenen Stenbock, er mochte nun selbst Possen machen oder mit sich machen zu lassen geruhen. Seine ganze Gestalt, Stellung und Gebärde war mehr als lächerlich: wie ein Hasengesicht auf der Lauer. Ein weit vom Stamme gefallener Enkel des großen Feldherrn Karls XII.

Gegen Michaelis waren meine Arbeiten in Stralsund geendigt, und ich war zu meinem Vater nach Trantow gegangen, einem Königlichen Gute bei Loitz an der Peene, wo er seit zwei Jahren wohnte. Hier erreichten uns die Nachrichten und bald auch die Flüchtlinge der Schlacht bei Jena. Da sich an diesem Grenzstrom bald Freund und Feind zu drängen begannen, so begaben wir uns nach Stralsund, von wo der Vater nach Rügen und ich nach Schweden ging. Bei den verworrenen oder vielmehr gar keinen tüchtigen Kriegsanstalten in der kleinen schwedischen Provinz war wenig Tröstliches zu hoffen. Ich hatte nicht Lust, mich allenfalls einfangen und wie einen tollen Hund von den Welschen totschießen zu lassen.

Ich kam also gleich einem geächteten Flüchtling gerade an meinem Geburtstage, den zweiten Weihnachtsfeiertag dieses Jahrs 1806 in Stockholm an, wo ich Freunde und Bekannte genug aus alter Zeit hatte und bei meinem Freunde Karl Nernst, Direktor des deutschen Lycei, fürs erste Quartier nahm. Es dauerte kaum einige Wochen, so hatte ich dort auch eine bestimmte Anstellung. Mein Freund, der Professor der Rechte Dr. Schildener aus Greifswald und der Kammerrat von Schubert aus Wolgast waren dahin berufen, um an einer Überarbeitung und Übersetzung der schwedischen Gesetze für unser kleines Ländchen zu arbeiten. Schubert war auf Urlaub nach Hause gegangen und blieb zu Hause, und ich wurde in seine Stelle eingerückt und erhielt seine Tagegelder. Hier bin ich denn einige Jahre mit dieser vergeblichen Arbeit und auch mit einzelnen kleinen Arbeiten in der Staatskanzlei unter dem Kabinettssekretär Wetterstedt beschäftigt gewesen; auch schwedische Ankündigungen und Manifeste während des im Jahre 1808 ausbrechenden Russenkrieges und englische und spanische Sachen habe ich gelegentlich ins Deutsche übersetzen müssen, welche über den Sund mit einzelnen Reisenden und nach Preußen hin mit Schiffen übers Meer ausgeworfen wurden. Dies geschah auch mit der berühmten Staatsschrift des spanischen Ministers Don Pedro Cevallos Die Übersetzung dieser Schrift, sowie andere Arbeiten Arndts erschienen in der Monatsschrift: »Der Nordische Kontrolleur« (O. O. 1808–1809). (D. H.), worin er den Gang der Hinterlisten und Zettelungen aufdeckte, wodurch die spanische Königsfamilie vom Thron und ins Elend und in den Kerker verlockt worden. Hiedurch hätte ich einen meiner besten Freunde unglücklich machen können. Ich schickte nämlich im Sommer des Jahres 1809, wo ich entschlossen war, auf jeden Fall wieder nach Deutschland zurückzugehen, mit einem nach Stralsund absegelnden Schiffe einige Koffer mit Büchern und ein Kästchen an meinen lieben Freund Reincke. In dem Kästchen, worin allerlei kleine schwedische Andenken lagen, hatte sich unter anderm auch ein Exemplar jener Schrift des Cevallos in ein Schublädchen verkrochen. Die Zöllner der Stadt, mit gebornen Franzosen gemischt, hatten alles auf das schärfste durchsucht, aber zum Glück dieses Papier übersehen. Als Reincke aber das Kästchen im Hause hatte, stieß er diese versteckte Giftschlange, welche ihm bei der Unsicherheit und Verräterei so leicht hätte verderblich werden können, heraus und ließ sie flugs in Flammen auflodern.

Ich hatte liebe Freunde in Stockholm, auch pommersche Landsleute von allen Ständen, vor allen meine geliebten Getreuen Schildener und Nernst und einen ältesten, geprüftesten Freund, den königlichen Leibarzt Freiherrn von Weigel, die mir ein großer Trost waren; auch manche edle Schweden, die ich in den Jahren 1803 und 1804 kennen gelernt hatte. In der anmutigen, schönen Stadt und unter dem gebildeten, gastlichen Volke ließ es sich schon aushalten. Indessen diesmal war ich unfreiwillig da (und drei Jahre unfreiwilliger Abwesenheit aus dem Vaterlande sind eine lange, lange Zeit), und das Gewitter, welches mich aus der Heimat getrieben, zog sich im Herbst 1807 auch über Schweden zusammen, und das folgende Jahr 1808 ward ein Jahr scheußlichen Verrats in Finnland und großen Unglücks für dieses von mir so sehr geliebte Land. Ich hatte dort Freunde, ich genoß Freundschaft und Liebe mehr, als ich verdiente; aber doch waren diese Jahre auch für mich sehr unglückliche Jahre. Erstens, wie hätte ich nicht des Jammers meines geliebten Vaterlandes jenseits des Meeres gedenken sollen? Und zweitens, wie hätte ich hier froh und friedlich leben sollen? Hier, wo mit dem Jahre 1808 sich alles in Hader und Zwietracht aufzulösen drohte, das Volk in Rotten und Parteien zerspalten, von welchen die meisten den Welschen Glück wünschten, der König starr und unerschütterlich in seinen Entschlüssen aber ebenso starr im Handeln, d. h. im Nichthandeln, wo es galt, ein königliches Wagen und Wollen zu zeigen? Kurz, mitten unter den Zeichen alles Verderbens und Untergangs, wo die vorbedeutenden und weissagenden Unglücksraben des Schicksals mit ihren schwarzen Flügeln einem jede Sekunde um das Haupt schwirrten? Endlich im Frühling des Jahres 1809 kam das Getümmel, das den König in den Kerker und bald vom Thron stieß, ein unvermeidlicher Sturz, den ich vorhergesehen hatte, und der mich nichtsdestoweniger doch tief betrübte.

Indessen obgleich jedermänniglich mich als einen Franzosenhasser und als keinen Bewunderer des von den meisten Schweden vergötterten Napoleon kannte, so muß ich doch der Wahrheit zu Ehren gestehen, daß auch nach des Königs Fall kein einziger Schwede mich das unedel hätte empfinden lassen. Denn selbst Freunde hatte ich, mit welchen ich über diesen Punkt immer im Streit lag. Doch ward es mir jetzt herzlich schwermütig und unheimlich und oft so heiß, als wenn mir die Sohlen unter den Füßen brennten. Dieses schmerzliche und brennende Gefühl wuchs, als die neuen deutschen Getümmel an der Donau und in den Alpen ausbrachen und in einzelnen Blitzzuckungen durch ganz Deutschland fortzitterten. Diese zitterten selbst einige Tage nach Schweden hinüber. Es war die Nachricht dahin gekommen, Schill sei mit 10000 Mann in Stralsund eingerückt und warte nur auf englische Schiffe, um nach Schonen überzugehen und dort für den gefangenen Gustav Adolf die Fahne aufzuwerfen. General Schwerin, mein Freund, kam eines Morgens zu mir und erzählte mir lachend diese verbreitete und hieher geflogene Nachricht, und wie einige anfingen sich zu fürchten, »aber,« setzte er ernster hinzu, »ich glaube nicht daran; man schüttelt die Zehntausende nicht so ans dem Ärmel.« Den nächsten Vormittag begegnete ich ihm im Park zu Haga; er kam heftig ans mich zu, drückte mir die Hand und sprach, indem ihm die Tränen aus den Augen stürzten: »Schill mit seinen Zehntausend ist hin, er ist tot, die Dänen und Holländer haben ihn in der Fährstraße abgeschlachtet. Noch muß vor dem Satan alles fallen.«

Ich machte denn meine Sachen allmählich fertig, schaffte mir Wechsel und Pässe und fuhr gegen das Ende des Sommers wieder gegen Süden. Ich hatte durch einen treuen Freund doppelte Pässe, die einen auf England, die andern auf Deutschland genommen. In Schweden nahm ich der Sicherheit wegen (ich meine, zwei Menschen nur wußten meine wahre Reise), weil die halbe Welt mit welschen Helfern und Spähern bedeckt war von den Leuten Abschied, als wenn ich über Gotenburg nach England ginge. Ich aber fuhr nach Blekingen und segelte im Anfange des Septembers mit einem preußischen Schiffe von Karlshamm nach Rügenwalde ab, wo ich nach geschwindester Fahrt mit einem mächtig treibenden Winde als Sprachmeister Allmann landete. Von hier fuhr ich den folgenden Tag mit einem Küstenschiffchen nach Kolberg. Denn ich wollte mich nicht gern der Reise auf Postwagen und mehr mitten im Lande anvertrauen, weil ich fürchtete, es könne mir das Spiel des Zufalls dort unwillkommene Bekannte zuführen; ich könne auch vielleicht auf französische Zöllner und Schnüffler stoßen. Als Wandrer aber nach meiner Weise bei Nacht und Nebel und auf wenig betretenen Pfaden durch Brüche und Wälder mich durchzuschlagen, konnte ich hier nicht brauchen. Denn ich war diesseits der Oder ein Fremdling und hatte früher nie einen Fuß hieher gesetzt; wozu noch kam, daß ich wegen der langen Abwesenheit ans Deutschland der einzelnen Zustände in diesen Gegenden völlig unkundig war.

Kolberg, obwohl durch Gneisenau und seine tapfern Krieger und durch Schills Husaren wieder mit neuen Lorbeern gekrönt, warf doch in dieser Zeit einen schwarzen Schatten des Todes auf mich. Ich sah auf der Heide Preußische Husaren und Artilleristen exerzieren, sah die Schanzen am Meer, worin und worum so blutig gefochten war, gedachte der Schatten der vor den grünen Wällen gefallenen Helden; aber meine Stimmung war der weiten, kahlen Sumpfheide und dem darüber hinwehenden Nebelbrodem der Salzwerke und dem öden Geschwirr der kahlen und entasteten Tannen gleich, die um die Schanzen und in den Dünen standen. Ich hatte in meiner Gaststube in der Zeitung die wiederholte Trauerbotschaft gelesen, daß an der Donau der Friede wahrscheinlich bald werde abgeschlossen werden.

Ich hatte hier drei Tage gewartet, indem ich wieder mit Salzschiffen abgehen wollte, die längs den Küsten fortsegeln und in die Oder einlaufen sollten. Den zweiten Tag war ich schon eingeschifft, aber kaum waren wir eine halbe Stunde auf der See, so kam ein heftiger, widriger Wind, und alle diese flachen und schlechten Schiffe liefen wieder zurück, und der Schiffer erklärte mir nach den Luftaspekten, daß sie noch wohl vier bis fünf Tage liegen bleiben müßten, ja daß sie in Erwartung günstiger Winde oft acht bis zehn Tage so liegen müßten. Was war zu tun? Ich mußte nun endlich schon die Landreise wagen und bedang mir einen Fuhrmann, der mich in anderthalb Tagen über Treptow und Kammin in Wollin ablieferte. Da saß ich nun wieder fest. Hier hätte ich mich mit dem Stabe in der Hand über die Inseln Wollin und Usedom leicht nach dem mir bekannten Wolgast durchschlagen können, wenn ich erstlich nicht gefürchtet hätte, dort sogleich auf Bekannte zu stoßen, und wenn ich zweitens nicht zu schweres Gepäck geführt hätte, was ich nicht gern fahren lassen wollte, und was mich doch wieder leicht verdächtig machen konnte. Ich führte nämlich zwei Koffer und einen gewaltigen, großen Korb eines recht erbaulichen Inhalts: denn er war von meinen Stockholmer Freunden bei meiner Abreise mit edlen Weinen, Schokolade, Tee, Wurst, Käse usw. usw. bis zum Übermaß vollgepfropft. Hier mußte also wieder ans Segeln gedacht werden, und zwar auf dem Achterwater in die Peene hinein und auf Anklam zu. Aber auch hier waren die Winde nicht mit mir im Bunde. Zweimal versuchte ich mit einem kleinen Segelkahn die Ausfahrt, zweimal brachten uns Windstille und Gegenwind wieder in das Städtchen Wollin zurück. Erst den fünften Tag gelangte ich nach dem Städtchen Neuwarp und den sechsten gegen Mitternacht an die Anklamer Brücke. Hier ließ ich meine Sachen an der sogenannten schwedischen Seite ans Land setzen und flugs ans Wach- und Zollhaus tragen. Ich, ohne zu wissen, wes Geistes Kinder drinnen seien, gebärdete mich wie ein Mann des vollsten Mutes und Rechts, pochte und lärmte gewaltig, denn alles schlief. Ich gewahrte auch nicht, welcherlei Volk es war. Alles lag schlaftrunken da, einer rappelte sich auf, sah meine Sachen kaum an – denn die Nacht war kalt, und eines guten Trinkgeldes froh, streckte er sich sogleich wieder hin. Ich winkte meinem Schiffer, und er und seine Frau trugen mein Gepäck in ein nahestehendes Gasthaus, wo ich in früheren Jahren zuweilen eingekehrt war. Dies war auf dem sogenannten Anklamer Damm der schwedischen Seite. Ich hielt mich hier nur ein halbes Stündchen auf, nahm einige Erfrischung, befahl dem Wirt meine Sachen, die ich morgen werde abholen lassen und flog dann wie ein Vogel über den Damm weiter. Dann ging es durch Ziethen linker Hand des Weges auf Gützkow, welchen ich in jüngeren, glücklicheren Tagen oft befahren und gepilgert hatte. Aber es war eine stockfinstre, neblichte Nacht, oder vielmehr eine Morgennacht, und bei Lüssow, einem mir wohl befreundeten Rittersitz der von Wolfradt, geriet ich auf eine falsche Fährte und verlief mich ins Peenebruch, und als ich mich von da wieder zurückgewendet hatte, wieder rechts in ein falsches Dorf, wo der Nachtwächter nicht übel Lust hatte, mich als einen Dieb auszuschreien. So hatte ich mehrere Stunden wie auf Irrwischpfaden verloren; doch als ich endlich den Turm von Gützkow sah, konnte ich nicht mehr irren und trat in der Morgendämmerung in den Trantower Hof, als aus dem andern Tore desselben die Ochsen von den Pflügern eben zur Früharbeit herausgeführt wurden. Diese meine abenteuerliche Hedschra fiel in die ersten Tage des Oktobers.

Hier war ich denn wieder an sehr traulicher Stelle, sah mein Kind, meinen achtjährigen Sohn, sah meine Geschwister, ach den lieben Vater sah ich nicht wieder; ihn hatten sie den vorigen Sommer begraben. Unruhen und Sorgen und Verluste des Vermögens von allen Seiten her, wie es in so bösen und räuberischen Zeiten nicht anders sein konnte, hatten ihn, den einst so Starken, vor seinen Tagen getötet. Solche freundliche, friedliche Natur, als Gott ihn geschaffen, war dieser Zeit nicht gewachsen. Meine Mutter war ihm schon vor vier Jahren vorangegangen. Sie war 56, er 68 Jahre alt geworden – wie weit hinter seiner Mutter und seinem Bruder Hinrich zurückgeblieben!

Weil das Land, worin einige Mecklenburger als Rheinbundsgenossen standen, noch von Franzosen beherrscht und hie und da von französischen Verwaltern durchstrichen ward, saß ich hier in Trantow des Tages gewöhnlich in einem einsamen Stübchen versteckt und verborgen, den meisten Kommenden und Gehenden ein Geheimnis; abendlicher- und nächtlicherweile erging ich mich denn gewöhnlich im Baumgarten oder im Walde mit einem der Brüder oder mit der geliebtesten Schwester Gottesgab oder der alten, lieben Base Sophie. Nur eine einzige Fahrt machten wir im Dezember durchs Land zu meinem Bruder Karl, der zu Zipke bei Barth auf Domänengütern wohnte, ungefähr sechs Meilen von Trantow. Ich hatte mich so verhüllt und verkappt und so wunderlich greisenhaft mit Mänteln und Mützen verstellt, auch meinen Bart für diese kleine Ausfahrt so genährt, daß, wenn uns auch Bekannte begegnet wären, der Teufel selbst uns kaum gekannt haben sollte. Doch brauchten wir die Vorsicht, unterwegs nirgends einzukehren, sondern im Freien in irgend einer hübschen Waldecke am Wege wurden die Pferde und auch die Menschen gefüttert. Ich hatte alten, schwedischen Wein aus meinem gewaltigen Speisekorbe und Pommersche Gänsebrüste mit. Die letzte Lagerung hielten wir im Tannenwalde bei Franzburg. Dort trank ich auf das süße Gedächtnis längst verweinter und verschienener Tage – einst hatte ich dort unter Finken- und Nachtigallenschlag mit meiner Braut einen fröhlichen Sommernachtstraum gefeiert bei einer Frühlingsfahrt zwischen Greifswald und Löbnitz – ich trank auch den Minnetrank meiner lieben Stockholmer, die mir den Wein auf Flaschen gefüllt hatten. So mußte ich in der Heimat neben sovielen Verwandten und Bekannten mich wie ein Bandit durchs Land schleichen. Das waren Zeiten! Es war aber dieser Reisetag ein heller, sonnenscheiniger, bereifter Dezembertag.

Ja, das waren Zeiten! Das war ein Jahr, das Jahr 1809! Es hatte mit der Ächtung und Flucht aus Berlin des edlen Ministers vom Stein begonnen; alle seine Arbeiten, Aufstände, Kämpfe und blutigen Männerschlachten waren durch einen fürchterlichen Frieden verloren und beruhigt; soviele und große Hoffnungen von vielen Millionen Menschen lagen wieder versunken in dem Abgrund der Verzweiflung. Es endigte mit der Auslieferung und Hinrichtung des frommen Andreas Hofer Steins Ächtung fand 16. Dezember 1808 statt, Hofers Tod 20. Februar 1810. (D. H.).

Ich war in der Heimat; aber es war mir hier alles zu durchsichtig. Das Land war freilich, wie gesagt, nicht von Franzosen sondern von mecklenburgischen Truppen besetzt; aber es gab dort einzelne französische Angestellte und Beamte; es strichen hin und wieder einzelne welsche Abenteurer oder Sendlinge durch; auch einzelne für die welschen Zwecke erkaufte und eingelernte Schelme und Späher deutscher Zunge, die einem Geächteten gefährlich werden konnten. Ich meine mit den Schelmen deutscher Zunge keine Pommern. Ich darf die Art meiner Heimat nicht schwärzen; sie ist etwas träg und bequem aber durchaus gutmütig und gerade, ihre mit Recht gepriesene Fröhlichkeit, Tapferkeit und Treue beugt sich gottlob! selten zu Ränken und Hinterlisten hinunter.

Ich ging nach Berlin. Dort hoffte ich in dem dichten Menschengewühl mich der Welt verbergen und still und verschlossen für mich leben und studieren zu können. Ich kannte die Stadt kaum, war nur einige Male durchgeflogen, ein einziges Mal vor elf Jahren etwa eine Woche dagewesen. Ich konnte hoffen, der Sprachmeister Allmann werde von niemand erkannt und nur von denen, welchen er sich anvertrauen durfte, gekannt und anerkannt werden. Ich hatte dort einen treuesten, redlichsten Herzensfreund aus jugendlichen Jahren, den Buchhändler Georg Reimer, einen gebornen Greifswalder. Dem hatte ich geschrieben, mir ein Quartier zu bestellen nicht zu weit von ihm; mein Bruder führte mich mit eignen Pferden bis Pasewalk; von da ließ ich mich auf der Schneckenpost, welcher ein Fußgänger damals leicht ein paar Meilen voraus abgewinnen konnte, nach Berlin ziehen.

Ich kam ein paar Tage vor Weihnachten an, den Tag vor dem feierlichen Einzuge des Königs und der Königin aus Preußen. Ich mußte den Zug und die Freude mit ansehen. Jedes Herz, in welchem noch ein deutsches Fünkchen atmete, war durch das fürchterliche, allen gemeinsame und mehr oder weniger von allen verschuldete Unglück jetzt ein allgemeines deutsches Herz geworden. Das weiland so stolze und glorreiche Berlin lag ja nun auch da in Staub und Aschen wie eine Königin der Länder, deren Gemahl und Herrscher von einem bösen Feinde mit Banden umstrickt ist. Ich mußte heraus aus meinem Stübchen und mit den Jauchzenden und Weinenden die Straße Unter den Linden und die großen Plätze um das Schloß mit durchhinken. Denn ich ging ein Knie mit einem Schnupftuch umwunden; war in Zehdenick beim Aussteigen aus dem Postwagen ausgeglitscht und blutig verwundet. Ich spreche von Weinenden unter den Jubelnden. O, mehr Augen waren naß von Wehmut und Schmerz als von Freude. Der schönen Königin, die sich dem begrüßenden Volke im Fenster zeigte, sah man an den rotgeweinten Augen den tiefen Gram in der Wonne an. Denn wo waren die alten, siegklatschenden Adler hingeflogen? Meine Augen suchten Scharnhorst, der blaß und verschlossenen Blickes und vornüber gebückt sich von seinem Rosse unter andern Generalen ruhig forttragen ließ.

Ich blieb denn in meinem notwendigen Versteck. Meine herzigen Reimers und der Tiergarten und die prächtigen Spaziergänge längs der Spree in Bellevue, mit deren düstersten und einsamsten Winkeln ich vertraut ward, teilten sich in die Stunden meiner Muße. Doch ging ich zuweilen mit in das Schützenhaus, wo mein Freund und mehrere gute Gesellen sich im Schießen mit Büchsen und Pistolen übten, der Gesinnung und Hoffnung, sie würden diese Fertigkeit einmal gegen den Reichsfeind gebrauchen können. Ich machte das so mit.

In dem Hause dieses meines Freundes und noch bei einem ward ich denn auch mit einigen trefflichen Männern und Jünglingen bekannt, die den Gefühlen, wodurch die Menschen damals zusammengeführt wurden, treu geblieben sind. Es war das doch eine schöne Zeit: alles bedrückt, bedrängt, verarmt und im Wechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwebend; doch wenn auch nur ein Lichtfunken der Hoffnung aufschimmerte, zu welchem hellen Morgenrot der Zukunft entfaltete es plötzlich sein mächtiges Gefunkel! Und die Nacht und die mitwissenden Sterne belauschten Worte, welche in Gesellschaften die Furcht damals kaum zu wispern wagte. Es war ja eine Donnerwetterzeit, und man weiß, daß auf den schwärzesten Wolken das Licht sich am schönsten abspiegelt.

Furcht? Sind die Deutschen so feige Kreaturen der Furcht und des Schreckens? Nein! Aber seit Adams Apfelbiß fürchtet sich jeder vor Schlangen. Die Franzosen – sie sagen, Napoleon, aber in diesen Künsten sind sie von jeher Meister und Überlister gewesen – hatten über das alte Germanien ein Gewebe der Auflauerei und Späherei geworfen, in dessen weiten Falten jene zischelnden und giftzüngelnden Würmer der Hinterlist und des Verrats verborgen lauerten. Dieses Gewebe, ja dieses Netz und die einzelnen Fäden desselben hielt vor vielen andern der französische Gesandte Reinhard in Kassel und der westfälische Botschafter Freiherr von der Linden in Berlin und der Franzose Bignon in Stuttgart in der Hand, welcher später unter den Bourbons unverschämt genug den Verfechter der sogenannten großmenschlichen und freisinnigen Ideen des Jahrhunderts gespielt hat. Es hat mich immer geschämt und gegrämt, daß jener deutsche Apostat Reinhard, noch dazu ein deutscher Schwabe, ein Mann aus dem besten deutschen Stamm, erst Jakobiner, nun ein williger Scherge des Mannes, der sein deutsches Vaterland schändete, sich zu solchen Künsten gebrauchen ließ. Nein! nein! Nicht das hat mich geschämt und gegrämt – was können die wackern Schwaben für einen einzelnen Unreinen? – sondern jenes viel Schlimmere, daß die deutsche Sorglosigkeit und Herzlosigkeit gegen das geliebte Vaterland und seine Ehren sich so weit hat vergessen können, diesen Renegaten einen Warner, Helfer und Beschützer der Deutschen, ja einen edlen Deutschen, einen deutschen Mäzenaten und Musageten zu nennen. Dank ihm der Teufel sein böses Handwerk! Und was soll man Rühmliches und Löbliches da herauspressen, daß er, während er das ganze Volk nach seinen Kräften mit in den Sack schieben half, diesem und jenem deutschen Schriftsteller wohl mal irgend eine Hilfe oder einen Wink der Vorsicht gegeben hat?

Um Ostern 1810 verließ ich Berlin. Meine Heimat war wieder an Schweden zurückgegeben; ich ward von dem schwedischen Generalstatthalter Grafen von Essen wieder in meine alte Stelle in Greifswald eingesetzt. Er bewillkommnete mich als einen, der aus England zurückkomme; so weit hatte sich jenes Gerücht über meine Reise dahin in Schweden doch bewahrt. Ich trat wieder in meine Stelle ein, nicht weder mit der Lust noch mit der Hoffnung, daraus nicht verrückt zu werden. Wer konnte sich hier nur für ein Paar Jahre irgend etwas Sicheres und Bleibendes einbilden? Aber ich bedurfte fürs erste der Stellung bürgerlicher Ehre und Unbescholtenheit; ich bedurfte auch, meine Haus- und Familiengeschichte einmal wieder ein wenig zu ordnen. Schon im folgenden Sommer 1811 war ich damit fertig, suchte und erhielt meine Entlassung, packte mein Gerät, meine Bücher und Papiere zusammen und ging nach Trantow aufs Land. Ich hatte meine Füße leicht gemacht und war körperlich und gemütlich auf alles gerüstet. Denn neue, ungeheure Wetterwolken zogen sich an dem europäischen Horizont zusammen. Gewarnt war ich genug, mich in acht zu nehmen, von mir selbst und von Freunden gewarnt, unter andern auch von dem edlen Villers Die beiden Lothringer Villers und Chamisso müssen wir uns schon festhalten. Wir wollen auch einmal – aber nicht im Sinn welscher Prahlerei – über sie sprechen: Sie verdienten Deutsche zu sein. Villers hat man seine Begeisterung für Deutschland in den Tagen des Sieges schlecht genug gelohnt.. Ich setze ein Zettelchen hieher, das er mir in jenem herrlichen Kometensommer 1811 schickte, mit griechischen Lettern in deutscher Sprache geschrieben, welches ich noch unter meinen Kleinoden bewahre. Es lautet wie folgt: »Man ist in Paris und Hamburg äußerst besorgt über eine geheime Gesellschaft in Deutschland, die feindliche Absichten gegen Frankreich hegen soll. Man vermutet, daß sie ihren Hauptsitz in Berlin habe und sich über den nördlichen Teil von Deutschland verbreite. Davoust hat Aufträge bekommen, ein wachsames Auge zu haben.«

Meine letzten anderthalb Jahre in Greifswald waren mit vielen Dornen durchsäet, besonders durch die Flauheit und den welschelnden Sinn derjenigen, welche ich wegen alter, freundlicher Erinnerungen und verwandtschaftlicher Verhältnisse hätte ehren sollen. Kosegarten war unterdes Professor in Greifswald geworden. Dieser und mein Schwiegervater Quistorp und dessen Bruder, der Maler Quistorp, waren so von der napoleonischen und französischen Bezauberung und von der Vergötterung der sogenannten liberalen Ideen der Franzosen befangen, daß dies die alte, herzige Gemeinschaft unter uns störte. Die Geister sonderten sich jetzt und nahmen ihre verschiedenen Quartiere ein; und das mußte so sein. Dies ging denn oft über bloße Verdrießlichkeiten hinaus. Ja es ging bis zu dem Grade, daß der alte Quistorp seinen Enkel, meinen neunjährigen Sohn, der einmal gesagt hatte: »Die großen Deutschen sollten die kleinen Franzosen alle totschlagen«, züchtigte mit den Worten: »So ein kleiner Naseweis müsse das Maul halten.« Doch mochte immer der gebrochene Johannes Müller gerufen haben: »Ich habe Napoleon gesehen, ich sah den Finger Gottes, und alles soll sich beugen!«; mochte Heeren in dem von Perthes herausgegebenen Deutschen Museum dem deutschen Volke eben eine hoffnungslose Grabrede gehalten haben; mochten auch andre nachkrächzende Krähen solcher Verirrten und dienstfertige Zurechtmacher und Ausschmücker der Feigheit und Schande sein, welche, wie später der große Niebuhr von ihnen sagte, gleich gefesselten Opernhelden, die unter Schäferinnen geraten, sich die garstigen Ketten schon mit Blumen umwanden – es gab allenthalben noch recht zornige und auch hoffnungsvolle Protestanten gegen diese Lehre eines widerlichen, fatalistischen Gehorsams; es gab gottlob! auch in Greifswald recht viele. Wenn ich bei denen, welche meine eigensten hätten sein sollen, nur den Gegenklang aber nicht den Widerklang meiner Gefühle und Hoffnungen fand, so fand ich bei den ehrwürdigen Männern von Weigel und von Hagemeister und bei meinen jüngeren Freunden Schildener, Billroth, Gagern, Gesterding, Eichstedt – denn Rudolphi und Rühs verließen nun auch Greifswald für Berlin – die Fülle des Zorns und der Hoffnung, das Herz ausströmen zu lassen. Uns war nicht bloß der Komet aufgegangen, aus welchem einige Abergläubische große Veränderung der Dinge deuten wollten; wir hatten den Glauben in der Hand, wir hatten Spanien und Arthur Wellesley. Wie oft haben wir dieses großen europäischen Retters, Wellingtons, Gesundheit geklungen! Ja, dieser große Engländer und die Spanier Romana, Ballesteros, Empecinado und Castagnos wurden durch mich, der ich bei Besuchen meiner Brüder oft mit Pächtern und Landedelleuten in Berührung kam, so romantisch und phantastisch bekannte Namen, daß sie bei solchen, welche Merinoherden hatten oder sich anlegten, die edelsten Widder bezeichnen mußten, mit einer bessern Bedeutung, als die deutschen Hunde im siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert die Namen der französischen Feldherren und Mordbrenner Melac und Duras geführt haben.

Ich saß also in Trantow bei Loitz, zur Reise oder Flucht gerüstet. Durch Freunde in Petersburg hatte ich mir Empfehlungen an den russischen Gesandten Grafen Lieven in Berlin verschafft. Gleich nach Neujahr 1812 fuhr ich auf eine Woche nach Berlin und erhielt von ihm einen Paß für Rußland. Dort war doch noch Europa. Nie hatten meine Gedanken nach Amerika gestanden – selbst wenn ich gefürchtet hätte, Europa sei verloren – nach seiner habsüchtigen und gebildeten Barbarei. Kaum war ich einen Tag aus Berlin zurück (wir waren eine große Schar, in sehr fröhlicher Abendgesellschaft bei dem Propst in Loitz, Konsistorialrat Barkow), so erschien ein reitender Bote mit einem Briefe meines Freundes Billroth aus Greifswald, meldend, die Franzosen seien über die Grenze gerückt und würden morgen wohl das ganze Land überschwemmt haben. Wir packten und bündelten uns nun auf das geschwindeste auf. Ich fuhr noch in derselben Nacht nach dem noch franzosenleeren Stralsund, wo ich einige Gelder einkassierte, schlief die folgende Nacht bei einem alten, werten, schwedischen Freund, Oberhofmarschall Freiherr Munck in Brandshagen, und fuhr frühmorgens in einem Schlitten von dannen, schon mitten hindurch durch hin und her sprengende französische Husaren und Dragoner, erreichte mit der Morgendämmerung das schon von welschen Soldaten wimmelnde Greifswald, drückte einigen Freunden die Hand, ging dann auf bekannten Pfaden fern von den Landwegen auf eine Stelle, wo ein Schlitten meines Bruders von Trantow hielt und kam dort in der Abenddunkelung an. In Greifswald bei der Einfahrt über die Brücke am Steinbecker Tor ward mir wunderlich zumute. Ich erblickte einen verdächtigen Kerl, der mich sogleich erkannte und mit wunderfreundlicher, schlauer Miene grüßte, einen Greifswalder Schelm, der eben nicht Ursache hatte, mein Freund zu sein, und den alle Welt beschuldigte, er habe während der früheren Anwesenheit der Franzosen für sie den Späher und Besteller gemacht. Er hat wenigstens mein Blut nicht begehrt.

Ich schlüpfte zu Trantow durch eine Hintertür ins Haus und begab mich auf ein Seitenstübchen, von wo ich bei entstehendem Lärm sogleich hätte in den buschigen Garten gelangen können, dessen Wirren und Ausgänge ich alle kannte, und von wo ich in wenigen Minuten in die Wälder und Gebüsche der mir wohlbekannten Peenesümpfe entrinnen konnte. Es waren schon mehrere französische Offiziere und Gemeine im Hause. Diese nahm mein Bruder mit Wein und Branntwein tüchtig zusammen; sie waren durch Märsche über Eis und Schnee erfroren und ermüdet und schnarchten ruhig und unschädlich, während ich die ganze Nacht mit Einpacken und Ordnen von Papieren und mit Briefschreiben beschäftigt war und den Meinigen die letzten Aufträge, Wünsche und Segnungen zu übergeben. Denn solange der Mensch lebt, meint er immer noch etwas zurechtzulegen und zu ordnen zu haben, selbst wenn das Licht des Todes ihm schon auf die Finger brennt. Gegen die Morgendämmerung ging ich denn wieder aus dem Hinterpförtchen durch die Küche ins Freie auf den unter meinen geschwinden Schritten knirschenden Schnee hinaus. Meine Base, meine Schwester, mein Knäbchen hielten mich umklammert. Ich mußte sie abschütteln mit Küssen und Wegschiebungen und mit geschwinderen Schritten ihnen enteilen. Ich hörte meinen kleinen Sohn, als wenn er mich einholen wollte, hinter mir herlaufen und laut heulen. Da ward meine Seele in mir zornig und fluchig. Rasch ging mein Lauf nun durch Büsche und Geröhrig zur Peene hinab und über die gefrorene Peene hin. Als ich gegen das gegenüberliegende Hochfeld aus den Flußwiesen ins preußische Gebiet hinaufstieg, da ging die Sonne hell auf für den schönsten Wintertag. Ich grüßte sie mit betender Seele als ein glückweissagendes Zeichen, traf bald den Schlitten meines Bruders, der durch Loitz gefahren war; wir fuhren auf einem adligen Hof an und aßen ein pommersches Frühstück bei einem alten Hauptmann von Glöden, und langten gegen Abend zu Clempenow an der Tollense an bei dem Oberamtmann Fleischmann, einem lieben, alten Freund und Gastfreund Vgl. über diese Tage Arndts Tagebuch in dessen »Notgedrungenen Bericht aus seinem Leben« I, S. 403 f. (D. H.).

Jener glückweissagenden Sonne, die an jenem Morgen über mich und mein Gebet an der Peene aufging, gedenkend, setze ich einen Brief hierher, den meine jüngste, liebste Schwester, Schülerin und Freundin – sie und mein Bruder Fritz die begabtesten Kinder meiner Mutter – mir in jenen Tagen des Getümmels nach Clempenow geschrieben hat. Die Blüte der Gefühle jener Tage will zuweilen unter dem grauen Moose der Jahre wieder hervorsprießen:

»Lieber Moritz! Ich weiß nicht, ob es die Ahndung Deines Glückes für die Zukunft ist, aber auch ich fühle mich ruhig, seit Du weg bist, und nur die fromme Wehmut, als ob man einen lieben Toten beweint, herrscht noch in meinem Herzen. Dein Karl Treu ist nun so allein; die letzten schönen Tage, die das Schicksal uns ihn noch gönnt, können wir nicht genießen in Freundlichkeit und Liebe. Ich fühle einen Mut in mir, den so leicht nichts niederbeugt; nur bitte ich Gott täglich, daß er mich zum Guten leite, damit ich ihn auch recht gebrauche. Wenn nur die Großtante gesund bleibt, so geht alles wohl. – Mein bester Moritz, auch ich sah den Mond und die schöne Morgenröte, als Du von uns gingst, und mir war es, als schwebten tausend Schutzengel über Dir. Karl Treu küßt dies Blatt, und ich und die Tante wünschen tausend Glück und Segen.«

So war ich denn mitten durch die Feinde glücklich wieder zur sichern und freundlichen Stelle gekommen. Bei solchen Gelegenheiten hilft Mut und die Klugheit, nicht zuviel zu sorgen und zu fragen, besonders aber die Klugheit, weder eine zu sorgliche noch zu gefaßte Gebärde vorzustellen. Die Mitte! Aber frisch drein muß man gehen, wie ich vor zwei Jahren in der Mitternacht die Zollbude auf dem Anklamer Damm stürmte. Doch wem hilft Mut allein? Gott hatte mir durchgeholfen. Hier in Clempenow ruhte ich noch zwei Wochen aus und kam den Anfang des Februars in Berlin an.

In Berlin fand ich ein unendliches Getümmel und Gewimmel von den verschiedensten Menschen und den verschiedensten Ansichten, Gedanken, Hoffnungen und Verzweiflungen, wie und wann das Gewitter, das wieder schwarz am Horizont hing, losplatzen werde, und wohin sich jeder stellen solle; wohin der König von Preußen sich stellen werde. In diesen Wirbel geriet ich frisch hinein, und natürlich geriet ich in den Kreis, worin mein alter Freund Reimer und meine Freunde vom Winter 1809 sich bewegten. Dies war ein Leben und Weben, ein Wogen und Treiben der Kräfte. Die Herzen schlugen vollern Schlag, die Liebe fand vollste, seligste Umarmung; der Haß und Zorn, damals ganz jugendliche, frischeste Gesellen, welchen noch keine Polizei die Flügel gestutzt hatte, gaben einen Augenblick fast ebenso große Seligkeiten. Da habe ich viele trefflichste Männer zuerst gesehen und kennen gelernt und war mit einem Male mitten in einem großen, gewaltigen Männerbunde, der einen einzigen Gegenstand seines Bedürfnisses hatte, Haß und Abschüttlung und Vernichtung der Welschen. Andere Schibbolethe und Geheimlehren gab es dort gewiß bei den wenigsten, wenigstens bei mir keine andere.

Hier aber klang es nun bald wieder Marsch! Der König von Preußen hatte sich der Weltlage nach mit dem Erzfeind verbinden müssen, und im Anfange des Märzes machte ich mich weiter gegen Osten nach Breslau auf den Weg, außer dem russischen Passe auch mit einem österreichischen auf die böhmischen Bäder lautenden versehen. Als das Bündnis mit Napoleon bekannt ward, nahmen und erhielten viele preußische Offiziere, welchen das Herz zu schwer ward, unter französischen Fahnen zu streiten, von dem Könige gnädigen Abschied. Der Herrscher verstand sie und mißbilligte sie nicht. Viele gingen nach Schlesien, dort zu warten, wie die Dinge sich entwickeln würden; andere suchten, ehe ihnen alles gesperrt würde, die verschiedenen Straßen, welche zur See und zu Lande nach Rußland führen, dort Arbeit für ihre Degen hoffend; mich nahm der Oberst Graf Chasot mit in seinen Wagen bis Breslau, wo er noch einige Wochen verweilte und dann nach Rußland entflog.

Meine Breslauer Frühlingsmonate waren zuerst ebenso lebendig und fast auf ähnliche Weise lebendig wie mein Februar in Berlin gewesen war. Zuerst Bekannte schon von Berlin hier: die Obersten Graf Chasot und von Gneisenau, der Polizeipräsident Gruner, welcher als ein Franzosenfeind gezeichnet, natürlich in Berlin jetzt nicht hatte in seiner Stellung bleiben dürfen, und außer ihnen mehrere andere. Das bewegte sich einige Wochen in einem Kreise zusammen, bis es nach verschiedenen Seiten hin auseinanderfloß. Hier hinein kam zuweilen auch der alte General Blücher, der auch bei fröhlichen Gelagen etwas vom Feldmarschall hatte. Trotz seines Alters trug er eine herrliche Gestalt, groß und schnell, mit den schönsten, rundesten Gliedern vom Kopf bis zum Fuß, seine Arme, Beine und Schenkel noch fast wie die eines Jünglings scharf und fest gezeichnet. Am meisten erstaunte sein Gesicht. Es hatte zwei verschiedene Welten, die selbst bei Scherz und Spaß, welchen er sich ganz frisch und soldatisch mit jedem ergab, ihre Farben nicht wechselten: auf Stirn, Nase und in den Augen konnten Götter wohnen; um Kinn und Mund trieben die gewöhnlichen Sterblichen ihr Wesen. Daß ich es sage: in jener oberen Region war nicht allein Schönheit und Hoheit ausgedrückt, sondern auch eine tiefe Schwermut, die ich der schwarzdunklen Augen wegen, die der finstern Meeresbläue glichen, fast eine Meerschwermut nennen möchte; denn wie freundlich diese Augen auch zu lachen und zu winken verstanden, sie verdunkelten sich oft auch plötzlich zu einem fürchterlichen Ernst und Zorn. War der alte Held ja auch nach dem Unglück von 1806 und 1807, als er in Hinterpommern befahl, eine Zeitlang durch seinen dunklen Zorn verrückt gewesen und hatte auf alle Fliegen und schwarze Flecke an der Wand mit dem Rufe Napoleon mit dem gezückten Schwert gestoßen. Mund und Kinn aber gaben einen ganz anderen Eindruck, obgleich in den äußeren Formen mit den oberen Teilen des Gesichts in Übereinstimmung. Hier saß immer die Husarenlist gesammelt, deren Zügenspiel bisweilen sogar bis in die Augen hinauflief, und etwas wie von einem Marder, der auf seinen Fang lauscht.

Hier sah ich auch Scharnhorst, der vor den neuen Dingen aus Berlin entwichen war, und seine unvergeßliche, ihm ähnliche Tochter, die mit allen hohen Gefühlen bis in den siebenten Himmel aufflog, die Gräfin Julie zu Dohna. Ihr Gemahl, der Rittmeister Burggraf Friedrich zu Dohna, gegenwärtig Obergeneral der pommerschen Heerabteilung, holte mich ab und führte mich zu Vater und Tochter. Ich war hinfort viel mit ihnen, und sie nahmen mich oft mit in die grüne Einsamkeit der umliegenden Dörfer und Wälder, wo man sich freier und menschlicher ergehen und über das Leid und die Hoffnung des Augenblicks besprechen konnte. Wie war das nun wieder ein gar anderer Mann als der Blücher! Schlank und eher hager als wohlbeleibt, trat er, ja schlenderte er sogar unsoldatisch einher, gewöhnlich etwas vornüber geneigt. Sein Gesicht war von edler Form und mit stillen, edlen Zügen ausgeprägt; sein blaues Auge groß, offen, geistreich und schön. Doch hielt er das Visier seines Antlitzes gewöhnlich geschlossen, selbst das Auge halb geschlossen, gleich einem Manne, der nicht Ideen in sich aufjagt sondern über Ideen ausruht. Doch tummelten sich die Ideen in diesem hellen Kopfe immer herum; er hatte aber gelernt, seine Gefühle und Gedanken mit einem nur halb durchsichtigen, ruhigen Schleier zu umhängen, während es in seinem Innern kochte. Doch wie sicher und fest geschlossen er sein Angesicht und die Gebärden desselben auch hielt, er machte den Eindruck des schlichten, besonnenen Mannes; man sah keine Vorlegeschlösser vor denselben. So war sein Wesen, er hatte es wohl gewonnen durch sein Schicksal sowohl als durch seinen Verstand. Er hatte sich aus niederm Stande emporgerungen und von unten auf viel gehorchen, auch der Not gehorchen lernen müssen. Seine Stellung in Preußen war bei aller Anerkennung seiner Verdienste durch seinen König und durch viele Edle doch die eines Fremdlings, eines beneideten Fremdlings geworden; denn in der bösen Zeit, seit den Jahren 1805 und 1806, hatte er, von den Eigenen und Fremden belauert und den welschen Spähern längst verdächtig, auch wo er Großes und Kühnes schuf und vorbereitete, immer den Unscheinbaren und Unbedeutenden spielen, sich freiwillig gleichsam zu einem Brutus machen müssen. Auch seine Rede war diesem gemäß: langsam und fast lautlos schritt sie einher, sprach aber im langsam dehnenden Ton kühnste Gedanken oft mit sprichwörtlicher Kürze aus. Schlichteste Wahrheit in Einfalt, geradeste Kühnheit in besonnener Klarheit, das war Scharnhorst: er gehörte zu den wenigen, die glauben, daß man vor den Gefahren von Wahrheit und Recht auch keinen Strohhalm breit zurückweichen soll. Soll ich noch erinnern, daß dieser edle Mensch, durch dessen Hände als des stillen und geheimen Schaffers und Bereiters Millionen hingeglitten waren, auch nicht den Schmutz eines Kupferpfennigs daran hatte kleben lassen? Er ist ein Vir innocens im Sinne der großen Alten gewesen: er ist arm gestorben.

Solche war die Art und Gebärde dieses ernsten und tugendhaften Mannes, der tiefer als irgend einer des Vaterlandes Weh gefühlt und mehr als irgend einer zur Heilung desselben gestrebt und gewirkt hat. Wenn er so dastand, auf seinen Stock gelehnt, sinnend und überschauend, gesenkten Haupts und halb verschloss'nen Auges und doch zugleich kühnster Stirn, hätte man meinen mögen, er sei der Todesgenius, der über den Sarkophag der preußischen Glorie gelehnt, den Gedanken verklärte: wie herrlich waren wir einst!

Ich lebte aber diese Monate nicht allein in Breslau und in den nächsten Orten der Umgegend, sondern ich besah mir das schöne Schlesien und das preußische und böhmische Riesengebirge durchstreifend, nach meiner Weise auch die Orte und die Menschen und hatte dabei die Freude, in den Bädern von Reinerz, Landeck und Cudowa zusammengedrängte Freunde aus Berlin wiederzufinden und mit ihnen auf die großen Hoffnungen des Tages anzuklingen.

Fragt jemand: Aber woher und wie nimmst du Pilger und Flüchtling die Mittel und Gelder? so antworte ich: Gott hatte mir, dem Knaben, schon die Vorahnung meiner Schicksale in die Brust gelegt; aus Abscheu vor Weichlichkeit und Wollust ward ich frühe trotzig und hart und hatte frühe sowohl entbehren als genießen gelernt. Dies hatte ich fortgesetzt auch jenseits der Dreißig und Vierzig, hatte oft freiwillige Nachtwachen und Hunger- und Durstübungen versucht und war meines Fußgängerglücks, worin Gott auch gefallen hat mich zu erhalten, mir bewußt, oft in einem Zuge sechs, acht Meilen zu Fuß gegangen, wann meine Herrn Brüder, wie die Wohlhabigkeit der Zeiten damals noch stand, auf schönen Pferden einhersprengten. Seit Napoleons Emporkommen war ich auf harte Proben gefaßt und hatte mich und mein Leben darauf eingerichtet. Ich hatte von meinen Tagegeldern in Stockholm, vom rückständigen Gehalt mehrerer Jahre, das mir im Jahre 1810 in Greifswald ausgezahlt ward, und von dem Gewinn einiger Schriften mir einen Reisepfennig erspart. Wenn ich auch zuweilen unter Freunden bei fröhlichen Gelagen einen Friedrichsd'or oder Dukaten springen ließ, so hatte ich einsam oder als wandernder Pilger die wenigsten Bedürfnisse. Was soll ich hier erzählen, wie der Flüchtling oft auch nur die Tafel eines Jägers im Walde oder eines versprengten Husaren gehalten hat?

Endlich mußte ich fort. Napoleon war um die Mitte des Mai in Dresden angelangt, wohin er die Könige und Fürsten zur letzten, großen Beratung beschied. Den 29. Mai flog er aus Dresden nach Polen. Jetzt war mir der Krieg nicht mehr zweifelhaft. Ich ging im Junius nach Prag, entschlossen, mich so geschwind als möglich weiter gegen Osten zu machen, ehe mir alle Wege dahin gesperrt würden.

Wir lasen nun seine und der Seinigen Weissagungen für diesen scythischen Feldzug. Die Vorbedeutung sollte erfüllt werden, allein sie ward von Gott nach einer andern Seite hin ausgelegt und gedeutet als von den Menschen. Auch der christliche Gott spielt den Vermessenen und Stolzen durch ihre Orakel hin.

Da klang es in der »Allgemeinen Zeitung« aus Dresden vom Tage der Abreise des Fürchterlichen: Dresden hat das Glück genossen, den größten Helden und Herrscher des Jahrhunderts zwölf Tage lang unter Umständen und Umgebungen in seinen Mauern zu besitzen, welche für die Geschichte ewig denkwürdig bleiben müssen. Jede Minute war gewissermaßen verhängnisschwer und durch große Beschlüsse wichtig, und die Folgen der hier gepflogenen Unterhandlungen und hier verabredeten Maßregeln werden einst noch ganz Europa in Erstaunen setzen.

Und er selbst gebrauchte in der Kriegsankündigung, die er den 22. Junius an seine Soldaten erließ, unter anderm die Worte: »Ein unvermeidliches Schicksal reißt Rußland mit sich fort. Des Schicksals Wille muß erfüllt werden.«

In Prag traf ich Gruner. Dieser sagte mir sogleich, der Minister vom Stein, der vom Kaiser Alexander aus Prag nach Petersburg berufen war, verlange mich aufs baldigste zu sich. Gruner hatte ihm nämlich berichtet, daß ich schon in Berlin meine Pässe für Rußland in der Tasche gehabt habe. Er wunderte sich, daß ich so spät in Prag erschien: denn er hatte mir schon vor mehreren Wochen Steins Wunsch nach Breslau geschrieben; aber sein Brief ist nie in meine Hände gekommen.

Jetzt entstand die Frage: Wie kommt man unter den obwaltenden Umständen auf das kürzeste, geschwindeste und sicherste in Rußland hinein? Wie erhält man Pässe durch die österreichischen Lande dahin? Der Krieg war erklärt, und die Kämpfe hatten vielleicht schon begonnen; und Österreich war Napoleons Bundesgenosse gegen Rußland. Wir fanden bei dieser Frage, daß ich, ein unbedeutender, unbekannter Mensch, unter diesen Verhältnissen auf meine Person für solche Reise einen Paß erhalte, sei ein Ding der Unmöglichkeit; ich werde wohl den Weg gegen Norden zurück zur Ostsee nehmen und aus einem dortigen Hafen über Schweden meine Nordostpassage zu durchbrechen suchen müssen. Endlich fand sich aber glücklicherweise doch noch ein Ausweg, der einige Sicherheit zu bieten schien, allenfalls aber auch mißlingen konnte. Indessen hier mußte gewagt werden. Wir trieben einen kleinen Kaufmann auf, einen geborenen Wiener, der gewohnt war als Schmuggler über das Riesengebirge und über die Karpathen zwischen Böhmen, Schlesien, Ungarn und Polen hin und her zu fahren. Dieser hatte eine Reise nach Brody vor. Ich erbot mich, die Kosten derselben für ihn mitzutragen, wenn er mich als seinen Kommis oder Diener auf seinen Paß setzen lasse. So wurden wir handelseins Wie Justus Gruners gleichnamiger Enkel nachzuweisen versucht hat (Deutsche Rundschau, Bd. 64, S. 294f.), war der Begleiter Arndts ein Vertrauter der Prager Polizei namens Knapp. Ein Bericht des Knapp an Gruner vom 10. August befindet sich im Archiv des Ministeriums des Innern in Wien. (D. H.).

Nun ein Wort über Gruner. Ich hatte ihn vor Berlin weder gesehen noch seinen Namen nennen gehört. Ich fand ihn dort unter denjenigen, die ich für meine treuen Freunde halten mußte. Er galt als Polizeipräsident allgemein für einen Franzosenfeind. Ein feiner, gewandter, liebenswürdiger Mann, von einer Beweglichkeit des Leibes und Geistes und der Rede, die man bei einem Westfalen nicht suchen sollte. Daß er halb und halb wie ein Geächteter nach Prag entwich, war begreiflich. Viele sagten, er sei bei den Franzosen so angezeichnet, daß sie möglicherweise, wenn er in Preußen bliebe, seine Auslieferung verlangen könnten. Über seine Stellung in Prag weiß ich weiter nichts als das allgemeine Gerede der Freunde, daß er, wenn sich Gelegenheit fände, den einzelnen, die nach Rußland gegangen waren, Nachrichten und Winke zukommen lassen und ebenso empfangen sollte. Andere haben gesagt, er sei mit bestimmten Versprechungen für russische Zwecke ordentlich in russischem Dienst und Sold gewesen und habe dafür russische Gelder in Händen gehabt. Davon weiß ich nichts zu sagen; weil ich kein Geheimniswurm bin, habe ich bei andern keine Geheimnisse gesucht noch von ihnen empfangen. Dem sei, wie ihm wolle, Gruner ist etwa einen Monat nach meiner Abreise, wahrscheinlich auf französische Zumutung in Prag verhaftet und endlich in eine ungarische Festung abgeführt worden, woraus ihn erst die Leipziger Schlacht erlöst hat Gruner stand damals tatsächlich in russischen Diensten; seine Verhaftung erfolgte in der Nacht vom 21. zum 22. August, und zwar nicht auf französische Zumutung, sondern auf Veranlassung des Chefs der Geheimen Polizei in Berlin, des Geheimen Staatsrats von Bülow (vgl. Fournier, Stein und Gruner in Österreich. Deutsche Rundschau, Bd. 53).. Ich habe später, als er am Mittelrhein und im Herzogtum Berg Statthalter war, viel mit ihm gelebt und bin seinem Gedächtnis ein gutes Zeugnis schuldig. Er war ein talentvoller, lebendiger, geistreicher Mann, von Natur leicht, weich und beweglich; aber zu großer Ehre muß ihm gerechnet werden, daß dieser leichte, lebenslustige Mensch im Großen und Gefährlichen, wo die Leichten und Leichtfertigen sich so leicht dem Teufel verschreiben, edel und treu erfunden ist. Seine Fehler lagen alle offen, seine Liebe und Treue haben seine Freunde erkannt und geehrt.

Ich fuhr denn mit meinem Wiener ab und sollte eine harte Reiseprobe mit ihm bestehen. Es war ein kleines, hageres und, wie mir deuchte, entschlossenes Kerlchen, und ich hoffte also einen raschen und geschwinden Reisegesellen in ihm gewonnen zu haben, zumal da ich gedungen hatte, uns unterwegs nicht aufzuhalten, weil mir an der Schnelligkeit der Reise viel gelegen sei. Ich fürchtete nämlich mit Recht, daß, wenn ich zaudere, mir die Gegenden, wo ich noch durchzuschlüpfen hoffte, durch Kriegsgetümmel versperrt werden könnten. O wie hatte ich mich verrechnet! In diesem hagern Leibe steckte doch ein echter, vollständiger Wiener, der vor dem Duft keines gebratenen Hahnes vorbeifahren konnte. Daher mußte auf jedem Posthalt gesessen, gegessen und getrunken werden. Ich faßte mich indessen bald in Geduld und suchte mir, als ich die Pansanatur meines Gebieters – denn der war er auf meinem Wagen – weg hatte, die Geschichte zum Spaß zu machen. Meine fliegenden Dukaten durften mich dabei nicht ärgern, wohl aber die Verschwendung der diesmal so kostbaren Zeit. Meine Rolle war dabei drollig genug. In der Festung Olmütz unter anderm fuhren wir bei dem prächtigsten Gasthof vor. Er bestellte flugs ein gutes Mittagsessen und besten Ungar und setzte sich dran, zu mir sagend: »Hier könnte es verdächtig und gefährlich sein, wenn Sie als ein Kommis mit zu Tische säßen; bleiben Sie lieber draußen und springen bei dem Wagen herum, als wenn Sie was zu tun hätten.« Er saß drinnen seine anderthalb Stunden durch, die Extrapostpferde lange vor dem Wagen, ich im Regen umherspazierend und ein Butterbrot und eine halbe Flasche schlechteren Weins genießend. Als wir den folgenden Tag an dem reizenden Kuhländchen hin in Biala anlangten, war ihm der dargebrachte Wein immer zu schlecht, und er kegelte wie ein vornehm zürnender Baron oder Student auf meine Kosten mehrere Flaschen zum Fenster hinaus. »Dies hier ist halb polnisches Volk,« sprach er, »die muß man kurz anbinden.« Diese Zwischenspiele abgerechnet war mir darin das Los gut gefallen, daß ich keinen Schwätzer aufgeladen hatte. Meine guten Weine verfehlten ihre einschläfernde Wirkung nicht; er schnarchte den größten Teil der Reise, und so konnte ich das herrliche Land Böhmen, das reiche Mähren und das schöne Galizien unter den Karpathen desto heiterer und ungestörter genießen. Ja, auch Galizien ist ein liebliches Land und ein steter Wechsel von Hügeln, Wiesen und Feldern; aber leider der sarmatische Schmutz und die polnische Bettelei und die elendesten Bettlerhütten neben Schlössern der Magnaten begegneten einem allenthalben, und der Schmutz und Jammer nahm zu, je ferner wir von der deutschen Grenze und je näher wir der Judenstadt Brody kamen Über diese Reise gibt es mehrere, in Einzelheiten voneinander abweichende Berichte Arndts, und zwar sein Tagebuch (Notgedr. Bericht I, S. 402f.), ferner Beilage B zu Geist der Zeit 3. Teil, die fast wörtlich mit vorliegendem Text übereinstimmt und deshalb in unserer Ausgabe weggelassen ist, und endlich einen Brief Arndts an Gruner (Meisner und Geerds, E. M. Arndt. S. 80). In letzterem urteilt er wesentlich günstiger über seinen Begleiter, den er nicht genug rühmen kann und einen »gescheiten, geübten und vorsichtigen Mann nennt, welcher tempora et modos et homines zu belauschen und durch jedes Ritzchen, das sich ihm öffnet, Licht fallen zu lassen weiß.« (D. H.).

Hier waren wir hart an der russischen Grenze. Ich warf nun meine Dienerverpuppung ab und kleidete mich wie für einen neuen Aufzug. Mein Wiener begleitete mich. Mein Herz klopfte, als ich die fliegenden Fähnlein von sechs zu Roß sitzenden Kosaken an dem Grenzschlagbaum vor Radziwiloff erblickte. Mein bisheriger Herr stieß mich an, sprechend: »Lassen Sie mich ein bißchen voranlaufen und geben Sie mir fünf Dukaten, denn ich kenne die Kerle, hier muß man sich hinüberkaufen.« Ich sah ihn nun trotzig an, merkend, der Schelm wolle mir noch etwas abklopfen, rief ihm Ade! zu, holte meinen prächtigen Paß heraus – und die Lanzenträger sahen ihn, verneigten sich ehrerbietigst und geleiteten mich an die ganz zierlichen und freundlichen Zollgebäude. Gleich trat der Zollinspektor, ein russischer Hofrat – ich meine, es war ein Kurländer namens Giese Es war der Hofrat Giers, Postmeister in Radziwiloff. (D. H.) – heraus, sah meinen Paß an und führte mich dann mit den freundlichsten Worten in sein Haus, wo ich seine Frau, eine sehr schöne Polin, nebst andern Damen begrüßte und in ein sehr nettes Zimmer geführt ward, indem der Herr Oberzöllner, den ich um Krieg und Kriegsgeschrei fragte, und von dem ich allerlei Kunde über meine Weiterreise einzog, zu mir sagte: »Jetzt kommen Sie, wir wollen Mittag essen; Sie bleiben heute hier und erholen sich die Nacht, morgen können wir dann alles weiter bestellen.« Es war hier und auch in Brody ein wogendes, lustiges Leben. Österreichische und russische Beamte und Offiziere zogen noch hin und her, an der österreichischen Seite stand nicht einmal eine Zollwache, und mehrere österreichische Offiziere, die eben gleich vielen Preußen gegen die Welschen zu fechten brannten, flogen diesen Tag hier durch, unter anderen der Oberst von Tettenborn und ein Rittmeister Mäurer, die ich unterwegs an mehreren Stellen und dann in Petersburg wiederfinden sollte.

Ich war also glücklich durch mein schmugglerisches Fegefeuer hindurch und hatte meinen Ärger und meine Dukaten bald verschmerzt. Hier war ich aus dem Schmutz der Judenwirtschaft der letzten Posthalte und aus dem stachlichten Dornbusch meiner Begleitung wie in ein Paradies versetzt. Eine prächtige Mittagstafel, vortrefflicher Ungarwein, schön gebildete Frauen, die deutsch und französisch sprachen, und ein feiner, freundlicher Wirt. Ja dieses Paradies ward noch paradiesischer, als mein Wirt eine Entdeckung machte, welche seine Freundlichkeit fast in Zärtlichkeit verwandelte. Bisher hatte ich alles dieses Glück dem Inhalt meines Passes zugeschrieben; nun aber ergab sich eine Offenbarung, die mich nicht in Zweifel ließ, ich könne alle diese seine Gastlichkeit endlich als den Erguß eines erfreuten und zärtlich gerührten Herzens hinnehmen. Als wir nämlich schon einige Gläser miteinander geleert und allerlei hin und her gesprochen hatten, fragte er um deutlichere Nennung meines Namens, der ihm aus dem Passe nicht recht klar geworden. Ich nannte Arndt. » Arndt? Was, Arndt?« rief er. »O, ich hatte einen sehr lieben Freund, als ich in Jena studierte, der hieß Friedrich Arndt, war aus Pommern; mir deucht, als seien Sie ihm in der Sprache ähnlich.« Und er lief und holte sein Stammbuch und zeigte mir einen Scherz, den mein Bruder hineingeschrieben. Als ich ihm nun sagte, jener Friedrich Arndt sei mein Bruder, und ihm erzählte, wie und wo er jetzt lebe, da war ich plötzlich ein Hausfreund geworden Dieser ehemalige Jenenser Student war nicht der russische Postmeister Giers, sondern der österreichische Zollinspektor und Kollegienrat Saalfeld in Brody, mit dem Arndt den vorhergehenden Abend verlebt hatte (Meisner und Geerds, a. a. O.). D H.)

Späterhin sprachen wir über meine Reise nach Moskau und Petersburg, und er sagte: »Sie bekommen laut Ihres Passes einen Feldjäger mit, und so wird es schon gut gehen. Aber besser ist besser. Hier ist ein Teil des Personals der russischen Gesandtschaft in Wien gemeldet, für die ich Anstalten machen muß. Die kommen gewiß morgen oder übermorgen. Das trifft sich als eine schöne Gelegenheit, da können Sie in Gesellschaft reisen und haben es desto sicherer und bequemer.« Ich fiel dem bei und hielt bei dem freundlichen Wirt mein erstes Nachtlager und sollte hier noch ein zweites halten.

Den zweiten Tag in aller Frühe langte denn die Karawane an, welcher ich mich anschließen sollte. Sie kam in zwei stattlichen Wagen und schien auch Gepäck des russischen Gesandten zu haben. Sie bestand aus drei Kavalieren und einigen Bedienten. Die erste Person war ein kleiner, höchst beweglicher, freundlicher und gesprächiger Mann, der Legationsrat Graf Ramsay von Balmaine, der zweite ein Franzose le Marquis de Favars, ein junger, abgelebter Windbeutel, und der dritte ein russischer Flottenkapitän, ein schöner Mann, ein geborner Grieche, der aber leider auch einem verdorbenen Weichling der allerschlimmsten Art ähnlich sah Der Marquis hieß Favras, nicht Favars, der Russe Sawiroff (Notged. Ber. I, 421). (D. H.). Dieser hatte die letzten Jahre in Paris im Gefolge des russischen Gesandten Prinzen Kurakin gelebt. Mit diesem Dreiblatt begab ich mich denn nach einigen Stunden auf die Fahrt.

Ich hatte mich mit dem kleinen Grafen gepaart und gewahrte nach dem Zusammensein auf mehreren Posthalten sehr bald, daß ich den besten Griff getan habe. Der kleine Mann ist später berühmt worden als einer der bewachenden Begleiter Napoleons nach der Insel St. Helena. Er war von altem schottischen Blut, Katholik und von den Jesuiten in Mohilew erzogen, nicht ohne Kopf und Lebendigkeit, nicht ohne mancherlei durcheinander zerstreute Kenntnisse, aber von einer bodenlosen, possierlichen, doch höchst gutmütigen Geschwätzigkeit. Diesen Jüngling, der mir durch ein längeres Zusammenleben sehr lästig hätte werden müssen, benutzte ich klug für unsre paar Tage, um das aus ihm herauszulocken, was er etwa Nützliches mit sich führen konnte. Ich brachte ihn nämlich auf Erzählungen von den Sitten und Arten in den Landschaften Rußlands, worin er am meisten gelebt und verkehrt hatte, und so ward mir seine sonst fast zu flüssige Unterhaltung oft zugleich ergötzlich und lehrreich. Auch in ihm entdeckte ich eben nicht viel Männliches und Soldatisches und wunderte mich daher nicht wenig, als er mir erklärte: er habe einen Bruder Generalmajor im Heere, und er selbst werde auch bald den Degen fürs Vaterland umschnallen. Wirklich las ich ihn nach wenigen Wochen in den Zeitungen als Obersten.

Wir fuhren durch Wolhynien, ein herrliches, reiches Land. Hier wohnen die sogenannten roten Russen. Diese Menschen kamen mir ernster und sinniger vor als die Polen, welche ich bisher gesehen hatte; auch gewannen die Felder, Wiesen und selbst die Wohnungen, wie wir weiterhin fuhren, ein immer besseres und reinlicheres Ansehen, zuweilen fast ein so gutes als in Norddeutschland. Man sah einen schönen Pferdeschlag und fette Weiden voll silbergrauer Rinder des Schlages, wie sie aus Ungarn zu Tausenden nach Wien getrieben werden. Hier erblickte man auch die Anstalten einer gewaltigen Bienenwirtschaft; man sah Bienenstöcke anderthalb Manneslängen hoch aus hohlen Baumstämmen; man sah Waldbäume mit noch grünen Wipfeln zehn, fünfzehn Ellen hoch über der Erde angebohrt, mit Bienen bevölkert und mit Türen und Klappen verschlossen. Auch standen hin und wieder Pfähle unter den Bäumen, ich denke, die hinaufkletternden Bären drauf zu spießen.

In der Stadt Zitomirs hatten wir einen prächtigen Spaß. Wir aßen in einem Judengasthause Mittag – siehe! da entstand plötzlich ein so gewaltiges Klingen und Schwirren von durcheinandertobenden Instrumenten und ein solches Gelärm und Getümmel von Menschen, daß wir alle geschwind an die Fenster liefen. Was sahen wir? Es war ein Schauspiel für Götter, eine prächtige Judenhochzeit oder vielmehr der Reigen einer Judenhochzeit. Um den Marktplatz dieser allerdings etwas dreckigen Stadt tanzten einige hundert Juden, alt und jung, Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen immer ringsum, d. h. den weitesten Ring der Häuser haltend, ihren Reigen, Geigen und Dudelsäcke voran und Tosen und Geklingel hintennach. Es war wirklich eine allerliebste, wilde Naturjagd, und wir erlustigten uns königlich daran. Alles blitzte im prächtigsten Schmuck, und wahrlich an Perlen, Gold und Silber fehlte es um Köpfe und Hälse nicht, auch nicht an anmutigen Gestalten. Denn das dringt sich einem sogleich auf, daß es in Polen an Männern und Frauen viel edlere Judenbildungen gibt als in Deutschland, auch etwas viel Gemesseneres und Ruhigeres in Sitten und Art, als unsre unruhigen, neugierigen und alles betastenden und umwühlenden Hebräer oft verraten. Dies mag zum Teil daher kommen, daß die Juden hier an manchen Stellen in größeren Scharen beisammen wohnen, und auch daher, daß viele von ihnen die stilleren und frommeren Arbeiten des Feldes und der Viehzucht treiben.

Wir kamen endlich nach Kiew an dem Dnepr: einst die hohe Hauptstadt des werdenden russischen Reichs und noch jetzt die Spuren vergangener Herrlichkeit zeigend. Es war ein schöner Sommermorgen, als wir heranfuhren, und wir Fremdlinge staunten den fernen, wundersamen Glanz an. Es war mir wie ein erster Vorschimmer des Orients, all die goldglänzenden Türme und Kuppeln der Kirchen und Klöster und viele einzelne mächtige Häuser; doch deuchte mir die Stadt, als wir drinnen waren, wegen der vielen weiten, leeren Räume wie eine Verlassenheit, eine schöne Ruine der Vergangenheit. Aber sie hat die Lage einer Königin der Städte auf und zwischen stattlichen Hügeln über dem Dnepr. Wir stiegen wieder in einem ansehnlichen Judenpalast ab, wo wir ein sehr schönes Geschlecht, eine Mutter mit mehreren Töchtern sahen, und sprachen wie weiland der General Holofernes: »Wahrlich, die Hebräer haben schöne Weiber.«

Es war immer noch ein reiches, fettes Land, das Land jenseits Kiew, doch mit den früher gesehenen Fluren nicht zu vergleichen. Der Juden wurden nun immer weniger, wiewohl doch einige noch am linken Ufer des Dneprs wohnen. Wir kamen nun bald in das eigentliche Rußland. Nun ward alles reinlicher und netter, die Häuser besser gebaut, die Dörfer zierlicher angelegt, die Menschen rüstiger von Ansehen und besser in Kleidern. Doch hatten wir sehr heiße Tage und in den Häusern eine schreckliche Plage, die wir bisher nicht so gefühlt hatten, obgleich kein Sterblicher sich in Polen vor gewissem Ungeziefer retten kann. Es wimmelten nämlich die Häuser von einer Unendlichkeit von Flöhen, freilich keine Tiere von der großen italienischen Zucht, doch bei all ihrer Kleinheit schlimm genug, einen fast zur Verzweiflung zu bringen. Wirklich hatten wir auf einigen Posthalten so viele dieser Knicker und Zwicker aufgelesen, daß wir an dem ersten besten Wäldchen oder Büschchen stillhalten ließen, uns fast bis zur vollsten Natürlichkeit entkleideten und unsre Kleider einige Minuten im Winde hin und her schwenkten und ausstäubten, um das stechende und zwickende Gesindel in die weite Welt zu schicken. Wir trafen hier Dörfer, von Roskolniken, einer altgläubigen russischen Sekte, bewohnt, und machten die wunderliche Erfahrung, daß die Frauen Näpfe zerschlugen, worin wir uns die Hände gewaschen hatten. Denn was Andersglaubende zu nahe berühren, das halten sie unrein. Gefäße, woraus sie nur mit Löffeln gegessen, und die sie nicht mit den Händen berührt haben, werden nicht so entweiht geglaubt.

Wir hatten dieser Tage mehrere Proben, wie in Rußland mit Extrapostpferden, Feldjäger an der Spitze, verfahren werden darf, oder vielmehr, wie Verfahren wird und vielleicht nicht verfahren werden soll. Wann die Pferde im geschwindesten Laufe abgetrieben waren oder den Feldjägern auch sonst nicht stark genug deuchten, und sie eine Herde Rosse unweit der Straße weidend entdeckten, so flogen sie auf ihren Pferden wie die Pfeile unter sie und griffen sich die besten heraus, schirrten die matten ab und die eingefangenen ein und so paschol! (frisch fort!). Ich sah aber auch bei mehreren Gelegenheiten, daß die Hirten, sobald sie nur von ferne so einen fliegenden Extrapostwagen erblickten, oft wie der Blitz mit ihren Pferden Reißaus nahmen und sich von den Feldjägern nicht einholen ließen. Das auch ist gewöhnlich, daß, wo stillgehalten wird, der fahrende Bauer seine Sichel nimmt und auf den Feldern Klee, Wicken, Hafer, soviel er für seine Pferde bedarf, abschneidet. Dies erinnert an Reisebeschreibungen über die Moldau und Walachei.

Als wir über den Dnepr gesetzt waren, hatten die andern etwas an den Wagen zu berichtigen, und ich fuhr allein voran, versprechend, an dem nächsten Posthalt Abendbrot und Tee zu bestellen. Das tat ich, aber es vergingen Stunden, und mein Nachtrab fehlte immer noch, so daß ich glaubte, es sei irgend ein Wagenbruch oder gar noch was Schlimmeres eingetreten. Endlich kamen sie langsam hergefahren und stiegen noch langsamer aus den Wagen und gingen seitwärts jeder besonders seinen Weg. Der kleine Graf Ramsay aber rotglühend und mit einer verstörten Schreckensmiene, als sei ihm das größte Unglück begegnet, kam auf mich zu und erzählte mir, die beiden andern seien bei einem Gespräch über Paris und die Franzosen so aneinander geraten, daß er fürchte, es werde noch etwas Blutiges absetzen, ja der Marquis habe von Kugeln und Pistolen gesprochen, und er wisse nicht, wie er die wilden Burschen auseinanderhalten solle. Für ihn könne das aber sehr gefahrvoll werden, der Marquis, ein besonderer Schützling des Generals in österreichischen Diensten, Prinzen von Rohan, sei ihm auf die Seele gebunden, die Familie habe große Verbindungen, auch in Petersburg, und wenn dem Jüngling also ein Unglück begegne, so werde er es mit verschuldet haben müssen. Hier unterbrach ich ihn, indem ich in lautestes Lachen ausplatzte, mit den Worten: »Lieber Graf, machen Sie sich doch keine so düstre und blutige Träume zurecht. Ich sehe diesen beiden es an, daß sie keine Eisenfresser und Pulverschlucker sind; gehen Sie mal hin, das ist mein Rat, und schlagen ihnen vor, hier sei ja die prächtigste Gelegenheit, den Zwist mit Säbeln oder Pistolen auszugleichen: wir seien hier mutterseelenallein, dort sei ein hübsches Büschchen einige hundert Schritt hinter dem Posthause, Waffen und Pulver führen wir ja im Überfluß, und so könne im schönsten Abendsonnenschein ihr zorniges Mütchen abgekühlt werden.« Er wollte anfangs nicht dran, aber als er zuerst dem Marquis auf mein Zureden diesen ritterlichen Vorschlag tat, antwortete dieser, indem er einen leichten welschen Sprung tat, mit sanftmütiger Schafsmiene: »Bah! ein Marquis von Favars sich mit einem Griechen schlagen! Das wäre meiner Seele zu lächerlich, da uns jetzt die Schlachtfelder offen stehen. Und gestehen Sie selbst, Herr Graf, es waren Kindereien, worüber wir uns gekabbelt haben.« Doch erklärte er, er werde froh sein, des griechischen Gegenüber los zu werden, denn er könne so ein ewig lächelndes Gesicht nicht leiden. Es ward also ein Vergleich zustande gebracht, und ich erbot mich, um die beiden kurrigen Puterhähne auseinander zu bringen, den Franzmann in mein Wägelchen zu nehmen. Dies war freilich ein großes Friedensopfer. Es war gar ein armes, windiges Bürschchen, als Kind aus Frankreich geflüchtet, als seines Vaters Kopf, eines der ersten Schlachtopfer der Umwälzung, unter der Guillotine gefallen war. Dazu kam, daß er einen wahren Wachteufel welscher Lebhaftigkeit hatte, der meine Ohren mit den Embryonen seiner künftigen Taten überfüllte. Er errichtete nämlich auf meinem Wagen ein Kosakenregiment, das keinem napoleonischen Franzosen Quartier geben solle usw.

Lustiger als dieses leere Kriegsgeplapper meiner Elster, die bisher wohl nur in den Sälen der schönen Wienerinnen herumgehüpft war, umbrauste uns das Kriegsgetümmel oder vielmehr das Getümmel, welches Kriegsleben und Kriegswirtschaft bezeichnete. Tausende von Wagen mit Mundvorrat und auch mit Rekruten für das Heer, Zehntausende von Ochsen und Pferden, die ebendahin getrieben wurden, einzelne Züge Ulanen und Kosaken, auch Geleite einzelner Gefangenen zu Fuß und auf Wagen (es schienen keine Kriegsgefangene, sondern politische Gefangene), unendliche Nachtfeuer gelagerter Soldaten und Hirten durcheinander, ein brausendes, strudelndes Gewimmel und hin und wieder Gesang und Tanz dabei. Lustig und seltsam anzuschauen waren beim Mond- und Sternenlicht die Massen umherspringender, ganz nackter Menschen, welche an ihren Feuern, woran auch gekocht und gebraten ward, ihre Hemden und Beinkleider rundschwenkten und das Ungeziefer in die knisternden Flammen schüttelten. Ich wunderte mich darüber, und doch waren wir genötigt worden, bei hellem Tage in ähnlicher Not beinahe ähnliches zu tun. Immer kam es mir doch ein wenig tatarisch und barbarisch vor. So ließ sich unter diesen Belustigungen die lästige und unlustige Gesellschaft, viele Hitze, viel Staub, schlechte Abspeisung, stundenlanges Warten auf Pferde (denn es zogen viele außerordentliche Reisende dieses Weges, und wir bedurften immer zwölf Pferde) und selbst die blutdürstige Unverschämtheit russischer Fliegen und Flöhe ertragen, die Bremsen, welche die vielen Pferdezüge umherstreuten, mit eingerechnet.

Ich klage über schlechte Abspeisung. Wir fanden in den Dörfern die Menschen fast immer freundlich und willig, uns zu Hilfe zu kommen, aber in manchen derselben war reines Haus gemacht und der letzte Hahn schon abgefiedert; wir waren froh, wenn wir nur noch etwas Brot, Milch und Branntwein fanden. Doch ging es uns dagegen an andern Stellen, namentlich in Tschernigow, sehr wohl, und nirgends vermißten wir die nordische Gastfreiheit. Russische Kaufleute in den kleinen Städten und Flecken zogen uns mit gütiger Gewalt in ihre Häuser und labten uns mit dem herrlichsten Tee und Butterbröten; russische Edelleute in den Postdörfern führten uns mit patriarchalischer Gastlichkeit in ihre zierlichen Säle und erquickten uns mit Speise und Trank. Juden sahen wir in den Dörfern nicht mehr, außer bei dem Fuhrwesen und der Viehtreiberei, auch bei den Posthäusern, wo sie die Fremden (Deutsche und Engländer) oft weither, von Pest, Jassy, ja von Konstantinopel her, als Aushelfer und Dolmetscher begleiten. Denn in diesen Rollen kommen sie mit in Rußland hinein, wo sie keine Wohnungen aufschlagen und in der Regel nur wenige Tage verweilen dürfen. Merkwürdig ist, daß alle polnische Juden auch das Deutsche verstehen und sprechen; man sollte also auf die Vermutung kommen, sie seien weiland aus Deutschland von Westen gegen Osten in Polen und Litauen und die südlicheren karpathischen Nachbarlande eingewandert. Ihre Treue und Zuverlässigkeit bei diesen Geschäften ist allgemein berühmt. Meine Lust hatte ich an den russischen Fuhrleuten und Postknechten und an ihrer Munterkeit und Lebendigkeit. Selbst wenn die rohen Feldjäger, wie mir deuchte oft ohne die geringste Veranlassung, auf die Rücken der armen Burschen zuweilen losdraschen, daß sie gleich geschlagenen Brettern knallten, schüttelten sie diese Last ab wie die Gans das Wasser, schwangen sich auf ihre Pferdchen und sangen, pfiffen und klatschten wieder lustig fort. Mit ihren Pferden scheinen diese Naturkinder im Singen, Pfeifen und Plaudern eine Sprache zu sprechen, welche beide Teile vollkommen verstehen; denn das Pferd, welches höchst unvollkommen geschirrt ist und meistens nur durch einen einseitigen langen Zügel geführt wird, zeigt auf jeden Wink, Klang und Pfiff seines Lenkers in jeder veränderten Bewegung den vollkommensten Gehorsam. Ich habe hierlandes auch die größte Zärtlichkeit der Menschen für diese Tiere bemerkt, wie wild, häßlich und roh sie auch auf ihr eigenes Geschlecht losfahren.

Mein Reisetagebuch ist mir mit andern wertvollen Sachen bei meiner Heimkehr durch Polen guten Teils durch Diebeshand verloren gegangen, und ich weiß nicht auf den Tag genau, wann unsre Ankunft in der berühmten Stadt Smolensk war Arndt kam am 1. oder 2. August in Smolensk an, wie aus seinem Reisetagebuch, das er im Notgedrungenen Bericht I, S. 403 f. veröffentlicht hat, hervorgeht. Seine Annahme, daß ihm dies Tagebuch gestohlen sei, beruht also auf einem Irrtum; es war vielmehr mit andern Papieren beim Beginn der Untersuchung gegen ihn beschlagnahmt worden und wurde ihm erst 1840 nach seiner Wiedereinsetzung zurückgegeben. (D. H.).

Sie muß aber in den ersten Tagen des Augusts gewesen sein. Es war ein heller Morgen, die Sonne brannte schon, und wir fuhren langsam und so, daß wir oft fünf und zehn Minuten stillhalten mußten, durch ein wildes Heerlager und mitten unter Kürassieren, Kosaken und Kanonenzügen hin und wurden mit dem fürchterlichsten Staub bepudert und einpomadiert. Unser Möser sagt ja ganz recht, der Staub sei die Pomade des Helden. Endlich drangen wir in die Stadt ein und bis auf einige hundert Schritt zu dem empfohlenen Gastwirt, einem ehrlichen, deutschen Italiener, Simon Giampa, vor. Es war ungefähr zehn Uhr vormittags, und unsre Magen und Kehlen hatten schon seit Sonnenaufgang auf dieses erquickliche Ziel gehofft. Wir fochten uns endlich durch Menschen- und Pferdegewoge bis in den Hof des Giampa hinein. Ich fand dort einen deutschen Offizier, einen braven Sachsen, den Major von Bose, den ich später in Petersburg noch besser kennen lernte, auf einer Treppe sitzen, und auf unsre Fragen nach Wein und Brot erwiderte er: »Geduld! Geduld! meine Herren; ich habe meinen Bedienten ausgeschickt und brate hier schon über eine Stunde in Erwartung einiger Erquickung. Es ist hier schlechterdings nichts zu bekommen, weder Zimmer noch Speise; Sie sehen, die Kosaken- und Ulanenoffiziere haben den ganzen Hof und das Haus eingenommen; es kann sich kaum eine Maus hineindrängen.« – So setzten wir uns denn geduldig neben ihn, unser kleiner Graf aber lief und kam erst nach einer Stunde mit einer Flasche schlechten Donschen Weins und einem Brote wieder und rief: »Das kostet einen Dukaten, teilen wir's uns.« Wir taten so, gewannen noch eine Flasche Wasser und teilten dem Sachsen etwas mit. Erst gegen Abend floß der Strom ab, und wir gewannen endlich ein paar Zimmer und einige gebratene Hühner. Es war Krieg und die ganze Stadt und das Feld ringsum ein großes Lager, wozu sich täglich neue Truppen scharten; denn Barclay de Tolly und Prinz Bagration hatten sich nun vereinigt.

Mir lachte aber hier wieder ein besonderer Glücksstern. Es waren viele deutsche Offiziere hier, teils schon im russischen Heere angestellte, teils solche, die erst ins Getümmel mit hinein wollten, Sachsen, Österreicher, Preußen, die ihre Herzen und Schwerter auf die Franzosen gewetzt hatten. Bald traf ich liebe, alte Bekannte: meinen Grafen Chasot, den tapfern Spanienfahrer Leo Lützow, meinen Heimatsmann, den wilden Gustav Barnekow aus Rügen usw. Chasot sorgte hier, wo kaum für Geld etwas zu haben war, für meinen Erbanteil Pansascher Natur. Er war Generaladjutant bei der Brigade des ältern Prinzen von Oldenburg (des jetzt regierenden Herzogs) Großherzog August 1829–53. (D. H.) und aß täglich an der Tafel des Divisionsgenerals, Herzogs Alexander von Württemberg. Da steckte er mich mit unter bei der großen Mittagstafel; auch habe ich nächtlicher Weile ein paarmal mit ihm auf seinem Heu geschlafen in einem großen Saal, wo wohl ein halbes Hundert Offiziere nebeneinander hingestreckt schnarchten.

Die vier, fünf hier im getümmelvollsten Kriegsleben so hingesausten Tage waren mir höchst belustigend und erbaulich. Ich sah hier unter den mannigfaltigsten und wechselvollsten Gestalten die verschiedenen russischen Völkerscharen an mir vorbeimarschieren und vorbeigaloppieren, die vom Eismeer und vom Ural her und die in der Wolga und im Schwarzen Meere ihre Rosse tränken, schöne Tataren aus der Kabarda und aus der Krim, stattliche Kosaken vom Don, Kalmücken mit platten Nasen, bretternen Leibern, schiefen Beinen und schiefen Augen, wie Ammian vor fünfzehnhundert Jahren seine Hunnen malt, und häßlich und tückisch blickende Baschkiren mit Bogen und Pfeilen. Aber das Prächtigste war ein Geschwader von einem Fähnlein Tscherkessischer Reiter, in Stahlhemden und mit Stahlmützen mit wehenden Federbüschen, schönste, schlankste Menschen und schönste Pferde.

Ich fuhr mit einem jungen, deutschen Offizier von der russisch-deutschen Legion, der ins Lager geschickt war und nach Petersburg zurück wollte, den Weg auf Moskau, zuweilen auch in Gesellschaft mit dem Obersten von Tettenborn, mit welchem ich den Tag nach meiner Abreise aus Smolensk in Wiäsma zusammentraf. Es war dort eben ein Teil des Kaiserlichen Kabinetts anwesend, Graf Nesselrode, Herr von Anstett und mehrere, mit welchen wir zusammen bei dem Polizeipräsidenten zu Mittage tafelten in einem ungeheuren Saal, worin wohl ein Paar Hundert Gäste zusammengereiht saßen. Es war fast der ganze Adel aus der Gegend dort versammelt und Tausende junger Bauernburschen rings um die Stadt gelagert, die fürs Heer ausgehoben noch von Müttern, Schwestern, Bräuten begleitet wurden; auch hielten viele Wagen, welche verwundete Krieger ins Innere des Landes führten; brave verwundete Offiziere saßen mehrere mit uns zu Tisch. Da war heute Jubel und Begeisterung, und die Freude der Becher ging klingend um; und nach den Bechern, als alles sich vom Tisch erhob, erhielten auch die Fremdlinge ihre Gaben, von welchen erschollen war, daß sie nicht für Napoleon nach Rußland gekommen seien. Umarmungen, Händedruck, Küsse von schönen Frauen und Jungfrauen, welche ihr Vaterland fühlten. Es war eine außerordentliche Lebendigkeit und Aufwallung in dem ganzen Volke und auch bei den Geringsten im Volke, welche die Welschen wegen ihrer Unfreiheit Sklaven schalten: nichts bloß Angehauchtes und Gemachtes; nein, es brauste aus dem Innersten der Herzen gleich lebendigstem Sprudelwasser. Solche Gaben von schönen Frauen und Dirnen sind mir nachher in Petersburg, selbst in den Palästen der Orloffe und Lieven, öfter zugefallen an Tagen, wo Siegesnachrichten einliefen oder gefeiert wurden. Es ist auch die Sitte des Landes so, darin der englischen etwas ähnlich, daß die Frauen beginnen und das unschuldige Recht haben, die Männer nach der Tafel zu küssen. Ländlich sittlich.

Wir fuhren erst am folgenden Morgen von hier und hielten den Mittag mehrere Stunden in dem netten, freundlichen Städtchen Gschat an, weil mein Oberst seinen Wagen kalfatern lassen mußte. Ich war vor die Stadt gegangen und hatte mich auf einer grünen Wiese, wo stille Herden weideten, als wenn kein Krieg wäre, hinter einem Heuhaufen hingestreckt; eine dichtlockige Birke wehte über mir, und ich schaute sinnend und träumend in die Welt hinein oder vielmehr in die über mir hinfließenden Wolken. Siehe! da tönte Musik in mein Ohr, die immer näher und heller heranklang, und bald rollten mir lange Reihen von Wagen vorüber, die auch Landwehr führten, Geigen und Hornpfeifen auf mehreren Wagen voran, und Eltern, Geschwister, Bräute noch mit. So lustig zog es in den Krieg und in den Tod, gleich einem phantastischen Hochzeittraum mit Blumen und Spielen an dem Träumenden vorüber. Hier schied ich von meinem Obersten. Er fuhr von Gschat stracksweges auf Petersburg, ich und mein Offizier in einer kleinen russischen Telegga auf einem Umweg nach Moskau.

Ich habe die Wunderstadt nur zwei Tage gesehen. Mir deuchte, ich sah Asien: Armut und Pracht, Hütten und Scheunen und Ställe nicht bloß in den Vorstädten sondern hin und wieder mitten in der Stadt; dazwischen der Glanz der Paläste und Gärten, die vergoldeten Kuppeln und Türme der Kirchen und Klöster, der Kreml mit seinen goldnen Toren, Türmen und Zinnen. Dazu das ungewöhnliche Wogen und Wimmeln der Menschen in jener außerordentlichen, wildbewegten Zeit. Ich konnte nichts sehen in zwei Tagen, ich konnte nur staunen. Ich fand auch hier freundliche Aufnahme, zuerst bei dem Kommandanten des Kremls, dem General Heß, einem Deutschen, der in Rußland von deutscher Gradheit und Gemütlichkeit nichts verloren zu haben schien und mich und meinen Offizier, während er unsre Pässe durchschaute und unterschrieb, mit einem hübschen Frühstück bewirtete und uns selbst in seinem Wagen zum Gouverneur führte, sagend, er müsse doch eben in Geschäften zu ihm. Wir sahen ihn denn, diesen Gouverneur, den General Grafen Rostopschin, der einen Monat später durch die Einäscherung der alten Zarenhauptstadt so berühmt geworden ist. Wirklich hatte ich ihn schon gesehen, in Smolensk nämlich, in der Person eines verwundeten Majors, der bei Giampa in einem Zimmer neben dem unsrigen mit seinem verbundenen Knie auf dem Sofa lag und uns des Abends mehrmals bei seinem Tee um sich versammelte: ganz die Gestalt, die Augen, die Stirn, die derbe und doch freundliche Gradheit, mittlerer, starker Wuchs, ein breites, gestutztes Gesicht und eine kurze, regelmäßige Nase, große, blaue Augen, geschwinde Bewegung. So erschien Rostopschin, so sind mir nachher an vielen Orten viele russische Offiziere erschienen mit diesem Ausdruck, diesem Grundbilde. Man findet es wohl nicht oft mehr in den großen alten Familien, welche zu sehr europäisiert, hofisiert und abgeschliffen oder gar verschlissen sind, sondern in dem guten mittleren Adel. Wir wurden zu seiner Tafel geladen, wohnten einem großen Gepränge bei, einem Tedeum wegen eines Wittgensteinschen Siegs über den Marschall Oudinot, in der Johanniskirche am Kreml, und machten auch hier den begeisterten und klingenden Jubel bei Tische mit.

Der Weg von hier nach Petersburg geht über Twer und Nowgorod, zwischen Moskau und Twer durch ein schönes, reiches und wohlbebautes Land. Ich sah große, hübsche Dörfer und nette Bauernhäuser, mehrere von zwei Stock, mit hellen Fenstern und bemalten Gesichtern und mit manchem zierlichen Schnitzwerk und bunter Beblümung draußen und drinnen; sowohl die Häuser als die Täfelung der Wände drinnen fast ganz aus Holz. Hier ward ich an die Weise von Helsingland, Dalarne und Norrland in Schweden erinnert, wo die Bauern ihre Wagen und Pferdegeschirre und Häuser und Kirchen mit ähnlichem künstlichen Schnitzwerk verzieren. Bei der Anordnung und Einrichtung mancher Dörfer aber war ich oft geneigt zu glauben, sie hätten Hippokrates oder den Leibarzt Dr. Faust zu Bückeburg über Sonne, Luft und Wasser dabei vor Auge» gehabt. Einige Dörfer sind nämlich förmlich im Kreise gebaut, die meisten aber in einem Halbmond, welcher von Südost zu Südwest den möglich größten Teil von wärmender Sonne aufnehmen und von den bösen, kalten Winden von Nordost bis Nordwest am wenigsten zerhadert werden kann. Ganz auf diese Weise im Halbmondskreise findet man auch manche Höfe in Schweden gebaut. Überhaupt die Russen in dieser und in mehreren andern Beziehungen mit den unglücklichen, polnischen Bauern verglichen, welch ein Unterschied!

In den Dörfern und auf den Straßen war bis Nowgorod noch immer das die Waffen übende Menschengewimmel, und einzelne Züge von Kriegern, auch einzelne traurige Haufen von Gefangenen zogen an uns vorüber, unter diesen sogar Spanier und Portugiesen. Das Wetter war des Tages meistens sehr heiß auch wegen der kurzen nordischen Nächte. Zwar leidet man in dem viel reinlicheren Rußland nicht so viel vom Ungeziefer als in Polen, aber die barbarischen und unmenschlichen schwarzen Springer und Blutsauger verminderten sich nicht. Diesen zu entfliehen mied ich so sehr als möglich die Zimmer, und wenn durch Warten auf Pferde, was aber zwischen Twer und Petersburg selten eintrat, mal ein paar Stunden Rast gegeben ward, wickelte ich mich in meinen Mantel und legte mich, wenn es regnete, unter die Telegga, meine beste Habe unter meinem Kopf, summte hoc tibi proderit olim und schlief wie ein König. Ich hatte keinen Bedienten bei mir und mußte also meine Sachen selbst hüten und war wegen der notwendigen Hut schon ein paarmal gewarnt worden, zuerst in Smolensk bei Giampa, wo die Bedienten nicht aufgepaßt hatten, wo uns manches wegstibitzt war, und ich schon mit Schrecken mein Schatullchen mit dem Inhalt mehrerer Hunderte Dukaten vermißte, was ich jedoch glücklicherweise fand gleichsam aus Instinkt in meinem Bette versteckt zu haben – und zweitens in Wiäsma, wo uns während der jubelnden Mittagstafel im Vorzimmer des Präsidenten selbst mehrere Sachen abhanden gekommen waren. In dieser Hinsicht ist Rußland ein Arabien und die gemeinen Russen wie die Araber gebisch im Zelte und nehmisch auf der Straße.

Endlich fuhr ich durch das berühmte Großnaugard, von welchem das Hanseatische Sprichwort einst gesungen hatte: »Wer will streiten wider Gott und Großnaugard?« Aber dieses Nowgorod, wie es jetzt lebt, machte keinen so mächtigen Eindruck auf mich und trägt höchstens in einzelnen Kirchen und in dem weiten Umfange seiner Mauern noch Andeutungen seiner vormaligen Großheit, darin mit Kiew zu vergleichen. Iwan Wasiljewitsch der Fürchterliche stampfte die Freiheit und Unabhängigkeit dieser herrlichen Stadt und ihrer stolzen Bürger und der umliegenden Landschaften mit seinen eisernen Füßen zusammen, entführte viele Tausende ihrer mutigen Bewohner in den Süden des Reiches und setzte für sie andere der blinden Knechtschaft gewohnte Ansiedler in ihre Güter und Häuser ein.

Den vierten Tag nach meiner Abreise von Moskau flog ich dem anmutigen Zarskoje Selo vorbei, und bald erblickten meine verwunderten Augen die Newa und das neue Palmyra an ihren Ufern. Also hatte ich über hundert deutsche Meilen in vier Tagen gemacht. Der ganze Weg von Twer bis Petersburg ist äußerst einförmig, das Land nichts als eine flache Ebene, viele Sümpfe und Moore mit einzelnen Gruppen von Tannen und Birken, wenig Dörfer, nur hie und da ein einzelnes, zierliches Posthaus, oder ein gewöhnlich von einem Italiener bewohntes Wirtshaus. Der Weg ist übrigens ziemlich leidlich, einer guten Hauptlandstraße des großen Reiches ähnlich. Gottlob! mecklenburgische und holsteinische oder belgische Steindämme gibt es nicht, wohl aber Knüppeldämme in Menge, deren einzelne man auch Baumdämme nennen könnte, welche, aus ganzen Tannenstämmen zusammengelegt, vorzüglich über den Sümpfen und Morästen angebracht sind und auf dem hohlen und quebbigten Boden gleichsam aufspringend unter den Rädern zittern. Und über diese Zitterer war ich in der Telegga gefahren, einem niedrigen Wägelchen mit vier Rädern, in welchem man jeden Stoß aus der ersten Hand erhält. Auch taten mir die Rippen weh nach dieser soldatischen Fahrt, wo vier Tage und Nächte kaum ein Lullerchen von Schlummer meine Augen berührt hatte. Denn ich ward nicht bloß durch das Menschengewimmel und das Stoßen der Knüppeldämme wach gehalten, sondern hielt mich selbstwillig und freiwillig wach und lag wie der Hund des Schatzteufels auf meinem Gute, um nicht ganz ausgeplündert in Petersburg anzukommen. Ich nenne diese Fahrt eine soldatische, indem ich im Sinn habe, wie die Soldaten sein sollten, nicht wie sie sind. Denn meine Soldaten, gewiß ein paar tapfre und rüstige Männer, meinen Oberst Tettenborn und meinen Legionsoffizier, fand ich die Tage nach meiner Ankunft in der Hauptstadt beide halbkrank auf Bett und Sofa hingestreckt; ich aber blieb auf den Beinen und dachte: Deine Brust und dein Atem werden, wenn der liebe Gott will, wohl noch einige Jahre aushalten.

Ich machte bei meinen russischen Nachtfahrten eine Bemerkung, die mich noch heute in innerster Seele anlächert, eine Wiedererinnerung von Bemerkungen über Erscheinungen, die ich in ähnlichen Nächten, wo die Sinne durch Wachen überreizt waren, nimmer in Deutschland sondern nur in Schweden gehabt habe. Ich glaube, es sind die wunderseltsamen Lichtspiegelungen, welche die ganz anders als in Deutschland sternhellen und mondhellen Nächte in die Sinne hineinwerfen und dadurch eine ihnen nur eigne Zauberei hervorbringen. Genug: die Bäume, Felsen, Häuser und andre leblose Gebilde, wie man ihnen vorüberfliegt, gewinnen alle gleichsam lebendige Gestalt und springen zuletzt als ebensoviele zauberhafte und seltsame Tiere und Ungeheuer hervor. Ich weiß nicht, ob hier die Wirklichkeit der Dinge in die innere Idee des Geistes hineinfährt, oder ob die Idee ihre eignen Bilder in die Dinge hinausstößt. Indessen darüber werden die Philosophen sich bis ans Ende der Tage streiten, aber die Tatsache bleibt dieselbe. Ich will daraus die Menge der Zaubergesichte in Schweden erklären und die Gespensterhervorrufung und Geisterladung eines Swedenborg.

Ende Augusts 1812 fuhr ich in St. Petersburg ein und sogleich geradeswegs zur Burg des Herrn Ministers Freiherrn vom Stein. Diese Burg führte den Namen Demut nach dem Namen des Wirtes des Gasthofes, worin der Minister einstweilen noch einige Monate blieb und dann in geringer Entfernung einen ihm angemessenen, palastartigen Bau bezog. Ich fand in der Demut sogleich ein paar Zimmer für mich und nahm mir einen deutschen Bedienten an, einen gebornen Estländer, ein hier durchaus unentbehrliches Gerät. Ich ward nun bei dem Herrn Minister ordentlich angestellt, einstweilen gleichsam wie im russischen Dienst; denn ich bekam mein Gehalt aus öffentlichen Kassen ausbezahlt, und zwar noch während meines Aufenthalts in Preußen; späterhin, versteht sich, aus der Kasse der Zentralverwaltung für Deutschland. Auch die Gelder, die ich auf meiner abenteuerlichen Reise von Prag bis Petersburg aufgewandt, bekam ich zurückerstattet. Ich bin hier (ich will diese Kleinigkeiten auf einmal herzählen) von ihm in allerlei kleinen Schreibereigeschäften, zur Dublierung und Entzifferung von Briefen und Depeschen, zur Abfassung einzelner kleiner Flugschriften gebraucht worden, so wie bei den Angelegenheiten, welche die Errichtung der sogenannten Deutschen Legion betrafen. Auch hat mich ein alter russischer Admiral zuweilen in Atem gesetzt und in Anspruch genommen zur Erlustigung und Unlustigung, wie die Würfel der Einfälle und Gedanken, die mit dem alten Herrn durchgingen, eben fielen. Es war der Admiral Schischkow; so ward der Name ungefähr ausgesprochen. Dies war ein Original von einem Mann, ein echter Russe, denke ich, von allerbestem Schlage. Er trug den Grundtypus seines Volkes, Lustigkeit, Gespaßigkeit und eine unbeschreibliche Gewandtheit und Lebhaftigkeit beide in seinem Glieder- und Gebärdenspiel. Er muß etwas von Suworow gehabt haben. Ein fünfundsiebzigjähriger Greis Schischkow war 1754 geboren, damals also erst 58 Jahre alt. (D.H.), mehr mager als beleibt, mit einem ganz eigentümlichen Gesicht und ironischen, jedoch dabei höchst gutmütigen Zügen, unaufhörlich hin und her fliegenden Wechseln in denselben, wie ich es kaum an einem Menschen gesehen habe. Dabei hatte er die Gewohnheit, welche ganz russisch scheint, nicht durch Worte sondern durch Pantomimen die werdenden Geburten seiner Einfälle und Gedanken zu bezeichnen; und es ward dem Greise überhaupt schwer, seinen Geist, dessen er wahrlich genug hatte, ins Wort zu übersetzen oder richtiger ihn an das immer dürftige Wort zu fesseln. Hiebei muß ich gelegentlich bemerken, daß die Russen in der Pantomime und im Charakterspiel auf dem Theater und im Tanze einzig ergötzlich sind. Mit dem allergrößten Vergnügen habe ich oft stundenlang im russischen Theater ohne Langeweile aushalten können, ohne daß ich ein Wort verstanden hätte, so sehr ergötzte mich die Sprache der Bewegungen und Gebärden. Dieser alte, würdige Admiral, der blutwenig Deutsch verstand, hatte entweder von mir reden gehört oder irgend einen meiner kleinen Aufsätze oder Übersetzungen davon zu Gesicht bekommen. Er war damals, nachdem Romanzoff den Minister des Innern Speranski gestürzt hatte, gleichsam als ein Lückenbüßer in seine Stelle eingeschoben und hatte unter anderm auch Aufrufe und Verkündigungen an das Volk zu erlassen. Da suchte er nun gewaltige und mächtige Worte und Redensarten, übersetzte mir seine Sachen in schlechtes Französisch; das mußte ich denn deutsch geben und dieses wieder, wenn möglich, mit Mehrung und Erhöhung des Ausdrucks und Gedankens in wahrscheinlich noch schlechteres Französisch zurückübersetzen, wodurch er dann endlich sein Russisches noch zu heben suchte. Ich erinnere mich nur, daß dies bei aller Erlustigung, welche des wackern Greises Persönlichkeit mir gab, eine Schwerenotsarbeit war, von welcher ich, da ich kein Russisch verstand, nicht einmal den Erfolg zu schmecken bekam.

So ward ich hier befestigt in einer nicht unwürdigen noch unwillkommenen Stellung. Das war ungefähr das Ende meiner Jugendzeit, die ungewöhnlich lang geworden ist. Man sagt: Die Jugend hat Glück. Ich Flüchtling hatte dieses Glück auf zwei Fluchten. Das erstemal in Schweden, wo ich durch den Rücktritt von Schubert sogleich in dessen Stelle trat; das zweitemal hier in Petersburg. Ich hatte vor dem Jahr 1807 den Namen des Herrn vom Stein nicht gehört. Im Jahr 1808 ward es ein europäischer Name durch die Gesetze und Einrichtungen, die er zur Wiederbelebung und Wiederaufrichtung des gefallenen preußischen Staates machte. Im Jahr 1809 ward er dem deutschen Vaterlande durch Napoleons Ächtung als ein Lichtzeichen gezeigt. Dieser hohe Mann geriet auf meinen Namen und lud mich zu sich. Meine Gesinnung und mein Schicksal jagten mich freiwillig nach Rußland; durch ihn bekam ich dort eine sichere und ehrenvolle Stellung. Gott öffnete mir damals die Wege, ja er ebnete die Pfade vor mir; später scheint er sie mit gesperrt zu haben. So sind seine dunkeln, wundersamen Verhängnisse.

Ich bin hier also gegen das Ende des Augusts angekommen, ich meine den 26. oder 27. Tag jenes Monats Arndt kam am 16. August in Petersburg an (Pertz, Stein III, S. 116). (D. H.), und trat vor den Minister, welchem ich aus seinem Prag einige mündliche Erzählungen überliefern konnte. Ich ward mit großer Freundlichkeit von ihm empfangen. Mich hatten seine Gestalt und Darstellung betroffen, als hätte ich schon irgendwo ihresgleichen oder ihresähnlichen gesehen; aber ich wußte mich anfangs nicht zu erinnern. Erst als ich einige Stunden vor ihm am Teetisch gesessen und die ersten Eindrücke sich beruhigt und abgeklärt hatten, rief ich in mir Fichte! Ja vieles von meinem alten Fichte schlug mich nun: dieselbe Gestalt ungefähr, kurz, gedrungen, breit; dieselbe Stirn, nur noch breiter und zurückgebogener; dieselben kleinen, scharfen, funkelnden Augen; fast dieselbe nur noch mächtigere Nase; die Worte derb, klar, fest, mit kurzer Geschwindigkeit gleich Pfeilen vom Bogen gerade ins Ziel schlagend. Daß ich die Fichtische unerbittliche sittliche Strenge in den Grundsätzen bei ihm bewundern mußte, ergab sich sehr bald. Der Unterschied war nur, daß dieser Mann der Sohn eines alten, reichsfreiherrlichen Stammes am Rhein, Fichte der Sohn eines armen Tuchwebers in der Lausitz war; daß dieser Reichsritter mit voller Gewalt durch die Schatten und Nebel des Nichtich immer zum Ich hinaufrang, jener Philosoph aber von dem erhabenen Ich in die Schatten und Nebel des Nichtich hinabsteigend vergebens strebte, es auf diesem Wege zu begreifen und mit dem Ich zu vermitteln. Dies war der erste flüchtige Eindruck. Ich zeichne den großen und guten Mann noch mit ein paar Worten, wie er mir damals und in späteren Jahren seinem eigensten Wesen nach erschienen ist Vgl. Wanderungen mit dem Freiherrn vom Stein, S. 12. (D. H.).

Ich habe oben von zwei Welten in Blüchers Angesicht gesprochen. Dergleichen mag sich wohl in den meisten Gesichtern finden, oft wohl drei, vier oder gar mehrere, die miteinander streiten. Wenn ihrer aber soviele sind, dürfen sie nicht Welten heißen sondern hadernde und einander zersetzende und zersetzende Temperamente und Leidenschaften. Auf dem obern Teil des Steinschen Antlitzes wohnten fast immer die glanzvollen und sturmlosen Götter. Seine prächtige, breite Stirn, seine geistreichen, freundlichsten Augen, seine gewaltige Nase verkündigten Ruhe, Tiefsinn und Herrschaft. Davon machte der untere Teil des Gesichts einen großen Abstich; der Mund war offenbar der oberen Macht gegenüber zu klein und feingeschnitten, auch das Kinn nicht stark genug. Hier hatten gewöhnliche Sterbliche ihre Wohnung, hier trieben Zorn und Jähzorn ihr Spiel und oft die plötzlichste Heftigkeit, die gottlob! wenn man ihr fest begegnete, sich bald wieder beruhigte. Aber das ist wahr, daß, wenn dieser schwächere untere Teil im Zorn zuckte und der kleine, bewegliche Mund mit ungeheurer Geschwindigkeit seine Aussprudelungen vollführte, die oberen Teile wie ein schöner, sonniger Olymp noch zu lächeln und selbst die blitzenden Augen nicht zu dräuen schienen; so daß wer vor der unteren Macht erschrak, durch die obere Macht getröstet ward. Sonst sprach aus allen Zügen, Gebärden und Worten dieses herrlichen Mannes Redlichkeit, Mut und Frömmigkeit. Es war ein herrischer Mann, wäre ein geborner Fürst und König gewesen, kurz ein Nummer-Eins-Mann. Ich will hiemit nicht gesagt haben, daß einer als ein Nummer-Zwei-Mann nicht auch vortrefflich sein und wirken könne. Das versteht sich ja von selbst; aber Stein war nicht dazu geschaffen. Es war eine zu mächtige Eigentümlichkeit in ihm, seine Natur überhaupt aus einem so strengen Metallgusse, daß er sich einer fremden Natur nicht leicht anschmiegen, viel schwerer noch sich ihr unterschmiegen konnte; was die edelsten Menschen für gute Zwecke oft getan haben und tun müssen.

Ich weiß nicht, auf welche besondere Weise oder durch welche besondere Veranlassung der Herr vom Stein nach Petersburg gekommen ist. Auf die Einladung des Kaisers durch einen Brief – das versteht sich, und das hat er mir selbst erzählt. Von andern habe ich wohl gehört, der Kaiser, jetzt auf dem Rande eines ungeheuren Durchbruchs der Dinge stehend, habe sich an Worte erinnert, welche der Minister im Sommer 1807 zu Tilsit weissagend zu ihm gesprochen habe Diese Unterredung fand erst im September 1808 während Alexanders Aufenthalt in Königsberg statt; 1807 war Stein in Nassau. (D. H.), und habe, diese Weissagungen in seinem Briefe erwähnend, ihn berufen. Wie dem nun sei, der Herr vom Stein hatte hier keine Kämpfe – denn er ging ohne Furcht immer gerade durch und überließ das übrige Gott – aber der Kaiser Alexander hat sich langsam durchkämpfen müssen. Dieser Herr war jedes Anhauchs und Anflugs des Großen und Edelmütigen fähig, aber es war etwas Weiches in seiner Natur, was die feste Ausdauer und die männliche Härte versagte. Der Krieg mit Napoleon war erklärt, und die ersten blutigen Zusammenstöße hatten schon geknallt; aber noch immer saß Romanzoff am Ruder und hatte den Minister des Innern, den verdienten Speranski, und den Geheimen Staatsrat Beck in seinem Ministerium, weil sie dem Kaiser Vorschläge und Ratschläge zu den kühnsten und geschwindesten Maßregeln übergeben hatten, in Verbannung und Kerker geschickt. Er war bekannt als die Seele des gegen Spanien, gegen England und Österreich beschwornen und nur zu lange und zu schimpflich gehaltenen napoleonischen Bündnisses; er, in seinen Sitten und Gewohnheiten ein abscheulicher Weichling, gehörte zu den Entnervten, die in Napoleon den Schicksalsmann des göttlichen Fingers sahen, den keine irdische Macht werde bändigen können; sein Rat war Friede und Unterwerfung gewesen. Kaiser Alexander hatte nicht den Mut, sich plötzlich von dem alten Mann zu scheiden und loszureißen, obgleich Stein über diese Stellung, besonders über die Meinung, welche diese Stellung bei England, Österreich, Preußen und bei allen, die einmal an dem Joche des Korsen schütteln konnten, notwendig hervorbringen müsse, dem Kaiser die redlichsten und tapfersten Wahrheiten gesagt und geschrieben hatte. Ich habe von ihm an den Kaiser gestellte Briefe abschreiben müssen, welche nach Wien und London geschickt wurden, in welchen dieses Verhältnis und die Unbrauchbarkeit und Schädlichkeit des weichlichen, wollüstigen und charakterlosen Mannes mit dem leisen Tritt und der honigsüßen Miene mit Steinscher Kürze und Klarheit geschildert war. So wirkte er auf den Kaiser, aber eine breitere, mächtigere Bahn machte er sich bald in der großen Petersburger Gesellschaft, und durch diese wirkte er wieder, vielleicht mächtiger, auf den Kaiser zurück. Sein Mut, seine Kühnheit, noch mehr sein Witz und seine Liebenswürdigkeit drangen allenthalben durch und ein und leuchteten und zündeten wie Blitzstrahl, wo irgend noch etwas zu zünden war. Die sittliche Schönheit und Klarheit seines Wesens, durch und durch mit Mut durchgossen, und die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit, womit er in den kürzesten, unscheinbarsten Worten an den Tafeln und Teetischen zu spielen wußte, wo er sich auch gern und unbewußt selbst im leichteren Kosen und Scherzeln hingehen ließ, machte ihn bald zu einem mächtigen Mann in der Petersburger Gesellschaft; sein tapferer Wille, seine Einfälle, seine Worte wurden zu Anekdoten ausgeprägt, welche wie Blitzfeuer rundliefen. Bald hatte er einen sehr bedeutenden Anhang, der um so treuer war, da alle wußten, daß er nur als Pilger gekommen sei, der mit dem Siege wieder gegen Westen wolle, daß er also keinem in den Weg treten werde. Er stand endlich in Petersburg wie das gute Gewissen der Gerechtigkeit und Ehre, und die Orloffe, Soltykoffe, Ouwaroffe, Kotschubey, Lieven und das zum Begeistern und Fortschnellen so allmächtige Heer der schönen und geistreichen Frauen pflanzten sein Banner auf. Auch war er der unerschütterlichste Fürst und Feldherr des Mutes. Als die Nachricht von der Schlacht von Borodino und bald von dem Brande Moskaus ankam, und Zar Konstantin umhersprengte und Frieden! Frieden! rief, als die Kaiserin-Mutter und Romanzoff Frieden flüsterten, trug er sein Haupt nur desto heiterer und stolzer. Ich habe ihn gesehen, diesen heiteren Mut. Ich war den Tag nach der eingelaufenen Kunde von jenem Brande mit dem tapfern Dörnberg und mehreren wackeren Deutschen bei ihm zur Tafel, Nie hab' ich ihn herrlicher gesehen. Da ließ er frischer einschenken und sprach: »Ich habe mein Gepäck im Leben schon drei-, viermal verloren; man muß sich gewöhnen, es hinter sich zu werfen: weil wir sterben müssen, sollen wir tapfer sein.«

Diese Schlacht an der Moskwa oder bei Borodino, den 7. September, der Einzug der Franzosen den 14., und der Brand der alten Hauptstadt den 15. und 16. September machten einen großen Einschnitt, den ersten großen Einschnitt in den Lauf dieses Feldzugs, jagten auch in Petersburg die verschiedensten Meinungen und Ansichten in einem ungeheuren, brandenden Wellenschlage durcheinander, siegten aber endlich durch heitres, sich aufhellendes und stählendes Frostwetter des ausharrenden Mutes bei dem Kaiser und bei dem Volke. Auch hier waren anfangs die Ansichten geteilt, ob die Franzosen oder ob der General Rostopschin die Einäscherung Moskaus verschuldet habe. Die den Mann kannten, sagten Rostopschin, aber die meisten fluchten auf die Tat als auf eine schauerliche Greulichkeit. Als aber die Franzosen anfingen, darüber zu fluchen und Rostopschin als einen Abscheu der äußersten Barbarei hinzustellen, da wendete es sich bei den Russen um, und da erst merkten sie, welche Glorie für das Volk, und welche Niederlage für den Feind in diesem flammenden Opfer aufgelodert sei. Nun ward Rostopschin mit einem Male der große russische Name, und es erhoben sich Erzählungen und Sagen von vielen Vorbereitungen und Veranstaltungen für diesen Zweck, die der Mann nie weder gedacht noch gemacht hatte. Nun liefen auch Fabeln um von einem ungeheuren Höllenball voll feuer- und kugelspeienden Verderbens, welchen Rostopschin in der Nachbarschaft von Moskau mit mehreren Luft- und Feuerkünstlern bereitet habe, und welcher bestimmt gewesen sei, mitten auf das französische Heer herabgelassen zu werden. Eine Sage, welche die Franzosen in ihren Tageblättern wiederholt haben. Rostopschin war ein echter Russe, ein Mann, der sein Volk verstand, der mit ihm und zu ihm zu sprechen verstand – dies bewiesen alle seine Erlasse und Verkündigungen in Moskau – er war auch nötigenfalls der Mann von einem höllenstürmenden Mut. Früher war er bei Kaiser Paul Generaladjutant gewesen, und der Kaiser war in allen seinen Burgen sicher gewesen, solange dieser gefürchtete Mut um ihn gelagert war. Erst als Rostopschin durch Beförderung zu Stellen, die er gar nicht gewollt hatte, von denen, welche im Finstern zettelten, aus Petersburg entfernt war, wagten sie sein letztes Schicksal zu entscheiden. Napoleon hatte durch die Einäscherung Moskaus seinen Feldzug verloren. Wie weh diese Flammen den Franzosen taten, zeigt ein Aufsatz aus diesen Tagen im Journal de l'Empire. Hier ist er:

»Hätte man die greuliche Barbarei der Russen je bezweifeln können, so würde ihr Verfahren in ihrem eignen Lande uns besser davon überzeugen als alles, was man über ihre Sitten je gedruckt hat. Durch unsre Waffen besiegt, rächen sie ihre Niederlagen dadurch, daß sie die Städte, die sie nicht verteidigen können, verbrennen. Weiber, Kinder, Greise, selbst ihre eignen Verwandten sind die Schlachtopfer ihrer unsinnigen Wut und ihres rohen Stolzes. Wir scheinen sie nur noch zu verfolgen, um sie vor ihrer eignen Wut zu schützen, und diejenigen, welchen man in dem Siegesrausche einige Unordnungen verzeihen konnte, kommen nur herbei, um das Volk vor den Ausschweifungen des Heeres, das es verteidigen soll, zu retten. Was würde aus dem gesitteten Europa werden, wenn diese Scharen Mordbrenner darin eindringen könnten. Die Trümmer Roms und Italiens geben Antwort. Die heutigen Barbaren sind noch die Barbaren von weiland. Gab es je einen Volkskrieg, so ist es unstreitig der Krieg für die Umstürzung dieses blutdürstigen Kolosses, der sich seit hundert Jahren unter dem Geklirr von Ketten, womit er Europas Freiheit bedroht, und mit dem Schein von Fackeln, womit er die Trümmer desselben beleuchten will, gegen uns vordrängt. Bei der Belagerung Wiens ward Europa einmal vor der Überschwemmung der Barbaren geschützt, aber seine Ruhe war noch ohne Bürgschaft. Es mußte sich ein mächtiges Genie erheben und alle Streitkräfte der gesitteten Welt bis in den Mittelpunkt der Barbarei führen, um ihr den Herzstoß zu geben. Dies ist das große Gemälde, welches sich vor den Augen der erstaunten Welt aufrollt, und wovon die Einnahme Moskaus einen der wichtigsten Gegenstände ausmacht. Man hatte geglaubt, der Feind würde seine alte Hauptstadt verschonen; man hatte um so mehr Grund dazu, als nach glaubwürdigen Briefen der russische Oberfeldherr einen Parlamentär ins französische Hauptquartier geschickt hatte, um Moskau der Gnade des Siegers zu empfehlen. Aber so groß ist die in Rußland herrschende Unordnung, daß ein Statthalter wagt, aus eigener Macht Banden von Räubern und Mordbrennern zu organisieren und eine Stadt, worin ein ganzes Heer sich nicht hatte behaupten können, mit einer Handvoll Missetäter zu verteidigen hofft. Nie hat die wahnsinnigste Grausamkeit eine scheußlichere Tat ersonnen; der Name des Mannes, der sie beging, muß ein Fluch der Zeitgenossen und ein Abscheu der Nachwelt bleiben. Übrigens hat man trotz der schauderhaften Vorsicht des Statthalters, die Feuerspritzen fortzuführen oder zu vernichten, die Hoffnung, daß verschiedene durch große Felder abgesonderte Quartiere vom Feuer werden verschont geblieben sein. Nach einem vor uns liegenden Briefe hatte man große Vorräte (?) Reis, Branntwein und Mehl gerettet und entdeckte noch jeden Augenblick neue. Der Rückzug der Russen geschah so übereilt, daß sie sich nicht einmal Zeit nahmen, die zahlreiche, in Zeughause liegende Artillerie zu vernageln. Aber grauenvoll ist – und selbst Menschenfresser würden darüber schaudern – daß der Tatar, der in Moskau Statthalter war, sogleich zuerst die Quartiere, worin die Spitäler liegen, anzünden ließ, und daß die 30 000 (?) Verwundeten und Kranken, welche in der Schlacht vom 7. September dem Tode entgingen, ihn nun in den von ihren Landsleuten angezündeten Flammen finden mußten. Kann man wohl Rasende, die ihre Verwundeten verbrennen, ein Volk nennen? Nein, Europa gibt sie zornig der Verachtung aller gesitteten Nationen preis und ruft den Fluch der kommenden Jahrhunderte auf sie herab.«

So schwer fühlten die Franzosen, daß die Sonne von Austerlitz in dem Rauch dieser Flammen erloschen war. Denn es war an dem Tage von Borodino ein heller Sonnenaufgang; da rief Napoleon seinen Soldaten zu: » Es ist die Sonne von Austerlitz! Das Heer nahm die Vorbedeutung an und schlug den Generalmarsch So lautet es in dem französischen Bulletin über diese Schlacht..« Aber Kaiser Alexander hatte auch nicht Muts genug zu der ungeheuren Tat, die allerdings soviel Glück und Vermögen, was aber nur den Franzosen zugute gekommen wäre, zerstört hatte, ein festes Ja oder Nein zu sagen; so daß General Rostopschin nicht anerkannt ward, sondern wie in einer Art Ungnade nicht lange darauf das Land verließ. Doch war dies ein Stück von Numantia und Saragossa, und den Welschen mußte sich das letzte Haar auf dem Kopf bewegen, wenn sie Saragossa hörten. In den Flammen Moskaus aber leuchteten zehn Saragossas. Europa aber rief keinen Fluch über die Flammen aus, noch empfand es Abscheu, aber wohl jenes Erstaunen und Schrecken, welche das Gefühl desjenigen sind, der sich der Großheit solches Verderbens nicht mächtig glaubt.

Ich habe oben die Russisch-Deutsche Legion genannt. Viele deutsche Offiziere, und zwar gerade nicht von den gewöhnlichsten, waren aus der Heimat entwichen und gegen Osten gezogen. Es war ein dunkles Vorgefühl in den Menschen, Gott werde durch ein Glück, welches Kraft, Kunst und List zu einer Macht aufgebaut hatten, welche die Gemeinen und Feigen gleich einem unverrücklichen Schicksal anstaunten, endlich einen Bruch reißen. Den Anfang eines solchen Risses meinten sie schon in Spanien gewahrt zu haben; Napoleon, dessen Stolz und Herrschsucht sich in diesem neuen Iberien schon an vielen scharfen Dornspitzen zerstoßen hatte, werde sich in Scythien verlaufen. Diese Entwichenen, meistens Preußen, treue, tapfere Männer, meinten hier nicht gegen sondern für ihren Herrn und König zu fechten. Groß gewiß war ihre Herzensnot, daß sie in der Fremde den Mut kühlen mußten, den sie lieber in der Heimat gekühlt hätten. Sie wußten, ihres Königs Herzensnot war tausendmal größer, daß er sich als Freund und Bundesgenoß des Mannes gebärden mußte, der die Ehren seines Volkes schändete und alle beschwornen Verträge und Gelübde, wie der Augenblick ihm gelegen deuchte, gleich zerrissenen Spinnweben durch die Lüfte blies. Sie lagen hier bei den Fremden wahrlich nicht auf Rosen: denn groß ist das Leid des Ehrenmanns, der als Flüchtling zu den Fremden kommt. Schon Kallinus vor zweitausendfünfhundert Jahren sang: »Er wird durch Neid und Haß und Mißgunst denen verhaßt sein, wohin er gelanget.« Viele dieser Entwichenen fochten nun mit im Heere; andere lebten in Petersburg, um aus deutschen Gefangenen, Überläufern und Freiwilligen eine Deutsche Legion zu bilden, welche Fahnen und Schwerter erheben sollte, so wie der Sieg aus diesem Osten gegen die vaterländischen Grenzen nach dem Westen vorrücken würde. An der Spitze der Errichtung dieser Legion standen der regierende Herzog von Oldenburg, auch er ein entwichener Flüchtling, der Graf Lieven, jüngst noch Gesandter in Berlin, und der Minister vom Stein, die ungleichsten Männer; was viele kleine Häkeleien gab. Der Herzog, ein würdiger, trefflicher Fürst, war feierlich, kalt und gemessen und freilich nicht gemacht, soldatischen und kriegerischen Angelegenheiten Atem und Feuer einzublasen. Der kurze Stein war in Verzweiflung, wenn er mal mit ihm sich besprechen und beraten mußte: »Der steht vor mir ganz wie der alte deutsche Reichsprozeß und doziert mir zwei, drei Stunden stans pede in uno«, pflegte er von ihm zu sagen. Als ich zuerst ging, mich vor dem Herzoge zu verneigen, warnte er mich, ihn ja ruhig fortsprechen zu lassen, er werde mich in der Reichs- und Fürstengeschichte belehren, und so geschah es. Mit Lieven war gut handeln: der unterstellte seine Wirksamkeit in diesen und andern deutschen Sachen gern der Einsicht und dem Willen Steins. In diesen Geschäften bekam ich zuweilen auch kleine Aufträge, hatte wenigstens zuweilen kleine Vermittelungen zwischen einzelnen Offizieren und meinem Herrn. Durch die langsame und etwas pedantische Weise des Herzogs wurden die armen Offiziere auch oft zur Verzweiflung gebracht, und die feurigsten waren oft nahe daran, sich von dem ganzen Plan zurückzuziehen und sich lieber in dem russischen Heere zu verlieren, wo ihnen freilich auch nicht leicht eine würdige Tätigkeit beschieden ward, zumal da die Russen, als es mit ihren Dingen anfing glücklicher zu gehen, gegen die Fremden, die sie nicht leiden können, einen unerträglichen Stolz und Hohn übten. Das war eine harte Geduldprobe vieler trefflichster Männer; doch hat Gott ihnen verliehen, im Jahr 1813 ihre Schwerter fürs Vaterland mit welschem Blute zu röten. Unter diesen mit mancherlei Verdruß und Ärger durchflochtenen Dingen gab es gottlob! auch recht heroische Freuden, die uns, wann wir auf dem weichen Friedenspfühle schlummern, nimmer werden können. Welche Abende und Nächte mit euch, ihr Heldenseelen, von welchen so viele schon von andern Sternen auf die Leichenfelder jener Jahre herabschauen! Da waren die Dörnberge, Clausewitze, Goltze, die Grafen Friedrich und Helvetius zu Dohna, auch edle Kammer und Geher: Boyen, Adolf Lützow usw., und das gab denn oft einen jauchzenden und jubelnden Zusammenklang der Herzen und der Becher, zumal nachdem die Flammen Moskaus unendliche Hoffnungen befeuert hatten.

Dies war fast mein täglicher, schöner Kreis, in welchem ich mich bewegte; doch darf und will ich einen andern nicht verschweigen, welcher auch seine Lust hatte. Ich fand in Petersburg große Handelshäuser, deren Häupter Männer aus meiner Heimat waren, und ward in manchen andern deutschen Häusern und unter den Gelehrten und einzelnen Akademikern bald wie heimisch. Die Gastlichkeit des Nordens herrschte hier in ihrer Fülle. Auch fand ich alte, schwedische Bekannte, unter ihnen den General Grafen Armfelt, damals Generalstatthalter Finnlands. Man konnte sich hier vor Einladungen und Schmausen kaum retten. Das Leben war ein Nachtleben, wie es im hohen Norden der Winter schon mit sich bringt, und die Hauptstädte es begreiflicherweise dreifach mit sich bringen. Vor Mitternacht ging man fast nie aus einer Abendgesellschaft, oft nicht vor zwei, drei Uhr früh. Vormittags aber durfte man nicht erwarten, vor zwölf Uhr jemand sprechen zu können.

Unter vielen bedeutenden Männern lernte ich auch Schubert den Astronomen, Klinger den Dichter, und den Weltumsegler Krusenstern kennen, alle drei Deutsche, der letzte aus einer schwedischen Familie stammend. An Schubert war ich gewiesen als an einen Mann aus meiner Heimat. Ein hoher, schöner und geistreicher Mann, aber durch Hochmut verdorben. Er war ein Vergötterer Napoleons, zweifelte an jedem Erfolg gegen ihn, schien überhaupt Geist und Glück anzubeten, kalter Hohnlächler und Menschenverächter. Vielleicht hatte er das hier gelernt; indessen gehört zu allem irgend eine geborne Anlage. Er gab mir die Lehre: »Der Mensch ist eine dienstbare und lastbare Bestie, lieber Landsmann; hier ist sie eine doppelt tückische Bestie; gewöhnen Sie sich hier recht grob und hoch aufzutreten, dann hält man Sie für etwas.« Solche widerliche Lebensregeln möchten auch anderswo für gewisse Charaktere ihre praktische Gültigkeit haben. Ich war ein paarmal bei diesem hochfahrenden und vornehmen Gelehrten und kam nicht wieder. Klinger war eine hohe, mächtige Gestalt, schon mit schneeweißem Haupt, ein Leib wie aus Metall gegossen, ein hoher, tiefer Blick, eine gewaltige Stimme. Aber auch dieser Frankfurter war hier zu einem fürchterlichen Weltmann abgeschlossen, geglättet und gehärtet. Es kam der Jammer über ihn; in der Schlacht bei Borodino verlor er seinen einzigen Sohn, Offizier im russischen Heere; das beugte ihn tief. Krusenstern – ja das war ein ganz anderer, obgleich im rauhen Norden an Estlands Küsten geboren, der menschlichste, anspruchloseste, liebenswürdigste Mann, bei welchem jeder Seele wohl ward, der nur die schlichte Einfalt des Seemanns aber nichts von der Rauhigkeit des rauhen Elements, mit welchem er zu kämpfen hatte, an sich trug. Mein Liebling aber ward der Akademiker Dr. Trinius, Leibarzt bei der Herzogin Alexander von Württemberg, gebornen Prinzessin von Sachsen-Koburg, Dichter, Botaniker und Mensch. Bei diesem versammelten sich nächtlich und mitternächtlich gewöhnlich die besten und frohherzigsten der Petersburger Gelehrtengilde. Hier war zugleich Leben und volles Herz für die große Sache der Befreiung des deutschen Vaterlandes und Europas.

Bei Trinius' Herrin ward ich beide durch ihn und durch den Herrn vom Stein eingeführt. Das war eine herrliche Frau, stattlich und schon wie ihr ganzes Geschlecht und von hohem, deutschem Gemüt. Sie war eine begeisterte, volle Steinin und Deutschin, und an ihren Abendteetischen saß der alte Herr in seiner Wonne, und weiter hintenhin saßen andere Kleinere. Diese edle Fürstin versammelte bei sich, was nur irgend noch deutsche Liebe und Hoffnung hatte. Sie die vertrauteste Freundin der regierenden Kaiserin, Frau Elisabeth, trug nebst ihr das Steinsche Banner des Muts und der Ehre; und oft begab sich, wenn sie wußte, daß seltsame und eigentümliche Käuze zu ihr kommen würden (in solchem Fall hielt sie alle Herren und Damen des Hofes ausgeschlossen), dann gab sie der erhabenen Kaiserin einen Wink, und diese setzte sich dann in ihrem Inkognito seitwärts oder hinterwärts, etwa hinter einigen sie verbergenden Hoffräulein, um sich einmal menschlich zu ergötzen. Hievon ein Pröbchen:

Hier in Petersburg, wo sich wie zu einem großen Pfingstfest der Begeisterung und Erlösung die Menschen und Zungen ans allen Völkern damals versammelten, erschienen auch einige eben aus England zurückgekehrte Tiroler, unter diesen ein prächtiger Mensch, ein Vorarlberger, Franz Fidelis Jubilé, ein Vierzigjähriger, ein rechtes Bild eines stattlichen und freien deutschen Mannes. Um diesen, der einige Monate in Petersburg verweilte, riß man sich in allen Gesellschaften und lies; sich die Taten und Leiden des Tiroler Kriegs und seine Audienzen bei seinem Kaiser Franz und beim Prinzregenten von England und seine Gespräche mit ihnen erzählen und seine Tiroler Kriegs- und Volkslieder vorsingen, die er mit hellster, fröhlichster Stimme klingen ließ. Er war schon oft bei der Herzogin gewesen, welche die Weisen seiner Lieder auf dem Klavier zu spielen pflegte; und er war da ganz zahm und heimisch und nach Art der Alpenbewohner zutraulich plauderisch geworden. Die Herzogin hatte der Kaiserin von diesem ergötzlichen, fremden Vogel erzählt. Diese wünschte ihn zu sehen und zu hören. Dem General Armfelt war von der Herzogin aufgetragen, ihn einen bestimmten Abend herzubringen. Dieser hatte ihn den Mittag zu sich geladen und seinen Mut mit edlem Wein aufgefrischt. Jubilé kam, schwatzte, erzählte, sang – alles in prächtigster Tiroler Lustigkeit und Fröhlichkeit. Als, nun die Mitternacht nahte, die Herzogin aufstand und alles sich erhob, trat die Kaiserin aus ihrem Versteck unter den Hoffräulein hervor und machte sich freundlich an den Tiroler, sprach mit ihm über Schwaben und den Rhein, erzählte ihm, sie sei eine Deutsche vom Rhein und bat ihn, wenn nun die Tiroler und er sich bald wieder bewegten und Gott ihnen Sieg gebe, möge er ihrer Fürbitte und dieses Abends gedenken und in Bayern und Schwaben nicht zu wild hausen. Er, der im freien, fröhlichen Lauf war, entgegnete ihr kühnlich und frisch und sprach nach erzürnter Tiroler Weise über die Könige von Bayern und Württemberg und über ihren Bruder, den Großherzog von Baden, keine leichten Worte. Als sie das lächelnd angehört und ihre Bitte wiederholt hatte, trat der Schelm Armfelt vor und sprach: »Wissen Sie, lieber Jubilé, mit wem Sie sprechen? Es ist die Kaiserin.« Bei diesen Worten erblaßte der Mann und schrak zusammen, indem er herausstammelte: »Ew. Kaiserl. Majestät, halten zu Gnaden! Sie haben, es so gewollt; ich wußte nicht, daß Sie da waren, ich hielt Sie nur für eine Hofmagd.« Sie nun suchte ihn freundlich zu beruhigen, aber er ging zitternd davon. Als ich ihn den andern Morgen besuchte – es war der Tag, wo er abreisen wollte – lag er krächzend im Bette; er hatte ein Brechmittel genommen. Auf meine verwunderte Frage, wie er plötzlich so hustig und matt geworden, antwortete er: »Das war gestern schlimmer als ein Küglein aus einem Stutzerl, die Kaiserin ist mir auf die Brust gefallen.«

O, das war die Zeit der Zeichen und Weissagungen des Propheten Jesaias, da glich die Gleichheit der Gesinnung alle Völker, Stände und Alter, da ebneten sich die Berge zu Tälern, und die Täler stiegen zu Bergen empor.

Es kamen auch viele andere berühmte und herrliche Männer diesen Sommer nach Petersburg, die sich nicht zu meinem Erreich und Bereich herabließen. Auch erschienen hier, auf der Flucht über Wien kommend, die beiden europäischen Berühmtheiten, Frau von Stael und Herr August Wilhelm von Schlegel. Diese kamen jedoch zu meinem Anblick. Was soll ich von der großen, oft beschriebenen und viel gepriesenen Frau sagen? Sie war dem Leibe nach nicht schön gebildet, für ein Weib fast zu stark und männlich gebaut. Aber welch ein Kopf thronte auf diesem Leibe! Stirn, Augen, Nase herrlich und vom Licht und Glanz des Genius funkelnd, Mund und Kinn weniger schön. Bei so vielem Witz und Geist, als aus ihren Augen blitzte und von ihren Lippen sprudelte, ein bezaubernder Ausdruck von Verstand und Güte. Verstand? Jedem Vogel sah sie sogleich an seinem Schnabel an, welchen Ton sie mit ihm zu singen habe – eine königliche Gabe, die aber vielen Königen fehlt. Es war eine Lust, wie die Frau den Stein behandelte, und wie die beiden lebendigsten Menschen, wenn sie auf einem Sofa zusammengepaart saßen, sich miteinander karambolierten. Eine Szene gab Frau von Stael noch, die uns oft zu kalten fühlen ließ, wie Franzosen für ihr Vaterland und ihr Vaterländisches empfinden, und wie sie oft zuviel haben, was bei uns zuwenig ist. Die französischen Schauspieler in Petersburg gaben die Phädra. Rocca, der Freund der Frau von Stael, und ihr Sohn waren ins Theater gegangen, wir andern bei der berühmten Frau zu Mittag Geladenen saßen noch am Tische – siehe! da kamen die beiden bald wieder etwas bestürzt zurück und erzählten, es sei bei dem Anfang des Spiels im Theater ein solches Lärmen und Toben und ein solches Schimpfen gegen die Franzosen und das französische Schauspiel von den Russen erregt worden, daß die Darstellung habe eingestellt werden müssen. Und so war es in der Tat; dies war der letzte Spieltag der französischen Schauspieler diesen Sommer in Petersburg gewesen, und der Haß und Zorn des Volkes hatte sich so derb und hart ausgesprochen, daß sie im Anfang des folgenden Winters aus Petersburg abreisen mußten. Und die Frau von Stael? Sie vergaß Zeit und Ort und fühlte nur sich und ihr Volk. Sie geriet außer sich, brach in Tränen aus und rief: »Die Barbaren! Die Phädra des Racine nicht sehen zu wollen.«

Und endlich die Russen? Da ich der Sprache unkundig war, so konnte ich nur mit denen verkehren, welche deutsch oder französisch sprechend in die allgemeine europäische Bildung eingetaucht waren und in der europäischen Abfegung und Polierung das Volksgepräge zum Teil schon verwischt zeigten. Aber die rechten Russen, die Soldaten, die Bauern, die kleinen Krämer, die Fuhrleute und Kutscher, die Schauspieler, Mimen und Tänzer des russischen Theaters zu beobachten und zu erkennen versäumte ich keine Gelegenheit. Solche naturhistorische Belustigung war mir als Trieb angeboren, und diesen Trieb zu befriedigen hatte ich hier reiche Gelegenheit. Ich ergötzte mich oft mit meinem alten Herrn, wenn wir mal spazieren gingen; was in meinem ersten Petersburger Monat öfter geschah. Da rieten wir denn und wetteten gegeneinander, wenn wir in gewisser Entfernung verschiedene Menschen gehen sahen, welche von ihnen Deutsche, Engländer, Russen usw. seien. Ich hatte die letzten bald weg in ihrer Art, auch in ihrem Wuchs und Schritt, so daß ich sie schon in beträchtlicher Ferne meistens sicher erkannte. Mein alter Herr pflegte dann wohl scherzend zu sagen, ich müsse von irgend einer Hexe meinen Eltern als ein Wechselbalg ins Nest gelegt sein; ich gehöre offenbar einem Stamm amerikanischer Wilden an und habe noch die Hühnerhundnase zum Aufwittern des verschiedenen Blutes. Dies ist ein wunderbares Volk. Mau irrt nicht, wenn man sagt, in den Zügen und in dem ganzen Ausdruck ihres Wesens ist Asia und Europa beisammen; nein, es springen einem noch manche andre unerklärliche Ähnlichkeiten entgegen; Mischungen mit Skandinavischem, Tatarischem, Finnischem erscheinen unverkennbar. Die Sprache, wie nahe der polnischen verwandt, und der Mensch, wie ganz ein anderer! Das Leichte und Lustige des slawischen Stammes im allgemeinen, doch viel mehr bewußtes spielendes Talent als bei den Polen, viel mehr Ausdruck schalkischen Verstandes und trotzigen Willens bei aller Biegsamkeit und Beweglichkeit der Glieder und Gebärden. Und wann es Ernst gilt, welch ein Ausdruck von Trotz und Hartnäckigkeit, welch eine Geduld und Arbeit, eine Ausdauer, die nach Asien hinzudeuten scheint! Dabei ebensoviel tiefer religiöser Sinn, als auch der bei den Nachbarn auf der Oberfläche zu liegen scheint. Ich bin ordentlich erstaunt über die Gesichter der Betenden in den Kirchen und selbst der Betenden auf den Gassen, wann die Mittags- oder Abendglocke zum Gebet schlug – wie stand auf einmal alles still und händefaltend da, tief wie in sich und in den Himmel hineinschauend und aus der alltäglichen oder lustigen Gebärde des vorhergehenden Augenblicks und aus den gemeinen, irdischen Gedanken und Geschäften, worin sie eben noch befangen waren, plötzlich in eine andere Welt versetzt und vom Donner gerührt an der Stelle festwurzelnd, wo sie sich eben noch ganz leichtsinnig und gedankenlos bewegten! Da fühlt man, es ist ein Kern in dem Volke, ein festes, unzertreibliches Dasein. Auch hat der gemeinste Kerl eine Miene, die sagt: Ich bin etwas, den Ausdruck einer großen, unverwüstlichen Gemeinsamkeit, etwas einem Stolze ähnliches, wovon der demütige Deutsche keine Ahnung hat. Ich sage das gar nicht als einer, der sie besonders liebte und bewunderte, sondern es ist eben der Eindruck, den sie mir gegeben haben. Sie mögen die Deutschen nicht, ja sie verachten sie. Das gebe ich ihnen eben nicht wieder, aber lieben könnte ich sie auch nicht, und unter ihnen leben möchte ich um alles in der Welt nicht. Sie haben ein großes, schweres Schicksal zu erfüllen gehabt und haben es tüchtig bestanden. Ich glaube nicht, daß eine Weltumwälzung von ihnen ausgehen wird, auch wünschte ich sie nicht als Weltumwandler oder Weltwiederhersteller in meinem Vaterlande zu sehen, aber die Fremden werden diesen Festen und Sicheren ihr Leben nicht leicht verrücken.

Und unter den Russen höheren Ranges welche großartige einzelne Köpfe, ich möchte sagen, welche Studien für Maler und Bildhauer unter ihnen! Man erstaunt und erschrickt vor dieser sichern Gewalt, welche ich nicht Hoheit nennen darf – das Wort wäre zu hoch – aber Entschlossenheit und Bestimmtheit, ja Unabhängigkeit. Wie? Unabhängigkeit in Staaten wie Rußland und die Türkei, wo Zufall und Willkür fast immer mächtiger sind als Gerechtigkeit? Freilich Unabhängigkeit. Etwas liegt hievon allerdings in der Grundanlage dieses Volks, mehr gewiß noch in seiner Regierungsart. Die Männer sehen unerschütterlich ans und unverrücklich wie das eiserne Schicksal. Ich begreife, wie solche Gesichter in Rußland und in der Türkei entstehen können. Wer dort genug Mut und Macht in sich hat, setzt sich endlich über die Furcht weg, die er in der Regel nur von einem zu fürchten hat; alles andere ist Staub und Gesindel, worauf er tritt. Er bedarf nur zwei Dinge so lange festzuhalten und unaufhörlich zu denken, bis er schußfest darin wird: den Entschluß seines Mutes und den einzigen Kaiser auch als einen sterblichen Menschen anzusehen. Wie ganz anders, wo freiere Kräfte spielen! In England, in Frankreich, in Deutschland, wie muß auch der angeborenste, gewaltigste Mut in seiner Wirksamkeit sich zerteilen und zersplittern! Gegen wieviele Dinge und Personen muß er Front machen und mit einer gewissen Scheu, Achtung und Biegsamkeit langsam die Flügel zu umgehen suchen! Wie darf er so selten die Zentra zu durchbrechen wagen! In Ländern, wo nur ein Gott und ein Autokrator anzubeten ist, wo Gott hoch und der Alleinwalter fern wohnt, kann er immer gleich auf das Zentrum den Angriff machen. Denn wo die Menschen in Knechtschaft dienen, sind einzelne immer die Unabhängigsten. Hier ein paar Anekdoten von dem großen Suworow:

Als sein einziger Sohn siebzehn Jahre alt war, beschloß er, ihn bei der Kaiserin Katharina einzuführen. Er trat mit ihm in das Vorzimmer, das von Wartenden und Aufwartenden angefüllt war. Die Leute, die sich bei ihm immer über etwas zu wundern hatten, verwunderten sich über den Aufzug und Anzug des Jünglings. Der Vater hatte ihn gekleidet, wie in den Tagen Peters I. die Pagen gekleidet zu werden pflegten. Der Alte, welcher zu der Kaiserin immer freien Zutritt hatte, sprang, wie er denn mehr zu laufen als zu gehen gewohnt war, mit seinem Sohn rasch durch die Reihen der Weichenden und faßte den Türdrücker, als wenn er zur Herrscherin eingehen wolle. Plötzlich aber lief er ebenso geschwind wieder zurück bis in die Mitte des Saals, stand dort einige Augenblicke, wie wenn er in Betrachtung vertieft wäre, und führte dann seinen Sohn eine Stunde rund herum, die einzelnen der Dastehenden der Reihe nach zu begrüßen. Er fing bei den Vornehmsten an mit geringster Verbeugung des sohnlichen Nackens, welche er mit seinen väterlichen Händen abmaß, vermehrte diese, wie er die Rangklassen hinabstieg, und indem er bei dem Sklaven, der die Kohlen im Kamin anschürte, aufhörte, drückte er die Stirn des Jünglings bis in den Staub des Fußbodens nieder. Darauf ihn wieder aufrichtend sprach er feierlich und überlaut, so daß der ganze Saal es hörte: »Mein Sohn, du trittst heute auf eignen Füßen in das Leben ein, vergiß nicht der großen Lehre, die ich dir habe geben wollen. Sieh! diese Herren (auf die Vornehmsten zeigend) sind, was sie werden können, aus jenen aber kann noch alles werden.« Man denke hiebei nur an Glücke wie der Rasumowski, Orlow, Potemkin, Subow usw.

Unter Pauls Regierung, als der alte Feldmarschall schon sehr hinfällig war, ließ der Kaiser, der ihm nicht völlig traute, doch sein Tun und Befinden belauschen. Er hatte seinen Günstling Kutaisow zu ihm geschickt, unter dem Schein, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Dieser Kutaisow war von einem Barbier und Nägelbeschneider bis zum Generalleutnant emporgehoben. Bei der Anmeldung seiner Ankunft ließ der Feldmarschall, der krank auf seinem Bette lag, sich in Uniform kleiden und Stiefel und Sporen antun und in einen großen Lehnstuhl setzen – und so gerüstet hieß er Kutaisow einführen. Diesen, obgleich er ihn öfter gesehen, empfing er als einen völlig Unbekannten; indem er sich anfangs kindisch und erinnerungs- und gedächtnisleer gebärdete, nötigte er ihn durch ewiges, halb kindisches Fragen hin und wieder und durch Vorschützung seines Alters und Mangels an Gedächtnis, indem er alle Feldzüge herrechnete, worin er zugleich mit ihm hätte sein können, und so aus ihm herausquälte, daß er nimmer unter Kugelpfeifen gestanden, endlich zu dem zerknirschenden Geständnisse, wie er ohne irgend eine blutige Arbeit, ohne irgend ein Verdienst durch des Kaisers Gnaden General geworden. Nachdem Suworow diese Quälerei mit seinem Auflaurer beendigt hatte, stellte er sich, als ob ihm plötzlich die helle Besinnung wiederkomme, nötigte ihn freundlich neben sich zu setzen und klingelte dann auf das heftigste. Als auf dieses Geschell ein großer Heiduck hereintrat, winkte er, ihm einen in der Ecke stehenden Stock zu reichen, hieß ihn sich richten und spielte dann, soviel seine schwachen Arme vermochten, ihm mit dem Stock auf dem Rücken herum, sprechend: »Du Schurke, täglich hab' ich an deiner Liederlichkeit und Saumseligkeit zu meistern, so viele Jahre arbeite ich schon an dir und kann nichts Ordentliches aus dir machen; schau den Herrn hier, der ist gewesen, was du bist; und schäme dich, du Schlingel, was ist aus dir geworden?«

Napoleon hatte eine kostbare Zeit in Moskau versessen, immer noch hoffend, den Kaiser von Rußland mit Frieden zu bestricken, wie es ihm in Wien und anderen Hauptstädten gelungen war; aber diesmal schoß er fehl. Der Friede erschien nicht, wohl aber erschien der Winter, und endlich mußte an den Rückzug gedacht werden. Den 20. Oktober ward zum Abzug geblasen, und den 23. den Russen ins Gesicht, die sie nur Barbaren schalten, sprengten die Franzosen den schönen Kreml in die Luft, ein schönes historisches Denkmal, in einem halb italienischen, halb asiatischen Stil gebaut. Dies war eine jener unnützen Barbareien, welche diese, die sich so gern die Fürsten der Bildung und Gesittung Europas nennen, nicht bloß unter den Melacs sondern in unfern Tagen an hundert Stellen in Deutschland gegen heilige Denkmale begangen haben. Denn der Kreml war keine Festung, war nicht für den Krieg gebaut sondern gleichsam eine eigne kleine Wunderstadt inmitten der großen Stadt. Der Rückzug der Franzosen ward nun durch den Winter und durch die Lanzen der Kosaken, welche die Rückreise der Welschen beschleunigten, eine fürchterliche und grauenvolle Flucht, eine Niederlage der Menschen und Pferde, wie man in Jahrtausenden nicht erlebt hatte. Die Russen zogen ihnen nach gegen Westen; der Kaiser sollte bald aus Petersburg abreisen, und der Herr vom Stein ihm nach Preußen vorangehen. Er nahm mich mit in seinen Wagen, worin wir bärenhaft genug in nordisches Pelzwerk vermummt saßen. Wir fuhren des Abends des 5. Januars 1813 aus Petersburg ab und waren den folgenden Abend in Pleskow, weiland eine Stadt und ein Staat glorreicher Freiheit und Herrlichkeit wie Nowgorod, jetzt einsam und verlassen. Hier vernahmen wir die Trauerbotschaft, der Graf Chasot liege im Nervenfieber todkrank. Er war in den Angelegenheiten der Deutschen Legion hierhergezogen. Denn hier war ein Depot von Gefangenen und Überläufern. Diese aber hatten die Feldpest dahin getragen. Die meisten unglücklichen Jünglinge, durch die Strapazen des ungeheuren Feldzugs ermattet, starben wie die Fliegen im November und verbreiteten die Seuche umher. So war auch mein edler Chasot angesteckt. Wir sahen ihn auf seinem Lager; ein Landsmann, ein Hauptmann von Tidemann verpflegte ihn; er lag im Delirium und kannte uns nicht mehr. Wir sollten ihn nimmer wiedersehen. Während der Minister und ich hier ein Stündchen weilten, hatten unsre Bedienten die Wache der Schlitten verlassen, und mehrere Sachen waren gestohlen, unter andern ein großer Mantelsack, worin ich in der letzten beschleunigten Eile des Einpackens meine meisten Papiere und fast alle meine Wäsche verpackt hatte. Auch den sollte ich nicht wiedersehen. Ich verlor mir sehr wertvolle Papiere, die ich aus dem Gedächtnisse nicht wiederherstellen konnte, und manche liebe Geschenke und Andenken von meinen Petersburger Freunden und mußte wegen Mangel an Wäsche von der unvermeidlichen, beißenden, polnischen Einquartierung doppelte Plage leiden. Chasot, der geliebte Chasot, der fröhliche, mutige Held, begleitete mich in den trübsten Gedanken durch das dickste Schneegestöber; auch mein alter Herr war sehr traurig, denn er liebte ihn sehr, und es war ein Mann, von allen geliebt zu werden. Er hatte von der männlichen Schönheit und Stärke seines Vaters geerbt, aber dabei die herzigste deutsche Natur und einen brennenden Haß gegen die prahlerischen Unterjocher. In Berlin hatte er den französischen Kommandanten, der unschickliche Worte über seinen König gesprochen, in einem Pistolenduell in die Ewigkeit geschickt Chasots Gegner in diesem Duell, das 1808 stattfand, war nicht der französische Kommandant von Berlin, sondern ein Zivilbeamter namens Bujac (Varnhagen, Denkwürdigkeiten VI, 308). (D. H.) u. Sein Vater, der Graf Chasot von Florencourt, war ein geborner Franzose, durch Schönheit, Riesenstärke und Witz ausgezeichnet. Kronprinz Friedrich von Preußen hatte den Jüngling auf dem Feldzuge von 1735 am Rhein kennen gelernt, und König Friedrich hatte ihn in seinen Dienst eingeladen. Jener starke Graf hatte bei einem Zweikampf das Unglück gehabt, seinem Gegner den Kopf vom Rumpf zu hauen, wie in diesem Jahre 1813 in Rostock ein Kosakenoffizier in einem ähnlichen Kampf dem ältesten Sohn der Frau von Stael tat, und da der König sich darüber geäußert hatte, er wolle Offiziere, aber keine Scharfrichter im Dienst haben, so hatte Graf Chasot seinen Abschied verlangt und war Kommandant der Reichsstadt Lübeck geworden und hatte mit einer Gräfin von Schmettau mehrere Söhne gezeugt, welche später im preußischen Dienst doch wieder willkommen waren. Auf diese Weise war unser seliger Freund vom welschen Stamm, hatte aber in seiner Art und Gesinnung kaum einen Tropfen Blut einer welschen Ader.

Von Pleskow oder Pskow, wie es abgekürzt gewöhnlich lautet, fuhren wir auf Druja, dort über die gefronte Düna und von da über Widzy und Svenziany auf Wilna. Ein armes, sandiges, wenig bevölkertes Land, das erst gegen Wilna hin fruchtbarer wird. Wir sahen den lebendigsten Krieg, ja wir waren mitten drin und kamen immer tiefer hinein, je mehr wir Wilna naheten: viele zerrissene, zerschlagene, abgedeckte Häuser ohne Menschen und Tiere, nicht einmal eine Katze miaute darin; öde, schauerliche Gemäuer und Brandstätten, magere Postpferde, ja so abgetrieben waren die kleinen, litauischen Pferde, daß wir an jedem Erdknollen oder Hügel stillhalten und sie sich verschnaufen lassen mußten – und doch hatten wir unsre Wagen auf Schlitten gesetzt, an welche sechs, ja zuweilen acht Pferde geschirrt wurden. Ach! wir hatten durch unsern langsamen Zug über die öden Schneewüsten Zeit, über die Greuel nachzudenken, die dieser einzige Feldzug veranlaßt hatte. Was sahen wir? O könnte ein stolzer Eroberer weinen, wie er die Mütter von Hunderttausenden weinen macht! Den zweiten, dritten und vierten Tag unsrer Reise begegneten uns immerfort einzelne Scharen Gefangene, die weiter rückwärts gegen den Osten geführt wurden. Welch ein Anblick! Zerrissene, erfrorne, bläuliche, unglückliche Pferdefleischfresser schienen sie kaum noch Menschen. Vor unsern Augen starben ihrer in Dörfern und vor den Posthäusern; Kranke lagen auf Schlitten im Stroh übereinander; sowie einer starb, warf man ihn seitweges in den Schnee. An den Straßen lagen die Leichen wie anderes Aas unbedeckt und unbegraben, kein menschliches Auge hatte ihre letzte Not beweint. Wir sahen sie zum Teil mit blutigen Gliedern; denn auch Erschlagene hatte man als gräßliche Wegezeichen an Bäumen aufgerichtet. Sie und gestürzte Pferde bezeichneten den Weg nach Wilna; auch der des Weges Unkundigste hätte schwerlich irregehen können. Unsere Pferde schnoben und bäumten sich häufig, indem sie dazwischen, auch wohl darüber hinspringen mußten. Das war aber nicht das Grauen vor den Leichen, sondern ihre Witterung der Wölfe, die wir hin und wieder oft in Scharen von zehn oder fünfzehn mit dem Genuß ihrer Beute beschäftigt sahen, und die wohl wenige Schritte von uns über den Weg strichen.

Wir fuhren den 11. Januar spät abends in Wilna ein. Unser Hauptschlitten fuhr sich im Rinnstein fest. Die Bedienten holten Leute zum Heraushelfen, der Minister ging ins nahe Gasthaus. Ich blieb bei dem Schlitten. Indem wir nun aus Leibeskräften arbeiteten und ich meine Schultern mit untergestützt hatte, den Schlitten wieder flott zu machen, kam ein großer, sausender Schlitten gegen uns gerauscht und riß uns wieder in das alte Elend zurück. Ich fluchte ein Donnerwetter, flugs flog der Einsitzer jenes Schlittens, der an dem unsern fest geworden, heraus, und wir packten uns an der Brust. Aber dies verwandelte sich in Lachen, es war ein lieber Freund, der Major von Pfuel, der eben aus dem Hauptquartier kam, aus der Stadt etwas Mundvorrat zu holen. Er freute sich, daß wir da waren, half uns nun mit seinen Leuten uns losmachen, und wir holten bald den Minister ein, wo wir in Müllers Gasthause in der deutschen Straße nach sechs öden Nächten endlich einen heitern Abend hatten. Aber, aber – wie stand es um die liebe Ruhe! Die erste Nacht half die unendliche Müdigkeit; nachher hatte ich meine polnische Not, auch meine polnische Langeweile. Denn den zweiten Tag ließ uns der Minister hinter sich Arndts Zeitangaben über die Reise von Wilna nach Königsberg sind, wie sich aus gleichzeitigen Briefen nachweisen läßt, nicht richtig. Stein verließ Wilna erst am 15. Januar (s. Pertz III, S. 267 u. 586); da Arndt nach ihm abreiste, so kann dies frühestens am 16. geschehen sein. Ihre Ankunft in Lyck erfolgte, nachdem sie sich auf der Poststation vorher wieder vereinigt hatten, zusammen mit dem kaiserlichen Hauptquartier, am 19. Januar (Rühl, Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Preußens I, S. 283f.). Am 20. Januar waren sie bei Schön in Gumbinnen, am 22. Januar abends trafen sie in Königsberg ein (Briefe an Johanna Motherby, S. 134, und Arndts Briefe an eine Freundin, S. 139). (D. H.): wir mußten noch auf einen Packschlitten aus Petersburg warten, zogen ihm dann langsam über Grodno nach und vereinigten uns unweit der preußischen Grenze wieder mit ihm.

Also von meiner polnischen Not. Ich hatte einen prächtigen Saal zu meinem Quartier, mit Seide tapeziert, mit großen Spiegeln und mit den Raffaelischen Kupferstichen des Morghen geschmückt. Mein Bett hatte ich auf einem weichen Sofa aufschlagen lassen; aber, aber – ein unbeschreiblicher Ekel! – alle Wände voll scheußlicher, gelber Wanderer. Entsetzlich! Ich mußte mich kreuzen und mein perfer! rufen; aber wo blieb hier das proderit tibi? Sonst war hier des Guten die Fülle und seit der Flucht der Franzosen selbst an guten Weinen kein Mangel, ungarischen und französischen.

Den folgenden Tag nachmittags, als der Minister abgereist war, ging ich aus, die Stadt zu beschauen und zu erkunden. Sie kam mir vor wie eine tatarische Hölle. Allenthalben ein scheußlicher Schmutz und Gestank; schmierige Juden; einzelne unglückliche Gefangene, meistens Verwundete oder Halbwiederhergestellte, jämmerlich umherschleichend; alle Straßen in garstigen Rauch und Dampf gehüllt, denn fast vor jedem Hause hatte man allerlei brennbare Sachen, selbst nur gewöhnliche Misthaufen, angezündet, um die Pestluft der vielen Lazarette und Seuchen zu zerstreuen, und diese Haufen dampften Tag und Nacht; auf den Straßen hie und da französische Kokarden, beschmutzte Federbüsche, zerrissene Hüte und Tschakos liegend und in der Demut des Staubes und der Zertretung an den Trotz derer erinnernd, die vor fünf Monaten in ganz anderer Gestalt mit ihnen durch Wilna stolziert waren. Ich ging aus dem Tore hinaus und schlenderte ein paar grauenvolle Stunden durch die Vorstädte, die nach Wilkomirz und Kowno führen. Welche Greuel! Jene Zeichen, die ich in der Stadt gesehen, immer dichter nebeneinander liegend, allenthalben noch einzelne ganz nackte Leichen, tote Pferde, Ochsen, Hunde, treue und unglückliche Genossen dieses ungeheuren Jammers; viele Häuser ganz wüst, ohne Dielen, Fenster und Öfen, manche nur Brandstätten; unter diesen greulichen Denkmälern der Verwüstung einzelne Schatten von Gefangenen und Rekonvaleszenten umherschleichend; und hin und wieder am öden Gemäuer in sich zusammengekrümmt und frierend ein armes, verlassenes Pferd stehend und kümmerlich einige Büschel Heu auflesend. Als ich heimging zur Stadt, traf ich einen feinen Jüngling, den ich anredete und ihn etwas fragte; es war ein Brabanter und Oberchirurg eines Lazaretts französischer Gefangener, die in einem geistlichen Stift einquartiert waren. Ich ging mit ihm bis in die Vorhallen des Elends, sah den ganzen Kirchhof des Klosters ringsum voll Leichen liegen und wandte mich zurück. Er erzählte, er habe von zweitausend Lazarettisten täglich fünfzig bis achtzig Tote. Dies wird ihm bald die Arbeit mindern. Als ich dem Stadttore näher kam, begegneten mir fünfzig, sechzig Schlitten, alle voll Leichen, die man aus den Spitälern und von den öffentlichen Plätzen wegräumte; sie wurden gefahren, wie man dürres Zaunholz fährt, und waren vom Frost erstarrt und dürr wie Zaunholz und werden den Würmern und Fischen (beim viele wirft man in gehauene Waken des Flusses) schlechte Speise geben. Das war mir das Scheußlichste, daß, wie man auf Angern, wo Ameisen ihre Haufen haben, die Fußsteige ihrer wandernden Emsigkeit sieht, so in der Haut vieler Leiber die Läusestraßen abgetreten waren. Es war ein jammervoller Anblick, Menschenleiber, die einst mit Liebe und Freude bei ihrer Geburt begrüßt, die dann mit Liebe genährt und erzogen und endlich in der Blüte ihres Lebens durch einen wilden Eroberer von ihren Eltern und Gefreundten weggerissen wurden, so viehisch, ohne alle Zucht, ja mit an der Erde hinschlackernden Köpfen und gen Himmel stehenden Beinen, ohne alle Verhüllung dessen, was Menschlichkeit und Schamhaftigkeit sonst verhüllen, fortschleifen zu sehen.

Den 13. Januar war schönes, helles und nicht zu kaltes Winterwetter. Mich lockte die freundliche Sonne wieder heraus, und ich wanderte aus einem andern Stadttore längs dem Flüßchen Wilia hin, an welchem die Stadt liegt. Vor dem Tore viele zerbrochene französische Troßwagen und Kanonenlafetten, öde und verwüstete Häuser, Hüte, Mützen, Kokarden, Leichen, verreckte Pferde am Wege. Man hatte die Leichen meist weggeräumt, aber hinter großen Steinen und Brückenpfosten und hinter Büschen waren viele vergessen worden, woran die Wölfe hin und wieder schon schienen gezerrt zu haben. Rührend war es mir, wie ein verwundeter Gefangener, der bleich und gekrümmt vor mir her hinkte und aussah wie einer, der eben aus dem Lazarett entlassen war oder eben hineinwollte, an einer solchen Leiche stehen blieb und sie betrachtete, ja mit seinem Stocke berührte. So schaut der Mensch endlich starr und gleichgültig in sein Schicksal; ja er könnte es täglich tun in hunderttausend Legionen Elend und Jammer, wenn er nicht auch zu etwas anderem, Fröhlicherem und Besserem berufen wäre. Während dieser bei der Leiche seines Kameraden und ich bei beiden stand, kam Sang und Klang den Berg herunter, und Priester und Trauergefolge in Schwarz gekleidet begleiteten in frommer christlicher Weise einen Sarg, und seinen Bewohner zur Gruft. Unter uns auf dem Strom fuhren Schlitten Unrat und nackte Leichen fort. Unwillkürlich kam ich in den weiten Hof eines großen Gebäudes hinein, das mit seinen Stuben und Ställen und dem Rest von zierlichen Öfen und Tapeten verriet, es habe sonst ganz stattliche Bewohner gehabt. Alles drinnen zerrissen und zerschlagen, viele Fußböden angebrannt, Scherben, Knochen, Reste von Monturen, Hüten, Mützen, Federbüschen, endlich in einem abgelegenen Zimmerchen an einem Kamin eine halbgeröstete Leiche. Ihr armer Bewohner kroch vielleicht der Wärme nach wie ein Wurm dem Lichte, verlor die Besinnung und starb so an den Flammen. Auf ähnliche Art hatte man viele an einzelnen Beiwachtfeuern gefunden, die in der Lust, die erstarrten Leiber zu erwärmen, im halben Todesschlafe den Flammen zu nahe gekommen und verbrannt waren. Mich überfiel ein Grauen, als hätte ich am hellen Tage Gespenster gesehen, und ich lief aus den wüsten Mauern. Diesen Abend sah ich in der Stadt noch das größte Scheusal. Ich war ausgegangen, das Menschengewimmel ankommender und durchziehender russischer Landwehr und auch die polnischen Bauern und Juden zu betrachten, siehe! da lockte mich Gesang zu sich, und ich kam unvermerkt zu dem Minsker Tore, über welchem ein feierlicher Gottesdienst gehalten ward. Diesem hörte ich einige Minuten zu und kam dann auf dem Rückwege unweit dem Tore durch eine Pforte auf einen Kirchhof. Ich sah zuerst nur die Kirche, dann die oberen Fenster oder vielmehr die Luken ohne Fenster eines rings um den Kirchhof laufenden Gebäudes, das einem Kloster oder Kollegium ähnlich sah. Wie ich näher hinzutrete, was erblicke ich? Leichen auf Leichen getürmt, an einigen Stellen so hoch, daß sie bis an die Fenster des zweiten Stockwerks ragten; es waren gewiß tausend Leichen, ein ganzes ausgestorbenes Spital; in dem ganzen weiten Gebäude kein Fenster, kein Mensch – nur ein Hund schnoberte an einer Tür. Zum Glück band starrer Frost den Dunst der Verwesung, der diese Jammerstätten sonst unnahbar gemacht haben würde. Ähnliche Leichenhaufen mögen auch in Frankreich und Deutschland blutige Schlachten geliefert haben, aber es gehörte polnische Wirtschaft und ein Jahr wie das Jahr 1812 dazu, sie in solcher Scheußlichkeit menschlichen Augen zu zeigen. Aber wie konnte ich mich wundern, daß diese Leichentürme hier aufeinander standen? Stand nicht unser Schlitten unter einem Schuppen des Müllerschen Gasthauses in der Deutschen Straße auf einem in seiner vollen Montur unter Mist und Stroh niedergetretenen Franzosen? So groß war das Unglück der Zeit, so sorglos und unmenschlich hier der Schmutz.

In Wilna wimmelt es von Juden. Ich mußte einige Einkäufe machen von Kleinigkeiten, welche mir der Diebesgriff in Pleskow auch entrissen hatte, und mußte mich also unfreiwillig in ihren Buden herumtreiben. Ich fand die Gestalten und Gesichter derselben hier in Litauen weniger schön als im südlichen Polen. Die Juden haben sich in diesem Kriege allenthalben sehr russisch gezeigt und sind mit ihren Herzen nicht wie die Polen abgefallen: denn die gepriesene polnische Freiheit gab ihnen nicht die Sicherheit des Besitzes, deren sie unter dem russischen Zepter genießen. Sie scheinen einen guten politischen Geruch gehabt zu haben, denn sie sind den Franzosen von Anfang an aufsässig gewesen und haben sich trotz der Lockungen des Geldes fast gar nicht zum Spähen und Verraten gebrauchen lassen. Ja in Wilna haben sie beim Einmarsch der Russen tapfer gegen die Franzosen mit gestritten und so kühnlich mit Kriegsgeschrei hinter sie dreingejagt, daß sie mehrere Hundert erschlagen und gefangen haben. Die Beute, die sie hier von den Weltplünderern gemacht, und die Dukaten und Waren, die sie von den Kosaken eingewechselt und eingekauft haben, sollen sich auf einen unermeßlichen Wert belaufen haben.

Ich fuhr den 14. Januar gegen Abend aus dem Minsker Tor des Wegs nach Grodno S. Anm. S. 154. (D. H.). Auch hier beschien der Mond ein Leichenfeld; da lagen wieder auf eine Halbemeilenlänge eitel Erfrorne und Erschlagene in Haufen von dreißig bis fünfzig nebeneinander, da lagen um und neben toten Pferden immer zwei, drei Leichen, da rutschte unser Schlitten noch über Menschengebeine. Hier sah ich in den Wäldern ungewöhnlich viele Wölfe an uns vorbeistreichen. Dies war über fünf Wochen nach der Einnahme Wilnas durch die Russen. So nahm ich eine grauenvolle Erinnerung von Wilna mit.

Das Land zwischen Wilna und Grodno fand ich viel fruchtbarer und bebauter als das zwischen Pskow und Wilna; auch ist der Krieg mit seiner Verwüstung nicht so schwer wie dort über diese Straße gezogen. Grodno ist ein ganz nettes Städtchen. Ich blieb nur einige Stunden dort und erreichte in der Nacht das Kaiserliche Hauptquartier und meinen Herrn und schlief in einem wohlgeheizten Bauernzimmer wie ein König auf ein paar Stühlen, die ich mir unterbreitete.

Den 17. Januar langten wir in dem preußischen Städtchen Lyck an und nahmen in dem Amtshause Quartier. Es war eine bittere Kälte und ein hungriger Abend; denn die Menschenmenge war dort größer, da viele Russen mitgeströmt waren, als der Speisevorrat. Doch welche Freude, wieder unter deutschen Menschen zu sein, die uns mit Ahnung eines bessern Glücks, wie sehr sie auch von Freund und Feind zerpreßt sein mochten, mit den fröhlichsten Gesichtern empfingen. Den 18. Januar ging es auf Schlitten durch preußische Wälder und über gefrorne Seen bis tief in die Nacht hinein, wo auf einem Amtshofe wieder ein wenig geschlafen ward. Den 19. S. Anm. S. 154. (D. H.) früh kamen wir bei dem Regierungspräsidenten Herrn von Schön in Gumbinnen an und blieben dort den ganzen Tag und die folgende Nacht. Da war es ein Jubel, wie wir empfangen wurden. Dieser würdigste, ausgezeichnete Mann war ein alter Freund des Ministers. Hier waren Gespräche auszutauschen, auch wurden Anekdoten über die fliehenden französischen Marschälle und Intendanten zum besten gegeben, welche über Gumbinnen nach Königsberg durchgezogen waren. In Preußen war ihnen natürlich sehr bange gewesen, das Volk möge sich einmal mitternächtlich gegen sie erheben und allen das Garaus machen. Was würden die Welschen den Deutschen in solcher Lage in Frankreich getan haben? Schwerlich wäre ein Gebein davongekommen. Wir sind auch in früheren Jahrhunderten nicht so zahm gewesen. Wie begab es sich denn hier? Die Marschälle waren denn doch in den besten Häusern einquartiert; aber mehrere derselben und andere vornehme Offiziere schickten ihre Bedienten heimlich herum und ließen sich und ihre Sachen in ganz schlechte und ärmliche Häuser führen, gleichsam als meinten sie dort besser verborgen zu sein, und bezahlten die Nachtquartiere mit Friedrichsdoren, weil sie Überfälle und Ausplünderungen fürchteten.

Den 21. Januar 1813 Sie kamen erst am 22. Januar in Königsberg an, s. Anm. S. 154. (D. H.) gegen Abend kamen wir von Gumbinnen in Preußens Hauptstadt, in Königsberg, an. Stein versammelte hier die preußischen Würdenträger und angesehensten Männer, unter ihnen voranzustellen der ehemalige Minister Graf Alexander zu Dohna und der Präsident von Schön. Er handelte allerdings im Namen und Auftrage des Kaisers von Rußland, aber in solcher Weise und mit solcher Achtung und Schonung der Personen und Verhältnisse, daß der König von Preußen stillschweigend als der Freund und Bundesgenoß desselben vorausgesetzt ward. Von dem Lande sollte nicht als von einem eroberten Lande Besitz genommen werden sondern als von einem Lande, das man zu befreien kam. Es erschienen in diesen Tagen hier und in der Umgegend auch die Heerabteilungen des Fürsten von Wittgenstein und des Generals Yorck, der mit den Russen den bekannten Vertrag abgeschlossen hatte. Das veranlaßte Jubel und Feste, die freilich noch ihren düstern und finstern Gegenschein hatten. Denn groß war auch hier die Not und das Elend. Lazarette voll gefangener und verwundeter Franzosen, auch Lazarette von Russen und Preußen, Durchfuhren von unglücklichsten Gefangenen weiter gegen Osten; auch hier knarrten die stillen Leichenwagen durch die Gassen, und viele der Einwohner wurden auch die Opfer der Seuchen. So schlichen mitten in der Wonne der Befreiung Jammer und Tod als finstere Gesellen umher.

Merkwürdig auffallend war mir und jedem, welchem er zum ersten Male erschien, der General Yorck, der berufen war, gleichsam den ersten preußischen Anfang zu machen, eine starre, entschlossene Gestalt, eine breite gewölbte Stirn voll Mut und Verstand, um den Mund ein hartes, sarkastisches Lächeln. Er sah aus wie scharfgehacktes Eisen; hat es ferner gegen die Welschen in vielen Schlachten wohl erwiesen.

Der Herr vom Stein weilte hier nur kurze Zeit, eilte von hier nach Breslau, wohin der König von Preußen sich begeben hatte. Denn Berlin und Spandau waren in den Händen der Franzosen, welche durch die Lande und Städte hin und her ziehend sich immer noch gebärdeten, als müßten die Lande ihnen fernerhin dienen. Endlich erschallte zur unendlichen Freude aus Breslau die königliche Entscheidung hieher. Wie auch die diplomatischen äußerlichen Scheine noch zweifelhaft spielten, seit dem königlichen Aufruf der Freiwilligen vom 8. Februar und dem Gesetz und Gebot über die Freiwilligen war die Entscheidung nicht mehr zweifelhaft. Hier in Königsberg wurden von mir und vielen andern deutschen Zugvögeln, die noch ein bißchen Herz in der Brust hatten wahrhaft königliche und kaiserliche Tage verlebt; noch klopft mir nach einem Vierteljahrhundert mein unterdes kälter gewordenes Blut bei dieser Erinnerung mit verdoppelten Schlägen. Diese Freudenbezeugungen empfing man doch noch mit anderm Herzen als die in Petersburg. Es ist ein prächtiges deutsches Volk, die Preußen, besonders die Ostpreußen und was dort von den Salzburgern stammt; sie haben beide Feuer und Nachhaltigkeit, und was sie als Geister vermögen, hat die Literatur in ihre unsterblichen Register eingetragen. Mit keinem der niedergeworfenen deutschen Staaten, mit keinem der verbündeten war Napoleon so grausam verfahren als mit dem preußischen. Das war überhaupt die boshafte Wonne dieses großen Feldherrn und engen Menschen – denn wenn er ein weiter Mensch gewesen wäre, hätte er das Zeitalter und Europa beherrschen und umbilden können – wo irgend eine Tugend und Ehre übrig war, sie in höhnischer Schadenfreude mit Schmutz zu bedecken. Als der König sich nun endlich erklärte und den Willen Gottes und die Wünsche und Gebete seines Volkes erkannte, da schrie er über Verrat, der nimmer einen Vertrag gehalten, der den jüngsten Vertrag mit Preußen gleich im Anfange treulos und stolz gebrochen hatte, indem er die Festungen Spandau und Pillau besetzte und mehrere preußische Regimenter über die Bedingung der Zahl gegen Rußland mit hinaustrieb; da klagte er, daß er zu großmütig die Trümmer Preußens noch habe bestehen und den Herrscherstuhl unverrückt gelassen. Er wußte wohl, warum er es getan hatte; er mußte die Völker durch die Könige und Fürsten beherrschen. Wäre ihm der scythische Zug von 1812 gelungen, welches Spiel würde man die folgenden Jahre in Deutschland und in Polen gesehen haben! Wieviele Königskronen würde er wieder in den Staub geworfen, wieviele Fürstenstühle erledigt erklärt haben! Preußen war im Jahr 1807 als Kriegsschauplatz der Russen und Franzosen fürchterlich verheert; im Frühling des Jahrs 1812 war dies mit absichtlicher Grausamkeit geschehen: man hatte das Land durch die schrecklichsten Durchzüge und Einquartierungen der Heerhaufen, dann durch Wegnehmung und Wegführung aller Hilfsmittel an Getreide, Pferden und Rindern bis aufs Mark ausgesogen und ausgeplündert. Und nun wie vergaß dieses in tausend Wunden zerhauene und verblutete Preußen in der Lust der Abschüttelung und Befreiung alle seine Narben, ja seine noch offenen Wunden und scharte und rüstete sich zur Bewaffnung seiner Jugend und zum Vordermarsch der Deutschen für die Freiheit!

Hier ward die erste Landwehr von 30 000–40 000 Mann errichtet; daneben wurden die aus Kurland zurückgekommenen preußischen Regimenter ergänzt; unter der Führung des Grafen von Lehndorf ward ein prächtiges Reiterregiment von Freiwilligen beritten gemacht. Das war eine Begeisterung in den Städten und auf dem Lande, auf den Straßen und in den Feldern, auf den Kathedern und Kanzeln und in den Schulen! In kälterer, ärmerer Zeit lächelt man, wenn man zurückdenkt; aber es war alles bitterster, heiligster Ernst, was den Leuten jetzt ein kindliches, ja kindisches, höchstens ein gemachtes poetisches Spiel dünken würde. Da sagten die sechzehn-, siebzehnjährigen Jünglinge, die für die Waffenlast kaum reifen Jünglinge beim Abschied aus den Gymnasien, als sie das Roß tummeln und die Büchse laden lernen wollten, übersetzte Stücke aus den Hymnen des Tyrtäus, lyrische Stücke aus der Klopstockschen Hermannsschlacht her, und Männer und Greise, Väter und Mütter standen mit gefalteten Händen dabei und beteten still Sieg und Segen. Ich schrieb da ein Büchlein über Landwehr und Landsturm Siehe Bd. 13. (D. H.), woran ich Freude erlebt habe; es ist Monate später über ganz Deutschland hingeflogen und ohne mein Zutun in vielen tausend Abdrücken vervielfältigt worden. Solches sind hinfliegende Blätter, die mit der hinfliegenden Zeit gleich andern fliegenden Blättern sich gelben und vergessen werden. Doch ist ja jeder einzelne auch nur ein hinfliegendes Blatt.

Hier muß ich noch eines Grafen zu Dohna aus dem Hause Finkenstein und Schlobitten erwähnen, des Obersten Grafen Ludwig, eines jüngeren Bruders des Grafen Alexander und der beiden edlen Rußlandsfahrer, Grafen Friedrich und Helvetius. Ein anderer Bruder desselben in grüner Adligkeit blühenden Stammes, Graf Fabian, hat sich in Spanien im freiwilligen Kampfe gegen die Welschen schöne Wunden geholt und sollte auch bald wieder in dem deutschen, blutigen Reigen gegen sie mittanzen. Dieser Oberst Ludwig Dohna war, als im Königreich Preußen alles zur Entscheidung drängte, an seinen König nach Breslau geschickt worden und hatte die stille Genehmigung der Vorrüstungen des preußischen Patriotismus mitgebracht; darauf ward er an die Spitze der Errichtung und Einrichtung der Landwehr gestellt und machte diese durch eignen Eifer und durch den Miteifer seiner Landsleute in unglaublich kurzer Zeit waffengeübt. Es war eine ebenso freundliche als tatenkräftige Natur, dabei von großer Lebendigkeit und Gewandtheit. Er und seine Landwehr nebst einer kleinen russischen Hilfsschar Das Hauptkontingent des Belagerungsheeres stellten die Russen mit etwa 15 000 Mann, während die preußische Landwehrdivision nur etwa 8000 Mann stark war (Max Schulze, Um Danzig 1813-14. Berl. 1903). (D. H.) unter dem Herzog Alexander von Württemberg haben die Festung Danzig lange eingeschlossen und endlich zur Übergabe gezwungen. Die Beschwerden und Arbeiten dieses Dienstes, wo er zugleich für sein Heer und auch für sein Land selbst gegen die russische in Mannszucht sehr aufgelöste Hilfsschar zu kämpfen hatte, dann der wiederholte Kampf fürs Vaterland, als die Stadt endlich die weiße Fahne aufsteckte, und die vielen Streite und Ärger mit dem Herzog Alexander, der die Festung durchaus mit seinen Russen besetzen wollte, hatten die Kraft dieses jugendlichen und kühnen Helden aufgerieben. Er erkrankte bald, nachdem er Danzig, die alte Hauptstadt Hinterpommerns, seinem Könige wiedergewonnen, und starb am Nervenfieber. Ehre seinem Gedächtnis!

Hier ist also die Landwehr unter den Auspizien der Grafen zu Dohna und vorzüglich des zum Oberstatthalter des Königreichs Preußen während des Kriegs ernannten Ministers Grafen Alexander zu Dohna zuerst ins Leben getreten. Später ist die Frage aufgeworfen, wer in Preußen der eigentliche Erfinder und Stifter derselben, ich sollte sagen der Grundsätze derselben, gewesen? Und man hat den Namen Scharnhorst genannt. Mit Recht: seine war die Schule der denkenden und erfindenden Männer und Offiziere in Preußen. Einer seiner Lieblingsschüler, der Oberst von Clausewitz, hatte schon vor einigen Jahren mit seiner energischen Klarheit und Kürze in Beleuchtung aller möglichen Gesichtspunkte, welche diese große Angelegenheit darbot, eine sehr schöne Schrift über die mögliche Verteidigung und Bewaffnung der preußischen Monarchie Sr. Majestät dem Könige eingereicht für den Fall, daß die Gunst der Umstände eine Gelegenheit böte, wo alles Volk aufstehen und gegen seine tückischen Dränger die Sturmglocke ziehen könnte. Ich habe diesen Aufsatz abschriftlich in Händen gehabt und mir Auszüge daraus gemacht, worüber ich bei den demagogischen Untersuchungen befragt worden bin, in der Voraussetzung, ich sei der Verfasser solcher Entwürfe gewesen Diese Denkschrift, die Arndt im Original, nicht abschriftlich vorgelegen haben muß, rührte nicht von Clausewitz, sondern von Gneisenau her (Pertz, Gneisenau II, 106f). Der König hatte dieses Schriftstück mit Randbemerkungen versehen, die Arndt abgeschrieben hatte, und derentwegen er später verdächtigt wurde. Er hat sie dann in seinem »Notgedrungenen Bericht« I, 402, veröffentlicht. (D. H.). Aber alle Grafen Dohna und auch der Minister gehörten durch Gesinnung und Wirksamkeit dieser Schule an, endlich sogar durch Verwandtschaft. Der Minister, der stillste, bescheidenste, frommste Mann, aber eben deswegen voll heißester Glut und unerschrockenstem Mut, wo es die heiligsten Vorteile des Königs und Vaterlandes galt, hat die Landwehr zuerst und zwar auf das kürzeste, zweckmäßigste und mächtigste in Preußen auf die Beine gestellt, und so soll er mit seinem Scharnhorst und dem Scharnhorstschen Clausewitz die Erstigkeit behalten. Die Erstigkeit in allen guten und heiligen Dingen wird diesem edlen Mann keiner, der ihn gekannt hat, abzusprechen wagen.

Dies waren leuchtende Tage, diese kriegsbangen Tage, und jeder ward von der allgemeinen Gesinnung und Begeisterung mit fortgetragen und emporgehalten. So bin auch ich damals getragen worden, ohne daß ich mir das Verdienst ansprechen könnte, so reiner und edler Heber und Schweber, als mich trugen, würdig gewesen zu sein. Ich wohnte und lebte in dem Hause der Gebrüder Nicolovius, die mit Leib und Seele mit den Besseren und Edleren ihres Vaterlandes strebten; ich lebte viel im Hause eines Jugendfreundes, mit welchem ich vor fünfzehn Jahren manche fröhliche Donaufahrt in Wien und Ungarn gemacht hatte, des Doktors Wilhelm Motherby, bei welchem sich der Glanz der jugendlichen Welt versammelte, tapfre und begeisterte Jünglinge: seine Brüder, die Motherby Der Regierungsrat Johann Motherby, Hauptmann bei der Landwehr, fiel an einem Tore von Leipzig, einer der ersten, welche die Mauern erkletterten, durch eine welsche Kugel., Friccius, von Fahrenheid, von Bardeleben, und andere, die dem Vaterlande in der Not nicht gefehlt haben; ich lebte noch mehr, wirklich die meisten Königsberger Abende, in dem Hause des Kanzlers Freiherrn von Schrötter, des Gemahls einer Dohnaschen Schwester. Dort wohnte die herrliche Julie Scharnhorst, Gräfin Friedrich zu Dohna, die schönste Erbin des väterlichen Geistes. Sie war die rechte Fürstin der Begeisterung, damals von Jugend, Schönheit und Seelenhoheit strahlend. In diesem Hause versammelten sich die Dohna sehr oft und was durch Würdigkeit, Gelehrsamkeit und Tapferkeit in Königsberg ausgezeichnet war. – Auch sah ich oft den Geheimen Kriegsrat Scheffner, einen schönen, liebenswürdigen Greis, Zögling des Siebenjährigen Krieges und seines Nachwuchses, weiland Freund und Genoß von Hamann, Kant und Hippel, berühmt durch seinen Geist und Witz, womit er auch damals noch funkelte. Man erzählt, die ebengenannten und andere, die durch Schriften Preußens Ruhm sind, haben auf seiner reichen Blumenweide fleißige Lese gehalten. Scheffner gehörte zu den Geistern, welche durch Gespräch und Gesellschaft gereizt eitel Funken von sich geben, in der Einsamkeit aber weniger glücklich schaffen. Er war der unmittelbarste Hervorbringer. Jetzt bildete er nur noch einen engen Kreis; er war noch geistesfrisch aber hochbetagt. Aber nicht allein seinen Witz bewunderte man; auch seine Redlichkeit und seinen Verstand hielten die Weisen in Ehren.

Hier stieß ich auch auf zwei abenteuerliche Menschen, von welchen ich den einen kurz im Feldlager gesehen hatte, den andern, dessen trauriges Ende vielleicht auf mein Schicksal mit Einfluß gehabt hat, hier in Königsberg zum ersten Male sah. Ich meine Gustav von Barnekow und August von Kotzebue. Der erste hat mir einige Not, der zweite vielleicht schwere Not gemacht.

Den Vater jenes Gustav von Barnekow hatte ich wohl gekannt. Er wohnte zu Teschvitz unweit Gingst auf Rügen, wo ich ihn im Greisenalter gesehen habe, ein schönster Greis und ein Mann voll Tatkraft und Unbeugsamkeit, mit allen adligen Vorurteilen des Mittelalters behaftet, aber auch mit vielen trefflichen Eigenschaften gerüstet, welche die meisten seiner Rügenschen Vettern nicht teilten. Er war nicht mein Freund. Der Sohn, früher in kursächsischen, dann in preußischen Kriegsdiensten, hatte sich in dem Winterfeldzuge von 1807 in Preußen glänzend ausgezeichnet, war mit einem stattlichen Abschiedsreisegelde aus dem Dienst entlassen, da man von seiten Frankreichs seine Auslieferung Barnekow ward verhaftet und ein Ausschuß – drei Männer vom Kriegs-, drei vom Verwaltungsstande – niedergesetzt, um in Beratung zu nehmen: ob man bei der Gefährlichkeit der Zeitverhältnisse den gewaltigen Überziehern dieses Opfer hinwerfen dürfe? Vier Stimmen waren für die Auslieferung, zwei dagegen, nämlich General Scharnhorst und Staatsrat von Klewiz, später Oberpräsident des Herzogtums Sachsen. Das Gewicht der Königlichen Majestät legte sich zu den zweien, welchen Ehre teurer als Glück gedeucht, und Barnekow war gerettet. Er ward als ein Entflohener gemeldet. (Nach Schöns Bericht war nicht Scharnhorst, sondern Schön selbst der zweite, der gegen die Auslieferung stimmte. Aus den Papieren des Ministers von Schön I, S. 43 und IV, S. 563. (D. H.) begehrt hatte, weil er die französischen Marschälle beim Eintritt ins Theater in Königsberg öffentlich ausgescharrt und ausgepfiffen hatte, im Jahre 1809 hatte er als Freiwilliger unter Österreichs Fahnen gefochten und sich darauf in den stillen Jahren von 1809-12 in Pommern und Mecklenburg so hingehalten. Da war er, dessen Verdienst das Schweigen nicht war, einmal von Davoust eingefangen und einer französischen Friedenskugel nur durch die Verwendung und Börse eines Freundes seines Vaters, eines Freiherrn von Stenglin, ganz hart vorbeigekommen. Ich sah ihn flüchtig im Lager von Smolensk, hatte ihn in der Heimat nimmer gesehen. Es war ein schönster Kriegsmann, groß, schlank, mit herrlichsten Augen und Stirn, dabei leicht und beweglich, voll Einfälle und Talente, aber alles husarisch und überströmend, mit der allerunbändigsten Zunge, so daß, wenn er seinen Mut nicht durch Taten erprobt hätte, einer ihn für einen Prahler hätte halten können. Dieser Gustav Barnekow ward in Rußland der genannteste deutsche Name. Er hatte in der Schlacht bei Borodino ein paar Pulks Kosaken geführt und diese durch seine schöne und mutige Persönlichkeit so begeistert, daß sie im stehenden Gefecht ausgehalten und von seinem wilden Mut hingerissen in zwei französischen Regimentern gewaltigen Durchbruch und blutige Metzelung angerichtet hatten. Aber es waren die meisten von ihnen im Kampf gefallen, und auch den Führer hatte man von vielen Wunden bedeckt auf dem Schlachtfelde aufgelesen. Sein ihm voranfliegender Ruf hatte ihn zur Verpflegung und Heilung auf Rostopschins Schloß bei Moskau gebracht, dann in die Nähe der Stadt Twer und der großherzigen Zarentochter Katharina von Oldenburg, der späteren allgeliebten Königin von Württemberg. Dieser Mann prangte nun als ein Wunder persönlicher Tapferkeit und Stärke (denn er war stark wie ein Löwe) in allen russischen Tageblättern, und die Begeisterung für ihn ging so weit, daß für diesen verwundeten deutschen Ritter auch in Petersburg ordentliche Sammlungen gemacht wurden. Da man ihn nicht auffinden konnte (denn er war unterdessen aus Rußland durch Polen halbgeheilt weiter gefahren), so waren die gesammelten Summen dem Minister vom Stein übergeben, als der den Kriegsmann wohl irgendwo treffen würde. Kaum waren wir in Königsberg, so erschien einen guten Abend mein Barnekow vor dem Minister am Teetische. Er kam auf Krücken hereingehumpelt, denn auf der Fahrt durch Polen hatte er durch Umwerfen mit dem Schlitten seine verwundete Hüfte wieder verletzt. Stein schalt ihn und hieß ihn nach Hause gehen und stilleliegen, damit er für den Frühlingsfeldzug wieder recht rüstig sein könne; mir aber trug er eine Art Aufsicht über ihn auf, bis er wieder fertig wäre. Für Arzt und Wundarzt war leicht gesorgt; schwerer war der wilde Vogel in Ruhe zu halten. Der Minister gab ihm bei der Abreise einen Teil der Sammlung; den Rest in Wechseln sollte ich behalten, bis der Lahme besser wäre. So vergingen einige Wochen, und er ward wieder ganz fertig und erhielt von mir die letzten Wechsel. Diese lagen den nächsten Morgen in den schönsten Talern und Friedrichsdor auf seinem Tische – es mochten wohl 3000 Taler sein. Ich warnte, sie nicht zu geschwind flüchtig zu machen; er lächelte und antwortete: »Freundchen, ein paar prächtige Pferde und neue Ausrüstung, das übrige wollen wir der Freude weihen.« Ein paar Tage darauf hörte ich, Barnekow habe in seinem Hause mit großer Herrlichkeit einen Ball gegeben – er war in Königsberg bekannt – über hundert Menschen eingeladen, habe ihm wenigstens hundert Friedrichsdor gekostet. Nicht vierzehn Tage vergingen, und ich erhielt eines Morgens einen kläglichen Brief von ihm, worin er bat, ihm hundert Friedrichsdor vorzustrecken; er müsse sie haben, seine Ehre sei verpfändet. Ich konnte seine Ehre nicht aus dem Pfandstall lösen. Er war indessen bald weggeflogen, und ich hörte seinen Namen nicht wieder bis zur Nachricht von dem Erfolg des Czernitschefschen Zuges gegen Kassel. Da hatte Barnekow eine Reihe Wagen des flüchtigen Königs Hieronymus abgeschnitten und auf seinen Anteil über 30 000 Taler Beute gemacht und mit einem Teil desselben, wie er denn adliger Gesinnung war, eigene und Freundesschuld bezahlt. Das übrige war bald wieder weitergeflogen. Barnekow ist vor nicht lange als preußischer Generalmajor gestorben. Er kam mir anfangs vor wie eine Blüchersnatur, eine der schönsten Gestalten, die meine Augen gesehen; aber er war doch nur der Ritter mit der Stange der nordischen Märchen. Wie jenen hätte man ihn an einer eisernen Stange festhalten und nur auf Schlachtfeldern loslassen müssen. Schade um solche königliche Natur.

Herr von Kotzebue kam bald nach mir nach Königsberg, ging mit dem General von Wittgenstein nach Deutschland und tageblätterte wie ich und andre. Ich mußte ihn oft sehen, er war eine Fliege, die sich auf alles setzte, kam auch viel zu Nicolovius dem Buchhändler, der sein Kunde gewesen, und deklamierte und las vor. Er machte, wie man ihn sah, einen sehr gemeinen Eindruck – sein großes Talent in allen Ehren – eine der widerlichsten Erscheinungen, die mir in meinem Leben vorgekommen sind. Ich hatte mir ihn ganz anders gedacht, wie es einem mit den meisten Menschen geht, die man sich nach Erzählungen oder Büchern vormalt, wenigstens als einen feingeschliffenen, etwas höfischen und höfelnden Mann, zumal da er so lange in dem zierlichen und adligen Livland gelebt hatte. Aber den Vornehmen und Zierlichen spielte er nicht. Er trat auf mit der Haltung eines Altflickers und mit einer unverschämten Offenheit, die nichts von der Offenheit der Natur hatte, ja nicht einmal von jener, welche schlaue und gewandte Weltleute gewinnen; und in seinen freundlichen Augen war zugleich etwas schleichend Lauerndes und unverschämt Faunisches. Er hat mich später in Schriften angegriffen In seinen »Politischen Flugblättern« (Königsb. 1816). (D. H.); glücklich, daß ich mit diesem Schmutzfinken die Fehde nicht aufgenommen habe! Das hätte mir, als er ein so schrecklich blutiges Ende nahm, Gott weiß wie, in die Schuhe gegossen werden können.

Um die Mitte des Monats März fuhr ich aus Königsberg. Der Winter war vergangen, ich mochte ausrufen: leider vergangen! In einem kleinen Wagen, mit einem Bedienten ganz allein, ohne schwere Ladung, vier Extrapostpferde vor, mußte ich auf fettem, preußischem und polnischem Boden doch oft den Schneckengang schleichen; was freilich auch durch häufiges Warten auf Pferde und durch die Abgetriebenheit der Pferde selbst noch gemehrt ward. Auch einen weiten Umweg mußte ich machen, nördlich der Festung Thorn, die eben belagert ward, wovon der Kanonendonner mein Ohr erreichte. Hier lernte ich nun die rechte polnische Wirtschaft kennen und in diesen Monaten einen Schmutz in den Wohnungen und auf den Gassen der Städte und Dörfer, den ich vergebens zu schildern versuchen würde. Mir fiel dabei die Anekdote ein, die man in Kalisch und Breslau von dem Marschall Davoust erzählte. Dieser ritt im Spätherbst 1806 in Person vor das Stadthaus, wohin er die polnischen Magnaten beschieden hatte, und da er beim Absteigen vom Pferde tief im Kot versank, sprach er zu einem neben ihm stehenden, ehemaligen preußischen, deutschen Beamten, indem er den Dreck von seinen Stiefeln schüttelte: » Voilà ce que cette Canaille appelle sa patrie.« In der Tat muß man sehen und fühlen, sonst glaubt man die wüste Unordnung und den schweinischen Schmutz der Polen nicht; man begreift nicht, wie ein Volk von so vieler Lebendigkeit und von einer so zauberhaften Vorliebe für alles Prächtige und Schimmernde, als die Polen haben, so weit herunterkommen konnte. Denn auch hier leider malt sich ab, wie es in ihrer Regierung und Verwaltung seit Jahrhunderten ausgesehen hat; auch hierin sieht und begreift man des edlen Kosciusko Wort: Finis Poloniae! Hiemit ist alles angetan und befleckt, so nicht nur die Wohnungen der Lebendigen, sondern auch die Wohnungen der Toten und die Wohnung Gottes, wenigstens was die Sterblichen so nennen. Wieviele Kirchhöfe habe ich gesehen ohne eine Spur einer Mauer oder Umfriedung, die Kühe und Schweine nach Gefallen auf den Gräbern herumspazierend! In die Kirchen streuen sie in der schlimmen Jahreszeit Stroh auf Stroh, daß es sich wie in schlechtgehaltenen Viehställen gegen den Sommer oft Ellen hoch drinnen erhebt und ordentlich ausgemistet werden muß. Ich will durch diesen Jammer wahrlich des größeren politischen Jammers nicht spotten. Schon das ist genug gesagt, daß ich in schlimmer Jahreszeit, wo es fast immer regnete, doch fast immer froh war, von den Stühlen und Tischen der Menschen wieder auf meinen nassen und kalten Sitz hinauszukommen. Denn ich fuhr nur in einem leichten sogenannten Holsteinerchen, den ich mir in Königsberg gekauft hatte, und der allen Winden und Wolkenergüssen mit meiner Herrlichkeit freies Spiel ließ.

Unterdessen war Kutusow, welcher über Litauens Sümpfe und Wüsten und über Polens Schnee auch nicht hatte hinhüpfen können, mit seinen Russen auch über die Weichsel gegangen und der Kaiser Alexander nach Breslau, wo er Bündnis und Freundschaft mit dem König von Preußen von neuem befestigte. Der König hatte seine Verkündigung an sein Volk und die Kriegserklärung an Frankreich erlassen und den Orden des Eisernen Kreuzes als das hohe Feldzeichen dieses Kriegs errichtet. Ich kam in der letzten Märzwoche in Kalisch an, wo der Kaiser und der Minister vom Stein waren und den König von Preußen erwarteten. Bei meiner Fahrt von da nach Breslau traf mein Wägelchen auf dem Wege plötzlich auf den Wagen Sr. preußischen Majestät, die den Kaiser in Kalisch besuchen fuhr. Ich richtete mich auf, entblößte mein Haupt, schrie aber meinem polnischen Schwager vergebens zu, auszuweichen. Um ein Haar hätte der königliche Wagen mich armen Plebejer gestreift; wie würde ich mit meinem Geschirr auseinandergeflogen sein, wenn er uns gefaßt hätte!

Ich weilte nur ein paar Tage in Breslau. Bei meiner Fahrt von da nach Dresden begegnete mir ein paar Stunden von Liegnitz einer jener Vorfälle, die, wiewohl nur bare Spiele des Zufalls, doch eines tiefen Eindrucks auf uns nicht verfehlen. Ich war bei meiner Nachtfahrt im halben Schlafe – siehe! da schmetterten mich Trompeten plötzlich aus meinem dämmernden Traumzustande heraus. Ich rieb mir die Augen – es war die Morgenröte, und ich kam eben aus einem großen Tannenwald aufs Blachfeld hinausgefahren – und siehe! auf einem Querwege zogen ein Paar russische Regimenter Husaren und Kosaken mit fliegenden Fahnen an mir vorüber, so daß ich wohl an zehn Minuten stillhalten und mir die Leute und die Gegend betrachten mußte. Und als meine Sinne und Gedanken sich mit der ausgehenden Sonne aufklärten, ward mir eine dunkle Erinnerung, gleichsam eine Wiedererkennung hell in meiner Seele – hier an derselben Stelle, hier vor dem Tannenwalde und in eben solcher morgendlichen Zeit hatte ich vor einem Jahre sächsische und polnische Reiter mit ganz anderen Gefühlen vorüberziehen sehen. Was haben bei solchen wunderlichen Spielen die Gedanken für ein weites, freies Spiel! O, hätte nun mein Chasot bei mir gesessen! Wie würde er dieses Morgenrot und das aufgebrochene Morgenrot der Freiheit begrüßt haben!

Im Anfange Aprils war ich in Dresden und ließ mich bei dem würdigen Oberappellationsrat Körner einquartieren: bald kam auch der Minister vom Stein. Er war jetzt durch gemeinsamen Beschluß der hohen Herrscher zum Vorsitzer eines kaiserlich russischen und königlich preußischen Verwaltungsrats für die deutschen Angelegenheiten und Lande ernannt. Die würdigsten Männer, Herr Präsident Schön aus Preußen und Herr Geheimer Staatsrat Niebuhr aus Berlin, wurden von Preußen ihm beigesellt. Niebuhr ist gegen den Herbst ausgetreten und hat den Staatsrat von Rhediger aus Schlesien zum Nachfolger gehabt.

Hier begann nun ein ganz neuer Abschnitt unsres Lebens, ein neues Gedränge, ein Gedränge der deutschen Dinge und Menschen, und dies wogte nun allerdings oft mit Sturmflut auf Herrn vom Stein ein. Er begriff, daß der Stein, den er von Deutschlands Nacken abwälzen wollte, nur durch die gemeinsame Anstrengung des ganzen Volks abgewälzt werden könne, daß alles, was alttestamentlich an die Wand p… und Spieß und Stange heben könne, angestrengt werden müsse. Schon von Petersburg aus hatte er darüber vielfach nach England und Deutschland hin und her gebriefwechselt: denn allerdings hatte man nach Deutschland, wenngleich langsame, Gelegenheiten, durch Eilboten über Jassy und längs der Donau nach Wien, auch durch einzelne Schiffer, die ihre Briefe und Felleisen irgendwo an der Ostseeküste Vertrauten überlieferten. Ich erinnere mich mehrerer Briefe, die er mit dem hannöverschen Minister Grafen von Münster in London gewechselt hat, und die ich abschreiben mußte. Münster äußerte sich sehr kalt und bedenklich in Hinsicht der Volksbewaffnung und sah, wie mir deuchte, die Dinge allein aus dem aristokratischen Standpunkte von oben her an und erblickte in einer solchen Erhebung und Bewaffnung für die Folgezeit mancherlei Gefahren; Stein antwortete ihm aber, er wolle lieber das Stück trockne Brot mit dem ärmsten, deutschen Bauern in der Hütte essen, als in der glänzendsten Herrschaft von Fremden abhangen. Stein vertraute der Treue und dem Willen des deutschen Volks, und er hat sich darin nicht geirrt; aber wie weit war er von allen demagogischen und anarchischen Utopien, welche manche Querköpfe ihm auch wohl zugetraut haben! Aber Napoleon gegenüber konnte er aus Spanien und Tirol hinweisen, und er wies darauf hin. Nun kam in Dresden das Gedränge beide der Wohlmeinenden und der Verrückten, die oft auch recht wohlmeinend waren, nur überall keine Meinung haben durften. Wenn es langsam ging mit dem Vormarsch der Heere, mit der Bewaffnung und jener blitzschnellen Wirksamkeit, welche man von den vereinigten Preußen und Russen erwartet hatte, wenn Stein selbst oft ärgerlich war über Versäumungen und Hemmungen, die weder von den Monarchen noch von ihm verschuldet waren, so pflegte er die Fragenden und Suchenden oft kurz und ungeduldig mit den Worten abzuweisen: »Meine Herren, was wollen Sie von mir? Ich bin kein Herrgott, ja ich bin nicht einmal Kaiser von Rußland noch König von Preußen.« Doch mußte ich bei seiner Heftigkeit oft bewundern, wie er selbst gegen überlaufende und quälende Narren, wenn sie es nur gut und treu meinten, geduldig und zuweilen sogar langmütig sein konnte. Wie er nun vollends mit brieflichen Anfragen, Bitten, Vorschlägen und Entwürfen der vielen Vaterlandsretter bedrängt worden ist, kann jeder sich vorstellen, der jene aufgeregte Zeit bedenkt. Was kurzgefaßt war, las er gewöhnlich, merkte sich, wenn etwas zu merken war, und zerriß oder verbrannte dann sogleich das Papier, denn mit geschriebenen Aktenballen schleppte er sich nicht gern. Was lang und mit langen Einleitungen und Herleitungen versehen war, dem traute er nicht, und seine praktische Kürze hielt es – was es meistens auch war – für unbrauchbares, theoretisches Gewäsch. Das gab er mir dann zuweilen zur Beantwortung, gewöhnlich aber nur zur Durchlesung. Es liefen da die wunderlichsten Dinge ein. So schickte unter andern ein Professor Hauff oder Hauch, der früher in Marburg gelehrt hatte, später, wenn es mich richtig erinnert, als Professor der Mathematik nach Gent berufen ist Johann Karl Friedrich Hauff, Professor in Marburg, später Salm-Reifferscheidtscher Berg- und Hüttendirektor in Blansko bei Brünn, 1817 Professor der Chemie in Gent, gest. 1846 in Brüssel. (D. H.), einen Plan ein zur leichten Zerstörung und Überwindung des französischen Heeres, einen ähnlichen Plan wie der, den man zu Rostopschins Zeit in Moskau ausgeheckt haben soll. Es war in diesem Entwurf von nichts Geringerem die Rede als von einem magnetischen Eisenkoloß von eigentümlichem Bau, der vor der Fronte des deutschen Heeres geführt werden und alle feindlichen Kanonen- und Flintenkugeln mit unwiderstehlichem Reiz zu sich locken solle, so daß der deutsche Soldat unverletzt und unverletzlich unter diesem Schirm dem Feinde desto mutiger und kräftiger auf den Leib rücken könne. Es war aber dabei nur eine Kleinigkeit vergessen, die Möglichkeit einer Kraft, die einen solchen Koloß an der Heeresspitze bewegen könnte. Ich hatte mir von solchen Schnurrigkeiten eine kleine Sammlung angelegt, die auf dem Meere mit einem Teil meiner Bücher verfault ist.

Da die verbündeten Heere nun über die Elbe weiter in Thüringen vordrangen, und die Franzosen von der andern Seite heranzogen, so wimmelte Dresden außer den erwähnten Fremden, die dort Geschäfte hatten, auch von Flüchtlingen, die das Sichere suchten, einige Zeit dort blieben und dann über die Berge nach Böhmen zogen. Auch Goethe kam und besuchte mehrmals das ihm befreundete Körnersche Haus. Ich hatte ihn in zwanzig Jahren nicht gesehen; er erschien immer noch in seiner stattlichen Schöne, aber der große Mann machte keinen erfreulichen Eindruck. Ihm war's beklommen, und er hatte weder Hoffnung noch Freude an den neuen Dingen. Der junge Körner war da, freiwilliger Jäger bei den Lützowern; der Vater sprach sich begeistert und hoffnungsreich aus, da erwiderte Goethe ihm gleichsam erzürnt: »Schüttelt nur an euren Ketten, der Mann ist euch zu groß, ihr werdet sie nicht zerbrechen Vgl. Goethe, Tagebücher (Weimar. Ausg. III, Bd. 5, S. 36): 21. April. Bei Körners, wo wir Herrn Arndt fanden. (D. H.)

Ich war meinen Dresdener Monat recht fleißig, arbeitete meinen Soldatenkatechismus S. Bd. 13. (D. H.) aus und überarbeitete einen dritten Teil des Geistes der Zeit, wozu ich schon in Königsberg gesammelt hatte. Ich erlaube mir hier daraus eine Stelle zu wiederholen, zum Zeichen, daß ich das Ziel dieses heiligen Krieges klar und richtig ins Auge gefaßt habe, ein Ziel, das in deutschen Herzen ewig unverrückt stehen sollte.

»Das nächste große Ziel dieses mit solcher Würde und Hoheit der Gesinnung begonnenen Krieges ist die Befreiung und Wiederherstellung Italiens und Deutschlands und die Beschränkung des französischen Übermuts an dem Rheinstrom. Dort beginnt die Arbeit des Kriegs, vielleicht eine lange und schwere Arbeit, die aber getan werden muß, wenn man nicht bei Halbem stehen bleiben und nach einigen Jahren die Franzosen wieder da sehen will, wo sie eben gewesen sind. Den Rhein darf das unruhige und eroberungslustige Volk nimmer als Grenze behalten; denn welche Klauseln und papierne Eidschwüre und Verschreibungen man auch an einen Friedensschluß hängen, und von wievielen Bürgen und Zeugen man ihn auch mit unterschreiben lassen mag, die natürliche Gewalt wird immer stärker sein als die künstliche, wenn die Grundlage des Friedens nicht eine sichere ist. Der Rhein mit seinem Knie in fremder Hand drückt gerade auf den Nacken Deutschlands und wird nicht weniger drücken, wenn man auch gelobt und bedingt, es solle mit weicher Wolle und Seide umwulstet werden. Wenn Frankreich den Rhein und seine festen Stellungen besitzt, so ist das Niederland und die Schweiz und also auch der größte Teil von Oberitalien geradezu von ihm abhängig, so liegt ihm das übrige Deutschland bis an die Elbe und den Böhmerwald offen, und es mag ungestraft hineinbrechen und streifen und ziehen, so weit es will; zu ihm aber darf ungestraft kein Heer bis an den Rhein, geschweige denn über den Rhein kommen. Will man also den Franzosen das Übergewicht in der Tat entwinden und nicht bloß zum Schein, so müssen Deutschlands alte Grenzen wiedergewonnen werden. Dann werden die beiden Völker, die Deutschen und die Franzosen, in gleichem Verhältnis einander gegenüberstehen, und gegenseitige Furcht wird die Marken besser bewachen und das Gleichgewicht und die Ruhe Europas besser bewahren als alle Bullen und Diplome, deren ewige Versicherungen und Gelobungen immer nur durch die Degenspitze recht getragen werden. Die Deutschen wollen nur ihr Gebührliches wieder haben, die Menschen ihres Landes und ihrer Zunge, die ihnen unter Ludwig XIV. und XV. und in der letzten französischen Raubzeit entwendet worden sind. Diese uralte germanische Grenze steht an dem Vogesus, dem Jura und den Ardennen durch Art und Sprache des Volks unverkennlich und unverrücklich fest, und nichts Französisches, welches sie nur verderben würde, soll von den Deutschen je begehrt noch genommen werden.«

Ein großes Glück erlebten wir hier in Dresden, für welches alle, welche die Verhältnisse kannten, dem Himmel dankten; so daß viele dabei riefen: Der alte deutsche Gott lebt noch. Den 23. April Kutusow starb am 28. April 1813. (D. H.) starb zu Bunzlau in Schlesien der alte russische Feldmarschall Kutusow am Nervenfieber. Bei dieser Nachricht rief auch ich: Hier ist der Finger Gottes! Dieser Greis war eine hartnäckige, zauderische, russische Natur. Er hatte die Gewalt und das Ansehen im Heer gewonnen, daß selbst Alexander ihn nicht gut davon hätte wegrücken können. Kaum war es ihm und Stein gelungen, ihn über die Weichsel vorwärts zu bringen. Er hatte durchaus jenseits der Weichsel bis zum Sommer stehen bleiben und dann erst mit verjüngten Kräften vorrücken wollen. Aber was wäre dann aus Deutschland geworden? Er war nun freilich vorwärts marschiert; aber wieder kann man fragen: Was wäre aus Deutschland, was aus Preußen geworden, wenn Kutusow gelebt hätte? Die Franzosen würden alles Land bis an die Weichsel, sie würden mit der grausamsten Berechnung Preußens letzte Hilfsmittel vertilgt, seine letzten Sehnen zerschnitten und eine preußische Bewaffnung fast unmöglich gemacht haben. Und was hätten Kutusow und die Russen allein ohne Preußen wohl ausgerichtet, hier, wo auch noch alle Festungen von französischen Besatzungen gehalten wurden? Ein anderer Übelstand wäre gewesen: Kutusow mochte die Deutschen nicht, er war im höchsten Grade rauh und unliebenswürdig und hätte jede hohe deutsche Aufwallung und Begeisterung wahrscheinlich bei ihrer Geburt mit plumpen moskowitischen Füßen zertreten. Einen Ähnlichen oder gar einen Gleichen würde er neben sich nimmer geduldet haben; wie wäre neben ihm Blücher heraus- oder heraufgekommen? Nach seinem Tode aber hat sich alles wie von selbst gemacht. Blücher, der Alte, ist weniger gehemmt durch seine eigne Kraft emporgedrungen, und die übrigen russischen Feldherren, Wittgenstein, Barclay de Tolly, Langeron usw. haben sich neben und selbst unter dem Liebenswürdigen und Schönen, der alles bezaubern und hinreißen konnte, nicht in Schatten gestellt gefühlt. Diesen Finger Gottes sahen wir jetzt; ein anderer Finger Gottes reckte sich für das Vaterland in der Schlacht bei Dresden aus den Wolken, wo eine der ersten losgebrannten französischen Kanonenkugeln dem wackern Moreau beide Beine und mit ihnen das Leben zerschmetterte. Wahrlich, hätte dieser Franzose gelebt, wie würde er im Großrat des Kaisers Alexander sich in unsre Angelegenheiten und Siege hineingeschoben und zwischen uns und die Franzosen vorgeschoben und uns nach Vermögen um Ruhm und Siegespreis betrogen haben! Wir haben solchen Finger Gottes in jenen Tagen, wo man glauben und hoffen lernte, ausgereckt zu sehen gemeint. Andere haben uns darüber ausgelacht und lachen uns noch aus.

Nach der Schlacht bei Lützen vom 2. Mai wichen die Verbündeten über die Elbe zurück, wo sie auch nicht einen einzigen festen Platz als Anlehnungspunkt besaßen. Ich sah in Dresden den edlen Scharnhorst, leicht am Knie verwundet. Er selbst sah es nur für eine Streifung an; aber diese leichte Wunde sollte sein Tod werden. Er starb den 28. Junius in Prag. Eine Reise nach Wien und bei der schwebenden Ungewißheit der Dinge hin und her fliegende Sorge um die endliche Lösung derselben bei diesem starken und doch reizbarsten Gemüte machten das kleine Übel zu einem gefährlichen. Doch auch der Tod ist Gottes.

Ich fuhr, als alles Dresden verließ, mit kleinen Aufträgen meines Herrn nach Berlin und besuchte von dort aus meine Gefreundten und meinen kleinen Sohn in Pommern und Rügen. Dann wieder nach Berlin zurück, wo ich bis gegen das Ende des Junius Arndt blieb bis zum 8. Juli in Berlin (Briefe an Johanna Motherby, S. 111). (D. H.) blieb. Es wurden inzwischen mit Napoleon Schlachten geschlagen, zweifelhafte aber tapfere; doch selbst die Nachrichten von Verlusten schlugen nicht nieder. Die Menschen waren auf das Höchste und Letzte gerüstet: lieber das tiefste Leid und Verderben, lieber die letzten, ehrlichen Todeswunden als länger die Schande der Knechtschaft – das war das allgemeine Gefühl und die einstimmige Stimme in der Hauptstadt. Not genug und Bedrängnis aber Freude und Hoffnung in der Not und eine Gemeinsamkeit der treuen Herzen, die nur in solchen Zeiten zusammen auflodern kann. Ich lebte mit lieben Freunden, mit edlen und hohen Menschen, die meinen Willen für die Tat nahmen. Savigny und Eichhorn saßen im Landwehrausschuß; Süvern übte seine Kompagnie, bald sein Regiment Landsturm auf dem Wilhelmsplatz; Fichte hatte für sich und seinen kaum waffenfähigen Sohn, der kaum aus dem Knabenalter heraustrat, Lanzen und Schwerter vor seiner Tür angelehnt stehen. Man hatte ihn der Ehre wegen zum Offizier beim Landsturm machen wollen, er hatte es verweigert mit den Worten: »Hier tauge ich nur zum Gemeinen.« Diesem Mann war es mit allem immer voller Ernst; er war schlecht auf den Füßen, ich glaube etwas an Gicht leidend; da hatte er denn gesprochen: »Ich weiß, ich werde keine großen Taten tun, aber ich werde dem Volke nimmer den Weg zur Flucht weisen; nur über meine Leiche sollen die Feinde in die Stadt eindringen.« Er war erstaunlich frisch, lebendig und liebenswürdig in dieser Zeit, und es schien gleichsam, als fände sein frommer Sinn in der Liebe zum Volk und Vaterlande mehr und mehr die Brücke, worüber er aus seinem idealischen Ich zum Nichtich hinübergelangen konnte. Ich habe ihn damals viel gesehen, in seinem Hause und bei Freunden. Er und Reil waren gewissermaßen die tragischesten Personen der Hauptstadt durch die ungeheure Feurigkeit, womit sie die Zeit auffaßten, und durch den brennenden Haß, den der letzte fast noch mehr als Fichte gegen die Welschen trug. Reil, der edle Ostfriese, war ein Mann mächtiger und gewaltiger Leidenschaften, die sich in seinem schönsten Leibe und seinen göttlichen Augen in herrlichsten Farben und Flammen darstellten und brachen. Ich war dort gleichsam Hausfreund geworden durch einen geliebten Freund, Ernst von Scheele, Bruder des gegenwärtigen hannöverschen Ministers Arndts Freund, der 1815 als preußischer Geheimer Regierungsrat starb, hieß Friedrich, nicht Ernst von Schele. Er war der Bruder des späteren hannöverschen Kabinettsministers Georg von Schele, mit dessen Hilfe der König Ernst August 1837 die hannöversche Verfassung aufhob. (D. H.), und ich habe manche Abende in seiner liebenswürdigen Familie versessen, wenn er über Menschenleben und Naturleben bei dem leidenschaftlichen Blasen seiner Tabakspfeife seine Phantasien ausströmte. Ich erinnere mich wie heute – ich traf ihn Unter den Linden spazierend, als die grimmige Botschaft unter vielen zugleich Zusammenlaufenden erschallte, es ist Waffenstillstand (war den 4. Junius abgeschlossen). Er stand bei der Nachricht wie in den Boden hineingedonnert, erblaßte einem Ohnmächtigen ähnlich, dann drückte er mir und andern Freunden die Hand, und die hellen Tränen strömten ihm über die Wangen.

Ja das war eine grimme Botschaft und machte viele unsicher und zweifelhaft. Bald kam der Jammer von Hamburg, das so leicht hätte gerettet werden können. Dann der schändliche Überfall mitten im Waffenstillstand der Lützower und ihre Niedersäbelung, wo die Franzosen, die sie die brigands noirs schalten, sich die Lust machten, die Württemberger in böser Missetat auf ihre Brüder zu hetzen. Ich fuhr im Anfang des Monats Julius nach Reichenbach in Schlesien, wo Herr vom Stein lebte, und in dessen Umgegend die hohen Herrscher saßen. Ich wohnte dort anfangs in einem schlechten Stübchen bei einem Nachtwächter auf der Mauer, dann bei einem edlen Herrn, dem Grafen Karl von Geßler, vormaligem preußischen Gesandten in Dresden und jetzt ernanntem Feldhauptmann des schlesischen Landsturms in jenen Gauen. Ich ließ hier meinen Soldatenkatechismus drucken. Ich weiß nicht, ob er irgend ein Herz zum Kampfe begeistert hat – dazu hatten die Franzosen mit roter Tinte den rechten Katechismus geschrieben – aber daß er manchem verwundeten Krieger in Lazaretten ein Trost gewesen ist, das weiß ich, und das ist auch mir ein Trost gewesen.

Hier zu Reichenbach stand nun während des Waffenstillstands ein Kongreß, hier und zu Schloß Gitschin in Böhmen: ein schauerlicher Kongreß, der die verworrenen europäischen Dinge zu Ordnung und Frieden vermitteln sollte. Napoleon saß als dritte Größe in Dresden. Ich sage, ein schauerlicher Kongreß, denn viele fürchteten, Napoleon, der den Willen und die List der Einheit – Einheit ein gewaltiges Ding bei Unterhandlungen – gegen mehrere hatte, werde die Zeit und das Glück so hinschleppen und durch Überlistung gewinnen, was nicht mehr durch Waffen erzwungen werden konnte. Wir waren alle viel in Sorgen und Mißstimmungen und oft in bitterm Ärger, wenn wir in den Zeitungen von angenehmen Hoffnungen eines baldigen Friedens lasen. Mein alter Herr war auch häufig nicht allein mißgestimmt sondern verärgert, auch wohl durch Podagra gestachelt, und das fiel dann auf unsereinen und auf andere Kleine zurück. Die einzige große Freude in dieser schweren Zeit war die Nachricht von dem Siege bei Vittoria, wo Wellington das französische Heer von seinem ganzen Geschütz und Zeuge ausgezogen und über die Pyrenäen gejagt hatte. Wir siegten mit bei Vittoria und hofften wieder auch bei uns zu siegen. Ich müßte eigentlich bei dem Namen Wellington immer die Hände falten; wieviele fröhlichste Tage und Nächte hat er mir erfochten, und wie hat er über die schwersten Jahre 1810 und 1811 mir und so vielen hinübergeholfen!

Zwar gab es hier der bedeutenden Männer viele, die zu mir auch oft sehr freundlich waren. Doch sie litten an demselben Übel, woran Stein krankte mehr oder weniger; z. B. an Niebuhr hatte man selten Freude, zumal da seine Frau kränkelte und er einmal mit Stein sehr gespannt war, was Herr von Schön durch sicherere Stimmung wieder zurechtstellte. Andere merkwürdige Personen oder ausgezeichnete Männer: der Korse Pozzo di Borgo, Stadion, die sächsischen Flüchtlinge Thielmann, Carlowitz und Aster, die berühmten preußischen Feldherren Blücher, Gneisenau, Grolman, gingen und kamen. Es war ein Feldlager, wildes, drängendes, oft sehr unbehagliches Leben. Ich fand indessen eine Schar edler Jünglinge, mit welchen ich in der Stadt, mehr noch in den umliegenden Orten, z. B. in dem feinen Herrnhuter Flecken Gnadenfrei, öfter zusammentraf: da waren Max von Schenkendorf, den ich hier kennen lernte; Theodor Körner, der mit einer schlimmen Wunde den Säbeln der Württemberger entronnen war und hier bei dem Grafen Geßler, seinem Paten, einige Wochen wohnte; Karl Sack, mein jetziger Bonner Freund; Graf Karl von der Gröben; zuweilen auch der wilde, genialische von der Marwitz. Mein einziger, rechter Freudenbringer war indessen der Graf Geßler, ein alter Jugendfreund Steins, welcher über ihn eine große Gewalt hatte und ihn, selbst wenn sie sich anfangs kabbelten, doch zuletzt meistens in heitre Laune setzte; denn dieser edle Mann hatte über ein sehr stürmisches Herz und einen kränklichen Leib, der ihn schrecklich mit Gicht plagte, eine großartige Herrschaft gewonnen. Er verstand die schwerste aller Künste, nach außen hin heiter zu spielen, wenn auch in ihm Gewitterwolken spielten. Das war aber das Anmutigste, daß seine Art Witz dem Steinschen auf eigentümliche Weise zum Wetzstein diente und Funken aus ihm hervorlockte. Er war in der Nähe begütert, und die sächsischen Generale und andere wohnten auf seinem Gute Neuendorf eine Stunde von Reichenbach, wohin wir oft spazieren fuhren. Er erlöste mich bald aus meinem Nachtwächterneste, wo ich wie auf einer Hühnerstiege saß. Weil wir alle und die meisten nur zuviele Muße hatten, woraus bei dem schwebenden, zweifelhaften Stande der Dinge eben doppelter Überdruß und Verstimmung entstand, so zog er mich heran, und wir lasen Griechisch und Italienisch miteinander. Denn er war ein sehr gebildeter, kenntnisreicher Mann, der in der Jugend England und Italien mehrmals gesehen und sich eine schöne Bibliothek gesammelt hatte. Ein kleiner Mann, mit der lebhaftesten Bewegung, mit einem breiten, von Blatternarben zerrissenen Gesicht und feuerblitzenden Augen, leider mit durch Gicht oft zuckenden Zügen. Schalkheit und Witz funkelten aus ihm, obgleich er beim ersten Anblick mehr den Eindruck eines häßlichen Mannes machte. Von Natur ungestüm und geschwind, hatte er durch beharrliche Übung die größte Herrschaft über sich gewonnen. Im Gespräch schoß er Pfeil auf Pfeil ab, und wenn er ja einmal hart getroffen hatte, machte seine große Gutmütigkeit es bald wieder gut. Denn eben diese Gutmütigkeit und eine große Weichheit und Zärtlichkeit des Gemüts zu bedecken oder vielmehr zu verhüllen, gebärdete er sich oft wie ein Eisenfresser, besonders wenn er Gutes tun und Wohltaten erteilen wollte; worin er im stillen unermüdlich war. Er war der Enkel eines großen preußischen Reitergenerals, der im zweiten Schlesischen Kriege in der Schlacht bei Jauer oder dem schlesischen Hohenfriedberg durch eine glänzende Waffentat die große Entscheidung brachte, indem er mit vier Reiterregimentern das österreichische Zentrum durchbrach und die ungarischen und böhmischen Grenadierregimenter wie Haberstroh zusammenritt. Der große König machte ihm in dem eroberten Lande eine der bedeutendsten Schenkungen und erhob ihn in den Grafenstand. Als Zeichen jener glorreichen Waffentat führen seine Enkel 25 Fahnen und 66 Standarten im Wappen. Nach der Überlieferung waren die Geßler in den Kreuzzügen gegen die Heiden aus Schwaben nach Preußen gekommen und gehören wahrscheinlich dem Stamm des wilden Geßlers der schweizerischen Tellfabel an, welche ja nur die Übersetzung der persischen Kambysesfabel ist. Unser Graf Karl war ein Feldhauptmann des Landsturms und hat als solcher gottlob! nicht Gelegenheit bekommen, Taten zu tun. Er war aber mit ganz Schlesien nebst dem würdigen Oberpräsidenten Merkel und vielen andern Patrioten eifrigst tätig, durch Rat und Tat, auch durch Silber und Gold die Landwehr errichten und bewaffnen zu helfen. Diese war eine geschwinde und schöne Arbeit Gneisenaus: 60 000 Mann Landwehr waren in einigen Monaten leidlich fertig, wie Soldaten in zwei Monaten fertig werden können. Sie zogen zum Teil fast sansculottisch ins Feld, manche nur mit linnenen Beuteln statt der Patrontaschen auf dem Rücken; aber es war der rechte Einrichter und Beleber da und der rechte Mut. Sie haben's an der Katzbach und bei Wartenburg wohl bewährt, und das Schlesische Heer hat sich einen grünsten Kranz und Namen gewonnen; so daß von den Preußen nicht bloß die Pommern und Brandenburger genannt werden sollen. Hier war also Graf Geßler auch eifrig tätig; aber von seinem Landsturm mochte er nichts hören, noch weniger von den für den Landsturm erlassenen Gesetzen, welche wohl in Litauen und Rußland hin und wieder aber nimmer in einem so dichtbevölkerten Lande als Deutschland Anwendung finden konnten, und welche ein verkehrter Hyperpatriot (man hat den nachherigen königlich preußischen Generalkonsul Bartholdy in Rom als Verfasser genannt) im Traum gemacht zu haben schien. Er legte auch diese Oberfeldherrnstelle sobald als möglich nieder. Noch während meiner Anwesenheit in Reichenbach hatte er sein sechzigstes Jahr vollendet und ließ sich nun sogleich davon entbinden. »Eine schöne Geschichte,« sagte er eines Tages zu mir, »wenn ich mit meinen Baumwollenwebergesellen auf den Plan müßte!« (es sind aber in Reichenbach und der Umgegend viele Zeugwebereien). »Das würde ein Laufen geben! Und ich müßte dann ja mitlaufen! Nein, soweit sind wir noch nicht herunter; eine solche Maulschelle soll mein Wappen nicht bekommen.«

Als der Waffenstillstand zu allgemeinem Jubel den 10. August aufgekündigt ward und den 17. August das Schlagen wieder begonnen, war Herr vom Stein mit dem großen Hauptquartier durch Böhmen gezogen und hatte mich in Reichenbach zurückgelassen. Da erst lernte ich meinen Geßler recht kennen und erkennen. Es zogen nach der Schlacht an der Katzbach 18 000 französische Gefangene durch Reichenbach nach Oberschlesien; in Reichenbach waren Lazarette für verwundete Preußen. Da arbeitete und wirkte mein Landsturmsfeldhauptmann auf das treueste und unermüdlichste. Wie oft sind wir auf dem Wurstwagen nach und von seinem Gute gerollt, von wo wir fette Schöpse und Kälber mit zurückbrachten, die alsbald in Braten und Suppe für die Kranken verwandelt werden mußten! Solche Dinge tat er ohne allen Schein, ja mit einem Schein, als tue er es nur, weil es sich nicht anders schicke; er tat es aber aus vollstem, liebenden Herzen.

In diesen schönen Reichenbacher Tagen machte er eine prächtige Geschichte. Einige französische gefangene Generale, unter ihnen General Puthod und viele französische Stabsoffiziere, waren in Reichenbach zurückgeblieben. Diese hatten von der für uns unglücklich ausgefallenen Schlacht vor Dresden Wind bekommen und fingen an, lose Reden zu führen und auf die Türme und Dächer zu klettern, um zu sehen, ob ihre siegreichen Heere nicht heranmarschierten; denn davon hatten sie gemunkelt, daß diese, ihren Napoleon an der Spitze, bald wieder in Schlesien sein würden. Auch waren sie nach der welschen Art, wie sie ist, wenn man ihr nicht den Daumen auf das Auge hält, gegen die deutsche vergessende Gutmütigkeit bald übermütig geworden und hatten in den Häusern schier auf die besten Zimmer als die ihnen behaglichen und gebührenden Quartiere Anspruch gemacht, ja eigenmächtig und wie mit Drohung gegen die Bewohner Reichenbachs angefangen, sich hin und wieder umzuquartieren. Da gingen wir, der Graf und ich, einmal zu dem evangelischen Oberpastor Tiede, einem gebornen Pommer aus Pasewalk, in dessen Hause der Minister Stein gewohnt hatte. Dieser Herr Pastor fing nun an vor dem Grafen über den welschen Übermut zu klagen und namentlich über den bei ihm einquartierten General Puthod und wiederholte ungefähr das Obengesagte, und wie der Schluß immer sei, Napoleon würde uns die kurzen Vorteile bald mit doppelten Zinsen zurückzahlen und in wenigen Wochen wieder an der Oder und Weichsel als Sieger gebieten. Bei diesen Worten erzürnte sich mein Graf und schalt ihn: »Schämt Euch! Ihr dicker, starker Pommer solltet doch wissen, wie man unter solchen Umständen mit solchen Kerlen umgehen muß – das Hausrecht! Wofür wachsen denn Stöcke und Hanf?« Und er drückte den Hut auf den Kopf und ging eilig mit mir von dannen und grüßte den General Puthod, der uns auf dem Markte begegnete und zuerst den Gruß bot, nicht einmal wieder. Ich ging auf mein Zimmer, sah aber nach einem Viertelstündchen meinen Grafen in voller Kammerherrnuniform, Blau mit Gold, einen Degen an der Seite und Pistolen in den Taschen, eilends aus der Tür über den Markt in das Kommandantschaftshaus eilen, wo der preußische Kommandant, Oberst Graf Lusi, seinen Sitz hatte. Er kam bald wieder, und wir setzten uns zum Tee. »Ich habe jenem spazzacammino (der Graf war von piemontesischer Art) die Dauben aufgetrieben und ihn Pulver merken lassen; den könnte ich mit meinen Landstürmern allenfalls noch überwältigen; er scheint mir auch die Franzosen im Leibe zu haben, daß sie wiederkommen könnten – sie sollen alle fort!« Diese letzten Worte sprach er gar kecklich aus – und kaum waren einige Stunden vergangen, so fuhren Wagen und Karren genug auf, und General und Offizier ward draufgepackt und tiefer nach Oberschlesien hinauf fortgerutscht.

So war mein Graf, so war mein mitten im brennenden Kriege einmal wieder still gewordenes Leben in seiner freundlichen und tapfern Nähe recht vergnüglich. Er ist mir ein treuer Freund geblieben, auch in den spätern Jahren, auch als es mehr um mich zu stürmen anfing, und sein Andenken muß mir heilig sein. Ich habe ihm ohne meine Schuld Mühe gemacht. Dieser feine und helle Mann hatte eine eigentümliche fast hamannische Ader und streute in der Rede und in Briefen nach allen Seiten hin Blitzfunken aus, die nicht immer die Wolken zeigten, woraus sie hervorgeschossen, dunkle, oft wunderbar gestaltete oder verhüllte Bilder und Gleichnisse, wie Leben, Lesen und Einfall des Augenblicks sie ihm eben gaben. Zu seinen Worten, die immer in möglichster Kürze zusammengepreßt und nach allen Ecken mit mehreren Gesichtern ausgeschliffen waren, mußte man seine Miene und Gebärde haben, um zu empfinden, was sie bedeuteten. Spiele aber und Anspiele des Witzes zu unterdrücken war einem solchen Manne platt unmöglich. Er ist wegen Briefen, die man bei mir gefunden, mit in meine Demagogie verwickelt worden, d. h. er ist befragt worden, aber auf das leichteste.

Nach der Leipziger Schlacht hieß mein Herr mich nach Leipzig zu sich kommen. Da fand ich nun auch meinen Friedrich Albert Eichhorn und den Obersten Rühle von Lilienstern und Reil, der als Oberhaupt über den Jammer der vielen Lazarette gestellt war. Er war dem Anschein nach frisch und gesund, sagte uns aber, er trage das Verderben in sich, habe es in Berlin aus dem Munde eines sterbenden Freundes eingehaucht bekommen und könne es durch kein Mittel austreiben; es liege ihm wie Blei in den Knochen. Ach nur zu wahr! Er ging nach Halle, die Vermählung seiner liebenswürdigsten, ältesten Tochter mit meinem lieben Ernst von Scheele zu feiern – und in wenigen Tagen war er nicht mehr. Das war ein prächtiger Mensch voll überschäumender Kraft und Leidenschaft, der von seinem Feuer Hunderten hätte abgeben können und immer noch genug übrig behalten hätte.

Im November zogen Herrscher und Heere und auch die Verwaltung des Herrn vom Stein in Frankfurt ein. Ich blieb noch in Leipzig. Hier war ein kleines Bild von Wilna, nur mit dem Unterschiede, daß die Stadt nicht verwüstet worden, und daß hier deutsche Menschen lebten. Es lagen 30 000 Kranke und Verwundete in Lazaretten, Freunde und Feinde; die Leichenwagen knarrten auch hier täglich durch die Straßen, und viele der Einwohner wurden mit von den Seuchen fortgerafft. Doch ermüdete hier die Menschlichkeit und Wohltätigkeit nimmer, und die Leipziger vergaßen die Ängsten und Nöten und sich selbst und halfen und retteten, soviel sie konnten. Das war auch Deutschland, und das allerbeste Deutschland.

Ich besorgte hier Kleinigkeiten und ließ kleine Flugschriften ausfliegen. An einer derselben erlebte ich Freude, an dem Schriftchen: Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze S. Bd. 13. (D. H.). Sie gefiel und scheint mir noch heute eine wohl gefaßte Schrift. Natürlich waren die meisten jener kleinen Schriften, im Strudel der Menschen und Geschäfte geboren, wo man auch das rechte Handwerksgerät selten zur Hand haben konnte, wirklich nichts weiter als fliegende und mit den Winden hinfliegende Blätter. Diese trug mir offenes Lob von dem preußischen Staatskanzler Fürsten Hardenberg ein und Antrag und Versprechen für den preußischen Staatsdienst.

Gleich nach Weihnachten ging ich auch nach Frankfurt am Main, eine böse Straße im Winter über den Inselberg nach Schmalkalden und von da über Würzburg und Aschaffenburg längs dem Main. Denn auf der gewöhnlichen Straße über Fulda war damals wegen Mangel an Pferden gar nicht fortzukommen. Auf der Spitze des Thüringer Waldes stürzte ich auf dem spiegelglatten Schnee- und Eiswege mit Pferden und Wagen auf eine fürchterliche Weise kopfüber, kam aber mit einer tüchtigen Beule und einem wackligen Zahn davon. In der alten heiligen Reichs- und Krönungsstadt fand ich die Stimmung und Ansicht der Guten und Gescheiten so, daß ich mit ihnen nicht zu hadern brauchte. Alles war über die geheimen Punkte des bekannten Vertrags von Ried betroffen worden. Die meisten deutschen Menschen wünschten damals größere Stärkung und Mehrung der Hauptmächte Deutschlands und also ad modum Napoleonis Einziehung mehrerer geringerer Herrschaften. Sie begriffen auch nicht, wie man mit den notwendigen Entschädigungen fertig werden, oder vielmehr, woher man sie nehmen wolle, wenn Napoleons Werk in Deutschland unverrückt stehen bleiben sollte, zumal bei den Friedensanerbietungen, die man selbst nach der gewaltigen Hunnenschlacht bei Leipzig dem Niedergelegten noch machte. Er hatte nämlich bei seiner Flucht eines seiner diplomatischen enfants perdus, den Grafen St. Aignan, zurückbleiben und sich fangen lassen, um durch ihn auf den Busch zu klopfen. Schon zitterten wieder viele treue Herzen, der Teufel werde sein Spiel haben, und man werde den Fuchs wieder durchschlüpfen lassen. Aber wieviel man ihm auch erbot, selbst auf die Gefahr, vergeblich gesiegt zu haben, er konnte und wollte sich sein ganzes Unglück selbst noch nicht klar machen, und sein zerknirschter Stolz wollte sich noch nicht beugen. Folgende Erklärung, die einer amtlichen Erklärung von seiten der erhabenen Herrscher ähnlich sah, hatte man damals den 1. Dezember in Frankfurt mit einer Art Verwunderung in deutscher und französischer Sprache gedruckt gelesen:

 

»Erklärung.«

»Die französische Regierung hat kürzlich eine neue Aushebung von 300 000 Mann aufzubieten beschlossen. Die Beweggründe dieses Senatuskonsults sind eine Aufforderung an die verbündeten Mächte, noch einmal im Angesicht der Welt die Absichten, welche sie im gegenwärtigen Kriege leiten, die Grundsätze, auf welchen ihr Benehmen beruht, ihre Wünsche und ihre Entschlüsse bekanntzumachen. Nicht gegen Frankreich sondern gegen jene laut verkündete Übermacht, welche der Kaiser Napoleon zum Unglück Europas und Frankreichs nur allzulange außerhalb der Grenzen seines Reichs ausgeübt hat, führen die verbündeten Mächte Krieg. Der Sieg hat die verbündeten Heere an den Rhein geführt. Der erste Gebrauch, den auch hier die kaiserlichen und königlichen Majestäten von dem Siege machten, war Sr. Majestät dem Kaiser der Franzosen den Frieden anzubieten. Die neue und verstärkte Kraft, welche sie durch den Beitritt aller Herrscher und Fürsten Deutschlands erhalten haben, hat keinen Einfluß auf die Bedingungen des Friedens gehabt. Diese sind ebensowohl auf die Unabhängigkeit des französischen Reichs als auf die Unabhängigkeit der übrigen Staaten Europas gegründet. Die Absichten der verbündeten Mächte sind gerecht in ihrem Ziele, großmütig und edelmütig in ihrer Anwendung, beruhigend für alle, ehrenvoll für jeden. Die verbündeten Monarchen wünschen, daß Frankreich groß, stark und glücklich sei, weil die französische Macht groß und stark eine der Hauptgrundlagen des europäischen Staatsgebäudes ist. Sie wünschen, daß Frankreich glücklich sei, daß der französische Handel wieder auflebe, daß Künste und Wissenschaften, diese Wohltaten des Friedens, wieder aufblühen, weil ein großes Volk nur dann ruhig sein kann, wenn es glücklich ist. Die verbündeten Mächte bestätigen dem französischen Reiche eine Ausdehnung des Gebiets, wie Frankreich sie nimmer unter seinen Königen hatte, weil eine tapfere Nation deswegen nicht herabsinkt, daß sie nun in einem hartnäckigen und blutigen Kampfe, in welchem sie mit gewohnter Tapferkeit gefochten hat, auch Unfälle erlitten. Aber auch die verbündeten Mächte wollen frei, glücklich und ruhig sein. Sie wollen einen Zustand des Friedens, der durch eine weise Verteilung der Macht, durch ein billiges Gleichgewicht ihre Völker künftighin vor den zahllosen Leiden bewahre, welche seit zwanzig Jahren auf Europa lasteten. Die Verbündeten Mächte werden die Waffen nicht niederlegen, ohne diesen großen und wohltätigen Zweck, dieses edle Ziel ihrer Anstrengungen, erreicht zu haben. Sie werden die Waffen nicht Niederlagen, bevor der politische Zustand Europas nicht von neuem befestigt sein wird, bevor nicht unwandelbare Grundsätze über eitle Anmaßungen den Sieg davongetragen, bevor nicht endlich heilige Verträge Europa den wahren Frieden versichert haben werden.«

In dieser merkwürdigen Erklärung war nicht allein zu den Franzosen gesprochen; es war auch, und gar nicht schräge und seitwärts, zu den Deutschen nicht allein gewinkt sondern auch gesprochen. Sie konnten nach den Verhöhnungen und Schändungen so vieler Jahre, nach den blutig erschöpfenden Anstrengungen und Arbeiten der letzten beiden Jahre sich billig ein wenig verwundern, hier in dieser Erklärung die Gründe nicht etwas besser belegt zu finden, warum die Franzosen zum Glück und Heil Europas denn so groß, mächtig und glücklich sein müßten. Sie hatten von dieser Macht und Größe nun seit drei bösen Jahrhunderten nichts als Trug und Hinterlist und Schmach und Verderben erfahren; sie konnten sich billig wundern, warum bei ihnen, dem Herzenskern des Weltteils, dem Mittelpunkt, der von Gott bestimmt scheint, die Streitenden, welche von Westen und Osten gegeneinander anlaufen wollen, auseinanderzuhalten, nimmer von der Notwendigkeit von Macht, Glück und Größe die Rede sei.

So glücklich war es denn durch Gott wieder geraten, daß Napoleon sich gesträubt hatte, und daß die Heere der Verbündeten endlich über den Rhein gegangen waren. Endlich waren sie einmal in das Land eingerückt, das alle Welsche unter dem Titel das schöne und ruhmvolle Frankreich gleichsam als ein heiliges und unantastbares, als den Sitz aller Kunst, Wissenschaft, Bildung und Schönheit den andern Europäern, den Barbaren möchte man sagen, darzustellen pflegten. Diese Feinen und Feinsten mußten sich nun einmal gefallen lassen, dieses Land nicht allein von den Deutschen, Ungarn und Russen, sondern von Kosaken, Kalmücken und Baschkiren, deren Rosse aus der Wolga und dem Oby getrunken, bestampfen zu lassen. Doch gingen inmitten der Züge und Gefechte die Unterhandlungen mit Napoleon immer noch fort und wurden den 3. Februar des Jahres 1814 zu Chatillon wieder neu eröffnet. Wir diesseits des Rheins zitterten daher immer noch vor bösen Friedensnachrichten; kleine Wechselfälle der Schlachten erschreckten uns nicht, sondern wir fürchteten die welschen Fuchslisten, und ob es ihnen nicht gelingen würde, das Gewebe, welches Liebe und Eintracht jetzt glücklich und fest um die Monarchen geschlungen zu haben schien, irgendwie und irgendwo zu lockern. Aber gottlob! Napoleon ward durch einzelne kleine Erfolge zu neuen Hoffnungen verleitet, und die Herrscher konnten immer klarer erblicken, daß er durch Unterhandlungen nur hinzuhalten und Zeit zu gewinnen suchte. Aber das beste war, daß die Friedensbedingungen nun immer härter gestellt wurden, und daß nicht bloß mehr sein Stolz sondern vielleicht auch seine Sicherheit auf das Spiel gesetzt ward, wenn er durch irgend ungewöhnliche Zugeständnisse, z. B. durch Übergebung und Besetzung der Hauptfesten und Schlüssel Frankreichs (Mainz, Antwerpen, Lille, Metz, Straßburg) sich besiegt und entwaffnet bekennen mußte. Zwar schrien die Franzosen, als das Unglück und die Not, welche ihr Übermut so viele Jahre über die Nachbarn gebracht hatte, nun an ihre Tore klopfte, Frieden! Frieden! aber Napoleon kannte sein Volk. Wie sie ihre Untaten und Grausamkeiten gegen andere Völker zuletzt alle auf ihn zusammenwarfen, so würden sie ihre Demütigung als seine einzige Verschuldung auf ihn abgelagert haben – und ein Emporkömmling ist dem nicht so gewachsen als ein Fürst aus altem Königsstamm. Er hat selbst später bekannt: Ich hätte anders herrschen und anderes wagen können, wenn ich mein Enkel gewesen wäre.

Also beide, Stolz und Eigensucht, retteten diesmal Europa. Er hat sich übrigens im Januar dieses Jahres 1814 prächtig ausgesprochen, als im französischen Unterhause, was sie damals le Corps législatif nannten, Lainé und Raynouard endlich gewagt hatten, über das für Frankreich gefährlich fortgesetzte Würfelspiel des Kriegs frei den Mund zu öffnen, und als diese Mundöffnung in die Adresse jenes Unterhauses an Napoleon überging. Das kam ihm, vor welchem alles nun zehn Jahre und länger im Staube gekrochen war, ganz ungewohnt; er ergrimmte und jagte sie auseinander und antwortete aus seinem Zorn in seiner Weise so schön, daß diese charakteristische Antwort hier stehen muß.

»Ich habe den Abdruck Eurer Adresse verboten; sie war aufrührerisch. Elf Zwölftel des gesetzgebenden Körpers bestehen aus guten Bürgern; ich kenne sie und habe Achtung für sie. Das letzte Zwölftel enthält Ränkeschmiede oder schlechte Bürger, und Eure Kommission befindet sich unter dieser Zahl. Lainé ist ein Verräter, welcher durch Vermittelung des Deseze mit dem Prinzregenten briefwechselt. Ich weiß es, ich habe Beweise davon. Die vier andern sind Rottensüchtige. Dieses Zwölftel besteht aus Leuten, welche die Anarchie wollen und den Girondisten ähnlich sind. Wohin hat ein solches Betragen Vergniaud und die andern Häupter gebracht? Auf die Henkerbühne. Nicht in diesem Augenblicke, wo man den Feind von unfern Grenzen vertreiben muß, soll man von mir eine Änderung in der Verfassung verlangen. Man muß das Beispiel des Elsaß, der Grafschaft Burgund und der Vogesen nachahmen. Dort wenden die Einwohner sich an mich, um Waffen zu erhalten, und daß ich ihnen Anführer für die Freischaren zukommen lassen soll. Auch habe ich Adjutanten hingeschickt. Ihr seid nicht Stellvertreter der Nation, sondern Sendboten der Departements. Ich habe Euch versammelt, um Trost von Euch zu erhalten; nicht daß es mir an Mut fehlte, sondern ich hoffte, der gesetzgebende Körper würde mir denselben noch vermehren. Statt dessen hat er mich getäuscht; statt des Guten, was ich von ihm erwartete, hat er Schaden getan: kleinen Schaden zwar, indessen nur darum, weil er keinen großen tun konnte. Ihr sucht in Eurer Adresse den Herrscher von der Nation zu trennen. Ich allein bin der wahre Stellvertreter des Volks; und wer von Euch vermöchte wohl diese Last auf sich zu nehmen? Der Thron ist nur ein Ding von Holz mit Sammet überzogen. Ich allein bin der wahre Stellvertreter des Volks. Wenn ich mich nach Euch richten wollte, so würde ich dem Feinde mehr abtreten, als er selbst von mir verlangt. In einem Vierteljahr füllt Ihr Frieden haben, oder ich will untergehen. Allein gegenwärtig muß man Kraft zeigen. Ich werde die Feinde aufsuchen, und wir werden sie schlagen. Der Augenblick, in welchem Hüningen bombardiert und Belfort angegriffen wird, ist nicht der rechte, um über die Verfassung des Reichs und den Mißbrauch der Staatsgewalt Klagen zu führen. Der gesetzgebende Körper macht nur einen Teil des Staats aus: er kommt nicht einmal mit dem Senat und dem Staatsrat in Vergleichung. Ich stehe darum an der Spitze der Nation, weil Euch die dermalige Staatsverfassung so recht ist. Sollte Frankreich eine andere Verfassung verlangen, welche mir nicht recht wäre, so würde ich sagen: Sucht Euch einen andern Herrscher. Die Feinde sind gegen mich noch mehr als gegen Frankreich erbittert; allein soll ich mir darum die Zerstückelung des Reichs erlauben? Opfere ich nicht meinen Stolz und mein Selbstgefühl auf, um Frieden zu erlangen? Ja, ich bin stolz, weil ich Mut besitze, ich bin stolz, weil ich große Dinge für Frankreich getan habe. Eure Adresse ist mein und des gesetzgebenden Körpers unwürdig, und ich werde sie dereinst drücken lassen, um den gesetzgebenden Körper und die Station zu beschämen. Kehrt in Eure Heimat zurück. Selbst vorausgesetzt, ich hätte unrecht, steht es Euch nicht zu, mir darüber Vorwürfe zu machen. Übrigens bedarf Frankreich mein mehr, als ich Frankreichs bedarf.«

 

Die Verbündeten kamen nach blutigen Schlachten nach Paris; Napoleon ward entthront und ließ sich ganz zahm nach der Insel Elba abführen. Die Bourbons bestiegen den Thron ihrer Väter. Was soll ich, was alle Deutsche damals empfunden haben, was alle wissen, hier weiter berühren? Talleyrand war sogleich voran da und nahm den Kaiser Alexander in Empfang; ja er nahm ihn gefangen, er nicht allein sondern die Franzosen, sondern die Pariser. Wie knirschten die preußischen Krieger, wie die Österreicher, daß sie vor den Toren und in den Straßen von Paris hungern und dursten mußten, daß ihnen nicht einmal Quartier vergönnt ward in dieser Hauptstadt der gesitteten Welt, wie die Welschen sie nennen, sie, die Berlin und Wien und die grausam und hinterlistig berechneten Mißhandlungen so vieler Jahre fühlten! Doch sollen wir nicht vergessen, daß wir es vorzüglich Alexanders Beharrlichkeit verdankten, daß wir nach Paris kamen. Durch ihn haben wir Paris erobert, aber so wie er in ihre Tore eintritt, hatte Paris ihn schon erobert. Frankreich behielt den Raub der Länder und leistete auch nicht die geringste Entschädigung und Vergütung; doch brannte es die Hoffart tief, daß sie die meisten Eroberungen und Einziehungen wieder herausgeben mußten. Dies ist das Glück der Welschen, der allgemeine Gebrauch ihrer Sprache als einer Weltsprache und was sich an diesen Gebrauch bei allen Verhandlungen von Vorteilen und Hilfsmitteln knüpft, und was durch die Erziehung und Unterweisung in derselben fast als Sitte und Art zu ihrer Gunst in die Gemüter sich einschleicht, ja einschmeichelt. Kaiser Alexander, wenn man ihn nicht als Russen betrachtet, war sowohl von Vater als Mutter her fast ein deutscher Fürst; die Deutschen sind es vor allen andern europäischen Völkern, welche das russische Volk zur europäischen Bildung mit emporgehoben und aus dem Groben gearbeitet haben; er hatte mehr als eine Million deutscher Untertanen – aber der Zar war erzogen, als wenn er künftig Franzosen beherrschen sollte; sein Lehrer und Meister war ein schweizerischer Welscher. Dieser und Talleyrand und was ihn in Paris sogleich umfloß, ja überschwemmte, flüsterten ihm zu: »Gnade! Gnade! und Huld den Franzosen gegenüber! Sie sind die Überlieferer der Geschichte für künftige Geschlechter; haben Alexander von Mazedonien und Rom Ilium geehrt und geschont wegen Homers, so schone und ehre du Paris wegen des gebildetsten und wissenschaftlichsten Volks, ohne welches wir alle noch Barbaren sein würden.«

Ich war den ganzen Winter in Frankfurt geblieben und dann nach Koblenz gegangen, weil der Minister meinte, ich könne in der Verwaltung des Mittelrheins unter Gruner irgendwie eine schickliche Anstellung finden. Daraus ward aber nichts, weil diese Verwaltung sich nach dem Pariser Frieden bald in verschiedene Teile auflöste und ganz anders gestaltete, als anfangs die Meinung gewesen war Gruner, der damals an der Spitze des Generalgouvernements Mittelrhein stand, ernannte Arndt am 22. Mai 1814 zum Gouvernementsrat und übertrug ihm das Fach des Kultus und Unterrichts, doch trat Arndt diese Stellung nicht an, wahrscheinlich weil er bereits begründete Hoffnung aus Anstellung in preußischem Dienst hatte. (D. H.). Einen Teil des Sommers und Herbstes benutzte ich, die rheinischen Lande, worüber und wodurch ich bisher nur hingeflogen und durchgeflogen war, näher zu erkunden Im April und Mai hatte Arndt eine Reise nach dem Niederrhein (Koblenz, Köln, Aachen, Düsseldorf, Elberfeld) gemacht, im Juni und Juli weilte er wieder in Frankfurt, und im August besuchte er Baden und Elsaß-Lothringen. (D. H.). Ich sah den Oberrhein, ich sah Straßburg ein paarmal, versteht sich im strengsten Inkognito. Welches Land! Welche Stadt! Und wir haben sie nicht wiedergenommen und behalten? Aber, sagt man, sie würden sich schwer zu uns gefügt haben? Freilich, nicht so bald; aber muß sich denn nicht alles gewöhnen? Haben die übrigen Rheinlande, die freilich nur zwölf bis fünfzehn Jahre von den Franzosen besetzt oder beherrscht waren, sich nicht gewissermaßen auch wieder an Deutschland und an ihre deutschen Brüder gewöhnen müssen? Elsaß ist dem größten Teile nach hundertundfünfzig, ja beinahe zweihundert Jahre mit Frankreich vereinigt. Noch bis heute herrscht die Sprache und Sitte Teuts bei ihnen, doch empfinden wenige von ihnen, was sie verloren haben, daß sie nicht ganz mit den Pulsadern des ganzen, großen deutschen Volks ihr Leben pulsieren fühlen. Das ist die geistige Weltverkehrung, wenn ein Volk von einem größeren, fremdartigen Volke beherrscht wird, daß die Elemente seines eigenen, innersten Lebens sich matter regen und schlechter entwickeln, und daß es sich die Elemente der fremdartigen Nation nur kümmerlich aneignen kann. Wird und kann ein deutscher Elsässer jemals im französischen Wesen und Geist ein Mann des ersten Ranges in der französischen Monarchie werden? Ich zweifle. – Aber, sagt man ferner, man wollte den Revolutionsgeist in Frankreich töten, man wollte die Franzosen befriedigen, beruhigen – und wie würde man sie erbittert haben, wenn man ihnen das Elsaß und alles, was diesseits des Ardennenkamms liegt, abgenommen hätte! O! O! Meint ihr, sie seien uns Deutschen dankbar für unsre Blödigkeit zuzugreifen? Sie seien nicht erbittert, daß sie endlich die verdiente Staupe gekriegt haben? Wo ist der Franzose, der nicht flucht, daß die Leute in Antwerpen, Köln und Mainz vor ihm als dem Herrn den Hut nicht abnehmen müssen? Wo ist von Chateaubriand bis de Lamartine, bis auf den dümmsten Korporal ein Franzose, der nicht sagte: » Aber der Rhein, das ist Frankreichs natürliche Grenze; was diesseits des Rheins liegt, das ist Frankreich, das muß bei der ersten besten Gelegenheit wiedergewonnen werden?« O mit welchen Gefühlen, mit welchen Gefühlen von Wonne und Weh über all diese Schönheit und Herrlichkeit, und daß diese nicht wieder unser geworden sind, bin ich in Straßburg auf dem hohen Münster gestanden und habe im Osten den Schwarzwald, im Süden den Jura, im Westen den Vogesus vor mir sich bläuen sehen! Eine herrliche Stadt, und die Menschen darin wie deutsch noch! Wie leicht erkenntlich die echte, schlichte, deutsche Art von der mehr verzierten und beweglichen welschen! Und welche schönen, kräftigen Bauerngeschlechter in diesem herrlichen Rheintal! Es sind Alemannen – die Heftigkeit, der Ungestüm der Leidenschaften, der kurze, gestoßene Akzent in der Sprache, die Fülle der Herzigkeit und Gradheit, ja selbst die Grobheit sagt es. Dieser Stamm, freilich hin und wieder mit andern Stämmen durchschossen und etwas verdünnt, läuft nach meiner Überzeugung, wenn ich die Sprache, noch mehr wenn ich die Sitten und Gestalten der Menschen erwäge, über den Hunsrück und die Mosel hinaus bis in die Eifel und östlich bis ans Maifeld bei Andernach; so daß es an einigen Stellen nicht fern von der Aar abbricht. Weiter gegen Westen wird die Sprache auf jede fünf Meilen hin immer träger, tonloser und plattdeutscher. Der Bauer um Köln, der im Jülicher, Klever, Limburger Lande, ja der in Brabant und Flandern spricht mit kleinen Abweichungen im Grunde denselben Dialekt, wenigstens nicht abweichender als in Norddeutschland der Braunschweiger, Holsteiner, Pommer und Brandenburger voneinander abweichen. Das Fazit: dies sind größtenteils Franken. In diesen Landen waren die Sitze der ripuarischen und salischen Franken; sie sind nicht ausgewandert; ihre Fürsten haben nur mit ihrem freiwilligen Gefolge Gallien erobert – wie sollten sie auch so herrliches, von den prächtigsten Strömen bewässertes, mit jedem Naturreichtum und seltenster Fruchtbarkeit begabtes und gesegnetes Land für ein schlechteres verlassen haben? Und wer hätte ihnen, wären sie mit Mann und Maus ausgezogen, nachrücken sollen und die von ihnen verlassenen Lande besetzen? Etwa die Sachsen, ihre Erbfeinde? Wir wissen, nichts dergleichen ist geschehen. Ihre Eroberung Galliens fällt in eine geschichtlich beleuchtete Zeit. Und es blieb das deutsche Frankreich, Austrasien genannt, noch vier Jahrhunderte die Kraft und Macht ihres Reichs. Aber mit den Sachsen, welche nachher ihre grimmigsten Feinde hießen, sind sie verwandt gewesen, sehr nahe verwandt. Das zeigt bis auf den heutigen Tag ihre ganze Art und Sprache. Waren die Franken ursprünglich ein besonderer Stamm? Ich glaube es nicht. Der Name Franke ist als Bundesname entstanden; die Masse, woraus das Frankenvolk gebildet worden, muß aus sächsischen Völkerschaften zusammengeballt sein – es werden ja auch in der römischen Kaisergeschichte des dritten, vierten Jahrhunderts in den Kriegen der Römer am linken Rheinufer viele sächsische Völkerschaften genannt in eben der Gegend, wo die Stärke der Franken wohnte. Die wohnte aber in den Gauen zwischen Mosel und Maas und jenseits der Maas bis an die Grenzen der Friesen, die mehr in den Marschlanden längs des Meeres und um den Südersee von dem Ausfluß der Maas bis über die Elbe hinaus und bis in die Zimbrische Halbinsel hinein saßen. Auch in den Schilderungen, welche Freund und Feind vom vierten bis neunten Jahrhundert von ihnen entwerfen, werden Sachsen und Franken in vielen Beziehungen ähnlich gezeichnet: Hartnäckigkeit, Wildheit, ja Grausamkeit und eine fürchterliche Greulichkeit hatten nach allen Beschreibungen die Franken in jenen Tagen vielleicht vor den Sachsen voraus. Ihnen gegenüber erschienen die Goten und Langobarden viel menschlicher, milder und ritterlicher. Wenigstens der Franke in Gallien ward, von dem verdorbenen, verknechteten und romanisierten Gallier angesteckt, bald ebenso listig und treulos als tapfer und grausam.

Welche glückliche, ja welche selige Augenblicke habe ich bei jenen Streifzügen und Durchflügen durch die Lande durchlebt! Wieviele edle deutsche Menschen, damals alle von der Glut unendlicher Hoffnungen durchhaucht, sind mir begegnet! In Worms und Speier, in Baden, im Schwarzwald, selbst im Elsaß begegnet! Schon in Frankfurt hatte ich Elsässer getroffen – ich traf durch ihre Anweisungen ihnen ähnliche in Straßburg – welche sagten: »Wir sind Deutsche, und viele von uns möchten wieder deutsch werden, aber uns mit einem kleinen Fürstentum zusammenlöten, das würde nicht halten; schafft etwas Größeres, sonst bleiben wir lieber, wie wir sind.« Ich kam nach Köln, nach Düsseldorf, sah Friedrich Jacobis wackern Sohn Georg in dem großväterlichen Pempelfort; ich kam in die Berge, ja recht in die Berge des Herzogtums Berg. Hier lächerte mir's, als ich fast alles auf Pferderücken erblickte. Das kam mir fast vor wie in dem schwedischen Jemtland. Wie mag es hier galoppiert haben, als noch gar keine geschütteten Straßen hier waren, als man kaum auf zwei, geschweige auf vier Rädern durch die Bergrisse und Talgeklüfte gelangen konnte! Es lächerte mir's wegen einer philologischen Schnurre, die ich in einem Kommentar über Tacitus' Germanien irgendwo gelesen habe: Die Tenkterer, welche Tacitus in dieser Gegend als vortreffliche Reiter gemeldet, sollten ihren Namen von dem Trompetenton Tenk-ter-tenk-tenk erhalten haben, gerade wie ein Römer der blutigsten Feldschlacht, welche Germanikus und Arminius an der Weser miteinander hielten, den Namen die Schlacht bei Idistavisus gegeben haben soll, indem er von einem Deutschen et is a Wise auf seine Frage nach dem Namen der Stelle zur Antwort bekommen habe. Ich kam in den Bergen von Elberfeld über Solingen nach Remscheid, nicht zu Roß noch zu Wagen sondern zu Fuß, mit einem Wegweiser von Elberfeld, der mein Gepäck trug. Jahn war mit mir, der Obermeister der Turner, so jung noch, daß er in Greifswald mein Zuhörer gewesen; er war mit mir von Koblenz, wo ich ihn traf, rheinabwärts gezogen. Wir kehrten in Ehringhausen in einem Patriarchenhause ein, wo ich von jenem Tage an nun seit einem Vierteljahrhundert Einkehr gehalten habe und Einkehr halten werde, bis der Tod mir die Augen vernebelt. In Remscheid, Ehringhausen und ringsum wohnen mehrere Männer des Namens Hasenclever. Hier in Ehringhausen wohnten damals drei Brüder – der älteste, Bernhard, ist seitdem heimgegangen – Bernhard, David und Josua. Weil das Alte Testament in den Namen so vorherrschte und auch wohl wegen der treuen, patriarchalischen Haussitten habe ich meinen lieben, freundlichen Freund Bernhard ganz unbewußt, bis ich mich eines Bessern besann, oft Abraham genannt. So stempelte ich ihn, was er in der Tat war, zu einem rechten, frommen Patriarchenpapa. Dies war ein echtes deutsches Geschlecht, welchem in jenen Tagen des Siegs und der Freiheit das Herz hoch in die Brust hinaufschlug. Meinen David hatte ich im Winter schon in Frankfurt gesehen. Er war damals Feldhauptmann der Tenkterer in den Bergen, des Landsturms nämlich. Seine Frau eine edle Frankfurterin, Georg Schlossers würdige Tochter. Wer verehrte eine solche Frau nicht gern als Königin David? Mit diesen und mit ihnen ähnlichen Menschen war es eine Lust zu leben und von ihnen über Land, Art, Sitte der Menschen sich Auskunft und Kenntnis zu holen. Der Landsturm meines Königs David würde, wenn die Not bis an ihn gekommen wäre, wohl feuerfester gestanden sein, als die Webergesellen meines lieben Grafen Geßler. Diese mannhaften und kernigen Tenkterer, gewohnt das Eisen durch Feuer zu bändigen, würden im Feuerspritzen und Schlachtenhämmern gleichsam in ihrem Element gewesen sein. Auch hatte sich hier in den Bergen begeben, daß bei den Gerüchten von den französischen Niederlagen in Rußland und Polen hier viele in zu frühem Aufstand sich erhoben hatten; was mehreren Jünglingen Verderben gebracht.

Um die Mitte des Monats Junius dieses Jahrs 1814 war der Minister vom Stein aus Paris nach Frankfurt zurückgekommen, wo er ungefähr sechs bis acht Wochen weilte. Acht Tage lang sahen wir dort den für Deutschland begeisterten Kronprinzen von Bayern in dem Steinschen Garten vor dem Eschenheimer Tor fast immer die Abende beim Teetisch. Dort sah ich auch zuerst den Fürsten von Hardenberg Hardenbergs Tagebuch 15. Juli 1814: Chez Stein à son jardin; ibi Arndt. (D. H.), der mir seine früheren Versprechungen wiederholte und mir seit diesem Herbst das Gehalt, das ich bisher aus der Kasse der Zentralverwaltung genossen hatte, bis zu meiner ordentlichen Anstellung im Preußischen Staate bewilligte. Von Frankfurt ging Stein auf seine Güter in Nassau. Dort war ich im August einige Tage. Es war ein prächtiges Leben dort, vorzüglich durch eine edle Frau, welche ich wiedersah und jetzt erst recht kennen lernte. Dies war seine ältere Schwester, Fräulein vom Stein, damals Priorin des freien adligen Fräuleinstifts zu Homburg Homberg, ein zwischen Marburg und Kassel gelegenes Städtchen. (D. H.) in Hessen. Ich hatte sie im Frühling schon kennen gelernt auf einer Landreise von Frankfurt nach Koblenz, wo ich sie in Dietz traf. Das war ein Mensch! so pflegte die selige Doktorin Lüdecke in Stockholm, eine tapfre Schwäbin aus Augsburg, immer auszurufen, wenn sie jemand besonders loben wollte. Ja das war ein Mensch! ein ganz kleines, feines, etwas verwachsenes Persönchen, schon über sechzig Jahr alt, mit einem schneeweißen Köpfchen. Aber ihr Gesichtchen war leuchtend, und die schönsten, blauen Augen funkelten als Sterne darin. Man mochte sagen, sie war ganz das Ebenbild ihres Bruders, des Ministers, dasselbe Gesicht, dieselben Züge, nur alles feiner und kürzer, alles besonnener und milder, wie das Weib neben dem Manne sein soll; dieselbe Kürze und Gewandtheit in der Rede, derselbe unbewußte Witz, fast noch mehr Geist. Doch bei dem Worte Geist erschrecke ich, weil sich darunter oft ein Bastard- oder gar ein Kastratengeschlecht versteckt, wovon ich eben nicht viel halte. Weiber haben mehr Klarheit, haben mehr Besonnenheit und, wenn sie wirklich Geist haben, leicht mehr Bestimmtheit und Spitzigkeit als Männer. Vielleicht hatte sie wirklich mehr Geist als ihr Bruder; aber was Herr von Varnhagen auch sagen mag, welcher in ihm keinen Geist bemerkt haben will Varnhagen von Ense hatte Stein in einer Rezension von dessen »Briefen an Gagern« spekulativen Geist abgesprochen. In einer Besprechung von Arndts »Erinnerungen« rechtfertigt er sich gegen den Vorwurf, als ob er Steins Größe nicht in vollem Maße anerkenne (Denkwürdigkeiten und Vermischte Schriften VI, 356-72, Lpz. 1842). (D. H.), ich denke, er hatte davon, und zwar solcher Art, wovon er manchen spitzigen und spitzelnden armen Sündern zur Genüge hätte abgeben können, ohne daß er darum daran verarmt wäre. Es gibt aber viele, welche die Kraft und Einfalt, wodurch der Geist in einem großen Charakter untergeht und sich in Mut und Demut und Glauben versenkend selbst unscheinbar wird aber den rechten Männerstahl der Tugend und Tatkraft macht, nimmer begreifen können. Es heißt im Sprichwort fulmine, non grandine, wie soll aber ein sogenannter geistreicher armer Teufel begreifen, daß man mit einem tüchtigen Keulenkopf viel wirksamer schlägt und trifft, als wenn man ihn in hundert kleine Speerspitzen ausgeschnitzelt hätte? Kurz, sie war geistreich, sie war aber auch kenntnisreich und gelehrt und wußte die vaterländische Geschichte und die alten deutschen Ordnungen und Verfassungen nicht bloß auf dem Nagel, sondern im Herzen. Rührend war es, wie sie neben dem Bruder stand, und wie die reißende Gewalt seiner Lebendigkeit allein vor ihr in stillen Ufern hinfloß. Bekannt ist, daß sie in den deutschen Aufruhr des Jahrs 1809 verwickelt und als eine Staatsgefangene von den Franzosen weggeschleppt und eingekerkert worden. Sie hatte, verlautete es, dem Ritter von Dörnberg eine Fahne gestickt und eingesegnet Marianne vom Stein, Dechantin des Damenstifts Wallenstein in Homberg, spielte allerdings bei dem Dörnbergschen Aufstand eine leitende Rolle, doch war die Fahne nicht von ihr gestickt, sondern von einem Fräulein v. Baumbach, die dem Stift nicht angehörte (Pertz, Stein II, 409-12; Kleinschmidt, Das Damenstift Wallenstein zu Homberg unter Jérôme in Zeitschrift für hess. Geschichte und Landeskunde, Neue Folge, 15. Bd. Kassel 1890). (D. H.). Sie war im Umgange höchst heiter und liebenswürdig. Das war auch die Gemahlin des Ministers, eine Tochter des weiland kurbraunschweigischen Generalfeldmarschalls Reichsgrafen von Wallmoden, eine schöne, stattliche Frau, aber bei großer Milde mehr ernst und ruhig. Wir erlebten damals eine königliche Geschichte in Nassau. Ich erzähle sie hier:

Der Hetman Platow nebst noch einem russischen General waren in Nassau zu Mittage. Nach Tische ging alles, die Priorin und die beiden noch nicht erwachsenen Töchter des Ministers mit, auf die Burg Stein spazieren. Da hatte es ein eignes Spiel. Ein alter Maurermeister im Städtchen Nassau, der vor längst verschollenen Jahren mit dem Freiherrn Kinderspiele gespielt und sich immer als ein Ergebener zum Freiherrlichen Hause gehalten hatte, war auf den Einfall gekommen, an den Gängen, welche auf der Höhe und an den Wiesen hin durch den Park des Steinschen Berges laufen, wirklich und bildlich durch die künstlichsten und wunderlichsten Zusammensetzungen von Steinen, Moosen, Blumen und Büschen die Taten und Leiden der russischen Feldzüge, den Brand von Moskau, den Rückzug der Franzosen, die Leipziger Schlacht usw. abzubilden. Da war denn auch Steins Namen und Wappen und ein wohlverdienter Kranz hie und da abgebildet. Der alte Herr hatte schon von dieser Transfiguration gehört und finster dazu gesehen. Nun als er es wirklich erblickte, geriet er in Zorn und wollte alles sogleich wegschaffen lassen, alle die schöne, kunstreiche und mühsame Arbeit, worauf der fromme und dankbare alte Meister vielleicht die Feierstunden einiger Wochen verwandt hatte. Die gute Priorin war außer sich, wagte aber nicht, sich gegen zu legen, seufzte nur: »Ach! der arme Mann!« Sie kriegte mich nun auf, bald kamen noch andere Gäste, welche vorstellen und bitten helfen mußten; und wir brachten es dahin, daß der alte Herr freilich verdrießlich wegging mit den Worten: »Die Leute könnten glauben, ich wäre ein kindischer Narr geworden und bildete mir ein, die Welt erobert zu haben« – aber er erlaubte endlich doch, daß Wind und Wetter die Kunstwerke des alten Mannes zerstören durften.

Er ging bald darauf (im September) nach Wien, und ich trat gegen das Ende des Oktobers meine Wanderung nach Berlin an. Glückselig, daß ich, meinen Säbel an der Seite und meinen Stock in der Hand, meine Füße gebrauchen durfte. O es geht keine Lust und Freiheit über die Lust und Freiheit des Fußgängers; und wer die Sitten, Arten und Weisen der Menschen und Völker recht erkunden will, soll, wo Wüsten und Räuber es ihm nicht verbieten, nimmer anders pilgern. Wer in Kutschen mit Vieren dahergefahren kommt, schließt den Leuten den Mund oder öffnet ihn nur dem Lügner oder Schmeichler; dem Fußgänger aber gehört die Welt, er ist des Bauers und Bürgers Gleicher, und jeder steht ihm Rede und gewinnt ihm Rede ab, und so wird ihm auch die Lust, durch die Gefühle und Gedanken der Menschen frei durchzuspazieren. Dazu kommt, daß, wer mit einem Viergespann oder Sechsgespann einherkutschiert, schon dem einen großen, gebildeten, europäischen Volke angehört, welches bei aller Verschiedenheit der einzelnen Völker eine so große Einerleiheit gewonnen hat, daß die an der Tiber und Newa, an dem Tajo und an der Elbe gebornen Vornehmen und Gebildeten durch eine gewisse Gemeinsamkeit der Sitte und des Tons sich so abgeschliffen haben, daß man das ursprüngliche Naturgepräge oft kaum im dünnen Durchschein noch erkennt. Ich wanderte denn durch die Wetterau und Hessen und Westfalen lustig hin, besah mir den Teutoburger Wald und die Porta Westphalica und lebte einige fröhliche Tage mit dem wackern, alten, deutschen Hessen Dr. Faust in Bückeburg; dann ging es über Hannover, Braunschweig und Magdeburg fröhlich weiter. Fröhlich, doch, wie es der Herbst häufig mit sich bringt, zuweilen im brausenden Regen. Ich konnte noch alle Wechsel und Unbilden des Wetters ertragen. Hier machte ich eine Bemerkung, die mir auffiel, und die ich für die Herren Chemiker und Physiker zur Nachricht hieher setze: Ich war gewohnt, geschwind wie ein feuriges Roß zu pilgern, so daß ich auch im Herbst wohl mit Schweiß bedeckt ward. Da fühlte ich nun, sowie ich ungewöhnlich erwarmte, in der linken Lende da, wo die eiserne Säbelscheide anschlug, ein fliegendes Prickeln in der Haut, als ob ich mit Nadeln gestochen würde. Ich habe dieses Prickeln an derselben Stelle noch einige Wochen nach der Wanderung gefühlt. Ich meine nach meiner Ansicht, es war bei dem damals noch kräftigen Manne viel Eisen im Blut, und durch die Wärme wurden beide Metalle gereizt, ihren magnetischen Zug gegeneinander zu offenbaren.

Im Werder vor Potsdam begegnete mir ein romantisches Glück. Ich kam dort spät abends an, durchnäßt, ermüdet, überwacht, suchte den schwarzen Adler zum Nachtquartier, erhielt so schlechtes Abendessen und so säuerlichen Wein, daß ich meine Lippen verdrießlich zusammenkniff und mich nüchtern in ein kaltes Bett legte. Hier erschien mir ganz Mexiko im Traum. Ich habe von bildlichen Blumengeweben der Dichtkunst bei Mexikanern und Peruvianern wohl hin und wieder gelesen, auch von allerlei hieroglyphischen orientalischen Blumensprachen, aber nimmer habe ich mich in die Vorstellung und Nachbildung derselben so vertieft, daß sie in meiner Phantasie eine Gestalt hätten gewinnen können. Nun aber hatte ich gewiß stundenlang – wenn ich den Inhalt berechne – die allerlustigsten Blumenbilderungen von den buntesten Gestalten und Begebenheiten. Vergangenes und Gegenwärtiges, Zukünftiges und dem Scheine nach noch ganz Überweltliches zauberte sich dort in lieblichsten Wechseln von Blumenbildern, und zwar von sprechenden und weissagenden Blumenbildern ab; so daß ich in meinem schlechten Bette das entzückendste Erwachen hatte. Was ist dies? Woher dieses lieblichste in den mannigfaltigsten Farben und Tönen wechselnde Blumenmexiko? Oder bin ich schon einmal in mexikanischen Blumengeweben verstrickt gewesen? Überhaupt wer sind diese wundersamen Spieler der Nacht, wo unser Geist, der alles unser Spiel regieren sollte, mitzuschlummern scheint? Was sind das für kleine, bunte Götzen, die in unsrer Herzenskapelle in verborgenen Nischen versteckt liegen und in dem dunklen Traumleben solche wunderbare Gestalten und Nachbildungen nicht nur des in Tat oder Gefühl Erlebten sondern Vorbildungen des Künftigen und Ungebornen hervorbringen? Was sind das für Götter oder Götzchen, die uns eine künftige Geliebte, einen künftigen Herzensfreund schon im Abbilde vorzaubern? Oder tragen unsre innersten, edelsten Organe die Urbilder jener Nachahmungen der Natur so in sich, daß wir, wenn sie uns im Leben erscheinen, uns gleichsam mit magnetischer Gewalt zu ihnen hinreißen und sie lieben müssen? Genug, ich stand glückselig auf und habe die anmutigsten Bilder noch nicht vergessen; fröhlich schlürfte ich meinen dünnen, gelben Kaffee ein und wanderte auf die Residenzstadt Potsdam und hielt auf halbem Wege nach Berlin an der Stelle, wo ganz hart an der Heerstraße ein Busen des großen Havelmeers anspült, in einem ganz stattlichen Gasthause mein Mittagsessen. Dies war die Stelle, wo der genialische Heinrich von Kleist, den ich im Winter 1809 während meines Inkognito in Berlin oft mit Freuden gesehen hatte, sich unten am See mit einer älteren Dame durch einen gegenseitigen Schuß entleibte. Ich ließ mir den Fleck zeigen, wo sie gefallen waren; die Bäume standen ruhig da, das Gras wuchs saftig und grün, sogar einige Stengelchen Quendel konnte ich mir noch pflücken. In der Stube, wo ich mein Mittagsmahl hielt, saß ein junger Offizier mit einer sehr hübschen, blauäugigen Blondine, wie ich mit dem Essen beschäftigt. Diese beiden sahen nicht aus, als die da aus dem Leibe herauszuspringen meinten. Sie nahmen ihren Weg bald gegen Süden und ich den meinigen gegen Norden. In der Abenddämmerung war ich in meines lieben Reimers gastlichem Hause, wo ich später ein weicheres Bett aber ohne mexikanische Blumengespräche hatte.

Ich lebte diesen Herbst 1814 und den Winter 1815 in Berlin. Ich gehörte diesem Staate jetzt an. Nachdem ich von meiner schwedischen Sonderheit (Partikularismus) und fast auch von jeglicher deutschen Sonderheit geheilt worden, fand ich mich ungefähr in der Lage des starken Sankt Christoffel, der auf die Wanderung ausging, sich einen Herrn zu suchen. Ach, wer hatte in den Jahren 1810 und 1811 denn noch einen deutschen Herrn? Einer war der Herr über alle geworden. Als dieser Stolze aber anfing zu wanken, als das scythische Eis und Schnee und die Rippenstöße der Kosakenlanzen den Koloß bearbeiteten, da konnte man sich umschauen. Ich hatte früher manches Sonderheitsgefühl gegen die Preußen gehabt; selbst mein alter Herr hoffte im Anfang des Jahrs 1813 nicht soviel von den Preußen, als er gesollt hätte. Er gedachte noch des Kampfes von 1809, des stolzen Riesenkampfes, wo Österreich mit den edelsten Wunden nur unterlegen war, nein nicht unterlegen – wo es den schlimmen Frieden hatte unterzeichnen müssen, weil es zuletzt nicht nur allein gelassen sondern zum Übermaß des betörten und betörenden Jammers vom Osten her sogar von den Russen angegriffen ward. Als nun aber der alte preußische Donner und Blitz alles aufschütterte, als die Siege von der Wahlstatt, von Dennewitz, Wartenburg und Leipzig wie Lichtstreifen des Ruhms jenem Blitz nachzitterten, da glaubte ich einen Herrn zu sehen, dem wohl ein Stärkerer als zehn Christoffel sich gern dienstbar machen möchte; ich glaubte eine auch für die Zukunft belebende, erhaltende und schirmende Macht Deutschlands zu sehen. Ich ward mit voller Liebe und Zuversicht ein Preuße.

Alle deutschen Herzen und Augen waren seit dem Herbst auf Wien gerichtet, wo die Kaiser und Könige Europas und ihre Räte sich versammelt hatten, um die verworrene und übereinander geworfene Welt wieder ein wenig zu ordnen und besonders auch die deutschen Dinge und Leute zurechtzustellen. Ich leugne nicht, daß ich und viele andre wohl oft ungerecht gemurrt und gezürnt haben, wenn uns die Dinge nach unsrer Ansicht krumm oder verkehrt zu gehen schienen; daß wir auch gegen den preußischen Staatskanzler Fürsten Hardenberg gewiß oft mit Unrecht gemurrt haben; daß uns überhaupt die Angelegenheiten nicht in dem Maße, wie die Deutschen für das Allgemeine, für ganz Europa diesmal mit den Herzen und Schwertern gewaltig und scharf gewesen waren, für Deutschlands Ehre und Würde geführt zu werden schienen. Wir Deutsche vergessen bei solchen Gelegenheiten immer wieder, wie ganz eigentümlich nachteilig unsere Stellung ist: daß, wenn viele mit geteilten Vorteilen und Ansichten gegen einen oder gegen drei nach demselben Ziel, laufen sollen, jener eine oder jene drei immer in einem unermeßlichen Vorsprung sind, nämlich, daß sie Willen und Kraft immer für einen Zweck beisammen haben, daß also in Unterhandlungen das in viele Herrschaften und Ansichten geteilte Deutschland immer einen Teil der Vorteile verlieren muß, welche es durch Siege erfochten hat. Rußland, England, Frankreich, Spanien standen in Wien als Einheiten, Deutschland als Vielheit, endlich gar als eine zersplitterte und zwieträchtige Vielheit, worunter und womit die Fremden desto besser ihr Spiel treiben konnten. Das war aber gar das seltsamste, daß man den Urheber alles Unheils, daß man das niedergeworfene und besiegte Frankreich, dem man durch den Frieden von Paris eben sein Erbe wieder zugeteilt hatte, hier in Wien sogleich wieder mithandeln und mitstimmen ließ, daß man den Mann, der mit den deutschen Fürstentümern und Herrlichkeiten jüngst noch so schändlich gefeilscht hatte, der alle unsre Unebenheiten, Schwächen und Gebrechen auf das gründlichste kannte, daß man Talleyrand als den Mitsprecher und Mitrater unter den erlauchten Räten und Freunden der Herrscher mitsitzen ließ. Fürst Hardenberg hatte also gewiß eine sehr schwere Stellung, zumal da Preußen bei der Entschädigungsfrage weit mehr als Österreich, welches sich in Italien und um das Adriatische Meer seine Fettstücke ausgesucht hatte, recht in die Mitte aller möglichen deutschen Streite und Zänke hineingeschoben war.

Hardenberg war ein edler Edelmann, ein Mann von großmütigem, freiem Sinn, von liebenswürdiger, gewinnender Persönlichkeit, von schönen Kenntnissen und Talenten, seine Redlichkeit und Treue gegen seinen König und sein Vaterland unbezweifelt; aber das bleibt doch bei allem dem wohl wahr, daß er ebenso mutig und frisch, als seine Preußen auf dem Schlachtfelde vorgedrungen waren, mit einer zu offenen und arglosen adligen Geradheit und Redlichkeit bei den ersten Unterhandlungen vorgeschritten war, ohne fremde Listen und Hinterlisten, welche bei langsamen Unterhandlungen nimmer fehlen, und mögliche Änderung der Gesinnung der Menschen und mögliche Wechsel und Zwischenfälle der Begebenheiten genug in seine Berechnung aufgenommen zu haben. So hatte er z. B. an England für das künftige Königreich Hannover große Abtretungen preußischer Landschaften gemacht, ohne demselben ganz bestimmte und untersiegelte Versprechungen für Preußen als sichere Unterpfänder abgenommen zu haben: er hatte für England die Stiftung eines niederländischen Königreichs bewilligt, ohne den Zustand der Lande, welche dieses neue Königreich ausmachen sollten, und die politischen und natürlichen Grenzmarken desselben gegen Preußen fest und scharf ins Auge gefaßt zu haben. Er hätte nach der Leipziger Schlacht, als Bayern glücklich und klug mit Österreich seinen Vertrag von Ried abschloß, der notwendig eine Grundlage für den ganzen Rheinbund werden mußte, mit doppeltem Adlerauge auf die Rheinlande und deren Zukunft sehen müssen, da es nun jedem klar war, daß, wenn Preußen ordentlich und deutsch entschädigt werden sollte, seine Entschädigung gegen Südwesten hin fallen mußte; denn in Deutschlands Mitte war nun nichts Verlornes mehr wiederzugewinnen. Österreich hatte durch jenen Vertrag Preußen nun ein P vorgeschrieben. Daß aber Preußen weit in den Osten hinein auf Kosten Polens entschädigt werden sollte, konnte kein Deutscher wünschen; denn dort konnte die sogenannte Vermehrung und Verstärkung nur eine Minderung und Schwächung werden, beide für Preußen und für Deutschland.

Drei Lande waren es, worum in Wien vorzüglich verhandelt und gestritten worden: Polen, das Königreich Sachsen und die von Frankreich wiedereroberten Rhein- und Maaslande. Ich weiß, daß viele Preußen, besonders auch solche, die Feldherren heißen oder werden wollten, statt aller Wiedererstattung und Entschädigung nichts als Sachsen, das ganze Sachsen begehrt hatten; ja, ich habe viele schelten gehört, daß man mit den preußischen Landen nur über den Rhein hinaus wollte. Mich für meinen Teil hat der Streit um Sachsen wenig gekümmert: Sachsen im Mittelpunkt Deutschlands mußte endlich, wenn wir nicht immer wieder in die allerundeutscheste, die Fremden lockende Zwietracht zurückzufallen gemeint waren, schon in und bei Deutschland bleiben und mit dem übrigen Deutschland auf jeden Fall stehen oder fallen. Aber ganz anders stand die Frage um Polen und um die Lande um die Maas, Mosel und Rhein. Dort lagen die mächtigen Reichsfeinde an den Grenzen und konnten sich nur freuen, wenn man da schwächende Zersplitterungen und Zerreißungen machte. Das durfte ein Fürst Staatskanzler von Preußen nicht unbeachtet lassen; er mußte sorgen, wenn Preußen mit seinen Grenzen durchaus an den Rhein mußte – und das mußte es – daß es als Vorstreiter des deutschen Volks dort in tüchtiger Rüstung zu stehen komme. Daß nun schon manches, was man sonst fast für abgemacht hielt, sehr zweifelhaft stand; daß nach dem Vertrage von Ried die Angelegenheit Sachsens und seines Königs ganz andre, ja selbst völlig veränderte Ansichten und Beurteilungen zuließ; daß da bis auf den letzten Mann gefochten und gestritten werden würde – diese Möglichkeiten, ja diese Wahrscheinlichkeiten mußte er kalt und besonnen anschauen und also nach einem Felde hinschauen, welches erst neu verteilt werden, wo erst neue Herren eingesetzt oder gemacht werden sollten. Dieses Feld waren die wiedergewonnenen rheinischen Lande, das alte, herrliche Austrasien. Es mußten auch die Gründe, ja das Geschwätz kurzsichtiger Feldherren oder Feldherrngeelschnäbel bei ihm kein Gewicht haben, daß Preußen sich durch den Besitz mehrerer rheinischer Landschaften zu sehr verlängere und also den Hebel seiner Kriegsstärke durch jene Verlängerung schwäche. Dies war zugleich eine Dummheit und eine Unwahrheit. Eine Dummheit: denn die Feldzüge von Jahrhunderten haben bewiesen, daß, wer den Rhein besitzt, auch bald Weser, Elbe und Inn erreicht, daß also Tollheit war, hier schwache Fürsten hinzusetzen und dann nachher doch, wann der Welsche losbrach, von der Oder und Elbe zum Rhein hineilen zu müssen. Oder wußten sie etwa nicht, oder hatten sie es in der Eile vergessen, daß schon der Große Kurfürst im Elsaß und Brabant und Holland hatte fürs Reich kämpfen müssen; Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. ebenso? Also, Starker, du, der an der Elbe, der Saale, der Weser, im Sachsen- und im Westfalenlande so viele schöne Besitzungen hast, du mußtest auch hier stark vortreten wollen, du mußtest hier vorschreiten wollen, um die östlichen und westlichen Deutschen gerade hier am sichersten zu beschirmen. Es war dies aber auch eine Unwahrheit: nur fünf bis sechs Märsche, und man hat von Koblenz, Köln und Wesel aus geschwind den Kern dieser schönen Lande, wo die Schlachtfelder und alle Hilfsmittel des Kriegs und der Schlachten sind. Aber man mattete sich um Sachsen ab, verfeindete sich, stritt sich tot um Sachsen und hier – weh! daß ich es sagen muß! – hier den hinterlistigen, lüsternen Welschen gegenüber ließ man die Fremden die Länder gutwillig und demütig zerschneiden und zuschneiden und gebärdete sich dabei, als wenn es sich um Kleinigkeiten handle. Ja, ich bin noch heute überzeugt, hätte hier, für diese wichtigste Grenze, der Geist der Klugheit und Stärke gewaltet, hier wäre ganz Anderes und Größeres zu erlangen gewesen als bei dem traurigen Streit um Sachsen. Freilich England hatte mit dem Prinzen von Oranien und mit seinen holländischen und deutschen Räten und Helfern ein neues austrasisches Königreich frühe zugeschnitten; aber weil Hardenberg das wußte, mußte er sich mit offnen Falkenaugen über diesen Landen schwebend halten und die künftige Entscheidung nicht so dem Zufall oder der Willkür überlassen. England hatte von Preußen für Geldanleihen, Waffen und andere Lieferungen Zusagen ganzer preußischer Landschaften erhalten (Ostfriesland, Hildesheim, einen Teil des Münsterlandes usw.). Hardenberg mußte England und Holland gegenüber nicht den Reichen und Großmütigen spielen. Mit Holland besonders war große Abrechnung zu halten. Hat nicht Österreich die Wiedereroberung Italiens von den Fürsten Italiens sich mit vielen Millionen bezahlen lassen? Und Preußen eroberte Holland und die meisten belgischen Lande und Festungen mit seinem edelsten Blute, und es hat erobertes Geschirr und Geschütz und noch so vieles andere den wohl und strenge rechnenden Kaufleuten umsonst ausgeliefert. Und was ist geschehen? Nicht einmal die Maas und die Maasfestungen teilten wir mit dem neuen Königreiche, sondern ließen uns die allerschlechtesten, unsichersten und schwächlichsten Grenzen, die den künftigen Untertan verletzendsten und schädlichsten, von den Holländern mit ihrer gewöhnlichen Knickerigkeit und listigen Zaudrigkeit ordentlich zuschneiden. Ja diese waren mit einem Male so länderdurstig geworden, daß sie gern alles Deutschland bis an die Mosel mit verschlungen hätten, was ihnen noch mehr als Belgien unverdauliche Aufstöße gegeben haben würde. Ebenso unpolitisch, sorglos und gedankenlos ließ man an der Ostseite die schönen Rheinlande in ein halbes Dutzend Stückchen zerschneiden und einzelnen Fürstentümern als eine kleine Ergötzlichkeit hinwerfen. Dazu lächelte Frankreich ins Fäustchen; darüber trauerten alle einsichtsvollen Vaterlandsfreunde. Hier aber wäre ein Streit um und für das ganze Rheinland besser und gründlicher durchzuführen gewesen als bei Sachsen.

Für Preußen war, wie eben angedeutet ist, die Lage in Wien dadurch die allerschlimmste, daß es bei den Verhandlungen über die Abtretung preußischer Lande an Hannover mit England sich nicht mit der Vorsicht gesetzt hatte, die das bekannte do ut des erfordert; daß es sich nicht auf solche sichere Bedingungen mit ihm gesetzt hatte, daß England bis zum entschiedenen Ausgang der Sachen in Wien mit ihm hätte denselben Strang ziehen müssen. Es fanden sich klein- und kurzsichtige und klein- und kurzdenkende deutsche Männer, welche sogleich bei dem Anfange der Unterhandlungen in Wien sich mit England und Hannover gegen Preußen zusammenwickelten und rotteten: nicht als Verräter, nicht aus bloßem Haß, sondern gleich wieder aus dem alten deutschen Neid, aus der armseligen Sorge, es möge im Vaterlande irgend ein großer Glanz aufleuchten, der die kurzen Schatten der andern zu sehr zeige. Sie aber nannten das die Sorge für die deutsche Freiheit. Eben hatten alle nun in zehn, fünfzehn Jahren die schändliche Staupe gefühlt, welche die deutsche Zwietracht und Ohnmacht über alle, über den einen nach dem andern gebracht hatte; und noch waren die Narben der Ruten nicht verharscht, so regte sich die uralte Unart, und das römische Sprüchlein, lautend: Griechenlands Staaten, da jeder einzeln herrschen wollte, haben insgesamt die Freiheit verloren Graeciae civitates, dum singulae imperare volunt, omnes libertatem amiserunt. war wieder vergessen. Auch England hatte des großen Pitt Gedanken vergessen, welchen er seinen Freunden sogar im Testament hinterlassen, daß, wenn die Rheinlande und Belgien in einem glücklichen Kriege wiedererobert würden, alles Australien an Preußen als den deutschen Vorfechter im Westen, wie Österreich es im Südosten ist, müsse abgegeben werden. Aber der große Pitt mit seinen erhabenen Gedanken zur Rettung und Befriedigung Europas war lange hingegangen, und Lord Castlereagh und seine Betrautesten standen tief unter so hohen Ansichten. Denn gerade von feiten Englands und von einem geistesarmen und engherzigen deutschen Mann, der nur das einzelne Kleine und das einzelne Gegenwärtige sehen konnte, von dem hannöverschen Minister Grafen von Münster, ging der rücktreibende Wellenschlag gegen Preußen aus. Er, von vielen deutschen Parteigängern, sogenannten deutschen Freiheitspatrioten, gefolgt, stellte sich an die Spitze aller neidvollen und ränkevollen Bewegungen und Zettelungen gegen Preußen und hatte seinen mächtigsten Rückhalt an den anwesenden englischen Ministern, welche mit Macht aufdrücken konnten, und welche er die Dinge durch seine Brille ansehen ließ. In diesem Verhältnisse hat man wieder Hardenberg, gewiß mit Unrecht, beschuldigt, er als ein geborner Hannoveraner habe hier auch unbewußt nicht genug entgegengehalten. Aber etwas anderes war es vielleicht mit einem Einfluß, dem er ohne Verdacht des Argen Zutritt und Eingang zu sich erlaubt hat, und der von den Preußen beschuldigt worden ist, schlangenlistig zwischengeschlichen zu sein. Dies war der Einfluß eines Freiherrn von Hardenberg Hardenberg war Graf. (D. H.), vormaligen hannöverschen Gesandten in Wien. Dieser Mann, wie ihn uns Herr von Hormayr in seinem Historischen Taschenbuch für 1839 Taschenbuch für die vaterländische Geschichte, hg. von Hormayr. 28. Jahrgang. S. 45. (D. H.) geschildert hat, war eine jener sich durchlauschenden und durchschleichenden Figuren, welche bei scheinbarer Charakterlosigkeit und Unbedeutsamkeit auf dem diplomatischem Felde meistens leise und still auf den Busch klopfen und dem rechten Jäger das Wild ganz unvermerkt in den Schuß treiben. Er hatte so den unschuldigen Brutus zu machen verstanden, daß selbst die Franzosen, als sie im Jahr 1809 Wien und Österreich überschwemmten, ihn aus seinem stillen Lager nicht aufgestört hatten. Dieser verhüllte Brutus hatte sich nun seinem Vetter, dem Staatskanzler, beigesellt, welchem er durch seine Verbindungen und Bekanntschaften in der österreichischen Hauptstadt in allerlei kleinen Nachweisungen und Dienstleistungen nützlich werden konnte; und er wich demselben während seines Wiener Aufenthalts auch keinen Augenblick von der Seite. Indem er nun bei demselben gar nichts zu tun noch zu wollen schien, auch sich sehr klug jeder politischen Rolle und Parteinahme enthielt, erlauschte er, wie es bei unbewachtem geselligem Zusammenleben am leichtesten und leisesten geschieht, alle geheimsten Gedanken und Entwürfe des Staatskanzlers und trug – so erzählten die Preußen – das Erspähte und Erlauschte dem Grafen Münster zu. Es war natürlich, daß Talleyrand sich sogleich mit dieser englisch-hannöverschen Partei zusammenfand und ihr Gewebe mit aufwickeln und durchflechten half. Es war rührend zu sehen und zu hören, welche schöne Predigten hier der Wolf wieder dem Reiche der Schöpse und Kälber hielt, und mit welcher Gleisnerei dieser Franzose hier, der im Namen eines Volkes redete, welches, wenn seine Arme Umfang und Umgriff genug hätten, alle ihm fremde Eigentümlichkeiten sogleich erdrosseln möchte, von politischer Mäßigkeit und Gerechtigkeit predigte und von der höchst wohltätigen europäischen Notwendigkeit, alle kleinsten Einzelheiten Deutschlands, alle kleinsten Farbenschattenschimmer, welche von Bruchstücken weiland besonderer deutscher Volksstämme noch übrig sein möchten, zu achten und zu erhalten.

Auf diese Weise ist hier einem politischen Unverstande, einem Neide, welchem jede kaum erst aufleuchtende deutsche Herrlichkeit sogleich zu herrlich und zu gefährlich deucht, die Arbeit gegen Preußen endlich nur zu gut gelungen. Was Napoleon eingerichtet und vergrößert hatte, das blieb als etwas Unantastbares stehen; viele kleine deutsche Fürsten, gleichsam als sei durch sie das Vaterland vorzüglich gerettet worden, wurden noch mit Land und Leuten vermehrt; England, Rußland und Österreich hatten gehörig für sich gesorgt; Preußen allein, welches in der heiligen Arbeit dieses Krieges am meisten getan und gelitten hatte, erhielt nicht den Inhalt der Quadratmeilen, welche es im Jahr 1806 besessen hatte, kaum seine alte Einwohnerzahl und ward in seinen südwestlichen Landschaften mit den schlechtesten, von fremder Politik abhängigen Grenzen, dem lauernden Frankreich und dem habsüchtigen Holland gegenüber hingestellt, so hingestellt, was man in die Luft hinstellen nennt.

Als man in Wien noch alle Hände voll Arbeit hatte und die einige, verbündete Freundschaft sich durch die eben erwähnten politischen Stellungen, Zettelungen und Streitpunkte sehr abgekühlt hatte, erscholl plötzlich die Nachricht, Napoleon habe den letzten Tag des Februars 1815 die Insel Elba verlassen, sei mit einigen hundert Mann in Südfrankreich gelandet und ziehe immer landeinwärts an der Rhone herauf. Nicht lange, und es erscholl weiter, wie sein Zug ein wahrer Triumphzug bis in Paris hinein geworden, indem General und Korporal ihm zugefallen und seinen Fahnen gefolgt waren. Ludwig XVIII., von allen verlassen, war nach Belgien entflohen, und die verbündeten Herrscher mußten ihre Heere zum neuen Kampf gegen den gefährlichen Korsen wieder über den Rhein und die Alpen schicken. Dahin schickte auch ich mich im April; was ich auf jeden Fall, doch etwas später, gewollt hatte. Denn meine Gedanken und Hoffnungen, welchen höheren Orts nicht unfreundlich zugewinkt war, richteten sich auf den Rhein und auf die dort zu stiftende preußische Universität. Ich wollte den Rhein und seine Bewohner besser kennen, ich wollte am Rhein leben lernen. Ich war jetzt ein von allen guten und schlechten Fesseln Befreiter; ich konnte mir allenfalls meinen Aufenthalt wählen. Es fanden sich schon Gönner, die geruhten, mich einen Vagabunden zu nennen; was die Bauern in Pommerland wohl in Vagelbund verkehren, indem sie des fliegenden Vogels dabei gedenken. Auch bedeutet mein Name in der Tat nichts anderes als Vogel Arnen sich schnell bewegen, fliegen (»So erarn ihn der slimme Tüvel« Nibel.-Lied). Arend Vogel, Adler, Örn nordisch; όρν, ὀρνις, ὀρω, ὀρνυω, ἀρω; doch bitte ich Vergleichung und Anspielung mit meinen ebengenannten Gönnern nicht in zu breiter Anwendung zu gebrauchen.

Ich lebte den ersten Monat in Aachen, mir das Kriegsgetümmel und die Bewegungen in Belgien ein wenig in der Nähe zu betrachten. Damals begab sich in Lüttich der Jammer mit den unglücklichen, königlich sächsischen Bataillonen, welche laut des Wiener Vertrags zwischen Sachsen und Preußen verteilt werden sollten. Die Leute wollten dazu erst den besonderen Befehl ihres Königs sehen. Da stand denn ein wild erzürnter Haufe auf und wollte den Palast des Feldmarschalls Blücher erstürmen. Das hätte, wenn ihnen der Anschlag gelungen wäre, eine schöne Geschichte geben können; sie hätten uns den alten Helden Blücher, den Gneisenau und die Blüte des preußischen Generalstabs, welche gerade in diesem Palaste beisammen waren, erwürgen können. Aber wie diese Sachsen mit wilden Dingen umgingen, so taten die Wachen des Palastes, die aus ihren Brüdern bestanden, ihre heilige Soldatenpflicht, verteidigten die Tore, welche jene zu sprengen versuchten, auf das mannhafteste und gaben den Feldherren Zeit, aus einer Hintertür zu entrinnen, ihre Rosse zu besteigen und sich in Sicherheit zu bringen. Ich fuhr den Vorabend jenes Morgens, wo der alte Feldmarschall die noch in Lüttich anwesenden Sachsen und Preußen versammelte und wegen jenes Auflaufs an sie eine zugleich belobende und ermahnende Rede hielt, mit dem Obersten Rühle von Lilienstern nach Lüttich und begab mich zur bestimmten Stunde nach dem Platz, wo der Alte reden wollte. Er stand in prächtiger Haltung da wie ein Gott Mars und sprach noch prächtiger. Im Anfange der Rede blieb er in den Fugen derselben (ich hörte, sie sei von einem sehr federgewandten General für ihn verfaßt worden), aber nicht lange, und er zersprengte sie und ging mit mordlich husarischem Einhauen auf den deutschen Dativ und Akkusativ im gewaltigen Feuer seiner eigenen Natur durch. Ich erinnere mich noch der Schlußworte, welche lauteten: »Nein, die Franzosen sollen sich nicht freuen, daß sie ihren Bonaparte wiedergeholt haben, daß sie hier vom Aufruhr der Deutschen gegen ihren General gehört haben. Wir sind vor ihnen und an ihren Grenzen keine Sachsen und keine Preußen, wir sind alle Deutsche, wollen Deutsche bleiben und als Deutsche siegen oder sterben. Ich habe es geschworen, und ihr schwöret es mit mir, ich komme nur als Leiche oder als Sieger über den Rhein zurück.« Hier fühlte ich wieder, welche die Kraft war, die diesen gewaltigen Menschen, diesen durch keine besondere Kenntnisse und weite Ansichten und Einsichten geschmückten Feldherrn gleichsam zu einem deutschen Panier gemacht hatte.

Um die Mitte des Maimonats ging ich nach Köln, der Hauptstadt des Rheins, wo ich einstweilen meinen Sitz aufschlug. Auch hier gab es genug Bilder des Kriegs und des Kriegsgetümmels den ganzen Sommer hindurch. Zuerst kamen mehrere Männer, auch teils Verwandte, aus meiner Heimat, welche als Freiwillige dem preußischen Heere in Belgien zuzogen. Ich erinnere mich, ich ging mit ihnen an das Ufer des Stromes, uns nach Deutz übersetzen zu lassen, wo ich sie bewirten und in der Nacht eine Strecke Weges begleiten wollte. Mein kleiner, damals eben vierzehnjähriger Sohn mit langen, fliegenden blonden Locken lief neben uns her und trug den mächtigen Säbel eines der Reiter unterm Arm. Weil er schlank und schön und mit seinen dichten Locken fast jungfräulich anzuschauen war, »so liefen die alten und jungen Weiber zu seinem großen Ärger hinter ihm her und schrien: »Wahrhaftig, es ist ein Mädchen, ein hübsches Mädchen! Und läuft mit den Husaren?« Andere, nachdem sie sich ihn näher betrachtet, schrien wieder: »Das arme junge Blut! Was will der schon mit im Krieg?«

Bald kam auch Talleyrand von Wien, um zu seinem Ludwig XVIII. nach Gent zu eilen. Ich war gerade bei dem Kommandanten Oberst von Ende, einem wackern, etwas barschen Kriegsmann, als eine Stafette von ihm anlangte, der Oberst möge ihm doch für einige Posthalte Gendarmen zum Geleit und Begleit zuschicken; denn dem alten Schelm war bange geworden, als er auf einigen Stellen die Leute den Namen Franzos nicht eben mit Achtung hatte rufen gehört. O, er kannte die deutsche Geduld doch noch nicht genug; einem deutschen Talleyrand, der nach Spielung einer ähnlichen Rolle durch Frankreich hätte reisen müssen, wäre wohl nicht ratsam gewesen, solche Reise ohne starkes Geleit zu wagen. Mein Ende brummte bei der Zumutung, schickte aber doch das gewünschte Geleit, sprechend: »Lieber schlüge ich den alten, bösen Fuchs tot.« So zog den ganzen Sommer durch ein Gewimmel von Fremden und von Bekannten von und nach Paris hier durch; denn über Köln ging die große Kriegsstraße. Dies gab dann vielfältige Ergötzung und Kurzweilung. Man fragt hier vielleicht, warum ich in jenen Tagen nicht auch nach Wien und Paris gekommen bin? O, ich kannte meine Stelle recht gut, wohin ich gehörte. Was sollte ich, eine Stimme eines Predigers in der Wüste, da tun? Und wie sollte ich da umgehen, wo die Zierlichen und Feinen die Lose über die Länder warfen und sie zerlegten und wieder zusammenleimten? Mich in Paris aber roh und übermütig über die wieder gebändigten und niedergeworfenen Franzosen ergötzen – der schlechte Spaß konnte mir auch nichts frommen.

Es kamen aber auch die Bedeutendsten diesen Sommer nach Köln. Im Julius, als wir in der Siegeswonne über Waterloo und Belle-Alliance schwelgten, erschienen einen guten Morgen Herr vom Stein und Herr von Goethe. Goethe war von Frankfurt nach Wetzlar und von da längs der Lahn abwärts gezogen, die alten, rührenden Jugendpfade von Werthers Leiden und Freuden wieder nachlesend und das Liedlein bei sich summend, welches ihm weiland in der Kutsche zwischen Basedow und Lavater entklungen war:

Prophete rechts, Prophete links,
Das Weltkind in der Mitten.

So war er ins Städtchen Nassau gekommen und im Löwen abgestiegen. Herr vom Stein dies erfahrend, konnte den großen Mann dort nicht sitzen lassen sondern ging hin und holte den Sichsträubenden auf sein Schloß, ließ den folgenden Tag anschirren und setzte sich mit ihm in den Wagen. So kamen beide über Koblenz und Bonn nach Köln, wo sie mehrere Tage blieben und den Dom und alle andre Denkmäler und Sehenswürdigkeiten musterten, uns Kleine aber bei den abendlichen Tees königlich erfreuten. Diese Reise verglich ich der fabelhaften Reise des eisernen und tönernen Topfes; nur lief sie viel glücklicher ab. Die beiden würdigsten alten Herren gingen mit der aufmerksamsten und vorsichtigsten Zärtlichkeit nebeneinander her, ohne gegeneinander zu stoßen. Dies ist das letztemal, wo ich Goethen gesehen habe. O wie war er viel glücklicher, heiterer und liebenswürdiger als den Frühling vor zwei Jahren in Dresden! Ich sah aber hier wieder, was ich bei früheren Gelegenheiten schon an ihm bemerkt hatte, und was auch aus seinen Büchern hervorgeht, wie er, obgleich selbst nun ein Edelmann und eine Exzellenz, – und obenein welche Dichterexzellenz von Apollos und aller neun Musen Gnaden! – die bürgerliche Blödigkeit und Beklommenheit vor dem gebornen Edelmann nicht los werden konnte. Daß er vor Stein eine Art erstaunter Ehrfurcht gefühlt hätte, wäre auch dem seiner Größe bewußten Mann zu verzeihen gewesen; aber es erschienen sich ihm darzustellen ein Paar Leutnante und Hauptleute, junge Adlige, deren Väter oder Oheime Goethe kannte – und siehe da, ich sah den Greis vor den Jünglingen in der Stellung wie des Aufwartenden. Er war übrigens äußerst liebenswürdig und freundlich mit allen und zu allen und eroberte nicht bloß das Herz des alten, wackern Wallraff, der für ihn sich gern zum Cicerone machte, sondern die Herzen aller andern, die in seine Nähe kamen. Stein aber war ungewöhnlich sanft und mild, hielt den kühnen und geschwinden Atem seiner Natur an und zügelte den Löwen, daß er nimmer herausguckte Stein hatte Goethe am 9. Juli in Bieberich getroffen und ihn zu sich eingeladen. Am 24. Juli kam Goethe nach Nassau; von dort fuhren beide am folgenden Tage nach Ems und Ehrenbreitenstein und weiter zu Schiff nach Köln, wo sie bis zum 27. verweilten. Am 29. Juli waren sie wieder in Nassau. Übrigens erwähnt Goethe in seinen Tagebüchern ausdrücklich am 24. Juli »Politische Gespräche« und am 30. »Im Garten mit Herrn von Stein und den Damen. Gesprochen und kontradiziert«, wonach Arndts Angabe in den »Wanderungen mit dem Freiherrn vom Stein«, wo er dieselbe Geschichte erzählt und hinzufügt, daß man alles Politische sorgfältig vermieden habe, zu berichtigen ist (Goethe, Werke, Sophienausgabe III, Bd. 5, S. 169, 172. IV, Bd. 26, S. 59). (D. H.).

Nicht lange darauf war Stein nach Paris gegangen und kam im Herbst zurück. Da erschien er im Anfang des Oktobers mit einem ganz andern Gast, mit dem Großherzog von Weimar, und das gab den Ungeweihten eine andere Erquickung, wie er mit Fürsten zu leben verstand. Der Herzog, frisch, lebendig, witzig und unverzagt, wie ein Fürst leicht sein kann, führte die kurze Ware in geschwinder Rede, und mein alter Herr blieb ihm die seinige so wenig schuldig, daß die Anwesenden oft erstaunten, ja erblaßten. Ein Beispiel: Es kam das Gespräch auf den Verfasser der »Söhne des Tales«, den eben zum katholischen Priester eingekleideten Königsberger Werner, welcher auch auf dem weimarischen Olymp den Göttern und Geistern gehuldigt hatte. Der Herzog erzählte mit sehr hübscher Laune mancherlei Wunderliches und Verkehrtes von dem preußischen Dichter und kam endlich auf seine Liebeshistörchen und nannte ihn einen armen Kater, der den verliebten Kätzchen auf allen Dächern seine ohnmächtige Liebe vormiaut habe. »Ja, der wunderliche Kautz hatte«, sagte der Herzog endlich, »seiner Lehre kein Hehl, daß der Mann hier auf Erden seine jammervolle Seelenwanderung als durch das Fegefeuer durch die verschiedenen Leiber der Weiber durchmachen müsse; und, lieber Baron, gestehen Sie nur, daß wir alle auch durch dieses Seelenwanderungsfegefeuer haben laufen müssen.« Zugleich streute er zum Schluß noch einige leichtfertige Scherze auf diese Worte. Darob erzürnte sich der Freiherr und rief: »Ich weiß nicht, welche Seelenwanderungen durch solches Fegefeuer Eure Hoheit erlitten haben; aber das weiß ich, daß weder Fürst noch Edelmann sich solcher Leiden zu rühmen haben; auch sollten Eure Hoheit sie nicht als etwas Unschuldiges und Lustiges vor diesen jungen Männern bekennen.« Es saßen nämlich unter den Anwesenden auch mehrere junge Offiziere. Diese Worte flogen mit solcher Gewalt aus dem Alten heraus, daß der Herzog einen Augenblick verstummte, sich jedoch bald wieder zur Lustigkeit faßte. Oberst von Ende aber und der Oberpräsident Graf zu Solms, welche mit beim Tee saßen, meinten beim Nachhausegehen: das sei gar keine lustige Gesellschaft sondern eine andere Art Fegefeuer, man komme zwischen den scharfen Geschützen, welche die alten Herren führen, ordentlich in die Klemme.

Napoleon war besiegt und an seinen Prometheusfelsen St. Helena geschmiedet. Es saß wieder ein Kongreß der Herrscher in Paris. Diesmal wiegten wir uns mit Hoffnungen, es werden endlich jedermänniglich die Augen geöffnet sein, es werde endlich eine volle und ganze Sündentilgung und Schuldabrechnung mit dem übermütigen welschen Volke abgeschlossen werden. Und dies erfolgte wieder nicht, wenigstens erfolgte es nur zum kleinen Teil. Freilich mußten sie eine bedeutende Geldentschädigung bezahlen, auch die aus allen Landen entführten Bibliotheken, Kunstwerke und Denkmäler zurückgeben, endlich einen Teil ihres Landes und ihrer festen Plätze auf drei, und nach Befinden der Notwendigkeit, auf fünf Jahre von 150 000 Mann der verbündeten Heeresmacht besetzen lassen; aber die Herausgabe der deutschen Landschaften, die Stärkung Deutschlands durch festere und sicherere Grenzen wurde nicht erlangt. Was konnte denn dagegen im Wege liegen? Man hatte ja die Erfahrungen so vieler Jahre und die jüngste Erfahrung dieses Winters, daß dieses wankelmütige und prahlerische Volk nicht durch Eidschwüre und Gnade sondern nur durch Furcht und Geiz zu halten und zu binden sei.

Zuerst Ludwig XVIII. mit seinem Talleyrand gebrauchte die gewöhnlichsten Listen und Künste, worin dieses Volk allen überlegen ist. Der alte Ludwig rühmte seine ritterlichen Franzosen, als auf deren Treue und Hingebung er immer gebaut habe und auch jetzt bauen könne; sie seien an dem letzten Aufruhr ganz unschuldig gewesen, ihn hätten bloß einige Verführer der Soldateska und die trügerischen Vorspiegelungen des Korsen verschuldet. Besonders aber war diese welsche Fuchslist und Hundeschwanzwedelei zu den Füßen des Kaisers Alexanders die tätigste und geflissenste; denn durch ihn war man ja das vorige Jahr für alle Demütigungen und Niederlagen getröstet worden. Sie umsäuselten und umbrausten seine Ohren mit allen möglichen Süßigkeiten und Schmeicheleien. So klang es unter andern in französischen Blättern, als er, eine große Musterung zu halten, mit den übrigen Monarchen auf die Ebene von Bertus abgereist war: »Kaiser Alexander ist auf sein Lieblingsschloß (Tugendfeld) abgereist.« Doch schien der russische Kaiser etwas abgekühlt gegen sie; indessen war er darum noch nicht erwärmt für das verlassene Deutschland. Das schlaue Volk griff ihn nun von einer andern Seite an; es stieß nicht allein mehr in die Trompete irdischen Ruhms sondern ließ gleichsam Posaunentöne einer andern Welt auf ihn herabblasen. Der Franzose ist einmal der Mensch des Augenblicks, ja der Sekunde und weiß jedes feinste Lüftchen, das zu seinen Gunsten wehen kann, mit seinem vielfarbigen und vielfaltigen Wettermantel aufzufangen. Man schlage nur die Denkbücher seiner Diplomaten auf und lese darin ihre vielgestaltigen protëischen Künste, wie sie vor den Augen Europas offen daliegen. Statt aller andern schlage man nur die Mémoires du Maréchal Comte de Villars auf. Dieser bekleidete in Wien bei Kaiser Leopold zur Zeit, als bei dem Hinschwinden Karls II. von Spanien ganz Europa durch die bald fällige spanische Erbschaft in Bewegung gesetzt war, den Posten als französischer Gesandter. Er war jung, mutig, schön und tätig, hatte offenbar ein Dutzend der schönsten und gewandtesten Jünglinge aus den ersten französischen Häusern und versteckt unter mancherlei Kappen und Hüllen noch viele andre Mithelfer in seinem Geleit und unter seinem Schutz; daneben ein Gewimmel reizender französischer Tänzerinnen und Buhlerinnen. Die ersten waren bestimmt, die deutschen und ungarischen Damen, die zweiten, die Männer zu fangen; er selbst gab sich in allen möglichen Verpuppungen und Verkleidungen in ähnlichen Unternehmungen gleichen Abenteuern preis; was in der österreichischen Hauptstadt von schlechtem, feilem und spitzbübischem Volk vollends für Gold und Silber zu erkaufen war, das hatte er als Mäkler, Lauscher und Späher im Solde. So waren sie, so sind die Franzosen bis auf den heutigen Tag. Wozu noch kommt, daß sie durch allgemeinen Gebrauch ihrer Sprache einen leichten Eingang und ein geistiges Übergewicht haben, welche allen übrigen Völkern Europas fehlen. Jetzt also suchten sie sich des Kaisers Alexander auf eine andere Weise zu bemächtigen. Er war ein liebenswürdiger Fürst mit einem leichten Anflug alles Edelmütigen und Hohen, was freilich nicht lange vorhielt; mit einem milden, sanften, fast weiblichen Gemüt, so daß ihm die Männlichkeit, womit er die Jahre 1812 und 1813 bestanden und beharrt hat, doppelt hoch anzurechnen ist; auch mit einer fast weiblichen Eitelkeit, welche um die Gunst und das Wohlgefallen der Menschen zu buhlen schien. Dies hatten sie ihm schon im vorigen Jahre abgesehen und spannten nun die Netze aus, womit sie ihn zu bestricken meinten und ihn im gewissen Sinn allerdings wieder bestrickt haben.

Es war eine Frau von Krüdener, Witwe eines ehemaligen russischen Diplomaten, eine Dame aus der großen Welt, welche in ihrer Jugend, wo sie eine glänzende und berufene Schönheit gewesen, die Wege und Stege derselben, ja auch wohl manche verbotene, durch allerlei Irren gewundene Schleichwege derselben durch Erfahrung kennen gelernt hatte. Diese Dame, jetzt älter geworden, immer noch mit großen Resten von Schönheit und dem zauberhaften Schimmer einer sehnsuchtsvollen Magdalenenbüßerin übergossen, der Eitelkeiten und Nichtigkeiten der irdischen Freuden dem Anscheine nach satt, trat als eine Begeisterte, als eine mit Gesichten und Weissagungen von oben Gesegnete, als eine Predigerin der Lehre von der Gnade und von Reue und Buße auf. Sie hatte diese letzten Jahre am Oberrhein, in Baden, in Basel, in Straßburg gelebt und großes Aufsehen erregt, um so mehr, da sie manche russische und andere Große, Generale, Minister usw. in die sanften Zügel ihrer Frömmigkeit einzuspannen und siegreich wie im christlichen Triumph umherzuführen schien, da sie auch der Gunst genoß, mehrmals stundenlang mit dem Kaiser Alexander, wie man flüsterte, über die himmlischen Dinge und über himmlische Offenbarungen sich unterhalten zu dürfen. Ich habe sie im Sommer 1814, wo ich mich wohl einen Monat in den Bädern zu Baden, im Elsaß und in dem paradiesischen Murgtale aufhielt, viel und oft gesehen, unter anderm viel in Gesellschaft des lieben, frommen Greises Jung-Stilling, mit dessen kindlicher Einfalt sie herrlich zu spielen verstand. Sie hatte die ganze Unruhe und geschäftige Zudringlichkeit einer Dame aus der hohen Welt, die doch noch nicht zur Ruhe gekommen ist und das eine Auge immer noch für die Lust des irdischen Lebens offen zu haben scheint, während das andere nach dem Frieden der überirdischen Welt schmachtet. Diese Frau machte nicht den Eindruck einer Gauklerin und Betrügerin sondern einer Schwärmerin; sie hatte den sehnsüchtigen und mächtigen Zauber einer Begeisterten, welche sie wirklich war: denn sie predigte ihr neues Evangelium mit gleichem Eifer den Armen wie den Reichen, dem Kaiser wie dem Bettler. Besonders war ihr Lieblingsthema, wie ich es bei alten Weibern unter Männer- und Frauenbildern dieses Standes an den verschiedensten Orten auf gleiche Weise wiedergefunden habe, die Erschütterungen und Umwälzungen, wovon Europa heimgesucht wird, von den Sünden der Völker herzuleiten, welche sie mit unruhigen Trieben umherjagten und sie den Frieden und das Glück, da wo allein ihr Wohnsitz ist, nicht suchen ließen. Sie sprachen hiemit eine unleugbare Wahrheit aus; nur hätten sie nicht unten bei allem Volk anfangen sollen sondern zunächst bei ihrem Volke und Geschlechte, bei der hohen und vornehmen Welt, und in Hinsicht auf Frankreich bei den abscheulichen, sittenlosen und glaubenlosen Regierungen und Hofhaltungen des vierzehnten und fünfzehnten Ludwigs. An diese Dame machten sich nun auch sogenannte fromme diplomatische Franzosen und brachten sie in nächste Seelenverbindung mit der französischen Dame Lezay-Marnesia, Witwe des ehemaligen Landvogts von Straßburg, eines wackern und durch seine Redlichkeit allgemein geachteten Mannes, der im verflossenen Jahre dem Grafen von Artois entgegenfahrend mit seinem Wagen umgeworfen war und den Hals gebrochen hatte. Diese beiden Frauen zogen nun miteinander ins kaiserliche Hoflager, und Frau von Krüdener hielt Betstunden und Bußübungen mit dem Kaiser, deren Anfangs- und Endwort war und blieb: Es ist wahr, die Franzosen sind gottvergessen und verrucht, und die schlimmsten Grundsätze haben bei ihnen überhand genommen, sie haben mit Recht die Züchtigung Gottes und der Menschen verdient; aber will man sie nicht mit Gewalt in die Wildheit hineintreiben, will man sie für das Christentum und die alte Herrschaft der Bourbons wiedergewinnen, so darf man nicht mit der Strenge der Gerechtigkeit mit ihnen handeln, man muß sie durch Milde und Großmut allmählich wieder zum Bessern erziehen. Also das Stichwort war hier Gnade und immer Gnade, während man Deutschland sein Recht, sein versprochenes, sein feierlich versprochenes Recht weigerte. .

Diese Damen und noch einige andere, welche sie sich beizugesellen wußten, nahmen den Kaiser Alexander in die Mache. In eine andere Mache, welche diesmal viel schlimmer wirkte, gerieten die Engländer oder vielmehr ihr großer Feldhauptmann Wellington und durch ihn und seine Bindung Castlereagh und die andern, welche bei den Verhandlungen mitwirkten. Fouché, der berüchtigte Duc d'Otranto, welcher während so vieler Jahre der Generalfeldmarschall von Napoleons europäischer Späherbande gewesen war, dessen Namen Fusche man Pfuscherer, Verwirrer und Anzettler übersetzen könnte, war als die Heere diesen Sommer gegeneinander ins Feld rückten, gewiß nicht ohne Napoleons Mitwissen mit dem großen englischen Feldherrn in Verbindung getreten unter dem Schein eines Verräters, welcher den Engländern die Stimmungen und Bewegungen Frankreichs und die Entwürfe Napoleons mitteilen wollte. Durch ihn war es schon geschehen daß die Verbündeten durch Napoleon überrascht wurden. Schon einige Wochen vor den Schlachten bei Ligny und Waterloo hatte der preußische Feldherr Wellington gewarnt und ihn zu bewegen gesucht, daß die einzelnen Scharen der verbündeten Heere in ihren Kantonierungen, damit sie für jeden Schlag sogleich bereit wären, näher zusammengerückt würden. Vergebens: Wellington verließ sich auf die Berichte seines Fouché, der ihm eingebildet hatte, Napoleon wolle überhaupt nicht angriffsweise verfahren und werde auf keinen Fall sein Heer vor dem Julius für eine Schlacht beisammen haben. So begab sich, daß die Verbündeten den 16. und 17. Junius von der ganzen französischen Macht gedrängt und zum Teil geschlagen wurden, da bei ihren Heeren 50-60 000 Mann nicht sogleich zur Stelle kommen konnten und erst den zweiten und dritten Tag eintrafen. Wenn es Napoleon damals gelungen wäre, einen vernichtenden Sieg davon zu tragen, wie würde ganz Frankreich die verschmitzte Tugend seines edlen Bürgers Fouché gepriesen haben! Aber wie wahr dies ist, Wellington war einmal mit dem Netze umstrickt und blieb fortwährend in Verbindung mit Fouché, der nun freilich, da Napoleon nach der Niederlage bei Waterloo ohne Rettung verloren war und sich selbst auch verloren gab, den Spieß sogleich nach der andern Seite hinwandte und seinen alten Herrn durch die planmäßigsten Verstrickungen endlich auf der Reede von Rochefort den Engländern auf ihren Northumberland auslieferte. Fouché behielt den größten Einfluß bei Wellington und gebrauchte diesen Einfluß für Frankreich gegen Deutschland. Preußen, auch durch Stein noch mehr befeuert, welcher aber von seinem Gewicht auf Alexander schon viel verloren hatte, stellte immerwährend als conditio sine qua non des Friedens mit Frankreich die Auslieferung und Rückgebung der deutschen Landschaften Elsaß und Lothringen mit den Festungen Metz und Straßburg auf und drang um so kühner auf diese Auslieferung, da es erklärte, es handle hier bloß im Sinn der deutschen Ehre und Sicherheit, es verlange von diesen zurückgegebenen Landschaften auch kein kleinstes Dorf. Es war wegen der Engländer nicht zu erlangen, die hier wie in andern Punkten auf Deutschlands Kosten die Großmütigen spielten.

Dies war und blieb die deutsche Klage, als im Herbst dieses Jahres 1815 alles abgeschlossen war und jeder wieder in sein Land zog. Deutschland hätte noch viel mehr zu klagen gehabt, wenn Klagen etwas Verlornes ersetzten und etwas Versäumtes einholten. Es war niemals und nirgends auf einem der Friedenskongresse von einem bestimmten, großen deutschen Kabinette, von einem wirklichen deutschen Minister ein Programm Deutschlands ausgegeben, wie fast alle die andern Völker dort Programme ihres Daseins, ihrer natürlichen Verhältnisse, Vorteile und Forderungen ausgaben. Nicht nur die Franzosen, auch die Verbündeten hatten von dem schönen, gebildeten, kunstreichen Lande der Franzosen, und daß ihr Staat zum Heil des übrigen Europas mächtig und stark sein und bleiben müsse, uns die Ohren voll geklungen; daß Deutschland eben als der Mittelpunkt des Weltteils, an welchem sich die wilden Wogen aller Völkerbewegungen und Weltaufruhre brechen müßten, stark und mächtig erhalten oder gemacht werden müsse, wer hat es ausgesprochen? Höchstens hatte man von einer Wiederherstellung der alten Zustände von 1790 gesprochen, welche, wenn man die Kraft und Macht des Widerstandes und das Glück der Sicherheit und die Ehre der Unabhängigkeit ins Auge faßte, eben nicht die fröhlichsten Erinnerungen und erbaulichsten Betrachtungen erwecken konnten. Man hätte besonders darauf größere Forderungen und Ansprüche für Deutschland mit Nachdruck begründen können, daß dieses große, in mehr als dreißig größere und kleinere Staaten verteilte und zerstückelte Land schon durch die Schwerfälligkeit und Langsamkeit seiner Bewegung und die Schwierigkeit der Vereinigung seiner Kräfte nimmer die Macht habe, welche seine natürlichen Hilfsmittel und die Menge und der kriegerische Sinn seiner tapfern Bewohner ihm sonst geben würden; daß dasselbe, dessen Einheit seit mehr als sechshundert Jahren nach und nach zerbröckelt sei, nimmer einen Reiz zu Angriffskriegen gegen die Nachbarn habe, wohl aber von der Lüsternheit und Habsucht derselben solchen Angriffen ausgesetzt sei; daß es als ein großes Friedensland zum Heile Europas von Gott in die Mitte gestellt wenigstens durch die Massenhaftigkeit seines Inhalts und Umfangs mit einigem Glanz der Furcht und Majestät angetan werden müsse. – Auch das sprachen die Fremden endlich noch als eine offenbare Verhöhnung unsers Namens aus, daß Deutschland durch seine Siege wenigstens in seinen vollen Besitzstand, wie er im Jahr 1790 gewesen, wiederhergestellt sei. Nein, das war nicht wahr! Eine Menge kleiner Besitzungen im Elsaß und in Lothringen, welche 1790 noch deutschen Fürsten und Baronen gehorchten, waren den Welschen überlassen, und vier Millionen Seelen hatte man ohne gehörigen Gegenkampf gegen Englands dumme Entwürfe den Holländern hingeworfen, die nimmer Deutsche sein wollen, obgleich sie es sind: die schönen burgundischen Lande und das große Bistum und Fürstentum Lüttich nebst mehreren Reichsabteien.

Ich war in der heiligen Rheinstadt, wie man halb im Ernst und halb im Scherz Köln wohl zu nennen pflegt, sehr fleißig und schriftstellerte auch, indem ich eine Zeitschrift unter dem Titel Der Wächter 3 Bde., Köln 1815–17. (D. H.) herausgab. In dieser Zeitschrift hatte ich eine Abhandlung geliefert des Namens: Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern im Sinn einer höheren, d. h. menschlichen Gesetzgebung; welches Wort ich im Jahr 1820 in Schleswig als ein besonderes Schriftchen habe wieder abdrucken und ausgehen lassen. Ich kehrte damit gleichsam wieder zu meinen politischen Anfängen zurück; denn für die Bauern hatte ich meinen ersten Auslauf getan, für sie meine ersten Sträuße ausgeteilt und zurückempfangen. Sie sind auch bis auf den heutigen Tag ein immer ernsterer Gegenstand meines Nachdenkens geworden und werden es von Tage zu Tage mehr, je weiter die Zeit in der Offenbarung ihrer Richtungen und in der Entwicklung ihrer Bildungen und Veränderungen vorschreitet. Wegen der Wichtigkeit der Sache, und weil ich notwendig andre Ansichten über die Zeit daran hängen muß, gehe ich hier etwas näher auf jenes Schriftchen ein und gebe, indem ich was die Forsten angeht nicht berühre, meine Gedanken über das Bauerwesen teils wörtlich teils im Auszuge, wie sie in jenem Büchlein enthalten sind.

 

Über die Bauern.

So sind wir durch unsern Wald gewandert und haben uns unter seinen Bäumen umgesehen und auf die Geister gelauscht, die um sie wehen und weben und von ihnen auf die Menschenkinder herabspielen. Wir kommen jetzt auf die zweite große Forst, die wir erhalten und, wo sie verwüstet ist, wiederhergestellt wünschten, auf die Forst, woraus zum Staatsbau die stärksten und tüchtigsten Stämme und woraus die Masten und Balken der Kraft gehauen werden müssen, nämlich auf die Bauern. Wir lassen uns nicht verdrießen, wenn viele sagen, daß wir immer auf derselben Leier klimpern, auch wenn wir närrisch oder wohl gar rasend genannt werden. Die Wahrheit ist ja selbst ein so närrisches und rasendes Ding, daß sie immer nur einen Schein und Klang hat und deswegen von vielen Leuten aus der sogenannten feinen Gesellschaft weggewiesen wird. Auch das soll uns nicht kümmern, daß man uns Bauernfreunde und für die Bauern parteiisch und gegen den Adel feindselig nennt. Weil ich für den Bauer schreibe und ihn verteidige, daraus folgt noch nicht, daß ich den Adel hasse; auch daraus folgt das nicht, weil ich mich hie und da wohl gegen Ansprüche des Adels erklärt habe, die mir ungebührlich dünken. Für den Bauer spreche ich, und haben vor mir viele gesprochen, weil er unmündig ist; für den Adel brauche ich nicht zu sprechen, weil er selbst Mundes genug hat, den er nicht schweigen läßt.

(Betrachtungen über Zeitalter, Länder, Klimate, Urzustände der Völker; dann wird fortgefahren:)

Aber jenseits der seligen Schuldlosigkeit und Unbefangenheit der Jugend der Völker, die sich so frei fühlt, weil sie von der Welt so wenig bedarf und begehrt, und jenseits der gemeinen Menschen, welchen dort alles Glück ausgeschüttet deucht, wo die wenigste Arbeit und der reichste Genuß ist, wird noch nach einer andern Freiheit gefragt, wodurch auch die Geister ihre Weide haben wollen; und dies ist eigentlich die Freiheit, worauf wir hier hinspielen: die politische Freiheit im höheren Sinn. Hätten wir so wenig verderbliche und zerstörende Leidenschaften und Bedürfnisse wie die Kinder, wäre die Natur auch überhaupt gegen die Menschen so liebreich und gütig, als die meisten Menschen es in der Regel doch gegen Kinder sind, so hätte das Menschengeschlecht von der Wiege bis zum Grabe lustig miteinander hinspielen und leben können, denn die kleinen Hader, die wohl einmal entstanden wären, hätten sich fast immer leicht und unblutig beilegen lassen. Dann wäre das, was wir in einem höheren Sinn unter dem Worte politische Freiheit verstehen, in einem Menschenkopfe nie zu einem Begriff geworden. Aber die Not der Natur, die Unbarmherzigkeit der Elemente, der Ungestüm und die Wildheit unserer Lüste und Begierden haben auf Erden frühe Unglückliche und Verbrecher, Tyrannen und Sklaven geschaffen, und die Menschen, der ewigen Unsicherheit und der unaufhörlichen Wechsel eines ungebundenen Zustandes müde, welchen einige die ursprüngliche Freiheit nennen, wo aber eines jeden Hand gegen die des andern aufgehoben ist, haben sich selbst Gesetze gegeben und sich mit vielen freiwilligen Banden gebunden, weil sie ein beschränktes Glück mit Sicherheit einer unsichern Ungebundenheit vorzogen. So sind die Völker einer selbstgemachten Notwendigkeit dienstbar geworden, wodurch den zu kühnen Verbrechen und zu frechen Leidenschaften die Bahn verengt werden sollte. Dieser Zwang, dessen ein vollkommneres Gestirn und vollkommnere Wesen freilich nicht bedurft hätten, hat zuerst den Begriff der Freiheit geboren. Das Wort Unschuld ist durch die Schuld und das Wort Freiheit durch den Dienst in die Sprachen der Menschen gekommen; um das Gesetz, um das, wodurch der Zwang bedingt ist, hat sich die Idee der Freiheit gesammelt und entwickelt.

Der Mensch, wenn er bis auf diesen Punkt der Entwickelung gekommen ist, wenn er die sogenannte ursprüngliche Freiheit bis hieher aufgegeben hat, beginnt nun das Gebiet abzustecken, in welchem er sich noch frei und ungehindert bewegen darf. Grauen vor Gewalt der Natur und vor der schlimmeren Gewalt seinesgleichen machte ihn dem Gesetze dienstbar. Da er nun das Gesetz freiwillig empfangen hat, wohl wissend, daß er eine große und schwere Last auf seinen Nacken nahm, so hat er sie nur aufgenommen, damit er von den Plagen jenes unbestimmten und wüsten Zustandes befreit würde, wo er ohne feste Übereinkunft mit seinesgleichen doch immer rechtlos und schutzlos und also unglücklich war; er hat seinen Stand und seine Stände jegliches an seinen Ort gestellt, jedem seinen Kreis und Umfang gemessen, aus welchen sie nicht ungestraft herausspringen dürfen. So hat er sein Recht und seine Richtschnur gesucht und gefunden. Fichte sagt ganz folgerichtig: Es gibt kein sogenanntes ursprüngliches Recht der Wilden und Ungebändigten, es gibt kein Recht vor dem Staat.

Da der Mensch den einzelnen Willen – ein hohes Gut, das er nur um höhere Güter aufgeben konnte – dreingegeben hat, so verlangt er unerbittlich und unabweislich, daß es keinen einzigen Willen gebe, der über die Übereinkunft hinaus oder gar gegen die Übereinkunft etwas vermöge. Er darf hier auch nicht die geringste Ausnahme zugestehen; denn was dem einen erlaubt und möglich wäre, müßte nach einem ganz gültigen Schlusse ja auch für Millionen erlaubt und möglich sein: wann der Damm erst für Bäche durchbrochen ist, wird er es auch für den Strom werden. Der dem Gesetz unterwürfige Mensch will demnach, daß alle dem Gesetze gehorchen sollen, daß der König wie der Bettler die Majestät desselben anerkennen und ihr gehorchen soll. In diese Majestät des Gesetzes setzt er die eigentliche Freiheit. Wo aber nur die geringste Ausnahme ist, wo gelehrt werden darf, daß der Herrscher über dem Gesetze ist, da trifft er das Gebiet der Sklaverei an, wie mannigfaltig auch die Abstufungen von dem Besseren zum Schlechteren seien. Nach hundert Zufälligkeiten, nach der verschiedenen Beschaffenheit des Landes und der besondern Eigentümlichkeit jedes Volkes werden die Gesetze selbst, welche Menschen sich geben, die verschiedensten sein, strenger oder milder, vollkommener oder unvollkommener; doch wird danach die Freiheit nicht gemessen, sondern nach dem allgemeinen Gehorsam, womit jedermann unter denselben gebunden ist. Und mit Recht halten die Menschen, welche sich auf Freiheit verstehen, den Staat besser und glücklicher, wo schlechten Gesetzen ohne Ausnahme gehorcht wird, als jene andern, wo Eigenmacht oder Mutwille gute Gesetze nur zuweilen überschreiten dürfen.

Der eigentliche Begriff politischer Freiheit ist also: Höchste und ausnahmslose Herrschaft des Gesetzes. Denn wo diese Herrschaft wirklich ist, kann der Bürger sein Leben so einrichten, daß er durch strengen Gehorsam nichts zu fürchten und sich vor keinem einzelnen Willen zu beugen hat, welche Beugung, selbst wenn sie innerhalb der Verbeugungen stehen bleibt, das bitterste Leid ist, welches einem stolzen und mutigen Herzen widerfahren kann. Außer dieser hohen politischen Freiheit spricht man häufig noch von einer höheren, von der sogenannten geistigen Freiheit, und auch über diese muß hier wenigstens einiges gewinkt werden.

Die Guten und Redlichen, wann sie klagen, daß es auf dieser unvollkommenen Erde nicht so ist, wie es nach dem der Menschenbrust von Anbeginn eingepflanzten Bilde der Gerechtigkeit sein sollte; wann sie klagen, daß Habsucht, Schmeichelei, Lüge und Sklavensinn oft alle Gesetze umgehen oder durchbrechen; kurz wann sie klagen, daß der Mut und die Freiheit tot und der Eigennutz und die Knechtschaft recht lebendig sind, werden von vielen mit der Antwort abgewiesen: Ihr klaget töricht. Wer kann dem Menschen die Freiheit nehmen? Die Freiheit nämlich, welche allein diesen Namen verdient, die geistige Freiheit? Freilich die Teilnahme an den Gesetzen und an der Gesetzgebung kann der Despotismus euch abschneiden, auch das Sprechen kann er euch teuer machen durch Zensuredikte und durch heimliche Späher, die mit dem Verdachte und der Anklage allenthalben lauschen, aber das Denken kann er euch nicht verbieten.

Auf diese oder auf eine ähnliche Weise hat man viele antworten gehört. Sie können mit einer solchen Antwort wohl die Person, aber nicht die Sache abfertigen; denn der gewöhnliche Spruch: Alles mag ein Tyrann den Menschen verbieten, nur nicht das Denken, dieses hat Gott freigelassen, hält nur bis zu einem gewissen Punkte Stich. Wir wissen, daß es bei dem sklavischesten Zustande der Gesellschaft einzelne große Wortklauber und Schriftgelehrte gegeben hat – solche sah man nach dem Untergange der griechischen Freiheit an den Despotenhöfen von Alexandria, Antiochia und Pergamus – aber das arme, unterdrückte Volk dachte nicht mehr mit, und deswegen fehlte den Rednern, Weltweisen, Gelehrten und Künstlern jene erhabene Einfalt und kühne Würde und Hoheit der Seele, welche sterbliche Werke mit dem Zeichen der Gottähnlichkeit stempeln. Deswegen ist auch keine geistige Freiheit im höhern Sinn, wo die politische Freiheit fehlt. So ist der Mensch einmal geboren, daß er äußern leiblichen Reiz haben muß, damit das innere Geistige in ihm lebendig werde und lebendig bleibe.

Also unsere Freiheit heißt Herrschaft des Gesetzes, damit ein würdiger Kampf sei für die Beschützung und Erhaltung des Gesetzes, damit alle durch die Teilnahme an dem öffentlichen Leben das Gesetz kennen und anerkennen, damit die Geister dadurch lebendig und frisch erhalten und gereizt werden zu jeder edlen Kühnheit und zu jedem schweren und unsterblichen Werke. Durch etwas Großes und Gemeinsames, was allen nahe liegt, müssen die Menschen zum Reden und zum Denken geweckt werden. Denn Reden und Denken ist eins, und wer das Sprechen verbietet, der verbietet auch das Denken, ja er verbietet das Reden; denn reden heißt mit Verstand und mit Gedanken sprechen. Die Lippe ist der Wetzstein des Geistes, über die Lippe muß der Gedanke oft hin und her laufen, damit er Glanz, Farbe und Gestalt gewinne. Ein im Innern verschlossener und durch Auflaurer und Späher zurückgescheuchter Gedanke ist eine Sonne und ein Blitz hinter düstern Wolken. Die Zunge muß gelöst werden, damit der Gedanke wärmen und leuchten könne; immer verschlossen erstarrt und erstirbt er allmählich. Der Tag bricht an, und der Mensch spricht. Dies ist so sehr ein Wort und eine Bedeutung, daß die ganze schöne Welt Gottes wüst, tot, dumm und stumm wird, wenn beide nicht mehr hervorbrechen dürfen. Denn die Sprache ist die geistige Sonne auf Erden und muß zuweilen auch der geistige Blitz sein.

Wir finden bei der Betrachtung dessen, was unter dem Worte Gleichheit verstanden und begriffen wird, daß die ursprüngliche Idee dieser Gleichheit dem menschlichen Gemüte so eingepflanzt ist, daß alle Menschen gleichen Genuß der Erde und der Freude haben müßten. So hat Gott dem Menschen sein Paradies gepflanzt, so sind die goldenen und saturnischen Zeitalter einst gewesen und später nur als Fabeln der Dichter geglaubt worden, jene Zeitalter, wo die Menschen ohne Krankheit und schwere Sorgen und Arbeiten jahrhundertelang fortlebten, wo die wilden Leidenschaften der Habsucht und Wollust noch nicht wüteten, wo freundliche Güte und Milde vor Hader bewahrte, wo kein Totschlag und kein Krieg war, und wo die Lebenden glaubten, daß die Gestorbenen, weil sie noch so rein und glücklich waren, unmittelbar zu den Sitzen der Götter aufstiegen und von ihnen herab als Engel und Schutzgeister den späteren, von jener Reinheit und Glückseligkeit immer mehr ausartenden Geschlechtern beiständen. Aber diese Gleichheit hat auf Erden nicht bewahrt werden können und ist auch nirgends mehr möglich zu machen. Für die Verständigen, welchen Narrheit und Verbrechen nicht gefallen, die aus so törichtem Streben folgen müßten als das Streben nach solcher Gleichheit (Radikalismus) sein würde, hat die Gleichheit endlich den Begriff bekommen, daß das Gesetz, der Schirmer und Strafer, alle gleich richten soll. Obgleich dies nun so ist und wegen der Verhältnisse, Elemente, Anlagen und Triebe der Natur und des Menschen nicht anders sein kann, so sind doch vom Anbeginn der Geschichte große und weise Männer gewesen, welche darauf gesonnen haben, durch eine strenge und feste Gesetzgebung die Gleichheit des Besitzes und der Freude den Sterblichen so zuzuteilen, daß der Unterschied des Glücks und der Glücksgüter der Bewohner eines Landes nicht zu ungeheuer würde. Sie haben wenigstens eine Annäherung zu jener ursprünglichen Gleichheit gesucht, die jetzt eine idealische Gleichheit scheint. Sie waren zu weise Männer, als daß sie nicht begriffen hätten, daß die Ordnung der Natur, die man auch die Ordnung der Notwendigkeit nennen könnte, sich nicht willkürlich verrücken lasse; aber sie meinten, es lassen sich gegen die Gewalt des Zufalls und gegen die menschliche Willkür, damit sie sich nicht zuviel erlauben, durch das Gesetz eherne und unzerbrechliche Riegel vorschieben, es lasse sich etwas setzen, wodurch Glück und Unglück gehindert würden, ein zu freches Würfelspiel mit den armen Sterblichen zu spielen: Die weisesten Völkerstifter und Gesetzgeber des Altertums haben ihre Staaten auf Ackergesetze gegründet. Das wußten sie, daß sie Natur und Glück nicht so binden konnten, daß der Geschwinde mit dem Lahmen, der Starke mit dem Schwachen, der Kluge mit dem Dummen, der Faule mit dem Fleißigen durchaus eine gleiche Bahn des Glücks laufen mußte; aber dahin haben sie gestrebt, und das haben sie zum Teil erreicht, daß wenigstens ein großer Kern ihres Volkes durch die Verfassung selbst in einem gewissen tüchtigen und mittelmäßigen Zustande des ungefähr gleichen Wohlstandes erhalten wurde. Sie wollten vor allen Dingen dem Unglück vorbeugen, wodurch die Tugend und Herrlichkeit der Staaten endlich unvermeidlich untergehen muß, daß nicht einige wenige durch Glück, Geschicklichkeit und Habsucht allen Landbesitz an sich rissen und die große Masse des Volks zu bloßen Knechten und Tagelöhnern dieser wenigen Reichen erniedrigt würde. Sie hatten hiebei zwei Dinge am meisten ins Auge gefaßt. Erstlich meinten sie – und welcher Verständige meint das nicht mit ihnen? – in den Klassen des Volks, die eine gesicherte, mittelmäßige Wohlhabenheit haben, werde Tugend und Redlichkeit, um derenwillen doch jeder Staat gegründet gedacht werden soll, am reinsten und treuesten erhalten; und zweitens wußten sie, das Vaterland könne keine mutigeren und zuverlässigeren Verteidiger haben als diejenigen, welche Arbeit und Tätigkeit nicht in Weichlichkeit versinken ließen, und welche mit ihrem Vermögen an dem Lande so festgewurzelt säßen, daß sie in Zeit der Gefahr es nicht wie Wechsler und Lombarden einpacken und an sicherere Orte tragen könnten.

Ein großer Mann ist hier vor allen zuerst zu nennen, nämlich der Träger des Alten Testaments, der Seher und Mann Gottes, Moses. Je mehr man das Werk seiner Gesetzgebung betrachtet, desto mehr muß man seine tiefe Weisheit und seinen alle Verhältnisse der Gesellschaft umfassenden Blick bewundern. Der Staat, den Moses stiftete, war eine Theokratie, aber sehr fern von der Unterdrückung und Sklaverei. Der weise Gesetzgeber hatte das Land berechnet, das von den Kindern Israel erobert und besetzt werden sollte, und hatte in dieser Berechnung jedem Stamme nach seiner Volkszahl sein Gebiet zugeteilt. Aber weil sein Entwurf nicht ganz ausgeführt wurde, weil einige Stämme zu frühe zum Besitz des ihrigen kamen und sich bald der Ruhe und Faulheit überließen und den andern, die ihr volles Erbteil noch nicht hatten, mit den Waffen in der Hand nicht dazu halfen, weil unter den verschiedenen Stämmen auch bald Eifersucht und Nebenbuhlerei einriß, und weil auf Josua nicht sogleich ein kriegerischer Feldhauptmann des Volks folgte – so haben Moses' große Gedanken und Entwürfe nimmer völlig zum Leben gelangen können, da der politische Staatsleib, worauf er bei seinem Entwurf gerechnet hatte, nimmer ganz fertig ward. Und deswegen ist der mosaische Staat früh zerspaltet, darauf wegen seiner Zwietracht, und weil er die Meeresküsten und den Libanon nach Moses' Plan nicht erobert und eingenommen hatte, in den Kriegen neidischer Nachbarn und mächtiger fremder Eroberer jahrhundertelang hin und her geworfen, darauf unterjocht und zinsbar und endlich bald nach dem Anfange unserer Zeitrechnung gänzlich ausgelöscht worden.

In dieser mosaischen Gesetzgebung war der Stamm der Leviten, zu welchem der Mann Gottes selbst gehörte, ein mit vielen Vorrechten begabter und gleichsam adliger Stamm. Aber das übrige Volk war nicht vergessen. Moses hatte das ganze Land stammweise eingeteilt, und jedem freien Obermann in jeder Familie war in jedem Stamm sein Los oder Erbe an Land zugeteilt worden. Dieses Los-Land war unveräußerliches Staatslehen und mußte bei der Familie, der es angewiesen war, von Geschlecht zu Geschlecht bleiben. Besonders aber lag das in dem Plane des Gesetzgebers, daß nicht mehrere Lose unter demselben Besitzer zusammenkommen und auf diese Weise eine zu große Ungleichheit des Landbesitzes entstehen sollte. Man kann dies alles in seinen Büchern von den Gesetzen und Ordnungen der verschiedenen Stände weiter nachlesen, vorzüglich aber ist das Buch Ruth darüber ein Kommentar mit stehenden Lettern. Wie sehr Moses' Gesetzgebung überhaupt die Freiheit begünstigte, beweist nichts mehr als sein treffliches Gesetz von dem Halljahre, welches je alle fünfzig Jahre alle verpfändeten Grundstücke dem alten Besitzer wiedergab, und jenes andere Gesetz, welches denjenigen, der einem andern seine persönliche Freiheit verpflichtet oder verkauft hatte, in jedem siebenten Jahre wieder zum eigenen Herrn seines Leibes machte.

Die Verfassung von Kreta und die, wie die Alten uns erzählen, nach ihr gemodelte lykurgische Verfassung Spartas waren gleichfalls auf strenger Einteilung der Grundstücke unter eine dem Staate angemessene Zahl freier Bürger gegründet. Und Sparta stand gewaltig in seiner rauhen und freilich nicht liebenswürdigen Tugend, bis Habsucht, Üppigkeit und Gesetzesbruch nach Agesilaus die alte Ordnung ganz durchbrachen. Auch Athen und mehrere Staaten Großgriechenlands hatten Gesetze, die sich diesen annäherten. Die Alten fürchteten überhaupt das Zusammenhäufen großer Güter und Besitzungen in wenigen Familien als der Tugend und Freiheit der Bürger gefährlich: denn wo wenige Männer mit ungeheurem Reichtum sind, findet man gewöhnlich eine Menge blutarmer Menschen nach der Regel: Die tiefsten Sümpfe unter den höchsten Bergen. Sie fürchteten mit Recht, es würde aus diesen ein Pöbel werden ohne Gefühl für Vaterland, Freiheit und Tugend, der weder fremden Angreifern noch einheimischen Vergewaltigern widerstehen könnte. Man kann ihnen hierin wohl nicht unrecht geben. Auch haben mit diesen Gesetzgebern oder vielmehr nach diesen Gesetzgebern die geistreichsten und edelsten Männer des Altertums, welche über Gesetze und Verfassungen geschrieben haben, allgemein den Grundsatz angenommen, daß der Staat, der wohl und gerecht geordnet und sicher gebaut heißen solle, gute Acker- und Feldgesetze haben müsse, d. h. solche, wo nicht zu große Grundstücke von einem einzigen besessen und mäßige Güter nicht in zu kleine Teile unter mehrere zerstückelt werden durften. Wie dieser große Gegenstand bei den Kämpfen zwischen den Patriziern und Plebejern in Rom weiland zur Sprache kam, und wie um die Verteilung der eroberten und dem Staate zinsbaren Ländereien oft blutig gestritten worden, und wie der Geiz der alten römischen Geschlechter, der sich das Meiste und Beste von diesen Staatsgütern mit eigenmächtiger Willkür zugeteilt hatte, die übrigen freien Bürger gar nicht zum Mitbesitz lassen wollte – darüber haben wir in Niebuhrs Römischer Geschichte durch die gründlichsten und lichtvollesten Untersuchungen zuerst Tag erhalten.

Bei den neueren Völkern finden wir die Verfassungen nirgends als ein fest ineinandergreifendes und aus der Idee großartig zusammengebautes und zusammengehängtes Kunstwerk gegründet, wie dies bei Moses, Lykurgus und mehreren großen Gesetzgebern des Altertums offenbar der Fall war. Bei uns ist es eben geworden, wie es hat werden können, viele möchten sagen, wie der Zufall es gewollt hat. Dies letzte sagen wir aber nicht, obgleich wir nicht leugnen können, daß die neueren Völker, auch nachdem sie bessere Einsicht erlangt hatten, sich mehr als recht vom Ungefähr haben treiben lassen. In die Gesetze und Verfassungen der letzten fünfzehnhundert Jahre hat eine gewaltige Macht mit hineingewirkt, welche den Alten fehlte, die milde und menschliche Majestät des Christentums, welches vieles ergänzt hat und bis diesen Tag ergänzt, was Unvollständiges und Unzusammenhängendes darin sein mag, und welche die Wüstheit und Grausamkeit aller habsüchtigen Triebe der menschlichen Natur im allgemeinen doch auf eine wundersame Weise gebrochen und gemildert hat. Wie diese himmlische und göttliche Kraft des Wortes von der Liebe und Barmherzigkeit gleichsam als ein unmittelbarer Hauch und Atem von dem Herrn die Empfindung der ganzen Welt durchdrungen und alles mit einem zarteren und geistigeren Leben und Streben beseelt und die trotzige und stolze Tugend der Heiden zu Sanftmut und Demut gebeugt und zugleich die meisten Ansichten und Verhältnisse des Lebens und Staates verändert hat – was soll ich hier weitläuftig erzählen, was wir alle wissen, und wovon wir auch ohne Wissen schon innerlich überzeugt sind? Ich wiederhole hier nur, was ich anderswo öfter schon gesagt habe, daß die Staaten des Altertums, wie trefflich auch ihr Grundbau sein mochte, deswegen nicht viele Jahrhunderte überdauern konnten, weil sie von Anfang an einen Todeskeim des Greuels und Verderbens in sich trugen, die Sklaverei, worauf als auf einem morschen Pfeiler die trotzige und oft grausame Freiheit der Freien mit ruhete. Durch dieses Grundübel gingen die meisten Staaten der Heidenzeit geschwinderen Schrittes zum Untergange, als sie getan haben würden, wenn sie diese unselige Beimischung nicht gehabt hätten. Das Christentum hat freilich selten einen so stolzen politischen Schein von sich gestrahlt als jenes Heidentum, aber es hat die Völker und Staaten mit sanfterer und fast immer mit sicherer Hand geführt, und, indem es die Leidenschaften und Triebe der Menschen bändigte und zügelte, hat es oft auch die zu reißende Bewegung, ich möchte sagen, den zu geschwinden Ablauf der Staatsmaschine aufgehalten.

Wie gesagt, die Verfassungen der neueren Staaten im Gegensatz gegen diejenigen Staaten des Altertums, deren Geschichte uns besonders anziehend und lehrreich ist, haben sich mehr so von selbst gemacht, was man gewöhnlich sich so von selbst machen nennt, als daß sie nach dem festen und in der Zusammensetzung seiner Teile genau abgemessenen Entwurf eines Gesetzgebers gemacht wären. Bei einem solchen Sichselbstmachen zeigen die Völker am besten, was sie wert sind, und was von ursprünglicher Anlage zur Freiheit und Gesetzlichkeit in ihnen ist. Unsre Vorfahren, die Germanen, offenbaren sich da von den Anfängen ihrer bekannten Geschichte als ein edles und freies Volk und als ein solches, das sich auch auf Einrichtungen für die Erhaltung der Freiheit verstand. Es geht ein gewisser Grundtypus für die Feld- und Ackerbauverhältnisse durch die Gesetzgebungen und Gebräuche der germanischen Stämme, welcher die freien Männer im Besitz ihrer Güter in einem gewissen Wohlstande zu bewahren mit Weisheit und Gerechtigkeit berechnet schien. Doch wurden allerdings auch unterworfene und leibeigene Leute beim Ackerbau gebraucht. In ruhigen Sitzen bewohnten sie das Land nach einem gewissen Gleichmaße des Ranges und der Bedürfnisse unter sich geteilt; doch so, daß alle den Fürsten und Vornehmsten, welchen sie im Kriege folgten, Ehrengeschenke gaben, und daß die Leibeigenen gegen Abgaben von Vieh und Getreide an die Freien Zinshöfe bewohnten, deren Grund nicht ihnen gehörte. Tacitus sagt uns ausdrücklich im 26. Kapitel seines Büchleins über Germanien, daß sie, wenn sie neue Stücke Land unter den Pflug nahmen, nach der Kopfzahl der Ackersleute und nach der Würde teilten Dies erklärt sich aus dem noch bestehenden Brauch unserer Tage, wenn, wo Markenverfassung herrschte oder eine große Dorf- oder Stadtallmend war, Stücke wüster Heiden oder Gemeinweiden unter den Pflug genommen werden sollten, diese nach der Würde (d. h. nach dem kleineren oder größeren Feldmaße, welches jeder in der Gemarkung oder Allmend besaß) in kleineren oder größeren Losen zugemessen wurden.. So ward bis zu einem gewissen Grade für eine billige Gleichheit des Besitzes gesorgt.

Auf die Weise, wie sie es daheim im eigenen Lande hielten, wann neues Ackerland unter Dorfschaften oder Gemeinden zu verteilen und anzuweisen war, hielten sie es späterhin auch, als sie im fünften und sechsten Jahrhundert als Eroberer über die Donau und den Rhein gegen Süden und Westen oder auf Schiffen zu den Inseln zogen. Die Eroberer teilten die mit dem Schwert gewonnenen Länder und die Bewohner derselben unter sich, so daß von dem Fürsten bis zu dem untersten Freien, der ihm gefolgt war, jeder nach dem Maße seiner Ansprüche oder Bedürfnisse sein gebührliches Los erhielt. Diese Germanen aber arteten nun bald aus, weil sie in den alten Einwohnern der eroberten Länder zuviele und zu verschmitzte und verdorbene Sklaven bekamen. Wie das Gemüt dadurch verdorben ward, verlor auch die Freiheit ihre Kraft, die ohne Tugend nie besteht, und bald entwickelte sich eine eigentümliche Art eines unfreien Zustandes, wohin allmählich viele der Freien hinabgezogen wurden, und welcher von manchen Knechtschaft genannt worden ist. Dieser in vielen Abstufungen und oft mit den seltsamsten Verschiedenheiten ineinander verzweigte und verflochtene Zustand einer vielfältig gebundenen Unfreiheit hat den Namen Lehnwesen bekommen, auch wohl Vasallenwesen.

In dem eigentlichen Germanien, in dem Lande, welches wir jetzt Deutschland nennen, hatte sich in den Gegenden, wo fremde Völker entweder gar nicht oder doch nur eine gar kurze Zeit gehaust hatten, jene Einrichtung am besten erhalten, welche ursprüngliches Gefühl von Recht und natürliche Billigkeit bei der Verteilung der Ländereien gemacht hatten. Diese glücklichen Gegenden waren die Mitte der deutschen Lande und der Westen zwischen dem Rhein und der Elbe, jener glänzende Schauplatz der gewaltigen Römerkriege, aus welchen unsre Altvordern so siegreich geschieden waren. Was von Germanien jenseits der Elbe nordöstlich und jenseits der Elbe und des Fichtelberges östlich liegt, war von Wenden Wend, Wand, Wattn: Wasser, See In vielen Sprachen; daher Vandali, Wenedi, Weneti in Norddeutschland, am Adriatischen Meere, an den Küsten Galliens. (Slawen an der Küste) und Slawen sehr angefressen und in seinen früheren Verhältnissen zerrüttet. Was über der Donau, zwischen Donau, Alpen und Adriatischem Meer lag, war zuerst von den Römern, dann von Slawen, Awaren, Magyaren hart mitgenommen und zerrüttet worden. Auch ist in den Ländern, wo die Slawen jahrhundertelang gehaust haben, und wo zum Teil noch bedeutende Reste von ihnen sitzen, die Freiheit der kleinen und mittleren Grundbesitzer nimmer wieder geworden, was die frühere germanische gewesen. Wenige kleine Freie sind dort übrig geblieben oder haben sich dort später wieder erhoben; die meisten Bauern und bäuerlichen Menschen schmachteten da bis auf die letzten Zeiten entweder in einer armseligen Abhängigkeit oder gar in einer traurigen Leibeigenschaft – so sehr hatte der Sinn und die Art eines fremden Volks das Germanische zerstört oder verschlechtert. Die Länder, worauf ich hindeute, sind Krain, ein Teil von Steiermark, Kärnten und Österreich, Mähren, Böhmen, Schlesien, die Lausitzen, die Marken jenseits der Elbe, Pommern und Mecklenburg.

Aber auch jene glücklicheren Gegenden Deutschlands in der Mitte und in dem Westen des Vaterlandes, welche ich vorher genannt habe, jene, welche nicht von fremdartigen Völkern überschwemmt worden, und welche keine Fremden zu unterjochen gehabt haben, konnten sich des Geistes der Verschlechterung und Verschlimmerung, des Geistes des Übels, nicht erwehren, welcher von den Nachkommen der alten ausgewanderten Germanen aus den südlichen von ihnen eingenommenen und germanisierten Ländern auf sie zurückwirkte. Hier müssen vor allen andern die Franken genannt werden, welche, nachdem sie Gallien erobert, die Westgoten fast ganz über die Pyrenäen getrieben und das Reich der Burgunder zerstört und sich unterworfen hatten, auch die alten Brüdervölker jenseits des Rheins ihre Macht fühlen ließen. Unter dem mächtigsten Frankenkönig aus dem Hause Pipins von Heristall, unter Karl dem Großen, wurde das letzte unabhängige Germanenvolk, das große und mächtige Volk der Sachsen, nach einem dreißigjährigen, blutigen Kampf mit dem weiten Frankenreiche verbunden. Zwar lösten sich nach Karls Tode die straffgezogenen und straffgehaltenen Zügel der Herrschaft unter seinen schwachen Nachkommen, die noch ein Jahrhundert nach ihm in Deutschland regierten, auch löste sich Deutschland (das Land diesseits der Alpen, Ardennen und Vogesen) selbst von dem zu weiten Frankenreiche und ward ein eigner Staat für sich; aber seine Schicksale die nächsten anderthalb Jahrhunderte waren unlustig unter schwachen und ohnmächtigen Herrschern und unter Einfällen und Verheerungen wilder und roher Völker, welche von Osten und Norden es zu erschüttern und verwüsten kamen. Und so viel hatten in ein paar Jahrhunderten der Verbindung die Art und Einrichtung des Frankenstaates und Befehl und Beispiel gewirkt, nebst neuen Weltverhältnissen und veränderter Staats- und Kriegsordnung, bei der großen Not der Zeiten und den langen und entfernten Feldzügen, daß die Freiheit der kleinen und mittleren Grundbesitzer, die man, wie man will, freie Bauern oder kleine Edelleute nennen kann, und worauf Germaniens alte Freiheit und Wehrhaftigkeit gegründet gestanden hatte, mehr und mehr unterdrückt und gebunden ward. Es hatte sich das fränkische Lehnwesen eingeschlichen, wenige kleine Männer waren freigeblieben zu einer Zeit, wo soviele Mächtige unfrei werden mußten; eine mehr oder weniger fesselnde und drückende Abhängigkeit oder Hörigkeit, die von der schlimmsten Leibeigenschaft bis zur leidlichen Pflichtigkeit hundert verschiedene Stufen, Arten und Namen hatte, umfaßte die Enkel des Volkes, dessen Sendboten, wie einige dafür halten, jenem Alexander von Mazedonien gesagt hatten, daß es sich nur fürchte, wenn der Himmel einfalle.

Also Beispiel fränkischer Ordnung und romanisierter Gallier, Not und Krieg und auch Brauch und Gewohnheit flochten und nieteten dieses wunderliche Wesen zusammen. Gewiß sind manche Herrenhöfe oder sogenannte Oberhöfe, wo die Unterworfenen später Dienst leisten, gewisse Abgaben bezahlen und Recht suchen mußten, früher nur Mittelpunkte der Versammlungen freier Männer in ihren Feld- und Gemeindeangelegenheiten gewesen. Die Freien trugen für die Zeit, wo diese Versammlungen bestanden, Lebensmittel (Butter, Käse, Schinken, Würste, Hühner, Eier usw.) dahin zusammen für die gemeinsamen Gelage und Ausrichtungen. Was auf diese Weise ganz freiwillig und willkürlich gewesen, ward durch Gewohnheit im Laufe des Jahrhunderts Schuldigkeit: aus dem Besitzer eines solchen Hofes ist endlich ein Gerichts- und Oberherr geworden. Wir finden die Andeutung, daß es mit manchen Oberhöfen bei den westfälischen Sachsen sich wohl so gemacht haben mag, in dem englischen Worte Landlord, welches zugleich einen Gutsherrn und einen Gastwirt auf dem Lande bezeichnet. Auch in Schweden sind noch heute in einigen Landschaften dieselben Höfe Landgastwirts- und Postwirts- und Landgerichtshöfe.

Mehrere Jahrhunderte lag der größere Teil der kleinen Landbewohner, die Bauern, tief in Abhängigkeit versunken und an manchen Orten des Vaterlandes in unwürdiger und jammervoller Sklaverei. Diese Unterdrückten, diese armen Leute, wie die Rechtlosen genannt wurden, waren nicht bloß Abkömmlinge jener Leibeigenen, die schon zu Cäsars und Tacitus' Zeiten in Germanien bestanden, sondern es waren auch die Enkel solcher Männer darunter, die unter Ariovist, Arminius und Wittekind als die Freiesten und Besten gegen die Knechtschaft gefochten hatten. Ihre schlimmste Zeit war die vom neunten bis zum zwölften Jahrhundert. Seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts wirkten viele Weltverhältnisse und Begebenheiten zur Milderung ihres Joches; viele arbeiteten sich in den folgenden Jahrhunderten wieder zu einem leidlichen und menschlicheren Zustand durch; doch hingen die meisten bis ins neunzehnte Jahrhundert, in dieses laufende Jahrhundert, hinein noch von mancherlei Banden des Lehnwesens umstrickt. Die letzten Jahrzehnte haben diese Bande in den meisten Gegenden des Vaterlandes nicht eben sanft aufgelöst sondern gewaltsam zerrissen; es gibt jetzt nicht viele der Lande mehr, wo das Lehnwesen noch in seiner Fülle blüht.

Man sagt und man liest in hundert Büchern, das wunderliche und vielgestaltige und schwerbeschreibliche Ding, welches man später Lehnwesen nannte, sei eine ganz natürliche Entwickelung gewesen aus den Keimen, die in der ältesten deutschen Verfassung lagen, nichts anderes als eine weitere Ausbildung des Gefolges, wo ein tapferer Fürst oder Edeling sich durch seine Großtaten eine Menge kampflustiger Freien nachzog, welche Schirm, Ehre und Beute bei ihm suchten, und deren Enkel späterhin ganz natürlich seine Vasallen und Mannen wurden. So weit läßt es sich allerdings erklären; aber wie ein solches Verhältnis oder wie nur das Beispiel oder Gleichbild eines solchen Verhältnisses in späteren Zeiten die Menschen, welche weiland frei waren, fast bis zur allgemeinen und schändlichen Knechtschaft herabdrücken und herabwürdigen konnte oder vielmehr durfte, das begreift man daraus wahrlich nicht, und da man es nicht begreift, so hat man recht, es nicht zu glauben, bis darüber bessere Beweise beigebracht werden, als die sind, welche man gewöhnlich dafür anführt. Denn ein solches Gefolg wie das von Tacitus beschriebene findet sich fast bei allen nichtsklavischen Völkern der Erde, wenn sie ungefähr auf der Stufe der menschlichen und politischen Bildung stehen, worauf unsre Vorfahren der ersten christlichen Jahrhunderte standen. Ich muß hingegen nach meiner geschichtlichen Ansicht durchaus behaupten, daß das Lehnwesen, welches in seinen Anfängen ein arges Unwesen und auch in unserer Zeit eben noch kein liebenswürdiges Wesen gewesen ist, sich aus der Mischung des Germanischen und Romanischen gebildet hat. Frankreich, Italien, Hispanien – das sind die Länder, wo es großgewiegt worden. Von dorther ist es uns und andern germanischen Völkern als ein Übel eingeimpft worden. Ich führe meinen Beweis.

Schweden und Norwegen sind echte germanische Länder, die Schweden und Normänner sind echte Germanen, wenn man einige hie und da zerstreute Finnen ausnimmt, die aber in der Masse der beiden Völker ein unbedeutendstes Teilchen ausmachen. Die Schweden und Normänner haben in früherer Zeit auch den germanischen Comitatus gehabt zu Wasser und zu Lande: tapfere und freie Männer hatten sich dem Befehle tapferer Führer in allen Gefahren auf Not und Tod untergestellt; große Tugend, Klugheit und Herrscherkraft haben die Menschen hier gezogen, wie sie dieselben in der ganzen Welt ziehen; so weit ist an den nordischen Fjäll und am Mälare und an der gotischen Elbe der Germane seinem Bruder an der Weser und am Rhein gleich gewesen. Aber Schweden und Norwegen haben bis auf diesen Tag nur einzelne dünne, aus der Fremde hergebrachte Spuren vom Lehnwesen gehabt. Diese Länder sind sehr lange in der echten germanischen Art und Weise geblieben. Die Grundstücke waren unter freie Männer zu gleichem Recht verteilt und von freien Männern bebaut; Leibeigene, sogenannte der Erdscholle Angewachsene und Angefesselte, welche das Land bebauten, hat es dort nicht gegeben, wenn sie gleich in frühesten Zeiten eigentliche Haussklaven auch wohl mitunter bei der Feldbestellung mitgebraucht haben mögen. Bauern, die auf Adels- oder Krongütern wohnten und in Geld oder in Erzeugnissen des Bodens oder in Diensten ihren Zins abtrugen, sind von jeher bis auf diesen Tag als freie Pächter angesehen, die nach aufgekündigtem Vertrage ziehen können, wohin sie wollen. Freilich haben Schwedens Könige seit Magnus Scheunenschloß, der am Ausgange des dreizehnten Jahrhunderts lebte, eine Art Adel zu schaffen angefangen nach dem Muster des deutschen Adels, wovon seit jener Zeit viele als Söldner nach dem Norden kamen, und spätere Herrscher haben diesen Adel weiter ausgestempelt, auch den adligen Hauptgütern oder Herrensitzen zum Nachteile der kleinen Freien gewisse Vorrechte und Steuerfreiheiten bewilligt; aber nimmer hat der schwedische Adel leibeigene Bauern oder abhängige, hörige Lehnbauern unter sich gehabt, und ein guter Teil jener Vorrechte und Steuerfreiheiten, die er sich gegen Schwedens Gesetze unter schwachen Regenten erschlichen hatte, hat er in dem letzten halben Jahrhundert durchstreichen lassen müssen. Ich kehre immer mit einer frohen Erinnerung nach dem Norden zurück, wenn ich über die künftigen Schicksale der Völker und über das Glück oder Unglück der Länder nachdenke, welche durch die verschiedenen Verhältnisse der Stände und Klassen zueinander und, wie mir deucht, recht sehr durch die gehörige Verteilung des Grundes und Bodens bestimmt werden. Schweden und Norwegen gehören in dieser Beziehung zu den glücklichsten Ländern Europas, wo die uralten germanischen Bauern, die freien Männer, welche sich nicht schlechter hielten als die Edlen und, weil sie frei waren, Edle waren und blieben, noch in zahlreicher Menge in glücklicher und zufriedener Mittelmäßigkeit nebeneinander auf mäßigen Gütern wohnen und die menschlichen Tugenden in ihrer Einfalt und Echtheit pflegen und erhalten. Wenn weise Gesetze, damit Willkür und Habsucht nicht auch hier zu ihrer Zeit wüten und zerstören, einmal befestigen, was Glück und Tugend des Volks Jahrtausende erhalten haben, eine Verteilung des Grundbesitzes in den meisten Landschaften, worauf Familien sich in Rechtschaffenheit und Ehrbarkeit behaupten können, so mögen diese Länder kommenden Zeiten getrost entgegengehen.

Dänemark liegt Deutschland näher. Auch seine stolze Bauernfreiheit war seit dem zwölften, dreizehnten Jahrhundert größtenteils verschwunden; nachher hat es wie Deutschland lange einen fast unterdrückten Bauernstand und eine fast sklavische Leibeigenschaft gehabt. Dieses Unglück hatte es über den Sund getragen in die Landschaften, welche es einst von Schweden abgerissen beherrschte. Noch sind in Schonen Spuren genug, daß der Adel dort einst mehr Herr sein durfte, und der Bauer mehr Knecht sein mußte, als dies je in Schweden stattfand. Weil aber der Bauer in Schweden und Norwegen nie als ein von Natur zum Dienen geborner Mensch angesehen sondern immer als ein freier Mann geehrt worden ist, so wundert sich in den Ländern niemand, wenn eines Bauers Sohn Minister, Feldherr oder Landshauptmann heißt; selbst in der Periode Schwedens, wo der Adel über die übrigen Stände fast alle Gewalt an sich gerissen hatte, von dem Jahre 1720 bis zum Jahre 1772, gab es Reichsräte und Herrlichkeiten, deren Väter Bauern gewesen. Wieviele würden in Deutschland vor Erstaunen außer sich sein und glauben, der Jüngste Tag sei da, wenn solches oft erlebt würde!

England ist ein zweiter großer Beweis. Es hielt sich in seiner eigentümlichen deutschen oder sächsischen Freiheit und Unabhängigkeit der kleineren Grundbesitzer und Bauern bis auf die zweite Hälfte des elften Jahrhunderts, bis auf Wilhelm von der Normandie, den Eroberer. Ich lege hierauf ein großes Gewicht. Gewöhnlich behauptet man, mit der Entwickelung der Verfassung und der Verfeinerung des Lebens habe sich das Lehnwesen aus dem alten germanischen Gefolge ohne weiteres Zutun wie von selbst ausbilden müssen. Nun kann man nachweisen, daß Britannien schon im siebenten, achten Jahrhundert in Hinsicht der Verfassung, der Sittenverfeinerung, der Religion und Gelehrsamkeit wenigstens so gebildet war als Deutschland im neunten und zehnten Jahrhundert, und doch findet sich dort damals noch nichts vom Lehnwesen, sondern wenige adlige Männer wohnten unter dem allgemeinen Volksgesetze, welches König Alfred im neunten Jahrhundert neu sammelte und ordnete, mit einer Menge kleiner und mittlerer Freien zusammen, die auf ihren Ländereien so sehr Herren waren als jene auf den ihrigen; von einem Lehnbande, welches später häufig ein Lehnstrick ward, ist in der englischen Geschichte vor Wilhelm von der Normandie auch keine Spur, sondern die freien Sachsen und Angeln, die nach der Mitte des fünften Jahrhunderts in Britannien eingedrungen waren, hatten das eroberte Land so verteilt und bewohnten es unter denselben Verhältnissen, unter welchen sie weiland an den jenseitigen Küsten Germaniens und um die Ems, Weser und Elbe gewohnt hatten. Die Normannen, welche aus einem Lande stammten, wo die größtmögliche persönliche Freiheit und Gleichheit herrschte, hatten in der Landschaft, die sie an der Nordküste Frankreichs eingenommen, bald die nordische Freiheit verloren und durch das Beispiel der benachbarten Franken, ihrer Besiegten, verführt, die Knechtschaft des Lehnwesens angenommen. Wilhelm der Normann, als er das große Unternehmen gegen England zurüstete, begriff leicht, daß es den Kräften, die er in seinem Lande aufbieten konnte, weit überlegen war. Er machte es wie alle Eroberer, er lud eine Menge Waghälse und Abenteurer auf die Hoffnung der Beute und der Länder ein, die er ihnen auf der schönen Insel zeigte; und solche Abenteurer strömten in Scharen herbei und schwellten sein Heer aus Frankreich, Flandern, Brabant und allen Nachbarlanden, zu welchen der Ruf des großen Zuges gelangen konnte. Wilhelm gewann im Jahr 1066 die Schlacht bei Hastings und behandelte England wie ein erobertes Land und die Engländer wie seine Sklaven. Er mußte denen, die ihn zu einem so mächtigen Könige gemacht hatten, sein Versprechen halten und Land und Leute unter sie verteilen. Diese Epoche ist der Anfang einer drückenden Lehnherrschaft in England. Das freigesinnte Volk der Angeln, Sachsen und Friesen verstand wohl, sich in den folgenden Jahrhunderten von dem Druck des königlichen Despotismus zu befreien und auch den aristokratischen Druck der Herren und Ritter etwas zu lüften, aber jener herrliche Zustand der früheren Zeit, wo Dreiviertel aller Grundstücke in England mittelmäßigen Freien gehörten, jener Schweden und Norwegen ähnliche Zustand, ist in England nimmer wieder hergestellt. Der einmal zerstörte freie Bauerstand hat in der Folge seine Zahl und also seine alte Bedeutsamkeit und Wichtigkeit im Staate nie wiedergewonnen. Die Kirche, die Reichen und der hohe Adel besitzen jetzt fast alle Grundstücke in England.

Man könnte hiebei auch an Schottland denken. Der Süden Schottlands bis an das Hochgebirge sowie ein Teil der nördlichsten gegen Schottlands Grenzen sich streckenden Landschaften Englands ist in den stürmischen Jahrhunderten, wo die nordischen Wikingar, die auch wohl Seeräuber heißen, ihre Züge gegen Westen und Süden machten, nach und nach von Normännern (Männer aus Norwegen, Dänemark und Schweden) besetzt und bevölkert worden, die freilich mit Nachkommen der Sachsen vielfach gemischt wohnten. Dies wissen wir aus der Geschichte, und wenn wir es nicht aus der Geschichte wüßten, so sind davon bis auf den heutigen Tag noch Spuren und Denkmäler genug in Grabhügeln, Sagen, Sitten, Art und Sprache der Einwohner; und das sprechendste und unzerstörbarste Zeugnis und Denkmal dafür finden wir in der Dichtkunst dieser Gegenden, in den Romanzen und Balladen des Mittelalters, worin ein von dem südbritannischen ganz verschiedener hochnordischer Geist weht. Diese Gegend ward, wie die Normandie von Frankreich, von dem nahen England zur Verähnlichung in Sprache, Sitten und Einrichtungen hingezogen; es entstand hier auch durch die Nachbarschaft und das Beispiel und die Stammverwandtschaft fast ganz dasselbe Lehnwesen, welches die französischen Normannen nach England gebracht hatten. In Nordschottland, besonders in dem nordwestlichen Teil, dessen meiste Bewohner gälischen Stammes sind, bestand ein patriarchalisches oberherrliches Wesen der Abhängigkeit, das nicht wie das Lehnwesen durch bestimmte Formen und Gesetze sondern durch Herkommen und Sitte getragen ward; bei mildem Charakter des Oberherrn vielleicht der Freiheit nahe, bei hartem Gemüte desselben wenig von Knechtschaft verschieden; nur daß der rauhe und strenge Himmel, der die Leiber stählt, die Unterworfenen nicht so elendig und nichtswürdig werden ließ, wie jeder Sklave in weicheren Klimaten notwendig werden muß. Wir werden dieses Verhältnis weiter unten noch berühren.

Uns deucht es also die höchste, selbst durch die Geschichte nachgewiesene Wahrscheinlichkeit, daß das Lehnwesen aus den Resten alter Knechtschaft hervorgegangen ist, welche die Franken, Langobarden, Sueven und Westgoten in den von ihnen eroberten und germanisierten Ländern fanden, in welchen sie allmählich neue Staaten ausbildeten. Und nun wollen wir noch etwas aussprechen, was ganz in das Gebiet dieser unserer politischen Fragen und Untersuchungen fällt: die Römer haben in jene Lande nicht bloß die Knechtschaft gebracht, sie haben sie dort schon gefunden. Bei den Galliern wenigstens bestand eine traurige und drückende Lehnknechtschaft, als sie von den Römern bezwungen wurden. Es gab bei ihnen damals nur Fürsten und Adel und Halbfreie und Sklaven; volle Freie, ein starker und unbezwinglicher Kern des Volkes, waren nicht mehr da. Auch in Spanien scheint ein ähnlicher Zustand gewesen zu sein, als nach dem zweiten Punischen Kriege die Römer anfingen, diejenigen zu Sklaven zu machen, welche sie vorher Bundesgenossen genannt hatten. Fürsten, Adel und Volk waren durch eine Art trauriges Lehnwesen zerspaltet und konnten keine gemeinsame Kraft bilden. Es fehlte jenen Ländern der Kern eines freien Mittelstandes, ohne welchen kein Land wirkliche Stärke hat; darum wurden sie so leicht die Beute der Römer. Sie waren damals ungefähr in dem Zustande, worin die Franzosen und Deutschen im neunten und zehnten Jahrhundert standen, als sie von Slawen, Normännern und Magyaren überritten und geplündert wurden; ihre Mannskraft, ihre große Wehrmannschaft war zerstört oder zerstückelt. Da mußten die Enkel der Männer, die 80 000, ja 100 000 Mann der kriegsgeübtesten Römerheere aus dem Felde geschlagen hatten, sich von 15 000 und 20 000 Normännern, ihren Stammgenossen, ungestraft verheeren und ausplündern lassen, weil diese noch das waren, was die Ahnherren weiland von jenen, freie und auf ihre Freiheit stolze und zuversichtliche Männer. Wir hören, wie Cäsar dieses gallische Verhältnis zwischen dem Adel und den sogenannten Freien beschreibt, und wir müßten blind sein, wenn wir darin nicht den Zustand erblicken wollten, wie er sich im sechsten, siebenten Jahrhundert in Frankreich und im achten, neunten Jahrhundert in Deutschland von der alten Freiheit zur Lehnsabhängigkeit entwickelt hat. So lautet es bei ihm Buch 6, Kap. 13 und 15:

»In ganz Gallien sind zwei Menschenklassen, welche einiges Ansehen und Ehre genießen, nämlich die Druiden und die Ritter (Priester und Adel). Denn das Volk ( plebs) wird fast wie Sklaven geachtet; es unternimmt durch sich nichts und wird zu keiner Versammlung gezogen. Sehr viele, wann sie von Schulden oder von der Größe der Auflagen oder von dem Übermut der Mächtigen bedrängt werden, geben sich den Adligen in die Knechtschaft; diesen stehen gegen sie alle dieselben Rechte zu wie den Herren gegen die Sklaven. – Die Ritter, wann Aufforderung dazu oder irgend ein Krieg eintritt (was vor Cäsars Ankunft fast alljährlich zu geschehen pflegte, daß sie einander in Angriffs- oder Verteidigungskriegen befehdeten), tummeln sich alle im Kriege um. Und wie jeglicher durch Geschlecht und Reichtum der stattlichste ist, hat er die meisten Ambakten (Dienstleute) und Schützlinge um sich.«

In diesen wenigen Worten liest man die Geschichte der Art und die Entstehung der Lehnsabhängigkeit, man liest, durch welche Umstände freie Männer mehr oder weniger Knechte werden. Das kann man bestimmt sagen, hätte Germanien im ersten Jahrhundert der Geburt unsers Erlösers eine Verfassung gehabt, wie es sie später im neunten und zehnten Jahrhundert hatte, Männer wie Drusus, Tiberius und Germanikus würden es von dem Rhein und der Donau bis an die Ostsee und jenseits der Karpathen leicht besiegt haben; wir würden eine andre europäische Geschichte haben.

Das fällt einem bei diesem Hinundherschweifen auf dem unendlichen und unergründlichen Meere der Völker und Jahrhunderte und ihrer Begebenheiten und Schicksale gleichsam von selbst in die Hände, daß von allen germanischen Volksstämmen die Sachsen und die den Sachsen verwandtesten am festesten und hartnäckigsten an der Freiheit gehalten und diese Freiheit in verständigen und weisen Einrichtungen entwickelt und ausgebaut haben. Ich nenne nur die Kriege gegen Augustus und Tiberius im Anfange unserer Zeitrechnung, welche größtenteils von den Völkern geführt wurden, die sich später Sachsen nannten; ich nenne nur solche, die durch wirkliche Abstammung und durch die Sprachähnlichkeit sich als ihre Blutsfreunde beurkunden, die Niederländer, die Friesen, die Engländer, Schweden, Norweger, Ditmarsen, Siebenbürgen – welche alle sich von jeher durch Streben zu Freiheit und Gesetzlichkeit ausgezeichnet haben. Ich bemerke bei dieser einfachen Angabe jedoch, daß ich hier ununtersucht lassen will, wieviel Landesbeschaffenheit, Örtlichkeit und Himmelstrich zur Hervorbringung dieser merkwürdigen und großartigen Erscheinung bei diesem Stamme und bei seinen verwandten Stämmen mitgewirkt haben können. Auch das muß ich schließlich noch andeuten, daß sich in wenigen Landschaften des Vaterlandes so viele und so große Bauerschaften erhalten haben als in dem rechten Kern des Sachsenlandes, in Westfalen, welche zugleich in ihrer Bauart und in ihrem Wesen uns oft jenes älteste Bild vorzustellen scheinen, welches Tacitus vor siebzehnhundert Jahren von unsern Vorfahren aufgestellt hat.

Wir sind auf diesem Gebiete auf manchen Nebenwegen und Fußpfaden bisher hin und her geirrt, ehe wir zu der breiten, großen Straße gelangten, wohin wir eigentlich wollten. Jetzt sind wir darauf, und nun können wir kurz und gerade darauf fortgehen.

Ich weiß, es wird nicht an solchen fehlen, die mit einer gewissen Erbitterung sagen werden, ich sei ein Feind des Adels und des Lehnwesens insgemein und habe es durch diese Darstellung von neuem bewiesen. Ich muß mir das gefallen lassen. Ich will klar bekennen, daß mir das Lehnwesen kein erfreulicher Zustand der Menschen deucht, daß ich mir viel bessere Zustände der bürgerlichen Gesellschaft denken kann, daß ich selbst bei unsern Stammverwandten, den Schweden und Normännern, in Epochen der Entwicklung, die den unsrigen ähnlich waren, mit Freuden diesen Zustand nicht gefunden habe. Aber persönliche Erbitterung spricht hierin gar nicht sondern bloß das natürliche Menschengefühl, daß ein Zustand, der durch Gesetze verteidigt wird, glücklicher ist als derjenige, den fremde Willkür verschlimmern oder verbessern darf. Wie könnte ich auch ergrimmen über etwas, das sich in der Geschichte der meisten Völker findet, vorzüglich in den Zeiten, wo die politische Gesellschaft und die verschiedenen Klassen des Volks zwischen alter Roheit und neuer Bildung und Entwickelung hin und her schwanken? Aber wie sollte ich loben, was tausend Mißbräuche und Frevel in sich getragen hat und in sich trägt, und was in einer Zeit, wo jeder von dem Gesetze sein billiges und gleiches Recht verlangt, nicht mehr bestehen kann? Wir dürfen nie behaupten, daß dieses wunderliche Staatsverhältnis an sich je ein gutes und gerechtes Verhältnis gewesen sei – die Geschichte stellt gegen solche Behauptung zuviele Zeugen auf – wir können nur sagen, daß es bei gutmütigen und rechtlichen Völkern, wie z. B. die Deutschen sind, die Hilflosigkeit und Rechtlosigkeit der Abhängigen und Unterdrückten nie so schreiend gezeigt hat als bei vielen andern; und doch oft schreiend genug.

Wenn ich mich so erkläre gegen einen Zustand, der zur Zeit seiner Entstehung vielleicht unvermeidlich und notwendig war, der alle Klassen und alle Stände des Volks, die hohen wie die niedrigen, umfaßte und band, der aber am schwersten auf die untersten drückte und sie in den meisten Ländern bis zu leibeigenen und hörigen Knechten erniedrigte, so will ich ehrlich gestehen, daß mir das neue und neueste Wesen auch nicht gefällt, wo man nicht allein die Personen frei läßt und von ungebührlichen Zwängen und Banden löset – was recht ist – sondern wo man Land und Häuser und Güter und Gewerbe, gleichsam als wäre die ganze Welt ein liederliches Spielhaus, dem Würfelspiele des Zufalls preisgibt; was dumm ist. Dieses neue Wesen, weil die Franzosen mit ihrer großen Umwälzung die Anfänger und fast die Urheber desselben sind, könnte man das französische Wesen oder Unwesen nennen. Es deucht mir ein Unwesen, und ich will es denn ein Unwesen nennen, weil es durch die Leichtigkeit des Wechsels der Besitze den größten irdischen Schwerpunkt im Staate aufhebt, der ihm als Ballast so notwendig ist, damit er in Gefahren nicht von jedem kleinsten Winde umgeworfen werde, und weil es eben durch diese ewigen Wechsel den Menschen nichts Festes und Bleibendes zeigt, ihre Liebe und Treue an nichts Festes bindet und sie selbst auf diese Weise leichtfertig und wankelmütig macht. Also daß mir diese neue Freiheit, wie sie einigen deucht, eben nicht besser gefällt als die alte Gebundenheit.

Hören wir einmal, wie einige, welche das Alte preisen, das Neue, was wir eben mit dem Namen das französische Neue getauft haben, tadeln und das Alte loben. Sie sagen:

Gott selbst, der Weise und Fromme, trägt die Natur nur durch ein Gesetz der Abhängigkeit; die höchsten Zwecke und Ziele derselben werden nur dadurch erreicht, daß eins dem andern untergestellt ist. Nur durch Dienst wird das All erhalten, der Gehorsam ist die höchste Idee der Freiheit, d. h. der Gottähnlichkeit und der Gottgefälligkeit. Dieses Gesetz der ganzen Natur geht auch auf die menschliche Gesellschaft über; denn der Mensch ist gleichsam der geistige Abdruck, das geistige Bild der Natur; er stellt in sich alle Triebe, Neigungen, Verschiedenheiten, Ähnlichkeiten und Ordnungen derselben mit Bewußtsein dar, er macht das große und allgemeine Naturgesetz gleichsam zu einem sich selbst erkennenden und wissenden Gesetze. Daher die verschiedenen Ordnungen der Gesellschaft und daher der Staat der naturgemäßeste, sittlichste und vollkommenste Staat, in welchem die verschiedenen Stände nicht nebeneinander sondern untereinander gestellt sind. Das Lehnsverhältnis war ein solches von der Natur selbst gegebenes und gebotenes Verhältnis, es war ursprünglich nicht ein Verhältnis der Abhängigkeit sondern des Schutzes. Auf dem Lande, wo dieses Verhältnis am meisten gefühlt wird, wohnen, wie auch in der Stadt, zwei Arten Menschen: Reiche und Arme, Vornehme und Geringe, Gebildete und Ungebildete, Adel und Bauern – die einen zum Befehlen und Regieren, die andern zum Gehorchen und Dienen bequem. Schon ihr Zustand bildet von selbst, man möchte sagen von Natur, ein wechselseitiges Verhältnis der Herrschaft und der Abhängigkeit. Der Reichere, Vornehmere, Gebildetere ist der geborne Helfer, Schützer und Rater des Ärmeren, Geringeren und Ungebildeteren. Aus Dankbarkeit leistet dieser ihm Dienst für Dienst, gesteht ihm freiwillig gewisse Leistungen, Abgaben und Huldigungen zu, kurz, er erkennt seine Abhängigkeit als ein Glück und eine Wohltat. Daß seine Person an einen gewissen festen Ort gebunden ist, macht ihn still und sittlich und beschränkt Wünsche und Begierden, welche ihn, einen ungeschickten und ungebildeten Menschen, nur wüst und unglücklich machen würden. Daß er auf der einen Seite seine Kräfte nicht, wie ihm gefällt oder einfällt, für sich gebrauchen und für sich nicht immer die möglichst größten Zinsen tragen lassen kann, daß ein Teil seiner Kräfte und seines Vermögens sogar von dem Schirmherrn abhängt, der den freiesten Gebrauch derselben einschränken darf, hält ihn auf der andern Seite von vielen törichten Unternehmungen ab, wobei sein Wohlstand und seine Sittlichkeit gleich große Gefahr laufen würden. Und laß diesen Zwang der Abhängigkeit zuweilen sogar drückend sein, in wie vielen Fällen ist er des beschränkten Mannes Glück! Er hat einen politischen Halt und Schirm, er hat in Not und Verlegenheit einen treuen und zuverlässigen Hort, den lange und liebe Gewohnheit durch viele Geschlechter mit ihm und seinem Schicksal verbindet, und dessen eigener Vorteil ihn auffordert, seinen Mann nicht verderben zu lassen. Auf diese Weise ist dieses Verhältnis zwar ein herrliches und oberherrliches, auf der andern aber mehr ein patriarchalisches und verwandtschaftliches Verhältnis. Sie fühlen in sovielen Fällen und durch soviele Erinnerungen und innige Verflechtungen, welche sie verbinden, durch gemeinschaftliche Nöten, die ihre Vorfahren miteinander bestanden, durch gegenseitige Dienste und Wohltaten, die sie einander getan, häufig etwas, was weit über das Gefühl des Herrn und des Knechts hinaus liegt, sie fühlen etwas Menschlicheres und Höheres, das man gleichsam eine edlere Blutsfreundschaft nennen möchte. Und wenn gleich einige Lehnherren und Schirmherren gegen ihre Unterworfenen und Hörigen hie und da härter und strenger als recht gewesen sind und das natürlichste und freundlichste Verhältnis in ein unmenschliches und despotisches verwandelt haben, so soll man einzelne Frevel und Greuel, welche von der menschlichen Gebrechlichkeit überhaupt unzertrennlich sind, nicht als eine notwendige Folge des Lehnsverhältnisses hinstellen. Kurz dieses Verhältnis hat für die Sitten und den Wohlstand der niedrigeren Klassen und für die Ruhe und das Wohlsein des Staats die wohltätigsten Folgen gehabt. – Nun aber die beliebte und belobte französische Freilassung?!

Es klingt so lustig das Wort für den kleinen Besitzer und für den Bauer: » Juchhe! Jetzt sind wir des Edelmanns Gleiche! Keine Patrimonialgerichte, keine Leistungen, keine Fronen, keine Zehnten mehr, jeder in seine ursprünglichen Menschenrechte eingesetzt, alle künftig mit einem Maße gemessen und über einem Kamm geschoren.« Wie sollte eine so lustige, wohllautende und schmeichelhafte Lehre der leicht betörlichen und verblendlichen Menge nicht gefallen, welcher Advokaten und Schwindler so leicht einbilden können, jede noch so billige Abhängigkeit sei eine Unterdrückung, und jedes wohlbegründete Recht auf sie eine hinterlistige Beschleichung und Überdrängung? Und was erfolgt bei der völligen Freilassung der Personen und bei der Befreiung der Güter? Wir wollen nicht in Abrede stellen, daß einige dieselbe zur Verbesserung ihres Wohlstandes zu gebrauchen verstehen, aber die Menge geht offenbar in Sittlichkeit und Wohlstand zurück, wie sehr der äußere Schein auch das Gegenteil zu bezeugen scheint. Wir haben es ja an mehr als einem Orte gesehen, wo alle höhere Aufsicht über diese unmündigen Menschen, alle Beschränkung ihrer sogenannten Freiheit von ihnen genommen ist, wohin es sie getrieben hat. Zwar mehr Tätigkeit und Gerührigkeit hat sich bald gezeigt, auch wohl mehr Gewandtheit und Geschicklichkeit hin und wieder entwickelt, aber wo ist der stille und fromme deutsche Bauersinn und endlich auch, wo ist der alte Wohlstand geblieben? Die alte, unstörbare Sicherheit des Besitzes? Denn hat das unruhig und gescheit gemachte Geschlecht durch größere Gerührigkeit und Umsicht auch in manchen Gegenden gegen das Frühere das Doppelte hervorbringen und gewinnen gelernt, so hat es noch häufiger das Dreifache vertun gelernt, und der gepriesene erhöhete Wohlstand, der aus dem neuen, glücklicheren Zustand hervorgegangen sein soll, ist nur ein barer, blanker Schein und nichts weiter. Denn sehr wenige aus diesen unteren Klassen der Staatsgesellschaft sind so mäßig oder gescheit, daß sie ihr Glück selbst zu verwalten und zu erhalten verstehen. Das schon ist sehr schlimm für die Sitten und für den Charakter des Landmanns, daß die Güter nun ungehindert von einer Hand in die andere gehen können; schlimmer ist das, daß kein Aufseher, Hüter und Schirmer da ist. Juden und Judengenossen geben Anleihen darauf und setzen sich in den ganzen oder halben Besitz. Stirbt ein Besitzer auch im Wohlstande und hinterlässet mehrere Kinder, so teilen sich diese in das Gütchen oder die Hufe, oder sie bleiben auch in Gesamtwirtschaft darauf sitzen und wirtschaften sich auf einem Grundstücke an den Bettelstab, auf welchem vor zehn oder zwanzig Jahren ein durch Untertänigkeit und Lehnbeschränkungen gebundener Hufner in sicherer, geborgener Mittelmäßigkeit lebte. So verschwindet endlich ganz die alte Einfalt, Frömmigkeit, Treue und Ruhe des deutschen Bauers; er wird klug, schlau, tätig, auf geschwinden Gewinn grübelnd und diesen Gewinn geschwind wieder vertuend, bei der Wandelbarkeit des Besitzes an keinen festen Ort, an keine festen Gewohnheiten und Sitten geknüpft, endlich ein Mensch ohne Heimat, unstet an Trieben, unstet in Gesinnung, leichtfertig und vagabundisch.

Ein solcher ist euer deutscher Bauer vom jüngsten Gepräge, euer französisch erlöster und gelöster Bauer. Das einzige, was bei dieser ganzen vornehmen Bauerfreiheit, bei dieser sogenannten Wiedereinsetzung der Unterdrückten in die ihnen entrissenen Menschenrechte, bei der Wandelbarkeit der Güter und bei ihrer Zerteilung und Zerstückelung herauskommt, ist vielleicht, daß mehr Menschen gezeugt werden – eine Plusmacherei, welcher verständige Staatsverwalter lange die gebührliche Schätzung gegeben haben. Wer einen Staat nicht gleich einem Taubenschlag oder Hühnerstall schätzt, weiß, daß wenige gute und wohlhabende Menschen ihm mehr wert sind als viele schlechte und bettelische. Ein ordentlicher Staatsrechner sollte bei der Volkszählung die Bettler nicht nur von der ganzen Summe der Volksmenge abziehen sondern auf jeden Bettler wenigstens noch ein Drittel Seelen Defizit rechnen; so daß, wenn ein Staat z. B. eine halbe Million Bettler hätte, diese 500 000 Seelen nicht nur nicht mitgezählt, sondern außer ihnen noch 166 666 ⅔ Seelen abgezogen werden müßten; welches von dem Ganzen einen Abzug von 606 666 ⅔ Seelen geben würde. Die Bettlerzahl selbst würde sich ergeben durch Zusammenrechnung der Bettlerbrüche zu ganzen Zahlen oder zu vollen Bettlerseelen, und man würde bei dieser seinen Staatsrechnung die Bettlerwürde nach Sechzehntel-, Achtel-, Viertel-, Drittelbettlern bestimmen, so daß der Mensch, der ein Viertel weniger hervorbringt, als er verzehrt, ein Viertelbettler, der aber die Hälfte weniger, ein Halbbettler genannt werden würde. In Staaten, wo ungeheure und unmäßige Reichtümer einzelner und die Zerstörung der kleinen Grundbesitzer die Menge des Pöbels und der Bettler auf eine erschreckende Weise vermehren, wie z. B. in Großbritannien, wird bei einer Bettlertaxe, welche Summen beträgt, wovon ein ganzes Reich getragen werden könnte Damals über sechs Millionen Pfund Sterling., wohl so gerechnet werden müssen. Darum soll jeder Staat bei allem, was er tut, wohl zusehen. Nichts ist leichter, als ein Volk von Bettlern und Streunern machen, aber nichts ist schwerer als diese wieder in ordentliche und fleißige Menschen zu verwandeln. Wir könnten uns durch unweise Einrichtungen gleich den Briten mit Bettlern überladen, aber sie zu füttern möchte uns so leicht nicht werden als ihnen, und totschlagen dürfen wir sie nun einmal doch nicht.

Auf diese Gründe, die nicht ganz ohne Grund sind, und auf diese Darstellungen, die teils ihre gute Wahrheit und auch teils ihren guten Schein haben, und die man ungefähr auf diese oder doch auf ähnliche Weise in Gesprächen und Büchern herumtragen hört, muß ich einiges zur Antwort sagen, indem ich mich zuerst gegen den Lobredner des Lehnwesens überhaupt äußere, dann zweitens mich über die sogenannte neue oder französische Bauernfreiheit erkläre. So zwischen zwei entgegengesetzte, einander feindselige Punkte gestellt, möchte man vielleicht am ersten eine Mitte finden, die von der Wahrheit nicht zu fern läge.

Natürlich, ja der natürlichste soll der Zustand und das Verhältnis der Lehnsabhängigkeit sein, allen Frieden, alle Sitte, allen Wohlstand, alle Treue und Rechtlichkeit in sich haltend; wie der Weise zu dem Unweisen, der Starke zu dem Schwachen, der Mündige zu dem Unmündigen, ja wie der Vater zu dem Kinde – so in Rat, Tat, Fürsorge, Liebe und Freundlichkeit steht der Schirmherr zu dem Vasallen, der Herr zu seinem Hörigen; es ist das natürlichste, menschlichste, patriarchalischeste Verhältnis, dessen Zwang und Schranke für den Gezwungenen und Beschränkten nur wohltätig ist. Also stellt man es uns auf.

Wenn das Verhältnis immer ein solches wäre und sein könnte, so würden wir es allerdings für das größte Unglück der Gesellschaft erklären müssen, wenn es jemals aufgehoben würde. Aber man kann gegen diese Schilderung ein Gegenbild halten, wo sie etwas anders ausfallen muß. Wir wollen zur Ehre der menschlichen Natur glauben, ja wir wissen es zur Ehre der menschlichen Natur, daß es Lehnherren und Schirmherren, ja Leibherren gegeben hat, welche wahre Vater ihrer untergebenen und hörigen Leute gewesen sind, tapfere, fromme und gerechte Patriarchen, welche die unter ihrem Schirm Stehenden wie eine Familie Gottes verwalteten und gebrauchten. Aber wenn wir die Geschichte und Erfahrung fragen, so werden uns der Frevel und Greuel, welche die Willkür sich gegen die hörigen und leibeigenen Leute erlaubt hat, leider zuviele erzählt, Frevel und Greuel der Gewalt, der Habsucht, Wollust und Grausamkeit, daß uns schaudern würde, wenn ich sie hier aufzählen sollte. Die Urkunden und Chroniken des Mittelalters wimmeln davon, und selbst in jüngeren fehlt es davon an Belegen nicht. Zwar war das Lehnsverhältnis in seinen Arten und Stufen das mannigfaltigste und verschiedenste; von der drückendsten Leibeigenschaft bis zur leidlichen Zinspflichtigkeit und Hörigkeit war ein unendlicher Weg – aber wir wissen aus uns selbst und aus dem täglichen Gefühle unsrer sündlichen Natur, daß die Herrschsucht der süßeste Trieb ist, daß die meisten unsers Geschlechts die Willkür schlimm gebrauchen, wenn sie von der Gewalt des Gesetzes nicht zurückgehalten werden; und wir wissen auch, daß alle unklare und unbestimmte Verhältnisse von der Willkür gemißbraucht werden.

Der Mensch, wenn Leidenschaften und Habsucht ihn nicht aus der Ruhe der Besonnenheit herausreißen, wenn er still und heiter ist, strahlt in seinen Gefühlen und Gedanken immer noch den Spiegel der Freundlichkeit, Frömmigkeit und Gerechtigkeit von sich; es ist ihm so natürlich, an das Gute und Gerechte zu glauben, auch wenn er selbst nicht immer gut und gerecht ist. Daher glauben wir so gern mit einer menschlichen Täuschung der Mensch und die Erde waren nicht bloß in jener frühesten Zeit sondern auch zu den Zeiten unserer Urgroßväter und Großväter viel glücklicher und besser als jetzt. Wenn wir jetzt auch sehen wie wilde Leidenschaften und Gelüste das Recht durchbrechen und das Glück zerstören so nehmen wir so gern an, daß es vor fünfzig oder hundertfünfzig Jahren so ganz anders war, daß die Menschen einfältiger und frommer und bei geringeren Bedürfnissen und schwächeren Reizen zum Bösen und Ungerechten, als jetzt da sind, freundlicher und barmherziger waren. O der schöne Glaube! Aber leider ist es wahr: von hundert Menschen, welche Willkür haben, werden fünfundneunzig sie immer mißbrauchen. So ist es schon zu den Zeiten unserer Väter gewesen was wir aus Geschichten und Gesetzen jener vergangenen Jahrhunderte dartun können. Freilich ist das Verhältnis unbestimmter Herrschaft und Dienstbarkeit in dem Maße schlimmer geworden, wie mit der wachsenden Entwickelung der Gesellschaft auch die Bedürfnisse der Menschen vermehrt und ihre Leidenschaften mehr gereizt und gestachelt sind. – Ich habe früher oft reizende Schilderungen gelesen von den Verhältnissen der schottischen Schirmherren und ihres Gebietes; sie sind mir wie rechte Patriarchen erschienen und ihre Untergebenen wie ebenso viele Kinder und Kindeskinder, die gern unter dem freundlichen Vater und Großvater standen. Der schottische Laird ist der Herr der Richter, Beschützer und Vater des Clans er ist das Haupt einer großen Familie, deren Kleinster und Ärmster doch sein Kind ist und nimmer von ihm gemißhandelt, verstoßen und verlassen werden kann; denn er führt ja seinen Namen und niemand entehrt doch gern sein Geschlecht. Wenn der geborne Herr, wie die Verteidiger des Lehnwesens uns sagen, seine Untertanen lieben lernt durch eine Verbindung welche schon seit undenklichen Zeiten zwischen den beiderseitigen Vorfahren bestand wenn die Gewohnheit dieser Verbindung endlich eine Art Verwandtschaft und Rücksichten dieser Verwandtschaft erzeugt, so muß er, dessen Namen seine Leute und Mannen führen, mit ihnen in ein wahrhaft väterliches Verhältnis kommen; es muß das Gefühl einer Blutsfreundschaft entstehen, wo der eine sich als Vater und die andern sich als Kinder fühlen. So meinen wir gern, weil wir Gerechtigkeit und Tugend von Natur lieben. Aber gar anders steht auch hier die Wirklichkeit. Die schottischen Lairds waren vor ein paar Jahrhunderten bei roherer und genügsamerer Einfalt der Sitten vielleicht freundlichere und mildere Herren als ihre jetzigen Urenkel. Jetzt muß man die Klagen der edleren Briten und die Berichte der Reisenden hören, welche in dem letzten Halbjahrhundert Nordschottland und die westlichen und nördlichen Inseln besucht und sich um das Schicksal ihrer Bewohner bekümmert haben. Die Herren bringen in London, in den Bädern, bei den Wettrennen, in den schönen Südländern jenseits des Meeres ihre Zeit und ihr Vermögen in Üppigkeit durch, und Rentmeister und Verwalter sind die herzlosen Stellvertreter des Patriarchen des Clans; jedes Jahrzehnt bringt neue Plackereien und erhöheten Pachtzins der Ländereien, die als des Lairds Eigentum betrachtet werden; ja die Inhaber werden auch wohl von den kleinen Höfen abgetrieben, um spanischen Schafherden, deren Wolle mehr einbringt, Platz zu machen; und dem Druck und der bittern Armut zu entfliehen segeln jährlich Tausende in einen andern Weltteil, wo sie wenigstens keine solche patriarchalische Schutzherrschaft zu fürchten haben.

So bist du, o Mensch, und so bin ich Mensch, so sind die meisten unsers Geschlechts, daß es im Staate nimmer wohl bestellt steht, wenn das mit Beilen und Ruten bewaffnete und um das Zepter des Herrschers geflochtene Gesetz das ungeschriebene Gesetz in unsrer Brust, welches uns von selbst alle Pflichten der Menschlichkeit zu üben befiehlt, nicht ergänzt und verstärkt. Ich habe eben gesagt, daß es was Schönes und Erhebendes ist um den poetischen Glauben, der immer unwillkürlich aus unserm Innersten hervordringt, als sei in den Zeiten vor uns alles glücklicher, besser und gerechter gewesen. Außer diesem poetischen Glauben, der in der Brust des Königs wie des Tagelöhners wohnt und ein mattes Bild des hellen Urbildes der Gottheit ist, gibt es einen andern poetischen Glauben, den poetischen Glauben der Poeten selbst, den Glauben der Dichter, der uns ebenso heilig ist als jener erste.

Wir haben das hohe und heilige Bild einer europäischen Ritterschaft, von welcher uns das Mittelalter so schöne Muster zeigt. Die Dichter, deren Leben in der Vergangenheit und in der Zukunft ist, und die sich die Gegenwart, selbst wenn sie schlecht und armselig ist, gern mit einem verhüllenden, ja mit einem verschönernden Schleier bedecken, haben recht, wenn sie die edelsten und hehrsten Gestalten der Vorzeit vor die Augen der Mit- und Nachwelt stellen, ja sie würden eine Sünde begehen, wenn sie anders täten. Was Wunder nun, wenn sie uns einen rechten frommen, tapfern, milden und christlichen Ritter malen, wenn sie uns ihn auch in seinem Verhältnisse zu seinen Leuten und Hörigen als einen über das Gewöhnliche und Gemeine weit hinausschreitenden, mit christlichem Ernst und christlicher Liebe alles umfassenden und haltenden Mann zeigen? Was Wunder, wenn wir uns daraus ein noch reizenderes Ideal im Hintergrunde unsers Herzens bilden und meinen, es könne für das Glück und den Frieden der Gesellschaft und für die Sittlichkeit und das Glück des kleinen Volkes unmöglich eine trefflichere Einrichtung geben als diejenige, welche die Bauern und die kleineren auf dem Lande wohnenden und gewerbenden Menschen unter eine solche beschützende und bewahrende Schirmherrschaft und Obhut stellte? Daß wir uns ein so herrliches und menschliches Bild jener Vergangenheit, wo die Ritter ohne Furcht und Tadel lebten, entwerfen können, ist schön; auch das ist verzeihlich, daß viele die gedichtete Herrlichkeit in allen ihren Teilen sich zu einer geschichtlichen Herrlichkeit machen und fest überzeugt sind, es sei das Lehnverhältnis im Mittelalter wirklich ein so hoch menschliches und ritterliches Verhältnis gewesen. Aber die Dritten, welche trocken den Beweis führen wollen, es sei wenigstens diesem Bilde ein ähnliches, es sei beinahe ein solches Verhältnis gewesen, müssen wir, weil sie sich den Schein geben, aus der Geschichte zu sprechen, mit der Geschichte selbst widerlegen. Es hat solche Ritter gegeben, wie die hohen Bilder, welche die Dichter uns aufstellen, und ich bekenne mit Freuden, es gibt noch solche; aber sie sind immer selten gewesen und sind auch heute noch sehr ungewöhnliche Vögel. Frevel gegen die Abhängigkeit und Dienstbarkeit habe ich mehr gesehen als Wohltaten derselben, obgleich mir auch einzelne solche Schirmherren und Lehnherren begegnet sind, welchen ich ohne alles Gesetz die Seelen und Leiber von Hunderttausenden ganz hörig übergeben würde mit der festen Zuversicht, sie würden unter solcher Pflege und Hut nur glücklicher und besser werden. Ich nenne dich hier, ehrwürdiger Greis, General von Dyke Dieser ritterliche, fromme Vater seiner Hörigen und Zugehörigen hatte übrigens die Ritterlichkeit seines edelmütigen, menschlichen Herzens nicht von einem durch viele adlige Geschlechtsreihen (wie manche uns gern einbilden möchten) gereinigten und veredelten Blute, sondern schier von Gottes Gnaden; er war aus rügenschem Bauerstamm. auf Rügen, Priester, Vater, Patriarch der Deinigen, ohne daß ich weiß, ob diese Worte je zu dir kommen werden; ich nenne dich, trefflichsten aller schwedischen Bürger, Freiherr Friedrich Maclean, Vater und Schöpfer von zweihundert Bauerhöfen und von zweitausend glücklichen Menschen. Aber weil die weisen, frommen und christlichen Ritter nimmer die Mehrzahl der Herren ausgemacht haben, so wollen wir lieber das allgemeine Gesetz haben als die einzelne Willkür.

Die Art, wie die neue Bauernfreiheit, die einige auch die französische Bauernfreiheit zu nennen belieben, sich in vielen Gegenden, wo man Frankreichs Beispiele vielleicht zu nahe gefolgt ist, gemacht hat, kann demjenigen unmöglich gefallen, der einen Begriff vom Recht hat, und der den geschichtlichen Weg kennt, auf welchem viele Rechte und Verbindlichkeiten entstanden sind. Mochten immerhin manche Verhältnisse der Herrschaft und des Dienstes entweder der Idee des Staates überhaupt oder der Entwickelung der Staatsgesellschaft, wie sie nun ist, widersprechend und nicht mehr angemessen sein, immer mußte eine Ausgleichung der Rechte, eine billige Ablösung und Abfindung stattfinden; man durfte den Knoten nicht so zerhauen, der doch nicht allenthalben ein gordischer Knoten war, und der sich meistens sanfter hätte lösen lassen. Man hat bei der Heftigkeit und Geschwindigkeit, womit man zugegriffen hat, dem einen Teile wahrlich nicht immer gegeben, was man dem andern Teile genommen hat; oft haben beide Teile dabei verloren. Und das ist der größte und schlimmste Verlust, wenn man das Volk gewöhnt, daß ohne Form rechtens Recht gestiftet werden kann. Welche Folgen für Sittlichkeit und Glück der kleinen Landbesitzer und des Staates überhaupt die Leichtigkeit des Wechsels des Besitzes, die Veräußerlichkeit und Wandelbarkeit aller Grundstücke und die Erlaubnis, mit ihnen zu schalten und zu walten, wie jedem gefällt, haben müssen, ist oben angedeutet und wahrlich nicht mit Übertreibung; so daß wir darin ganz der Meinung der Verteidiger des alten Lehnsystems, ja selbst einer drückenden Hörigkeit sein müssen und mit ihnen bekennen, daß es das Gefährlichste ist, wenn der Staat den Landbesitz und seinen Wechsel so ganz dem Zufall und der Willkür überläßt. Die Personen müssen frei sein, aber wenn Stöcke und Steine und Wälder und Berge aus einer Hand in die andere hin und her fliegen wie Federn im Winde, wenn selbst das Festeste beweglich und flüchtig wird, dann bleibt bei dem Menschen auch in dem nichts mehr fest, was die Gesetze unerschütterlich machen sollten, wie die ewigen, alten Berge Gottes, in der Gesinnung und in der Liebe. Die beiden Stände aber, welche diese Kernkraft eines Volkes am einfältigsten und innigsten bewahren, sind auf dem Lande die Bauern und in der Stadt die Handwerker. Diese aber verlieren alle festhaltende Gediegenheit und alle sittliche Haltung, wenn man auf dem Lande die Hufen und Höfe des Bauers leicht veräußerlich, wechslich und teilbar macht, und wenn man durch die Auflösung der Zünfte und die Einführung der belobten allgemeinen Gewerbefreiheit die letzte alte Strenge und Zucht der Handwerke durchbricht. Man kann einem im verblendeten Freiheitsschwindel hintaumelnden Zeitalter nicht genug sagen, daß nicht alles Freiheit ist, was den Schein und Namen davon hat.

Aber um das Rechte einzurichten und zu erschaffen, dazu bedarf es weder Hörigkeit noch Leibeigenschaft, welche der Willkür und Ungerechtigkeit häufig Tür und Tor geöffnet und einen Teil der Landbewohner in Spartaner, den andern in Heloten verwandelt haben, sondern der Staat kann einen Weg gehen, den die Zeit ihm sehr gebahnt hat, er kann durch ihr angemessene Einrichtungen den Zufall und die Willkür einschränken, welche, wenn man sie frei schalten laßt, zuletzt Natur, Land und Menschen verderben – er kann sich zum Oberlehnsherrn und ein festes Gesetz zum Lehnrichter machen; denn dem Gesetze sollen alle hörig und leibeigen sein. Ich sage mit vielen andern, die es mit dem Vaterlande redlich meinen, Gott gebe uns bald die Männer, welche diesen höchstwichtigen Gegenstand einmal mosaisch und lykurgisch ins Auge fassen und dann festhalten!

Wir haben oben ungefähr gesehen, was die Gesetzgeber des Altertums mit ihren Ackergesetzen wollten. Sie wollten die zu große Wandelbarkeit des Landbesitzes hemmen; sie wollten auch hindern, daß nicht zu große und zu kleine Güter und Höfe entstünden; sie wollten die zu große Zerstückelung und Zerschlagung der Grundstücke hindern, weil in beiden für die unteren Volksklassen das Verderben der Armut und Sittenlosigkeit liegt, welche der besitzlosen und heimatlosen Armut immer auf dem Fuße folgen. Das bezweckten sie damit, daß sie durch ihre Gesetzgebung viele Landbewohner mit mittelmäßigem Vermögen schufen, und daß Tugend und Wehrhaftigkeit bei dem Volke nicht ausstürben. Solche Einrichtungen als diese durch Gesetze befestigten machen sich in den Anfängen der Gesellschaft bei freien Völkern oft von selbst, gleichsam durch einen Instinkt der Vernunft und der Tugend, welcher Instinkt ein Instinkt angeborner Billigkeit und Gerechtigkeit ist. Auch unsere Altvordern hatten das Land so unter sich geteilt, wie oben erwähnt ist, und hatten dabei recht sehr an die Wehrlichkeit der Menschen gedacht und an die Verteidigung des Vaterlandes. Die Hufe eines freien Mannes und der Mann selbst trugen deswegen mit der Waffe einerlei Namen; die hieß die Wehr, weil ein bewehrter Mann von ihr ausziehen sollte. Dieses Wort ist in den westlichen und nordwestlichen Landschaften Deutschlands bis auf den heutigen Tag geblieben. Man fragt nach dem Tode eines Bauers: Wer von den Kindern hat die Wehr bekommen? Man fragt: Ist das Gut wohl in der Wehr? d. h. ist Vieh, Saat, Feldgerät, Feldbestellung, wie sie sein sollen? Und wer weiß nicht aus Erfahrung, ja wer fühlt nicht, wenn er an seine eigene Brust klopft, daß in Nöten und Gefahren das Vaterland am sichersten auf diejenigen rechnet, welche Besitz haben, seien sie Edelleute, Bauern oder Bürger? Wen aber Häuser und Acker nicht festhalten, der mag seine leichte Habe und sein leichtes Herz wohl anderswohin tragen und sich bald einbilden, es sei auch da ein Vaterland. Vor allen aber sind viele freie Bauern die rechte Stütze, ja der rechte Eckpfeiler eines Staats, nicht nur weil sie auf das innigste an die Erhaltung des Vaterlandes geknüpft sind, sondern auch weil ihre Arbeiten und Geschäfte Leibesstärke und frischen Naturmut nähren, wodurch der rechte, tüchtige Kriegsmann wird.

Ich habe Länder gelobt und werde sie je und je loben, wo über die Hälfte, ja wo oft Zweidrittel aller Grundstücke unter mittelmäßige Besitzer verteilt sind, wo viele freie Bauern wohnen. Wer Schweden, Norwegen, Ditmarsen, Ostfriesland, die Grafschaft Mark, das Havelland und das Herzogtum Magdeburg gesehen hat, fühlt und weiß, warum ich sie lobe. Der Mensch, welcher weiß, was die Herrlichkeit eines Staates ist, fährt mit einem unbehaglichen Gefühl durch die schimmernden adligen Herrensitze hin, die aus zerstörten Bauerdörfern Ich kann aus diesem Gefühle sprechen. O schönes Land meiner Heimat, wer wird die zerstörten Bauern in dir wieder erschaffen? Woher soll dir ein Wiederhersteller kommen? aufgeführt sind, und auf welchen Haufen wandernder Tagelöhner und Lohnknechte in kümmerlichen Katen zusammengepreßt wohnen. Auch wird er nicht geblendet durch den vergänglichen Glanz und Reichtum, welchen Fabriken geben, die auf gewisse Weise immer einen Teil des Menschengeschlechts leiblich und geistig verderben. Ihn kann allein das Bleibende freuen, das durch die Zeiten dauert, die bleibende Tugend und das bleibende Glück. Diese sieht er nirgends so befestigt als bei dem freien Bauer, der mit mittelmäßigem Vermögen seinen eignen Acker pflügt. Die Länder, wo wenige Menschen im Besitz ungeheurer Reichtümer endlich fast alle Grundstücke ihr Eigentum und fast alle Landbewohner ihre Pächter, Tagelöhner und Knechte nennen, und auch die, wo eine übertriebene Verteilung und Zerstückelung der Hufen herrscht, mangeln des tapfern, gediegenen Kerns eines Volks und werden auf die Länge nicht würdig und glorreich bestehen können.

Wir wollen einmal England betrachten. Dieses große Land schimmert durch seine Macht, seine Freiheit und seine Reichtümer über ganz Europa, ja über die ganze, weite Erde hin als eine bewunderte Erscheinung, aber wahrlich, es steht drinnen nicht so glücklich, als sein Glanz nach außen fällt. Fast aller kleine und mittlere Landbesitz (die Yeomanry) ist in den meisten Landschaften verschwunden, und die Großen und Reichen besitzen das Land, und ihre Pächter bebauen es. Auch offenbart sich hier, welche Folgen die zu große Ungleichheit des Vermögens, besonders insofern sie die kleinen Besitzer verschlingt, und ein die Welt umfassendes Fabrikwesen hat. Wieviele Strecken Land in England, worauf glückliche Bauern wohnen, und wovon reiche Ernten in die Scheunen gebracht werden könnten, hat die durch kein Gesetz eingeschränkte Laune der Großen in Wildbahnen und Tiergärten verwandelt! Welch eine Überschwemmung von Bettlern aus dieser Verdrängung der geringen Leute vom Grundbesitz, aus diesem mächtigen Fabrikwesen! Jetzt trägt sich dies alles noch einigermaßen, weil England über den Handel und über die Schätze der Welt gebietet; aber Weltumwälzungen und vorzüglich Handelsumwälzungen können kommen – und sie sind vielleicht nicht so fern, als manche glauben – wodurch die Engländer mehr auf sich selbst zurückgeworfen und zurückgewiesen werden; dann werden sie die Verwirrung und Regellosigkeit der Verhältnisse und die Furchtbarkeit des Übels, das sie jetzt verkleistern und versalben aber nicht heilen können Bald ist es ein Vierteljahrhundert, als dies geschrieben ward. Nun frage ich, wieviele sind, welche Englands gegenwärtige politische Stellung, vorzüglich in Hinsicht aus die unteren Volksklassen, glücklich preisen?, in ihrer ganzen Häßlichkeit erblicken.

In unserm Vaterlande, in Deutschland, sind wir so weit noch nicht, am wenigsten ist uns jetzt der Reichtum gefährlich. Doch sind Landschaften, wo das alte Verhältnis der Hörigkeit und Leibeigenschaft, über dem und über dessen Mißbräuchen die Regenten nicht immer die gehörige Hut und Wache hielten, die Bauern zu sehr zerstört hat. In andern Landschaften möchten sie durch die sogenannte französische Freiheit untergehen, kraft welcher sie – was früher durch mancherlei Bande gebunden war – verkaufen, vertauschen, verpfänden, versetzen, ja zerfetzen und zerstückeln dürfen, wie ihnen beliebt; so daß jetzt Krämer und Juden und Judengenossen zum Besitz von Hufen und Höfen gelangen, oder diese Höfe auch unter drei oder sechs Teilhaber und Erben zerteilt und zerstückelt werden können. Also daß durch eine übel verstandene Freiheit das Verhältnis des Grundbesitzes, welches ein festes und ehrbares Verhältnis sein sollte, ein krämerliches und jüdisches und fast vagabundisches Verhältnis wird.

Solche Übel nun, welche die Staatsgesellschaft in ihren edelsten Teilen angreifen und verletzen, müssen abgewendet werden und können abgewendet werden durch eine weise Gesetzgebung, welche den Staat nicht wie ein kolleriges Pferd von dem lieben Ungefähr und Zufall, die oft auch den Koller haben, zu Tode reiten läßt, sondern welche ohne Rücksichten auf die Bedürfnisse und Vorteile des Augenblicks allein das Bleibende und Notwendige sucht.

Das Land und der Landbesitz dürfen nicht freigelassen werden wie die Personen. Das haben alle Gesetzgeber gefühlt, die sich auf ihr großes Werk verstanden. Der Mensch, der in sehr entwickelten und verwickelten Zuständen der politischen Gesellschaft die Ordnung der Natur und also auch die Ordnung der Gesellschaft verkehrt, muß der zu großen Willkür, die endlich einem baren Zufall gleich wird, ein Maß und ein Ziel setzen. Er muß Ackergesetze geben; der Bauer und kleine Grundbesitzer muß ein unmittelbarer Lehnmann, er muß der Hörige des Staats werden.

Das haben wir genug angedeutet und bewiesen, daß es auf die Länge nur in solchen Ländern wohl stehen kann, in welchen die Hälfte, wo nicht Zweidrittel der Grundstücke von Bauern oder kleinen bauerähnlichen Besitzern besessen und bewohnt werden. Wo dieses Verhältnis ungefähr noch besteht, da hat der Staat nichts weiter zu tun als es durch verständige Gesetze zu befestigen und zu erhalten; wo es aber durch Sorglosigkeit der Regierungen oder durch Mißbräuche einer zügellosen Freiheit verrückt oder gar zerstört ist, da muß man es wieder Herstellen. Zu dieser Wiederherstellung könnten in den Ländern, wo das ordentliche Verhältnis aufgehoben ist, die öffentlichen Staatsgüter angewandt werden, die man Krongüter oder Domänen nennt. Ich will sagen wie. Ich kann die Sache durch ein wirkliches Beispiel erklären.

In dem ehemaligen schwedischen Pommern und Rügen, welches jetzt mit dem preußischen Staat verbunden ist, waren durch einen Mißbrauch der adligen oder städtischen Herrenrechte die meisten Bauerdörfer zerstört und in große Güter von 600–2000 Scheffel (Berliner Maß) jährlicher Aussaat verwandelt. Gustav IV. Adolf, König von Schweden, damals Oberherr jenes Landes, ein Herr, dessen wechselvollen und verhängnisvollen Schicksalen meine Augen immer mit Mitleid folgen werden, weil er die Gerechtigkeit und das kleine Volk liebte, hatte in seinem Vaterlande zuviel Bauernglück und Bauernfreiheit gesehen, als daß er den Unterschied zwischen diesseits und jenseits des Wassers nicht hätte fühlen sollen. Diese Landschaft, vorzüglich Pommern, hatte viele und große Krongüter, zum Teil von dem eben angegebenen Maße Aussaat. Diese beschloß der König, welcher sah, wie wenig Bauern hier noch übrig waren, nach und nach in mehrere kleine Teile zu zerschneiden und auf längere Jahrespacht oder auf Erbpacht an einzelne Landbauern auszutun. Dieser Entwurf war nun freilich unvollkommen, weil er keine vollkommenen Landbesitzer sondern nur Landgenießer machte, aber es war doch ein Entwurf, der aus dem Gefühle entsprang, daß neben den großen Besitzern auch kleine und mittelmäßige Landbesitzer wohnen. Aus eine ähnliche Art würde ich, wenn ich die Macht hätte, ein Macher zu sein, es mit den Krongütern machen, wo solche noch sind. Ich würde sie nämlich nach den Örtlichkeiten und nach ihrer verschiedenen Lage und Fruchtbarkeit zu Gütchen von einer, zwei bis drei Hufen Land einteilen; aber ich würde sie nicht auf Zeitpacht oder Erbpacht weggeben sondern sie ordentlich verkaufen, aber unter folgenden Bedingungen:

1. Diese Güter würden gleichsam Lehen des Staats. Sie gehörten freilich dem Käufer und seinen Erben eigentümlich, aber folgende Bedingungen und Verpflichtungen hafteten darauf:

2. Sie gingen für alle künftige Zeiten zu Bauernrecht. Bauern und Bauerngenossen könnten sie nur besitzen und bewohnen, kein Edelmann, kein Kaufmann, kein Fabrikant usw.; auch könnte kein Pächter oder Zinsgeber darauf wohnen oder gehalten werden (es sei denn während einer Minderjährigkeit), sondern der Eigner müßte selbst darauf sitzen oder sonst, wann er ein anderes Geschäft ergreifen wollte, sie an seine Verwandten oder Bauerngenossen überlassen.

3. In der Nachfolge gingen die Söhne den Töchtern vor. Damit das Gut in Wehr bliebe, und der Besitzer nicht durch Schulden an tüchtiger Wirtschaft gehindert würde, hätte der Antreter, wenn das Gut schuldenfrei wäre, seine Geschwister und Miterben nur mit einem Sechstel des Wertes der Grundstücke abzufinden; die bewegliche Habe aber, außer dem durch das Gesetz bestimmten notwendigen Gerät und Vieh, würde unter alle gleich geteilt. – Ein einziger Sohn wäre immer der Erbe; unter mehreren Söhnen bestimmte vielleicht das Los über die Nachfolge; hinterließe der Lehnbauer nur Töchter, loseten diese ebenfalls. Unmündige Geschwister hätte der Nachfolger bis zum achtzehnten Jahre zu verpflegen und zu erziehen, Mütter und Großmütter ehrlich zu erhalten und zu verpflegen bis an ihren Tod. Die Art und das Maß würde das Gesetz bestimmen.

4. Die bewegliche Habe, welche Ehegatten zusammenbrächten, wurde, wenn Kinder geboren würden, gemeinschaftliches Vermögen. Wären keine Kinder da, und der Lehnbauer stürbe vor der Frau, so nähme sie ihr Eingebrachtes wieder und räumte dem Erben das Gut. Hätte sie Kinder gehabt, die vor ihr gestorben wären, so erbte der überlebende Teil die ganze bewegliche Habe des Verstorbenen.

5. Solche Güter möchten auch, z. B. wenn eine Familie durch schlechte Wirtschaft oder Unglück sie so heruntergewohnt oder verschuldet hätte, daß sie sie nicht behaupten könnte, auf andre Art immer veräußert werden, aber nur mit Einstimmung der Berechtigten und mit der Bedingung, daß sie wieder an Bauerngenossen kämen. Ein Besitzer ohne Kinder und Lehnsverwandte, die da Ansprüche auf ein solches Gut hätten, möchte es veräußern bei seinem Leben und darüber verfügen nach seinem Tode, versteht sich innerhalb der Genossenschaft.

6. Wie ein Bauer nicht mehrere solcher Güter besitzen dürfte, so dürften auch die Felder mehrerer solcher Güter nicht zu einem Gute zusammengezogen werden. Ebensowenig wäre ein solches Bauergut in mehrere kleinere teilbar.

Unter eben dieses Gesetz, das ich über meine gemachten Bauerlehne walten lasse, stelle ich die Bauergüter, die sich in meinem Staate noch finden, damit sie dem Bauernstande in ordentlicher Wehr bewahrt werden, und damit der so wichtige Bauerstand dem Vaterlande erhalten werde.

Wie groß ein Bauergut sein müsse, damit eine Familie in bescheidener Mittelmäßigkeit des Daseins davon leben könne, läßt sich nicht von vornher bestimmen. Das hängt von dem Himmelstriche, von der Fruchtbarkeit des Bodens und von den Gewerben der Gegend ab, wo die Güter liegen. Aber da die zu kleine Ackerwirtschaft durchaus nichts taugt, da die zu große Zerstückelung der Grundstücke den Bauerstand in allerlei treibendes, luftiges und vagabundisches Gesindel verwandelt, so muß ein Kleinstes gesetzt werden, bis zu welchem man hinabsteigen darf. Das hat man auch in Ländern getan, wo man die wahren Begriffe von Freiheit hat, z. B. in Schweden, wo die zu sehr verkleinernde Zerstückelung der Höfe in mehreren Landschaften durch Gesetze verboten ist.

Diese meine Bauerordnung würde vorzüglich für das eigentliche Bauerland, für die Ebenen, gelten. Wo Waldbau, Weinbau, Obstbau, Bergbau das Hauptgeschäft der Menschen sind, da sind die Verhältnisse anders, und die Geschäfte beschränken sie selbst auf einen kleineren Raum. Auf den weiten Feldern und Ebenen aber, wo das Sichabründen so bequem ist, werden, wenn der Staat gar keine Beschränkung setzt, die einzelnen Höfe und Hufen entweder von den Reichen verschlungen, welche sie in große Hauptgüter und Herrensitze verwandeln, wie wir dies in vielen Gegenden des Vaterlandes sehen, oder der Bauerstand verarmt und verdirbt auch durch die zu große Zersplitterung der Ländereien. Und überdies benutzt der Reiche diese Zersplitterung, um die einzelnen verarmten, zersplitterten Besitzer allmählich auszukaufen und ihre kleinen Lose zu großen Gütern abzurunden; wie z. B. in England und Italien täglich der Fall ist, was man aber auch schon bei uns sehen kann.

Wenn der Staat auf diese Weise den Bauerstand an seiner Erdscholle befestigt hat, bleibt, je nachdem jedes Land eingerichtet und gelegen ist, noch die Hälfte oder wenigstens ein Drittel aller Ländereien für jeden anderen beliebigen Besitz frei. Ich sage beliebig, obgleich ich wünschte, daß der Adel ebenso wie der Bauer allein auf Landbesitz gegründet und an seinem Lande festgebunden würde, daß es allein einen Majoratsadel gäbe nach dem Erstgeburtsrecht.

Ich weiß, sowohl gegen die angedeutete Art Nachfolge in meinem Bauerlehen als auch gegen diese adligen Majorate werden sich viele entrüsten, die einen, weil es ihnen eine Unfreiheit, die andern, weil es ihnen eine Grausamkeit deucht. Diese letzten sprechen aus einem einzelnen Familiengefühl; der Staat aber muß aus einem allgemeinen Familiengefühle handeln. Er hat Millionen Kinder; er hat sie nicht bloß heute und morgen oder dreißig und fünfzig Jahre, sondern auf dreißig und fünfzig Jahrhunderte muß er seine Rechnung machen, ja auf alle Zeiten ohne Grenze und Ziel, wie der Gedanke, wenn er wahr und richtig ist, als Kind der Ewigkeit geboren wird. Wenigstens müssen die Gesetze des Staats die allgemeine Liebe und Gerechtigkeit in sich tragen, daß sie durch ihre Gesinnung und Weisheit würdig wären, ewig zu dauern. Das einzelne Familiengefühl spricht: »Es ist doch unrecht, daß des Bauern und des Edelmanns Kinder bei seinem Tode sich in die hinterlassene, feste und liegende Habe nicht gleich teilen; warum soll einer allein so viel haben und all die andern so wenig?« Der Staat antwortet ihm: »Ich handle aus einem höheren Rechte und einer höheren Pflicht; ich muß das bessern, was eure unzeitige Torheit, ja eure törichte Liebe zu eurer eignen Zerstörung immer tun will. Ihr mit euren Gefühlen würdet aus dem Bauer und Edelmann Bettler und Streuner machen; ich muß sorgen, daß die beiden Stände in Wohlhabenheit, Rechtlichkeit und Ehre erhalten werden; ich muß auch durch meine Gesetze und Ordnungen vor allen Dingen den Grundsatz zu dem lebendigsten machen, daß Silber und Gold und was ihr Vermögen nennt, von mir nicht als das erste hingestellt und gesucht werde sondern festes Glück und bleibende Tugend.«

Ja, es ist meine feste Überzeugung, daß, wenn der Adel in alter Ehre, Würde und Unabhängigkeit und ohne den Neid der andern Stände bestehen soll, er auf festem, bleibendem Besitz und auf Majoraten gegründet sein muß. Es müßte auch überhaupt kein Edelmann gemacht werden, der nicht entweder schon durch Reichtum bedeutend wäre oder die Würdigkeit hätte, daß der Herrscher oder das Volk ihn so mit liegenden Gründen begabten, daß die Unabhängigkeit seiner Familie nach ihm gesichert wäre. Arme Familien adeln, wie leider täglich in Deutschland geschieht, deucht mir ein großes Unwesen. Wenn ich gesagt habe, daß arme, hungrige Bauern ein Unglück und Verderben des Staats sind, so meine ich dies noch weit mehr von einem armen, hungrigen Adel. Ein Land kann viel zuvielen Adel haben; und es ließe sich nach der Volksmenge und den Verhältnissen und Hilfsmitteln eines jeden Landes wohl die Zahl bestimmen, die es tragen könnte. Es ließe sich für jedes Land ein goldenes Buch machen, wie weiland in Venedig, und zwar ein geschlossenes Buch, und es sollte gemacht werden – auf die Weise, daß nur beim Erlöschen eines Stammes ein neuer adliger Stamm gepflanzt werden könnte, und daß selbst die Kinder und Enkel der größten Helden der Tat, Wissenschaft, Kunst und Erfindung (welchen allein so Hohes vorbehalten sein müßte; denn wenn man den Adel hoch hielte, wäre er etwas Hohes), die eines Blücher, Leibniz, Goethe, Dürer, auf der Warte stehen bleiben müßten, bis Gott eine leere Stelle gemacht hätte. Doch werden diese seltensten großen Männer nicht so dicht ausgesäet, daß es bei solchem gewissenhaften Verfahren jemals viele Wartende geben würde. Daß den Kindern solcher Sehrmänner von dem Volke, das von ihnen mit Glück, Macht und Ruhm bekränzt worden, für die würdige Tragung und Erhaltung ihres Adels nach englischer Sitte eine angemessene Begabung und Begründung gemacht werden müßte, folgt durchaus aus unserm Bilde vom Adel. Wir kennen Polens Geschichte und kennen seinen wimmelnden, hungrigen Adel; auch Schweden ist mit zuvielem und armem Adel überschwemmt; und in manchen deutschen Landschaften ist es nicht viel besser, und immer fährt man fort, auf die alte, traurige Weise leicht und leichtsinnig durch Adelsbriefe alljährlich arme Junkerfamilien zu stiften. Es ist lange ein trauriger Haß gewesen zwischen dem Mittelstande und dem Adel, und er ist leider noch nicht ausgestorben und hat seine bösen Folgen auf das Ganze, da durch diesen unseligen Neid so manches Gute gehindert und durchkreuzt wird. Dieser Haß und Neid stammt zum Teil aus dem alten Soldatenwesen, wie es vor zwanzig, dreißig Jahren noch bestand; er stammt wohl mehr aus der Herabwürdigung und wirklich unanständigen und fast schimpflichen Vermehrung des Adels durch die Reichskanzeleien, wodurch der alte Adel, worunter diese Neugestempelten sich allmählich doch mischten, sein glänzendes Gepräge verlor. Krämer, Roßtäuscher, Lieferanten usw., ohne ein anderes Verdienst als das einer gefüllten Tasche, kauften des heiligen Römischen Reichs adlige Wappenehre oft um 80 und 100 Dukaten in der Kanzlei zu Wien; ja während der Ledigkeit des Kaiserstuhls wie wohlfeil und wie schmutzig verschacherten die Beamten in den Kanzleien der Reichsverweser oft die Würden von Freiherren und Grafen!

Soll also Adel sein, so muß er reich und unabhängig sein, damit er in freier Ehre und Würde im Staate stehen und durch seine selbständige Haltung wohltätig auf das Ganze wirken könne. Ein armer Adel löscht bei dem Volke die Idee des ganzen Standes aus. Er hat durch seine Geburt Ansprüche, die er ohne Vermögen schwerlich erfüllen kann. Er muß also dienstbar, glücksuchend, ja oft glückjagend sein wie Menschen aus den untersten Klassen; er muß für sein Fortkommen Künste gebrauchen, die wenigstens solche nicht zieren. Darum lobe ich mir die englische Art, wo der Älteste des Hauses das Haupt und der Vertreter aller Mitglieder desselben und der Besitzer der Güter ist, wo aber die Jüngeren und die Seitenverwandten meistens zum ganzen übrigen Volke gerechnet werden und ohne Erniedrigung und Befleckung ihres edlen Bluts meistens allen Gewerben und Geschäften der andern Klassen ihre Tätigkeit zuwenden mögen. Und darum ist der Adel auch nirgends so wirklich vornehm und geachtet als in England. Auch in Schweden hat man in den letzten Jahrzehnten die Einsicht gewonnen, daß zu zahlreicher Adel den Stand verkleinert und dem Staate schadet. Auf dem Reichstage zu Stockholm im Sommer 1809 ist ein Gesetz gegeben, daß bei neugeadelten oder um eine Stufe erhöheten Familien der Älteste dem Vater oder Erblasser immer in Besitz und Rang folgen soll, die jüngeren Brüder aber zu der unter dem Range des Erblassers stehenden Klasse gerechnet werden sollen.

Wir leben in einer Zeit des Streites der Gefühle, Ansichten und Meinungen, und auch der Redlichste wird durch die allgemeine Bewegung, welcher er sich nicht wohl entziehen mag, oft wider Willen von dem ruhigen Standpunkte der Betrachtung weggetrieben. Auf der Höhe des wilden Meers gründen die Anker nicht, und am Strande braust die Wellenbrandung zu gewaltig, als daß die Gedanken sich vor Anker legen könnten. So viel indessen haben wir alle begriffen, daß der Ruf nach Freiheit und Gesetzlichkeit dieser Zeit sehr natürlich war und ist, daß aber von vielen eine Freiheit begehrt worden, welche auf Erden nimmer sein kann noch sein darf. Das haben wenige bedacht, daß, wenn man alles frei läßt, nichts frei bleibt, sondern die verschiedenen Lebenskreise sich ineinander verlaufen und verwirren, wodurch notwendig ein Zustand der Auflösung und Ausschweifung entstehen muß, der die Freiheit in ihren Keimen tötet. Denn das ist das Geheimnis der wahren Freiheit, daß der Mensch durch viele sächliche Bande, durch Einrichtungen, die sich zunächst auf Dinge außer ihm und erst in der dritten, vierten Instanz auf ihn beziehen, gehalten, getragen und zur Zucht und Ordnung und zu dem heiligen Gefühle des Stetigen und Bleibenden, ohne welches keine guten Bürger sein können, angehalten werde. In dieser Hinsicht wünsche ich meine vorgeschlagene Bauerordnung oder wenigstens eine ähnliche, ich wünsche den Adel auf Majoraten gegründet und bei den Handwerken die Erhaltung oder Wiederherstellung der Zünfte und Innungen, von welchen man die Mißbräuche wegtun, und welchen man eine der Zeit angemessene, weniger sklavische Einrichtung geben muß.

Unser Zeitalter ist ein Saturnus, der seine eignen Kinder auffrißt und sich dann im Taumel seines blutigen Rausches an den dicken Bauch schlägt und den Leuten zuruft: Seht hier die Folgen der Freiheit! Seht hier das von Wahn und Knechtschaft erlöste Menschengeschlecht! Die Franzosen haben damit angefangen, sie haben das Kapital von Jahrhunderten in einem Vierteljahrhundert aufgefressen; andere Regierungen haben es ihnen in manchen Ländern aus Not nachmachen müssen; hie und da haben sie es ihnen in verblendeter Torheit nachgemacht. Alle Verhältnisse wurden aufgehoben, alle Bande zersprengt, gute und böse, nützliche und schädliche; die Sachen wurden so freigegeben wie die Personen, und die Stürme und Vulkane der Zeit weheten und spritzten beide wie Funken und Asche umher. Und das ist noch das Schlimmste – was freilich vor fünfzig und sechzig Jahren schon in einigen Ländern galt, daß diese ungebührliche Freilassung die verwünschte Fabriksüchtigkeit und Fabrikflüchtigkeit in die Menschen und in ihre Einrichtungen gebracht hat, und daß die ganze Erde und der Staat selbst von vielen Staatsverwaltern und Staatseinrichtern fast nur wie eine Fabrikanstalt gewürdigt und verwaltet wird. Was man heute bedarf, was ein Mensch und ein Ding morgen einträgt, das fragt man mit hungriger Gier, und deswegen kann man mit den kurzen Augen nicht sehen, was die künftige Zeit bedürfen wird, und was die künftigen Menschen sein und tragen werden, ja was sie in aller ewigen Zeit sein und tragen sollen. Es gibt gewisse natürliche Verhältnisse in der Verwaltung und Einrichtung der Erde und des Staates und unter den verschiedenen Klassen der Staatsgesellschaft, welche nimmer hätten gestört und gebrochen werden sollen, und für deren Erhaltung und Wiederbelebung der Staat sorgen muß, wenn er selbst sicher und lebendig bleiben will. Wir wollen die Fertigkeit und Geschicklichkeit der Menschen immer loben, welche durch künstliche Geräte und Maschinen einem Menschenarm die Kraft von hundert Armen und einer Hand die Verrichtung von fünfzig Händen geben können; aber wir sagen es geradezu, lieber wollen wir keine einzige Maschine als die Gefahr, daß dieses Maschinenwesen uns die ganze gesunde Ansicht vom Staate und die alle Tugend, Kraft und Redlichkeit erhaltenden einfachen und natürlichen Klassen und Geschäfte der Gesellschaft zerrütte. Wenn alle Handwerker Fabrikanten werden, wenn der Ackerbau selbst endlich wie eine Fabrik angesehen und betrieben wird, kurz, wenn das Einfältige, Stetige und Feste aus den menschlichen Einrichtungen weicht, dann steht es schlecht um das Glück und die Herrlichkeit unsers Geschlechts. Wenn wir dahin kämen, daß Axt, Säge und Senkblei von selbst Häuser zuschnitten und aufrichteten, daß der Pflug und die Sense von selbst den Acker pflügten und abernteten, wenn wir endlich auf Dampfmaschinen über Berg und Tal fahren und auf Luftbällen in die Schlacht reiten könnten, kurz wenn nur neben unsern künstlichen Maschinen, die alle Arbeit für uns täten, nur so hinzuschlendern brauchten – dann würden wir ein so entartetes, nichtiges und elendes Geschlecht werden, daß die Geschichte ihre Bücher auf ewig von uns schließen würde.

 

Ende.

Diese Betrachtungen und Ansichten aus den Jahren 1815 und 1820, wie sind sie bestätigt worden, und wie werden sie jeden Tag mehr und mehr bestätigt durch die Begebenheiten und Entwickelungen der letzten zwanzig Jahre! Es wälzen sich, ja es dampfen die ungeheuersten und unberechenbarsten neuen Kräfte und Lebensreize und Lebenstriebe über die Welt hin. Und dies ist nur der Anfang des Neuen; denn da der menschliche Geist sich selbst und die Entdeckungen und Erfindungen der Wissenschaft mit dem größten Ernst und Eifer auf das Praktische gewendet und gerichtet hat, so werden nach dieser Seite hin durch Chemie, Physik und Statik in den nächsten Menschenaltern noch ganz andere Veränderungen und Umwälzungen erfolgen. Der Dampf und das Feuer, die leichten und flüchtigen, beflügeln und verflüchtigen das Menschengeschlecht schon jetzt beinahe zu sehr, so daß es mit seinen Sohlen immer mehr von dem Boden der alten mütterlichen Erde in die Region der Wolken und Nebel hinaufgeschnellt wird. Um so notwendiger also wird es werden, einen guten Teil der Bürger wenigstens durch verständige und haltende Bande in einer gewissen bleibenden Stetigkeit an den Boden der Erde zu binden.

Fichte, dessen ganzes Wesen ethische Strenge, ja ethische Begeisterung war, und der eben dadurch auf so viele Tausende von Männern und Jünglingen den mächtigsten und schönsten Einfluß hatte, sieht in seinem geschlossenen Handelsstaat, dessen Idee er in sein sogenanntes Staatsrecht ausgenommen und etwas anders verarbeitet hat, Fichte sieht den Ackerbau vorzüglich von der sittlichen Seite an. Wer wollte und wer könnte sich dieser Ansicht abkehren, auch wenn er ihn mehr von der politischen Seite ansieht? Denn wenn der Staat als solcher freilich fast immer nur mit der Errichtung und Schirmung des Rechtszustandes zu tun hat, so muß die sittliche Idee doch von oben herab seine Einrichtungen und Gesetze beleuchten und durchleuchten. Wir können und dürfen ja nicht schlechter sein als die Heiden, deren weisere Gesetzgeber immer unumwunden aussprechen, daß alle Staatseinrichtungen dahin streben sollen, daß die besten, rechtschaffensten und sittlichsten Bürger dadurch geschaffen werden. Fichte, indem er einen strenge geschlossenen Rechtsstaat stiften wollte, war doch immer von der Idee begeistert, jedem seiner Bürger eben durch die genau geschlossenen Grenzen und bestimmten Kreise seiner verschiedenen Stände nach vollendetem Tagewerk den Genuß einer höheren geistigen, zur Veredelung und Versittlichung hinstrebenden Muße zu verschaffen. Es entging ihm nicht, daß die Idealität seines Staatsbaues für die gegenwärtige Weltlage und für den Stand des gegenwärtigen europäischen Staatssystems in den meisten Punkten wohl nicht passe, ja daß er allenthalben scharfe Stöße und Gegenstöße veranlassen werde. Seine Gesellschaft wäre, wie er sie dachte, höchstens kaum in dem engen Umfange von fünf bis zehn Meilen möglich gewesen; aber woher die Ungestörtheit seiner Anstalten und den Frieden nehmen, daß die andern mächtigen Umgeber ein solches wundersames Werk nicht alsbald umstießen? Er verhehlt sich selbst in vielen aufgeworfenen Fragen die Zweifel nicht, ob und wie sein Entwurf ein Werk werden könne; aber der Philosoph kann der Folgerichtigkeit seiner Ideen nichts abdingen lassen. Das war überhaupt das Tragische dieses edlen Menschen, daß er selbst in die gemeinsten und gewöhnlichsten Verhältnisse und Entwickelungen des Lebens und Staates immer mit den Sonnenstrahlen seines Olymps hineinschauen und sie nach dieser Beleuchtung nicht allein beurteilen sondern auch ordnen wollte. So stand er zum Erstaunen der Alltäglichen und Undenkenden nicht nur, sondern auch zum Erstaunen und Erschrecken seiner Schüler oft wie vor einem Berge still, wo ein Strohhalm im Wege lag, worüber er mit seinem philosophischen Rosse nicht meinte hinsetzen zu können. Bei jedem aus der guten, gewöhnlichen Ansicht, wonach auch gar nicht verkehrt noch unsittlich gelebt und gehandelt wird, ausgesprochenen Darum hatte er sein gewaltiges Warum? bereit mit dem Ausspruche: »Was soll ich mit allen euren Darum, ich muß ein bestimmtes Warum haben.« Doch ist es wahr, sein überfliegender Geist, welcher anfangs das Nichtich der irdischen Dinge mit zu dicken und häßlichen Nebeln verschleiert gefunden hatte, fand sich durch das religiöse Gefühl der Liebe und Freundschaft und vorzüglich des Vaterlandes in seinen späteren Jahren so mächtig in die untere Welt und ihr Treiben hinabgezogen, daß er auch eben durch die religiöse Vermittelung sich darin viel sicherer und behaglicher als früher empfand und wiederfand.

Wir müssen nun aber eben mit diesem Großmeister der sittlichen Ansicht und Würdigung aller Dinge vor allem auf dem sittlichen Boden stehen bleiben und alle jene Gründe, welche man solcher Würdigung der Staatseinrichtungen entgegenzustellen pflegt, ohne Umstände totzuschlagen suchen. Die Liberalen des Tages, welche der Welt den weiten, fliegenden, von allen Winden und Lüften durchwehten Freiheitsmantel umwerfen, sagen: Lasset nur frei, hemmet nur keine Kräfte! Wenn ihr sie frei walten lasset, wird sich nach den Bedürfnissen und Entwickelungen jedes Zeitalters alles von selbst in Ordnung und ins Gleichgewicht setzen. Deine Ansichten sind im Grunde doch nur mittelalterige Ansichten der Unfreiheit. Der Finanzminister vollends wird sagen: Ei! ei! wie soll der Staat sich tragen, wenn wir wieder Zünfte haben, wenn wir den Acker und Besitz fesseln? Wenn wir die Vermehrung der Menschen und der Kräfte hemmen? Auch wäre es höchst verkehrt, auf die Hälfte oder gar auf Zweidrittel der Oberfläche eines Landes kleine Bauergüter hinzusäen. Die großen Güter geben mehr Ertrag und können, da der Ackerbau sich immer mehr an die Fabriken lehnen, ja fabrikartig betrieben werden muß, allein zweckmäßig und so eingerichtet und bewirtschaftet werden, daß man alle Vorbereitungen und Vorarbeiten gehörig benutzt, alle Kräfte und Geschäfte nach fest bestimmter Regel ineinander eingreifen läßt. Spanische Schafzucht, Brauerei, Brennerei usw., welche den Staat so mächtig tragen helfen, wo willst du damit bei deinen Bauern hin?

Solche und ähnliche Gründe und Ansichten, die gegen jegliche sittliche Einsicht und Erkenntnis sprechen, hört man alle Tage. Ich muß aber auch den politischen Punkt berühren, und der deucht mir so gewaltig, daß selbst der Herr Finanzminister sich vor ihm wird neigen müssen. Wir sehen die Proben von der allgemeinen Fabrikation der Dinge und von der Schätzung des Staats bloß nach blind fortschießenden und blind wirkenden Kräften und Massen, welchen gar kein politischer Zügel angelegt wird. Daß bei Fabriken, daß in den großen Städten und Hauptstädten eine Menge elender, unruhiger, hungriger Menschen, daß diese gefährliche Brut, die Pöbel heißen muß, da entsteht, läßt sich nicht wenden. Das sind die unvermeidlichen Krebsschäden und Auswüchse der wachsenden Bildung und Verfeinerung des Menschengeschlechts, welche selbst ein Fichte auf einem Königstuhl nicht würde wegschaffen können. Aber, aber – wenn wir auch auf dem Lande mit der allgemeinen zerstückelnden Freiheit so fortgehen, wie es sich jetzt anläßt, so wird bei der durch die Zerstückelung in Gütchen und Höfchen bis auf zwei, ja bis auf einen Morgen Land und noch tiefer vermehrten Zeugung und bei der Unmöglichkeit, den Menschen Arbeit und Gewinn zu verschaffen, in einigen Menschenaltern auch der Landpöbel vollendet dastehen, ein hungriges, unruhiges, sittenloses Gesindel. Wann wir auf solche Weise den gedoppelten und verdoppelten Pöbel fertig haben werden, wird von einem Rechtsstaate kaum noch die Rede sein können: China wird fertig sein, Despotismus und Knechtschaft an den beiden Spitzen der Gesellschaft, der Schrecken drohende Stock des Schergen für das Milde und Gnade winkende Zepter des Königs. Solche Menschen können nicht mehr durch die Liebe und die Gerechtigkeit regiert werden, sondern Furcht und Schrecken allein können die reißenden Tiere bändigen. Seht euch einmal um, ihr Posaunenbläser einer tollen Freiheit, seht euch einmal um nach dem Pöbel von Paris, Manchester, Birmingham und Irland. Muß nicht König Ludwig Philipp, obgleich Paris eine Besatzung von 40–50 000 Mann hat, täglich vor einzelnen Scharen solcher reißenden Wölfe zittern? Und Irland? Ich sage noch einmal Irland?

Das irländische Elend kann kaum ein Gott mehr bessern, auch nicht einmal eine Auswanderung. Das Geschrei, Irland sei so elend durch fanatische Unterdrückung der Katholiken durch die englische Hochkirche, gilt nur für einzelne Zweige der Verwaltung und für einzelne Stände. Das Hauptübel sind ein paar Millionen Menschen zuviel. Wie ist dieses Plus oder vielmehr Nimium entstanden? Gerade auf demselben Wege, worauf wir in Deutschland auch immer weiter vorwärts schreiten, nämlich durch die Zerstückelung größerer Landgüter in viele zu kleine. Diese Zerstückelung, in der letzten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts vollbracht, hatte einen örtlichen, politischen Grund, der in den Erfolgen, die heute zutage liegen, für alle Staaten warnend sein sollte. Es ging diese Zerstückelung nämlich von den großen Landherren aus, welche aus großen Gütern von tausend und fünftausend Morgen Land eine Unendlichkeit kleiner Gütchen von fünf, zehn bis fünfzehn Morgen schnitten. Und warum? Um in ihren kleinen Pächtern abhängige Wähler zu gewinnen, die ihnen bei der Bewerbung um eine irländische Parlamentsstelle ihre Stimmen geben mußten. Dies Unglück hat die Einwohnerzahl Irlands in sechzig, siebzig Jahren mit unglaublicher Geschwindigkeit über alles Maß vermehrt und zeigt sich nicht bloß als ein irländischer Jammer sondern drückt durch die nach England und Schottland überwandernden irländischen Arbeiter an vielen Stellen auch die englischen bis zur verzweifelnden Hilflosigkeit herab.

Dies ist in Irland die tiefe Krankheit der Zeit; dies wächst von Tage zu Tage immer mehr in der Schweiz und in Frankreich. In dem unglücklichen, durch Gott so paradiesisch gestalteten und geschaffenen Italien ist es schon lange gewesen; dort gibt es fast gar keine kleinen Grundbesitzer und Bauern mehr sondern nur große Herren und Pächter und Tagelöhner; daher die Kraft und Tugend des einst so großen und kühnen Volkes längst gebrochen und erloschen.

Also was meine ich zum Schluß? Ich meine die Notwendigkeit der Erhaltung und, wo sie nicht erhalten sondern zerstört sind, der Wiederherstellung der ordentlichen Bauerschaften so gewaltig, daß ich behaupte, die Regierungen müssen ihre letzten Kräfte anwenden, um wieder welche zu schaffen. In Mecklenburg z. B. und in meiner Heimat müßten, wenn die Staats- oder Krongüter nicht hinreichen, um Bauern zu schaffen, die Regierungen einen Geldstock stiften – wie sie ja oft für andere viel kleinere Zwecke tun – um gelegentlich große Güter zu kaufen, und diese Güter in angemessene Größen zerlegen und Bauerlehen daraus machen und auf diese Weise allmählich ein Gegengewicht und ein Gegenmittel gegen die allgemein drohende Pöbelei zu erschaffen, deren Getümmel an dieser im Staate stehenden Felsenfeste sich zerschellen würden. Beiläufig gesagt, würde durch die mäßig großen Bauerngüter auch die übertriebene Zeugung von Hungerleidern gehemmt; so daß diese dem Anscheine nach rein politische Anordnung und Wiederherstellung auch die tiefste sittliche Grundlegung würde.

Ich habe auch des Adels und seiner Majorate erwähnt, obgleich ich nur für die Bauern zu sprechen hatte; denn die Edelleute und Großherren werden sich schon wehren und in der Welt nicht vergehen, wenn auch alle freie Bauern in Europa verschwinden sollten. Aber auch die Edelleute werden in demselben Maße schlechter, verdorbener, übermütiger werden, als alle Landbewohner neben ihnen mehr und mehr zu Tagelöhnern und Knechten erniedrigt werden. Man schaue nur in den Spiegel des italienischen Adels. Ich habe aber bei dem Wörtlein Adel nach meiner Ansicht ungefähr nur dasselbe in demselben Sinne denken können wie bei dem Wörtlein Bauer. Ich würde es vielleicht für hart halten, so vielen guten Häusern, die vor ihren Namen das Von und das Zu führen, mit diesen Wörtchen Erinnerungen zu rauben, die ihnen von dem höchsten Wert sind, aber, indem ich von Majoraten geredet habe, hat mir doch etwas der englischen Nobility Ähnliches vorgeschwebt. Des unbegüterten kleinen Adels, dessen nach den gegenwärtigen Weltverhältnissen und Weltansichten bei uns schon viel zuviel ist, sollte kein König und Fürst künftig mehr stempeln. Bei meinem Adel nun, oder was ich eigentlich allein als Adel von Gewicht im Staate ansehe, bei dem reichen hohen Adel würde ich die englische Weise nun auch nicht loben, nach welcher der König deren schaffen kann, wieviele ihm gefällt; nur daß er stillschweigend an die Bedingung des Reichtums gebunden ist, denn einen armen Mann zum Pair machen, würde in England beide unrecht und lächerlich dünken. Es wäre nämlich wohl eine Berechnung möglich, wonach sich die Zahl großbegüterten Adels, welche jeglichem Lande angemessen wäre, ungefähr bestimmen ließe. Auch müßte nach den Verhältnissen eines jeden Landes das Minimum und das Maximum von dem Güterumschluß eines Majorats gesetzt werden. Denn es ist wohl kein Zweifel, daß zu große und mächtige Majorate selbst der Regierung als etwas Mißliches und Gefährliches dastehen könnten, zu geschweigen, daß bei großem Reichtum auf der einen und großer Armut auf der andern Seite die Großgüterei die schlimmsten Mißverhältnisse und Übelstände mit sich führen könnte.

Wenn ich hier darauf hinzuweisen scheine, daß mir nur der hohe Adel ein wirklicher Adel deucht, und daß ich die leichten Schöpfungen des kleinen, güterlosen Adels nicht billige, so bin ich doch weit entfernt, in das Gedankengebiet derjenigen hinüberzuschweifen, welche den Adel gleichsam als die einzige sicherste Stütze der Monarchie, ja als teilweise Mitträger und Mitinhaber der Majestät darstellen und ihn also in hohe, sonnenscheinige Regionen mit hinaufrücken, wo den Blicken und den Begriffen zu schwindeln anfängt. Denn wie groß, glänzend und mächtig der Adel auch sei, er bleibt nur ein Stand im Staate, und der Kreis seiner Wirksamkeit und Untertanenschaft muß so genau und leicht abzugrenzen und zu bestimmen sein als die Kreise, innerhalb deren der Bauer und Bürger steht. Die Majestät des Regierers und Herrschers ist ein so hoher und unermeßlicher Glanz, daß der ärmste Bauer und der erste Baron des Reichs als gleich tief unter ihrem Himmel stehend gedacht werden müssen. Denn wenn mich einige Gebiete und Verhältnisse des Herrschers in Beziehung auf die Untertanen abgegrenzt sein mögen, so reicht diese Hoheit und Größe in tausend andern Beziehungen, wo Welt- und Lebens-, Bildungs- und Staatenverhältnisse frei wie Luft und Licht schweben und innerhalb keiner Rechtsgrenzen eingepfählt werden können, vorzüglich aber in Beziehung auf fremde Nationen, gleichsam in ein ewig flutendes, schwebendes und werdendes Planeten- und Sonnenleben hinauf, wo das gewöhnliche Maß und Richtscheit fehlt, und wo nur mit ungefähren und bildlichen Zahlen und Größen gerechnet werden kann. Dieses Bild der Majestät deute ich hier nur an.

Von diesem meinem so wichtigen Staatslehnbauern komme ich nun endlich einmal wieder auf meine eigne bäuerliche Wenigkeit zurück. Ich habe den ganzen Sommer und Herbst 1815 und den Winter 1816 in Köln gelebt, die politischen Schmerzen und Wehen abgerechnet, wohl gelebt. Ich fand die alte Reichsstadt und ihre Bewohner ganz anders, als sie mir in früherer Jugend, vor beinahe zwanzig Jahren, gedeucht hatte, wo sie (nämlich im Sommer 1799) freilich durchaus ein totes und wüstes Ansehen hatte und finstere und trübselige Eindrücke machte Vgl. Arndts Schilderung von Köln in seinen »Reisen durch einen Teil Deutschlands usw.« Bd. 4, S. 342–367. (D. H.). Köln war weiland die erste Reichsstadt am Rhein und lebte das ganze Mittelalter hindurch, fast in sich geschlossen, ja verschlossen und versperrt, im eigentlichen. Sinn fast ganz innerhalb ihrer Türme und Mauern beschränkt, häufig im Kriege, immer im Argwohn und auf der Warte gegen den Geistlichen Kurfürsten, der sich nach ihr nannte, und ringsum von kriegerischen und mächtigen Fürsten umgeben, die ihr nur die Herrschaft und Schiffahrt auf dem Rhein lassen mußten. Dies hat in ihr eine Erscheinung hervorgebracht, wie ich oben schon bei Stralsund erwähnt habe, nämlich eine Eigentümlichkeit in Sitte, Charakter und Sprache, welche die Stadt auch von der nächsten Umgebung unterscheidet. Der Charakter hat im ganzen das Niederdeutsche, Ruhigkeit und satirisch-ironische Selbstbespiegelung, und in dieser Spiegelung ein gar heiterer und lustiger Widerschein der Personen und Sachen, jedoch viel lebendiger als bei dem westlicheren Holländer; eine große Gutmütigkeit bei tüchtiger Derbheit und Gradheit; vieles, was in den Menschen von dem alten, freien Reichsbürger noch übrig ist, ein gewisses sicheres Selbstgefühl bürgerlicher Ehre und Gleichheit, das ja selbst der Bürger von Straßburg unter dem leichten und spielenden Franzosen nicht verloren hat: alles dies mit einem eigentümlichen Witz und Humor übergossen, den man nicht beschreiben kann, sondern der schlechtweg der kölnische heißen muß. Hier ging es mir denn inmitten deutscher Gastlichkeit und Freundlichkeit sehr wohl, und ich konnte mir auch die kölnischen Witze und Späße über mich schon gefallen lassen. Denn im Karneval bekam ich meinen Teil ab. Es war von einer andern Seite her schon ziemlich ernsthaft gegen mich geplänkelt. Ein zurückwehender Sturm, welchen der Geheime Rat Schmalz und der Geheime Staatsrat von Bülow in Berlin Schmalz zog in seiner Schrift »Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Venturinischen Chronik von 1808«, die im Herbst 1815 erschien, gegen die angeblich noch bestehenden Geheimen Verbindungen zu Felde und richtete speziell gegen Arndt die gehässigsten Verdächtigungen. Der Geheime Staatsrat v Bülow, der unter Wittgenstein das Ressort der Geheimen Polizei verwaltete, gehörte ebenso wie dieser zu den Führern der reaktionären Partei. (D. H.), ein Vetter des Staatskanzlers Fürsten Hardenberg, gegen die Verderber und Verführer der Zeit brausen ließen, blies mit rücktreibender Kraft auch in meine Federn. Indessen es kam mir als nichts Neues; ich war darauf vorbereitet und ließ es mich also nicht anfechten; nur daß ich es aus diesem Quartier nicht erwartet hatte. Doch als ich mich im Winter 1816 mit meinem Freunde Schenkendorf einige Tage in der Kölner Karnevalslust umhertummelte, wurden mir meine demagogischen Konterfeie, wie jene Herren die Farben dazu gemischt hatten, lustig parodisch in allerlei Gestalten vorgeführt.

Im Frühling des traurigen Hungerjahres 1816 brachte ich meinen Sohn auf das Gymnasium nach Düsseldorf und wanderte dann den Rhein hinauf über Koblenz, Mainz, Frankfurt und Kassel nach Berlin und von da in die Heimat. Ein Teil des Sommers ward in Dänemark verlebt, um einige notwendige nordische Anschauungen zu ergänzen. Darauf ordnete ich im Herbst und Winter meine Sachen in der Heimat und packte für den Rhein ein, für welchen ich bestimmtere Versprechungen hatte. Im Frühling des Jahrs 1817 ward in Berlin, im Sommer am Rhein gelebt, an dessen Gestaden ich mich im Herbst 1817 in Bonn ansiedelte, der künftigen Universität wartend, an welcher ich lehren sollte.

Ich stand nun nur noch einige Jahre vor dem fünfzigsten Lebensjahre und sollte in mir den alten Spruch der Weisen bestätigen, welcher aussagt, daß das Glück mit der Jugend ist, und daß das Alter auf sein Geleit nicht mehr zählen darf. Bis hierher hatte mich das Glück auch durch mißliche Lagen und Verhältnisse meistens leidlich durchgeleitet und mich ohne mein Zutun in Verhältnisse hineingestellt, die ich sehr glückliche nennen durfte. Hier erwies es mir nun eben in diesem Jahre 1817 noch eine letzte, große Gunst und nahm dann gleichsam Abschied oder lief höchstens zuweilen noch ein wenig nebenher, da es sonst vorangelaufen und Bahn und Quartier gemacht hatte. Diese Gunst war ein tapferes, treues Weib, das ich gewann, und die mich bis hieher, mich selbst und meine Geschicke, redlich hat durchtragen geholfen: Nanna Maria Schleiermacher aus Oberschlesien, Schwester des Professors Dr. Friedrich Schleiermacher Anmerk. zur dritten Auflage. Freunde haben gefragt, warum ich bei manchen Namen, z. B. bei dem Namen dieses bedeutendsten, mir sehr teuren und in der bösen Zeit mutigsten und wirksamsten Mannes, bei dem Namen Niebuhr und anderer Würdigsten, die gleichsam nur zufällig genannt scheinen, so wenig zu sagen gewußt habe? Es ist das wohl geschehen in dem Gefühl, welches, wo man viel von sich selbst sprechen muß, ein sehr natürliches Gefühl ist, daß mir vor der schwer zu umschiffenden Klippe geschaudert hat, ich möchte meine Kleinheit durch solche Grobheiten heben zu wollen scheinen. Ich war in dieser Hinsicht durch meine demagogische Untersuchung genug gewarnt worden, wo ich bei lobenden Meinungen und Äußerungen würdiger Männer über mich, welche man in beschlagenen Briefen gefunden, ordentlich befragt worden bin, wie sie zu solchen Meinungen und Äußerungen wohl gekommen seien? Worauf ich nur ein: Ich weiß nicht, oder: Fragt sie selbst antworten und in meiner Verteidigungsschrift höchstens das horazische Principibus placuisse viris haud ultima laus est anführen konnte. in Berlin, deren Vater an den Gestaden des Rheins geboren war, wohin sie als zu ihrem Ursprunge zurückkehrte. Hieraus schlug mich der erste Schlag:

Ich verlor gute Zweidrittel meiner Büchersammlung, welche von Stralsund zur See auf Köln geschickt waren. Ich hatte mir eine hübsche Auswahl der alten Klassiker und eine nordische Sammlung zugelegt. Diese waren, von Seewasser durchnäßt, fast alle unterwegs verfault nebst manchem, was ich in den letzten zwanzig Jahren für mich gesammelt und aufs Papier gebracht hatte. Durch einen Zufall, indem bei der Versicherung dieser Bücher ein Versehen begangen war, bekam ich für diesen schweren, guten Teils nicht einmal durch Geld ersetzlichen Verlust auch nicht die geringste Entschädigung; ja da man sonst wohl mit Abgebrannten und Schiffbrüchigen Mitleid zu haben pflegt, mir ist bei dieser Gelegenheit auch nicht ein einziges Buch zur Wiederherstellung geschenkt worden. Auch ein Zeichen des beginnenden Alters, welches, mit meinem lieben Dr. Martin Luther zu reden, kein Wohlgefallen mehr bei den Leuten hat. Doch war ein Glück bei diesem Unglück, nämlich, daß mit manchen wertvollen Papieren auch dicke Stöße von abenteuerlichen Schnurrigkeiten verloren gingen, die ich mir zur Ergötzung gesammelt und aufgehoben hatte von jenen obenerwähnten Entwürfen, Ratschlägen und Vorschlägen von Vaterlandsrettern, welche bei dem Minister vom Stein einzulaufen und dann oft in meine Hände zu gelangen pflegten. Wären diese erhalten worden, sie hätten bei den später erfolgenden Untersuchungen mich in manche schwere Not stellen und um noch manche gute Stunde bringen können. Denn natürlich das tollste und abenteuerlichste Zeug hatte ich aufbewahrt, und da hätte es allerdings den Schein geben können – zumal da ich bei manchen Papieren Zeit, Ort und Verfasser nicht mehr anzugeben gewußt, – als sei ich mit düstersten Abenteurern und Tollhäuslern jeweilig verbunden gewesen.

Im Jahr 1818 ward Bonn zur künftigen rheinischen Universitätsstadt erklärt und ich an dieser Anstalt zum Professor der neueren Geschichte ernannt.

Im Frühling 1819 hatte Sand den Herrn von Kotzebue ermordet. Dies hätte hier in Bonn oder in der Nähe geschehen können, was für die neugeborne Universität wohl ein schlimmstes Zeichen gewesen wäre. Er hatte nämlich nicht übel Lust gehabt, sich in Mannheim, in Bonn oder Godesberg anzusiedeln und hatte mit einem namhaften Gelehrten für diesen Zweck hieher gebriefwechselt. Ich, wie guter Dinge getrost, baute mir eben ein Hans am heiligen Rhein, welches die Schönheit des herrlichen Siebengebirges gerade aufs Korn nahm. Meine Frau hatte mir an dem großen deutschen Siegestage, den 18. Junius, meinen ersten Sohn geboren; der Tag war hier von Lehrern und Schülern noch mit großer öffentlicher Lust gefeiert worden, wie denn in jener noch warmen Zeit auch die Feuer des 18. Oktober noch hell und mächtig auf den deutschen Bergen zu lodern pflegten. Wenige Tage später Am 14. Juli. (D. H.) erschienen die Männer, welche Haussuchung bei mir hielten und meine Papiere zusammenpackten und versiegelten. Im Herbste des folgenden Jahrs 1820 bin ich in meiner amtlichen Wirksamkeit stillgestellt und einer langen gerichtlichen Untersuchung unterworfen worden. Ich habe durch sie und ihre Folgen mehrere schöne Jahre verloren, wohl die letzten, wo mir noch einige Kraft übrigblieb. In meiner Wirksamkeit gehemmt bin ich geblieben, Wiederherstellung in meine Amtstätigkeit habe ich nicht erlangen können, bin endlich mit Beibehaltung meines vollen Gehalts in den Ruhestand gesetzt worden. In dieser schweren und jeden menschlichen Stolz demütigenden Prüfungszeit habe ich Gott und meine Freunde kennen gelernt; und das war freilich eine große Freude im Leide. Aber es sind auch gewesen, die mich unter dem Titel, ich sei in diesen Gegenden ein gefährlicher Mann, wohl gern irgendwohin wie ins Elend geschickt hätten. Doch habe ich die Gnade und Gerechtigkeit meines Königs dafür zu preisen, daß ich in meinem Gärtchen am Rhein habe wohnen bleiben dürfen.

Die Geschichte dieser Untersuchung darf und kann ich, wie der Tag steht, nicht schreiben. Die allgemeine Anklage lautete auf Teilnahme an geheimen Gesellschaften und bösen Umtrieben, die dem deutschen Vaterlande gefährlich werden könnten.

Ich bin davon freigesprochen. Aber meine trotzige und harte Natur durch wieviele Demütigungen hat sie lernen müssen, daß ich für das liebe Vaterland auch noch meinen Marterweg von Leiden zu laufen, daß ich auch noch meine Wunden zu holen hatte, da ich mich auf Schlachtfeldern nicht unter Kugeln und Schwertern umgetummelt hatte! Ich habe es, nachdem ich mich über die ersten Plagen besonnen und gefaßt hatte, wirklich so hingenommen als ein Verhängnis des ausgleichenden und gerechten Gottes, der mich für manche trotzige und kühne Worte hat bezahlen lassen wollen; und dies hat mich – wofür ich Gott noch mehr danke – vor jener Erbitterung und Verfinsterung behütet, wodurch die meisten in solche Geschichten verflochtenen Männer traurig untergehen. Doch habe ich in den langen, in Ungewißheit und Schweben zwischen Furcht und Hoffnung hingeschleppten und verlornen Jahren den Vers sprechen und singen können:

Wem vom Kanonenmund sein letztes Schicksal blitzt,
Den nimmt ein sel'ger Tod im frischen Mut der Stunden;
Doch auf wem Lilliput mit tausend Nadeln sitzt,
Stirbt Millionentod mit Millionen Wunden.

Zwar schien ich während dieser Untersuchung und während der Folgen und Nachfolgen derselben mich nach dem Urteile meiner Freunde mit leidlicher Gleichmütigkeit und Besonnenheit zu benehmen; aber doch habe ich die langsame Zerreibung und Zermürsung meiner besten Kräfte bis ins Mark hinein nur zu tief gefühlt. Man sieht dem Turm, solange er steht, nicht an, wie Sturm, Schnee und Regen seine Fugen und Bänder allmählich gelockert und gelöst haben. Das Schlimmste aber ist es gewesen, daß ich schöne Jahre, welche ich tapferer und besser hätte anwenden können und sollen, in einer Art von nebelndem und spielendem Traum unter Kindern, Bäumen und Blumen verloren habe. Ich erkenne und bereue es jetzt wohl, aber es ist zu spät; diese Zeit und überhaupt meine Zeit ist vergangen und verloren. Ja, ich bin ein geborner Träumer, ein Fortschweber und Fortspieler, wenn nicht irgend ein festes Ziel, irgend eine Arbeit oder Gefahr, die plötzlich kommt und plötzlich reizt und treibt, mich aus der nebelnden Träumerei herausreißt. Ich kann auch nach dieser meiner Natur, wenn ich mich als Gelehrten Verzeihung! Wir fuhren einmal alle in Bausch und Bogen diesen Namen, wie wenige ihn auch verdienen. oder Schriftsteller betrachte, zu fast gar nichts kommen, wenn mir nicht gegeben wird, durch irgend ein bestimmtes Handeln, Reden und Vortragen einige helle und klare Funken des Erkenntnisses und Verständnisses hervorzulocken. Ich bin so geboren, daß ich sprechen und reden muß, damit meine Gefühle und Gedanken sich ordnen; ich bedarf der umrollenden und gegeneinander Funken schlagenden Kieselsteine des Gesprächs und der Rede, damit mein bißchen Geist aus mir herauskomme. Die Sperrung meines Katheders war für die Universität wohl kein Verlust, aber für mich ein Unglück, für mich, für einen Menschen, der in persönlicher Eigentümlichkeit stecken blieb und es nimmer bis zur vollen Gegenständlichkeit brachte, d. h. zu dem ruhigen, sicheren, bewußten Stande den Sachen gegenüber und zur immer heiteren und sonnenhellen Beschauung des Allgemeinen, sondern der nur in dem Besonderen, Eigenen seine einseitige Stärke hat.

Ich muß hier nun doch einige Worte sagen über die Beschuldigungen, die damals gegen mich und manche andere deutsche Männer gemacht worden sind: Geheime Gesellschaft und Bündelei, Verführung der Jünglinge, Träume von republikanischer Aufbauung und Wiederherstellung des Vaterlandes – diese Überschriften hat man auch über mein kleines Haupt gesetzt.

Geheime Gesellschaften und Bündeleien. Napoleon, damals von Gottes Gnaden – ich habe immer gesagt von Gottes Zorn – war gleichsam Kaiser Europas. Auch Deutschland war nicht mehr da, es war von 1806–1813 völlig dienstbar und zinsbar. Alles war gelöst und aufgelöst, auch die Strebungen und Gedanken der meisten Menschen; alle Gefühle und Gedanken der Sterblichen flogen unstet wie Vögel umher, welchen die Wälder abgehauen und die Nester zerstört sind, und die neue Sitze suchen, wo sie sich niederlassen können. Die Zeit war losgelassen, die Menschen ließen sich los, und vor allen Dingen auch Narren und Abenteurer genug glaubten ihren Wind zu haben und setzten ihrem Narrenschiffe alle Segel bei. Wie sollte es wohl gefehlt haben, daß solche leichte Windvögel mit ihren Albernheiten, Gaukeleien und Tollheiten, besonders mit ihrer Geheimniskrämerei in dem damaligen Gewirr und Strudel der Dinge nicht auch mich zuweilen angeflogen hätten? Aber doch haben sie mich wenig geplagt. Vielleicht mochte der Instinkt, der als ein feiner, geistiger Atem zwischen den Menschen hinweht, ihnen sagen, daß ihre Irrlichtfeuerchen an meinem Eise erlöschen würden. Ich kann und darf hier sagen, daß auch kein einziger solcher Toren oder Gauche mich nur eine Stunde getäuscht hätte. Denn wie neblicht und träumerisch es auch oft in meiner inneren Welt aussah, für die äußeren Dinge hat mir Gott den klaren Blick und leichten Verstand verliehen, und ich habe nimmer schwer gehabt, Schwarz und Weiß und schwarze und weiße Menschen zu unterscheiden. Der Geheimnisse und geheimen Gesellschaften aber bin ich selbst in der Jugend nicht lüstern gewesen, wo doch die Geelschnäbel so leicht von blanken Dünsten und Schimmern gelockt werden, und habe sie in den männlichen Jahren aus Überzeugung und Gewissenhaftigkeit fern von mir gehalten. In Orden bin ich freilich gewesen, zuerst als Knabe in dem obenerzählten Grobbrotesserorden; zweitens als Student in Greifswald in einer Verbindung, welche auch bloß auf Tugend lautete und wirklich keine andere Mysterien haben wollte als sittliche Reinheit und unbescholtene Tapferkeit. Es war eine Gesellschaft von zehn bis zwölf Jünglingen, zu welchen ich, mein Bruder Fritz, der Dichter Karl Lappe usw. uns gesellten; sie nannten sich die Verbündeten Brüder, Fratres Conjuncti. Leider kühlte sich bei mir die Begeisterung für diese Verbrüderung bald ab, indem ich bald bemerkte, daß ein paar Jünglinge, welche darin fast obenan standen, schon in andern geheimen Verbindungen mit verbuhlten Dirnen standen. Doch deklamierte ich ihnen bei meinem Abgange zur Universität Jena über einer Bowle Punsch noch ein bombastisches Abschiedslied vor, aus welchem folgender Vers noch in mir haftet:

Brüder, fester als der Brocken
Sollt ihr stehen und bestehen,
Bis des Alters weiße Flocken
Schnee euch in die Locken wehen.

Dies war auch meines Ordenswesens Ende; denn dieser Tugendbund war in Jahr und Tag in sich selbst erloschen. Von allen andern landsmannschaftlichen und Ordensverbindungen, wie sie genug auf den Universitäten lebten, habe ich mich frei erhalten, sogar mit Gefahr, diese meine Freiheit gelegentlich verfechten zu müssen. Späterhin, als in Deutschland der Tugendbund, der ja edelste vaterländische Zwecke gehabt haben soll, als ein gefürchtetes Gespenst vor Napoleon und den Franzosen stand, ist auch mir, wie wohl vielen andern Biedermännern, die Ehre angetan worden, daß man mich für ein Mitglied desselben gehalten hat. Ich erinnere mich noch meines herrlichen Grafen Geßler, wie er einmal des Morgens, gleichsam wie mich überraschen wollend, mit freundlich schelmischer Miene mich aufs Korn faßte, sprechend: »Und Sie sitzen hier und sind nicht nach Schweidnitz? Der Stein ist ja heute früh dahin gefahren; der Tugendbund wählt sich einen Obermeister für den verstorbenen Scharnhorst.« So war die Meinung und der Glaube der Menschen davon verbreitet. Ich aber habe so wenig um diesen Tugendbund gewußt und mich so wenig um ihn gekümmert, daß ich nicht einmal seine späterhin gedruckten Gesetze gelesen habe. Aber freilich, das kann und will ich nicht leugnen, in einem sogenannten formlosen Männerbund – denn so hat die Anklage später gelautet, als man keinen wirklichen Männerbund entdecken konnte – in einem formlosen Männerbund bin ich gewesen und bin wohl, wie mir deucht, noch darin. Solcher Bund schloß sich damals in der schweren, gefährlichen Zeit ohne alles Zutun der einzelnen von selbst; ein solcher Bund ist in allen Zeiten dagewesen, schließt sich aber in böser Zeit durch einen Instinkt der wirklichen Tugend enger und wärmer aneinander; solcher Bund wird ja gottlob! auch wann ich und meine Kurzlebigkeit lange vergessen sein wird, noch unter den Menschen bestehen. Was edel, wahr und tapfer ist und mit Knechtschaft, Weichlichkeit und Lüge keinen Vertrag eingehen will, was die Kraft hat aus sich und andern Funken herauszuschlagen, findet sich im sicheren aber unbeschwornen Bunde zusammen. Dieser Bund hat damals lebendiger bestanden, weil alle Geister durch ungeheure Sorgen und Hoffnungen erweckt waren. Man hat damals gerade das Gemeinsame, das Tapfre und Vaterländische in Art und Gesinnung, was einer für seinen Teil vielleicht haben mochte, durch jenen Instinkt leicht herausgefühlt. Diese Gemeinsamkeit hat damals die allerverschiedensten in Meinungen nämlich und Ansichten verschiedensten Männer, miteinander verbunden. Durch solche Gemeinsamkeit der Gesinnung, welche damals die einzige Tugend war, welche man verlangte, bin auch ich mit vielen würdigsten Männern, denen ich nicht wert bin die Schuhriemen aufzulösen, in Verbindung gekommen; sie haben mich redlich und tapfer für das Gute geglaubt. Drei dieser mich weit überragenden Männer muß ich mit Dankbarkeit hier als solche nennen, welche durch Bezeugung und Bekennung, daß sie mich einen redlichen Mann glaubten, mein Schicksal, das mich sonst vielleicht tiefer hinabgestürzt hätte, im bösen Laufe gehemmt und an höherer und höchster Stelle eine bessere Meinung von meiner Persönlichkeit gestärkt haben. Sie waren: der Freiherr vom Stein, Niebuhr und Friedrich Albert Eichhorn.

Ich habe hier nicht zu untersuchen, wann und ob es erlaubt ist, sich zu verschwören und zu verbündeln; ich spreche nur meine ehrliche Meinung aus, daß ich nach meiner Kenntnis von dem deutschen Charakter selbst in der bösesten Zeit, wo wir von dem schändlichen welschen Joche unter allen verschiedensten Titeln der Knechtschaft belastet waren, von geheimen Verbindungen nichts Großes erwartet habe sondern allein von der allgemeinen, in alles Volk durchdringenden Gesinnung. Ja, ich bin aus Grundsätzen so sehr ein Feind alles Geheimen, daß ich in der Zeit meiner Jugend zwischen den Zwanzigen und Dreißigen, wo die Freimaurer in meiner Heimat alles für sich mauerten und zumauerten und oft über Würden und Stellen verfügen konnten, wo nahe Verwandte, die in diesem geheimen Orden mächtig waren, viel in mich drangen, allen Lockungen und Zumutungen der Art tapfer widerstanden bin. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich König oder Fürst wäre: ich glaube, ich würde gegen die armen Freimaurer nicht mit Feuer und Schwert wüten wie die Jesuiten in Spanien und Portugal, weil sie fühlten, daß jene in ihren verbotenen, verborgenen Kram hineinpfuschen konnten, mit blutiger Grausamkeit getan haben; aber das weiß ich, daß eine Gesellschaft, die auf Geheimlehren und Geheimweihen beruht, der Idee des Staates und vollends der Idee des protestantisch christlichen Staates widerspricht, welche auch im Christentum alle geheimen Gesellschaften und vornehm geheimen Lehren verabscheuen muß; denn nach unserer heiligen aus der Bibel geschöpften Lehre gehört alles Überschwengliche und Geheimste des Göttlichen und Himmlischen dem Schuster ebenso wie dem Bischofe; wir dürfen nichts Esoterisches dulden, das einzelne Geweihte und Geheimnisträger vor den kleinen, gemeinen Leuten gleichsam vornehm voraus oder für sich haben wollen.

Aber dein Gedächtnis ist hier zu kurz, wird mir einer einwenden, du hast ja oben erzählt, wie du mit fremden Namen sogar auf Pässen gereist bist, unter fremden Namen in Berlin und Breslau gelebt hast – und das wäre nicht Geheimniskrämerei? Freilich. Aber ich frage jeden Billigen und Verständigen, ob solches in der Zeit der Unterjochung und Gefahr oder des Kriegs nicht eine ganz natürliche und unschuldige und deswegen auch bei Großen und Kleinen gewöhnliche Not ist, versteht sich, wenn diese Not nicht für Verbrechen sondern gegen Erbrechen und Verbrechen gebraucht wird. Denn den Mann will ich noch sehen, der sein Leben so um nichts hinwirft. Ich wäre bei all meiner deutschen Unschuld und Redlichkeit, welcher ich mir heute im Jahre des Heils 1840 bewußt bin, wie ich mir ihrer in den Jahren 1809 und 1812 und 1819 bewußt war, wohl ein prächtiger Gimpel gewesen, wenn ich gemeint hätte, mit meinen auf E. M. Arndt lautenden Pässen durch Franzosen und Franzosengenossen und ihre an allen Orten lauernden Späher reisen und neben ihnen weilen zu können. So habe ich mehrere Namen mit A geführt (denn in diesem Buchstaben bin ich stets geblieben), als da sind Allmann, Amsberg, vielleicht andere, deren es mich nicht mehr erinnert Arndt irrt hier in seiner Angabe, daß er nur mit A beginnende Namen geführt habe; einige seiner Briefe sind auch mit Holmquist und Düben unterzeichnet (Meisner und Geerds, E. M. Arndt, S. 57. 58. 80). (D. H..

Auch in der Zeit des Kriegs habe ich in Briefen, welche mit der Post liefen, nur die alleralltäglichsten Dinge mit meinem wirklichen Namen unterschrieben. Da man weiß, daß unter solchen Verhältnissen Freund und Feind die Briefe erbricht, daß viele derselben nimmer an die rechte Stelle sondern in wildfremde Hände kommen, hütet man sich, auch selbst durch ganz unschuldige und gleichgültige Nachrichten, die doch einer falschen oder bösen Ausdeutung unterliegen können, sich selbst oder seine Freunde und Briefwechsler bloßzustellen. Auch wenn man aus dem Herzen oder Hause ganz unschuldige Dinge zu melden hat, wozu man keine Fremde als Beiständer und Mithorcher wünscht, ist es wohl begreiflich, daß man durch echte Namensunterschrift sie nicht in Persönlichkeiten, die sie nichts angehen, einführen will. Ich meine, hierhinter stecke kein dolus malus, sondern es sei ein erzwungener dolus bonus, der dem fremden dolus malus, der verbotenen bösen Lust der Neugierigen oder Späher, ausweichen will.

Und Jünglinge hätte ich verführt? Ich will vor Gott und vor allen Redlichen verloren sein, wenn man mir einen einzigen nennt, den ich zu böser Bündelei oder nur zu dummer Narrheit verleitet hätte. Habe ich in ungestümer, wilder Zeit, wo alles aus seinen gewohnten Ufern trat und daraus treten mußte, auch mitunter ungestüme und wild hinfliegende Worte gebraucht, wie sie der ordentliche oder matte Friedenszustand nicht hören mag, so waren sie an Männer gerichtet und nicht an unbärtige Jünglinge, auf das Ziel der Abschüttelung und Zerbrechung fremder Tyrannei gerichtet. Jünglinge, wo sie in meinen Kreis geraten sind, habe ich immer in ihre gebührlichen Grenzen des Wartens und Hoffens gewiesen und auf eine Zukunft hin, wo ihnen der Bart der Kraft und des Verstandes gewachsen sein würde. Keiner ist auch weniger gemacht als ich, breite Kreise um sich herum zu ziehen oder sich in solche Kreise hineinziehen zu lassen, vollends Genossenschaften oder große Verbündungen und Verbrüderungen zu stiften. Ich bin nimmer ein Mensch der öffentlichen, großen Gesellschaften und Gelage, des Schaugepränges und der Schaurednerei noch irgend einer Prangerei, Schauerei und Rednerei gewesen, wieviele tausend Namen ihre Arten tragen mögen, und wieviele unbescholtene Männer an solchen Lärm- und Schaugerichten auch ihr Behagen stillen mögen. Ich bin von Natur ein einsamer Vogel, eine fringilla caelebs, dem am liebsten in der Einsamkeit ist, oder dem in Gesellschaft von zweien oder dreien zu fliegen und sein kurzes, eintöniges Finkenlied zu pfeifen immer am fröhlichsten gedeucht hat; bin nimmer ein Mensch der rauschenden und schimmernden Gesellschaften, der Klubs, Kasinos und Ballhäuser gewesen sondern lieber die stillen Fußpfade des verborgenen Lebens gewandelt, wo das bißchen kurze Menschenglück sich am sichersten und fröhlichsten ergehen mag.

Doch es bedarf hier keiner breiten Erörterungen. Wie sehr ich die Achtung und Ehrfurcht, welche jeder Gewissenhafte der Jugend schuldig ist, immer anerkannt habe, wie fern ich von der Narrheit gewesen bin, sie vor der Zeit aus ihrem dunkeln und schonen Blütentraumdasein auf die gewöhnliche kalte und oft kahle Landstraße des Lebens hinauszutreiben, ja gar für ein politisches Streben und Wirken, wofür sie noch keine Reife haben, sie zu fanatisieren, darüber habe ich mich schon vor fünfunddreißig Jahren unverhohlen ausgesprochen, und die Ansichten, welche ich im Jahr 1805 darüber hatte, hatten die Jahre 1813 und 1815 nicht verändern können und sind noch jetzt, im laufenden Jahre 1840, die meinigen. Ich rücke darüber folgende Stelle hier ein, die sich in einem damals von mir ausgegebenen Buche findet Fragmente über Menschenbildung. 2. Teil, S. 200–202. Altona 1805.:

»Aber die Staatsverfassung – sollte sie nicht ein wichtiger Teil der Musik (der Herzens- und Geistesbildung) sein? Und nicht einmal hast du sie genannt. Welche sonderbare Vernachlässigung! – Das ist es keineswegs. Sie gehört noch gar nicht hieher und wird künftig für jeden, dem sie etwas Ernstes dünkt, ein eignes, ernstes Studium ausmachen müssen. Was ein Staat ist und nicht ist, was er war und sein kann, das haben meine Jünglinge durch die Kunde der alten Sprachen, Geschichte und Erdkunde, kurz durch die vollständigste Archäologie, schon gewissermaßen abgesehen. Wer sich damals durch diese allerdings großen, menschlichen Gegenstände angezogen fühlte, der ward, ohne daß ich es hindern konnte, ein Politiker und hatte den reichsten Stoff zu verarbeiten. Übrigens will ich nicht gern, daß meine Jünglinge Politiker sein sollen, zufrieden, daß sie die höchsten Begriffe von menschlicher Kraft, von kosmischer und politischer Größe, vom poetischen und heroischen Leben mit allem Größten und Schönsten des Altertums empfangen. Sie sollen die Blüte noch nicht verlieren, die Wahrheit der Dichtung und des Mythus soll ihnen noch die höchste bleiben. Wer politisch wird, nimmt eine bestimmte Richtung wie der Falke, der auf den Raub schießt, und bindet sich irdisch an die Erde fest, um so unseliger, je weniger das Leben ihn noch bindet. Ich breche damit nicht den Stab über die politischen Männer; sie wissen, wo sie stehen, und was sie sollen; auch kann ihr Wollen überirdisch oft über alle Formeln und Schranken fliegen, selbst in der gebundenen aber edlen Wirksamkeit kann ihr Leben frei bleiben. Was soll aber aus dem Jünglinge werden, dessen Leben noch nirgends eingreift, und der seinen Geist fesselt, ehe der Leib es ist? Ich sage daher geradeaus: Alle politische Erziehungen taugen nichts und machen halbe Barbaren. Die Sparter, die Kreter, die Römer hatten eine solche. Wann und wo haben sie liebenswürdige und menschliche Tugenden gezeigt? Wann und wo sind sie über die Gerechtigkeit des Gesetzes in Milde hinausgegangen? Waren sie glücklich und machten sie Glückliche? Wie kann dies ein Volk, das nur Disziplin hat?«

(Nun folgt ein nicht ganz unrichtiges, doch zu hartes Urteil über England und die Engländer; dann heißt es weiter:)

»Es ist schön, sein Vaterland lieben und alles für dasselbe tun, aber schöner doch, unendlich schöner, ein Mensch sein und alles Menschliche höher achten als das Vaterländische. Der edelste Bürger kann auch der edelste und unbefangenste Mensch sein; aber um dies sein zu können, muß man keinen zum Bürger machen, ehe denn er Mann ist. Wohl aber werden meine Jünglinge so gebildet in das politische Leben eintreten, daß sie des besten Staates und der einfachsten Gesetze am würdigsten sind; daß sie nicht gern etwas tun noch dulden an sich und andern, was eines freien Mannes unwürdig ist; daß ihnen als Beamten und Bürgern keiner mit unreinen Absichten und Händen nahen darf, ohne sie blutig zu erzürnen. Sie werden den Mut haben, lieber edel zu entbehren als schändlich zu haben, und ihr kühner und unschuldiger Sinn wird sie immer mit den besten Bürgern und Herrschern verbinden, das Beste zu tun.«

Und republikanische, demagogische Aufbauung und Wiederherstellung des Vaterlandes? Es war, als alles niedergerissen und zertreten lag, als alle die blutigen aber losen und schlechtverbundenen Arbeiten und Anstrengungen der Jahre 1805, 1806 und 1809 uns nur noch tiefer in Schmach und Jammer hinabgedrückt hatten, wohl jedem deutschen Herzen erlaubt, indem es aus dem bittern Elend flehend zum Himmel emporblickte, in weite, unbestimmte Fernen der Hoffnung zu schauen, ob sie nicht irgendwo den Schimmer einer Rettung durchblicken ließe. Wie die Hoffnung selbst ja eben dadurch nur Hoffnung ist, daß sie uns ungewisse und schwebende Bilder, Gestalten und Güter vormalt, die wir kaum mit den Augen, geschweige mit den Händen ergreifen können, so war es in jenen Tagen des Jammers und der Schmach wohl natürlich, daß auch die Besonnensten und Verständigsten viel mit Phantasien spielten. Ich habe auch die meinigen gehabt, auch meine schimmernden Flatterbilder der das arme Leben vergoldenden Hoffnungen; doch glaube ich nicht, daß sie zu den närrischesten und abenteuerlichsten gehört haben, blutdürstig und mordsüchtig, wie man manche der späteren Jünglingsverbrüderungen gescholten hat, sind sie nicht gewesen. – Aber ich habe eine gefährliche Einheit des deutschen Volks gepredigt. Ich bin da aber nur ein kümmerlicher Spätling, ein armseliger Nachprediger, wenn ich an soviele berühmte Vorprediger denke, die aus ganz anderem Herzen und Munde geredet haben; ich meine, diese Predigt ist so alt als die Geschichte unsers Volks. Bei der Zerspaltung der Stämme und Herrlichkeiten desselben ist sie auch fast immer nötig gewesen; und wie sollte sie selbst heute noch nicht nötig sein, heute, wenn wir der Evangelisten gedenken, welche die Russen und Franzosen uns immer ungebeten über die Weichsel und den Rhein zuzusenden belieben? Ich habe allerdings, indem ich nur im Herzen und im Auge hatte, wie die Mächtigsten in Deutschland, damit sie den fürchterlich hinterlistigen und habsüchtigen Nachbarn besser widerstehen und unsern deutschen Namen beschirmen und erhalten könnten, noch mächtiger und stärker gemacht werden müßten, den Wunsch und die Hoffnung ausgesprochen, es möchten bei der Zerbrechung der fremden Bande und der Wiederherstellung der deutschen Freiheit, wie es ja bei den letzten Friedensschlüssen genug geschehen war, noch mehrere kleine Fürstentümer in den mächtigsten deutschen Staaten verschwinden. Da habe ich ungefähr so empfunden und gedacht wie der Reichsfreiherr vom Stein, als seine Reichsherrlichkeit zerbrochen und dem Fürstentum Nassau unterworfen ward, welcher damals, sich gegen solche Gewalt sträubend, öffentlich erklärte, er sehe weder Not noch Nutzen für das liebe deutsche Vaterland darin, daß der Fürst von Nassau durch Verschlingung seiner Reichsherrlichkeit um ein Paar Quadratmeilen wachse, habe aber nichts einzuwenden sondern werde es mit Freuden erleben, wenn sein Ländchen nebst Nassau mit vielen andern kleinen Fürstentümern zur Mehrung deutscher Stärke und Wehrhaftigkeit in den mächtigen Staaten des Vaterlandes untergehe. Es ist des breiteren und weiteren in meinen Büchern zu lesen, wie ich es empfunden und gemeint habe. Wir hatten die Beispiele und Vorgänge schon vor zwei Jahrhunderten in und nach dem Dreißigjährigen Kriege, wir hatten sie in den Jahren, wo unsre Schmach begann, in den Jahren 1802 und 1803 zu Luneville und Regensburg und von 1805–1812, wo Napoleon und seine Länderschneider und Ehrenverkäufer Talleyrand und Bassano die Einziehung und Unterstellung und Unterschiebung – denn man stellte nicht sondern man schob – der kleineren deutschen Reichsherren oft mit der verhöhnendsten und ausgerechnetsten Hinterlist und Grausamkeit machten. So waren Erzfürstentümer, Fürstentümer, Reichsstädte und wieviele Grafschaften und Ritterschaften, wieviele prächtige und reiche Abteien und Stifter plötzlich durch einige Federstriche wie durch einen alles wegfegenden, bösen Wettersturm weggeblasen. Ich hatte diese Beispiele ganz jung vor mir, sie waren ja endlich sogar durch deutsche und europäische Verträge bestätigt und besiegelt – wehe meinem deutschen Herzen und meiner deutschen Ehre, wenn ich auch mitten in der Aufregung der schlimmsten Stunden jener Jammerzeit, mitten in der Erbitterung und Empörung über manches Gelittene und Getane so Ungerechtes und Grausames hätte denken und entwerfen können als jene Fremden, die über die uralten Herrlichkeiten des verwitterten Deutschen Reichs die schrecklichen Lose warfen! Ich meinte keine Ehren zu schänden und keine Höhen zu erniedrigen sondern hoffte, indem ich sie mit größerer Ehre und Hoheit auf das innigste zusammenband, mit dem also gestärkten und vergrößerten Deutschland alle vergrößern und erheben zu können. Mögen ihnen nur künftig keine schwereren und gefährlicheren Vereiniger kommen! Denn nach den europäischen Entwickelungen wird ihr Tag einmal kommen, wie der Tag für die stille Hinlegung des Zepters und Schwerts Karls des Großen gekommen ist.

Und endlich mein demagogischer Republikanismus für das wiederherzustellende Deutschland? Wahrlich, solche Tollheit als der Gedanke einer deutschen Republik oder gar mehrerer deutscher Republiken ist auch nicht einen Augenblick in meinem Leben nur über mein Gehirn hin, geschweige in mein Gehirn hineingelaufen. Ich hatte mich von Kind auf (ich glaube durch meine historische Leserei, auch wohl durch den politischen Sinn und Glauben meiner Familie) an das Königtum und die Monarchie so gewöhnt, ja in dasselbe hineingelebt, daß ich auch der besten Republik in ihrer besten Zeit kaum mit Gerechtigkeit gewogen war, und daß ich namentlich für die Engländer gegen die Amerikaner, für die Könige und Fürsten gegen die französische Republik schon in frühester Jugend immer Partei nahm. Später, als ich über die Dinge und Einrichtungen dieser Welt auch denken lernte, war mein Fazit: daß große Freistaaten ein Unding sind, das von Erschütterungen zu Erschütterungen fortzitternd bald seinen glücklichen und listigen Einfänger und Vogelsteller finden wird, der damit durchgeht wie Cäsar mit Rom und Napoleon mit Frankreich; daß kleine Republiken jetzt zwischen den großen Monarchien sich kaum selbständig behaupten können; daß aber ein wohlgeordnetes, gesetzliches und in der Majestät seines Herrscherstammes verehrtes Königtum alle möglichen Vorteile eines Freistaates darbietet und aller seiner Erschütterungen und Gefahren durch einzelne ungeheure Männer oder wilde Rotten glücklicher und stiller ermangelt. Ich bete in dem Bilde meines Königs vorzüglich die schöne Vorstellung der altnordischen Sprache an, worin er der Stiller heißt. Es ist in der Monarchie, die allerdings oft in zu tiefen Schlaf und Schlummer fallen kann, doch leichter die nötige Lebensbewegung hervorzubringen, als es in der Republik ist, die zu stürmische Bewegung zu hemmen.

Ich habe denn, wie ich bekannt habe, seit jenem Unglück, das mich aus meiner akademischen Wirksamkeit setzte, Jahre durch mehr geträumt und gespielt als recht ist, habe auch bei einer zahlreichen Familie und bei manchen andern Verlusten, welche die Zeit mit sich gebracht hatte, da mir nun jährlich eine Einnahme von Vorlesungsgeldern von 500–700 Talern abgeschnitten war, mich nach meiner Decke strecken und zusammenziehen lernen müssen; wodurch auch wohl eine gewisse Bäuerlichkeit und bäuerliche Einfalt und Einfachheit, welche gewisse Gönner allein meiner Lust und meinem Geschmack daran beigelegt haben, noch mehr in mein äußeres Leben gekommen sein mag. Das hat manche Klemmen gegeben und gibt es ja noch; aber ein braves Weib, gesunde, wohl geborne Kinder und viele herzige, treue Freunde haben mich aufrechterhalten und meine Schwächen und Gebrechen durch Freundlichkeit und Liebe getragen und übergetragen. An den großen oder fürchterlichen Erscheinungen und Entwickelungen der Zeit, dem griechischen und spanischen Aufruhr, dem deutschen Zollverein, den drei großen Pariser Tagen, wie die Franzosen sie nennen, dem belgischen Aufstand, den traurigen hannöverschen Händeln, den preußischen Zerwürfnissen mit seinen katholischen Erzbischöfen und mit Rom habe ich mit doch noch nicht ganz stumpfen Sinnen teilnehmen und über einzelnes auch meine Papierschnitzel ausstreuen müssen. Aber mitten unter diesen großen Weltbegebenheiten hat auch mich in jenen Jahren aus heitrer Luft ein Schlag getroffen, wie ich noch keinen auf Erden gefühlt hatte. In dem schönsten Sommer 1834 an einem schönen, hellen Nachmittage, den 26. Junius, nahm der Rhein mir meinen jüngsten sechsten Sohn, ein Kind von neun Jahren, unter so grausen Umständen und Zeichen, daß sie nicht erzählt werden können. O wir arme Sterbliche! Gott hatte gewinkt und gewarnt; aber was hilft uns Blinden Warnung und Wink? Wir müssen seine Verhängnisse erfüllen. O es war ein so schöner und feuergeistiger Knabe, auf welchen ich große Hoffnungen gebaut, über welchem ich am meisten gedankt und gebetet hatte! Warum dieses Opfer dem Rhein, und dieses Opfer gerade von mir? War meine Wonne über die Wiedergewinnung desselben zu irdisch, mein Dank zuwenig himmlisch gewesen? Hatte ich das süße Kind zu sehr geliebt? Kindische Fragen! Gott weiß es allein, der uns liebt und uns richtet. Ich aber muß diese Wunde nun fühlen, solange ich hier unter den Schatten umherwandle; der alte Stamm, der bis dahin noch ziemlich grad in allen Stürmen gestanden war, fühlt sich erschüttert und neigt seine gesenkten Äste und Zweige dem Grabe zu; der Geist aber, der noch unter seiner Rinde zuckt, muß für die irdischen Freuden immer tiefer in das Spiel mit den Geistern der oberen und der unteren Welt hinein. Ich kann mir nun das alte Liedchen des alten Äsopus Anthologia graeca, hg. von Jacobs, I, S. 52. (D. H.), das ich mir vor vierzig Jahren übersetzte, zum Morgen- und Abendrot der untergehenden Tage vorsingen:

Ohne den Tod wie entfloh' einer dir, o Leben? Zehntausend
Sind deiner Plagen, nicht leicht weder zu tragen noch fliehn:
Süß und hold ist, was die Natur trägt, Land und Gewässer
Und die Gestirne, die Lichtkreise der Sonn' und des Monds;
Alles andere aber sind Schrecken und Schmerzen, vergeltend
Schreitet dem Glück, was du hast, eilend die Nemesis nach.

Doch Verleiht der gnädige Gott zwischen diesen Tönen und Gesichten des alten, frommen Heiden dem Greise zuweilen auch christliche Klänge und Gesichte.

Hier ist eigentlich schon das Ende des Endes. Denn über alle die großen Erscheinungen und Entwickelungen der letzten zwanzig Jahre hier auch noch meinen Senf auszuschütten, wäre an dieser Stelle teils etwas ganz Unangemessenes teils auch nach meiner Weise etwas Unmögliches. Auch das Verschwiegene hat seine Anmut Καὶ τὸ σιγάμενον χάριν ἔχει. (oder seine Gunst) singt schon Pindar. Wer mag auch immer auf Dornen spazieren oder Dornspitzen auf die Köpfe der Leute säen? Doch dringt mich mein Herz, hier zu guter Letzt in wenigen kurzen Strichen anzudeuten, wie die Zukunft und die Not meines deutschen Vaterlandes den andern großen Mächten Europas gegenüberzustehen scheint, und welche Ergebnisse, Entwickelungen und Bereitungen der Dinge in den nächsten Menschenaltern wahrscheinlich eintreten werden oder eintreten sollten.

Schon oben habe ich an vielen Stellen geklagt, daß man auf den Kongressen zu Wien und Paris und bei den Verhandlungen über die Einrichtung, Wiederherstellung und Befriedigung Europas auf das Herz des Weltteils, auf Deutschland, zuwenig Rücksicht genommen habe; daß ihm mehrere seiner notwendigsten und natürlichsten Vorteile damals nicht bloß verweigert sondern wieder aus den Händen gewunden seien, und daß man diesen Bundesstaat mit mehr als dreißig verschiedenen Herrschaften recht absichtlich (wenigstens die drei fremden Hauptmithändler und Mitentscheider, wie es scheint, absichtlich) ohne seine ihm von Gottes und Rechts wegen gebührenden Grenzen und gebührende Macht habe so liegen lassen, damit er bei nächstausbrechenden Kriegen für alle Völker wieder der blutige Tummelplatz werden könne. Denn o je! wie tüchtig, fleißig, tapfer unser Volk auch sei, wie vieles fehlt uns, als ein Ganzes betrachtet, um ein ordentlicher, wehrhafter Staat zu sein? Ich winke nur auf einiges hin:

1. Unsre ganze Westküste ist flankiert oder abgeschnitten und in fremder Gewalt, und im Fall eines Krieges sind wir an jener Seite sehr gelähmt. Belgien und Holland haben unsre Küsten besetzt und können unfern Hauptfluß, den Rhein, mit allen seinen größeren und kleineren Zweigen sperren. Ebenso steht es auf der Nordwestküste: Elbe, Weser, Ems sperrt uns der Engländer, wann er will, zu jeder Stunde. Sein Leopard hat sich in Helgoland auf die Lauer hingelegt und kann von dort leicht von dem einen Fluß zu dem andern hinspringen. Es ist in Wien, während man mit unzeitiger Gelindigkeit und Sorglosigkeit den Engländern für sich und für Hannover alles, was sie begehrten, nur zu leicht hingab, von der Zurückgabe Helgolands an Deutschland nicht einmal die Rede gewesen. Helgoland aber hat die Elbe und Weser unter seinen Augen liegen.

2. Unsre lange Nordküste längs der Ostsee ist leider in jedem Kriege ebenso bloßgestellt; denn wir haben auch nicht ein einziges Orlogschiff. O du altes, kriegerisches Germanien, dem einst die Völker sich verneigten, wohin? – –

3. Und doch, wenn wir die erste beste Landkarte auflegen und betrachten, finden wir, daß Deutschland so viel Küsten hat als Frankreich, wenn wir längs der Nordsee von Dünkirchen bis zur Eider und an der Ostsee von Kiel bis Tilsit messen. Die Bucht der Adria, die wir in unserm Südwesten berühren, will ich gar nicht einmal mit einrechnen. Was fällt uns dabei ein? Vieles fällt uns ein, woran diejenigen nicht gedacht haben, die vor einem Vierteljahrhundert das Los über die Länder warfen, woran aber unsre Enkel und Urenkel denken müssen, damit wir nicht wieder in welthistorische Jämmerlichkeit und Ohnmacht und in die Verachtung der Völker zurücksinken. Denn:

4. erschrecken wir nicht und schämen wir uns nicht im Angesichte Europas, selbst im Angesichte des kleineren Skandinaviens und Neapels, daß wir nicht ein einziges deutsches Kriegsschiff haben? Wie stand es vor vierhundert Jahren? Damals beherrschten die Ostseestädte mit ihren Kriegsschiffen die ganze Ostsee, die Städte des Niederlandes und der Nordküste die ganze Nordsee. An skandinavische und russische Kriegsflotten war damals kaum gedacht; die damalige französische und englische Seemacht hätte sich mit der Hälfte der deutschen nicht messen können. Ist also das Gegenwärtige nicht ein tiefes Weh? Wir haben noch die kühnsten und besten Schiffer und Matrosen von der Welt – jeder Germane ist auch ein geborner Seemann – welche die englischen und amerikanischen Flotten für alle ihre Siege stärken helfen; wir haben die besten, reichsten Eichenwälder – und wir haben kein Kriegsschiff.

5. Will ich denn etwa, daß Preußen auch eine Kriegsflotte bauen soll? – denn es beherrscht ja die längste Strecke der deutschen Ostsee – daß Preußen, welches schon seiner Lage nach für so viele andre deutsche Fürstentümer stehen und einstehen soll, seine Kräfte durch einen Flottenbau noch mehr zersplittern soll? Nein, das will ich nicht – denn was sollte uns selbst eine Flotte von zehn bis fünfzehn Orlogschiffen und zwanzig, dreißig Fregatten dort Großes frommen schon den skandinavischen und russischen Flotten gegenüber, geschweige den Flotten der westlichen Mächte? – sondern ich drücke auf diese unsre Blöße nur so sehr, um auch den Einfältigsten klar zu machen, was Deutschland seit Jahrhunderten und in unsern Tagen alles verloren, versäumt und vergessen hat, und was von den Fremden mit wohl berechneter, listiger Absichtlichkeit für Deutschland alles versäumt und vergessen worden ist.

6. Fichte in seinen Grundzügen des Staatsrechts hat idealisch wundersame Ansichten von dem Handel und Verkehr der Völker. Auf der einen Seite fürchtet er das Gefährliche und Verderbliche, was in zu großer Ausdehnung und in zu großem Reiz des Handels liegen kann; auf der andern Seite aber begegnet ihm auch die Notwendigkeit, daß ein Volk, welches nicht ganz in Barbarei und in erstarrender und verstockender Absonderung stecken bleiben will, durchaus Handel und Verkehr mit Fremden und also auch die Macht haben muß, diese zu behaupten und zu verteidigen. Er trifft da auf seltsame Resultate, da er allen Verkehr mit Fremden und alle Verteilung der überflüssigen Luxusartikel, ja gleichsam die ganze Führung und Leitung des Handels, unmittelbar in die Hände von Staatsbeamten überliefern will; aber er winkt bei allem dem doch, zum Teil im Widerspruch mit seinem System, auf jene eben angedeutete Notwendigkeit hin.

7. Es entsteht denn das notwendige, unvermeidliche Unglück für unsre mächtigen deutschen Staaten und für ganz Deutschland bei dem Ausbruche eines Krieges:

a) daß unsre Küsten und unser Handel schutzlos und von Freund und Feind verletzlich und angreiflich sind;

b) daß, wann wir selbst in Krieg verwickelt werden, wir der Gunst von Seemächten bedürfen, deren Mitwirkung wir, wann wir selbst seemächtig wären, aus andern Gründen nimmer suchen noch annehmen würden; und das; wir

c) bei Beendigung solcher unserer Kriege bei den sogenannten Friedensschlüssen die Bundesgenossenschaft solcher Seemächte meistens sehr teuer bezahlen müssen. Bedenkt nur ein bißchen die Friedensverhandlungen und Friedensschlüsse von Ryswik, Utrecht, Luneville, Paris usw.

Was soll man hieraus lernen?

8. Das soll man daraus lernen und soll es immer und ewig in unsre Geschichtstafeln, ja in die zu leicht verlöschlichen Erinnerungstafeln unserer Herzen schreiben, wenn das Gedächtnis unserer besseren Vorzeit, als Deutschland wirklich noch glücklich, glorreich und mächtig war, jemals wieder in dumpfe, gefühllose Dämmerung versinken will, daß die Küsten Hollands und Belgiens und der Wachtposten, den England sich auf Helgoland angelegt hat, einst so wahrhaftig unser sein müssen, als ihre Ströme das Herzblut unseres Fleißes und unserer Bildung, Kunst und Macht dem Ozean und den Weltteilen zuführen. Wir hatten Holland und Belgien mit unserm besten Blute wieder befreit und erobert. Niemand erinnerte sich der Vergangenheit; kaum einzelne bedachten die Notwendigkeiten der Gegenwart. Für einen kleinen deutschen Fürsten blieb ein Stückchen Land im Ardenner Walde und an der Maas mit dem deutschen Bunde verknüpft; das übrige ließen wir uns durch den Neid und die Dummheit der Engländer zur Freude der Welschen alles wieder wegnehmen. Was mußte damals geschehen?

9. Ganz Belgien und der ganze Inhalt der hinzugetanen deutschen Lande mußten den früheren Bünden gemäß als Anschluß unserer Küsten (keine welsche alluvion oder allusion, wie Napoleon anspielte sondern eine deutsche) deutsches Bundesland bleiben und Bundespflicht leisten. Ferner mußte

10. durch den natürlichen Notzwang der Dinge Schritt vor Schritt auch Holland von Jahrzehnt zu Jahrzehnt auch näher an uns heran. Es wird doch einmal wieder zu Deutschland heran müssen; es kann sich zwischen den mächtigen Westreichen England, Frankreich und Spanien, wie jetzt die Weltlage ist und besonders wie die Welthandels- und Kolonienverhältnisse sind, ohne Deutschland, wenn wir gegen dasselbe nicht immer die Uneigennützigen und Dienstfertigen spielen, auf die Länge nicht behaupten. Hatten wir nun

11. auf diese Weise durch das Gewicht von Belgien und durch andre Züge und Gewichte, welche politische Weisheit gegen Holland anwenden konnte, dieses Holland, eine alte, deutsche, von friesischen und sächsischen Stämmen bewohnte, jetzt noch die sächsische, leider wunderlich latinisierte Mundart sprechende Landschaft zu uns herangezogen, bis zu dem Gefühl der Gemeinsamkeit herangezogen, daß Sieg oder Niederlage am Rhein oder auf dem Meere Deutschland und Holland gleiche Macht und gleiche Gefahr bedeute, dann konnten wir an unserer Westnordwestküste, die Kräfte der Küsten von der Ems bis zur Eider mit eingerechnet, eine Flotte von 40 Linienschiffen und ebenso vielen Fregatten halten. Und dann erst verlohnte es sich der Mühe und verlangte es die Politik, daß wir auch unsre Ostsee mit der gleichen Zahl von Orlogschiffen und Fregatten bewehrten. Holstein, Mecklenburg, Pommern, Preußen bauten diese Schiffe aus deutschen Eichen. Unsre Ostseematrosen und die von Norwegen sind anerkannt die ersten europäischen Seeleute. Was diese deutsche Ostseeflotte an Bau, Unterhaltung und Rüstung kostete, ward jenen benannten Staaten der Ostseeküste in den Bundesleistungen an Mannschaft und Geld angerechnet und vergütet.

Aber wie? Wenn du nun auch endlich eine Ostseeflotte hast, woher nimmst du die Häfen für Orlogschiffe? Die südliche Ostseeküste hat deren bekanntlich eben nicht sehr gute. Ei, ich will mir in dem Kieler Busen schon etwas zurechtmachen, und einen vortrefflichsten Kriegshafen bei Wismar hinter seiner Insel Pöl, der mir hunderte von Schiffen halten soll – aber freilich Arbeit, Kunst und Geld wird zu solchen Bereitungen und Bauten gehören. – Auch sind Stellen an der rügenschen Küste zwischen Rügen und Pommern, Greifswald und Wolgast gegenüber, wo sich ein Schiffshalt machen läßt.

Mit diesen beiden Flotten stünden wir ganz auf gleicher Höhe mit Frankreich, in Hinsicht des Bauholzes und der Schiffsmannschaft wären wir den Franzosen vielfach überlegen, noch mehr überlegen wären wir ihnen in Hinsicht der Winde und geographischen Lage; denn das ist Frankreichs Mißlichkeit in Hinsicht seiner beiden Flottenstationen zu Brest und Rochefort am großen Ozean und zu Toulon am Mittelmeer, daß die Pyrenäische Halbinsel mit einem gewaltigen Buckel zwischen jene beiden Stationen ins Westmeer ausläuft. Es bedarf seiner weiten Umsegelung wegen beinahe zweimal soviel Zeit zur Vereinigung seiner beiden Flotten, als wir im Falle eines Krieges für die unsrigen bedürfen würden.

12. Die Einrichtungen und Bestimmungen für unsre Heers- und Kriegsordnung bedürfen notwendig bis in alles Kleinste hinein einer größeren Gleichmachung. Aus mancherlei kleinlichen Rücksichten und einer übel angebrachten Zartheit gegeneinander scheint man in so vielen Friedensjahren manche hieher gehörige Fragen gar noch nicht einmal berührt oder absichtlich umgangen zu haben. Im Frieden muß aber alles bereitet und geordnet werden, was der Krieg auf den ersten Glockenschlag der Not erfordert. Wir könnten uns dabei in Napoleon spiegeln, der das Kriegshandwerk verstand. Darin duldete dieser gewaltige Uniformist keine Mannigfaltigkeit. Wie geschwind hatte er in dem Heere des Rheinbundes Bewaffnung, Rüstung, Kleidung – alles, alles seinen Welschen ähnlich gemacht! Solche Gleichmachung ist um so notwendiger, weil Bundesheere im Fall eines Kriegsausbruchs doch nimmer so geschwind auf den ersten Wink der Not beisammen sind als Heere, welche der Gebieter und Lenker einer vollständigen Einheit der Herrschaft mit einem einzigen Wink zusammenschnellen kann.

13. Ein anderes großes Gebrechen, das man wohl ein großes Unglück nennen kann, darf hier durchaus nicht verschwiegen werden. Wir haben es die verflossenen Jahrhunderte mehrmals blutig und mordbrennerisch fühlen müssen und könnten es in dem gegenwärtigen und in den künftigen nur zu bald wieder fühlen. Wir deutsches Volk entbehren jeglichen pragmatischen Staatsgesetzes, welches die Einheit der deutschen Länder im Zusammenhalt und Zusammenband deutscher Fürsten, namentlich bei Vermählungen deutscher Fürsten und Fürstinnen in mächtige, fremde Herrscherhäuser sicherte und böse und verderbliche Ansprüche der fremden Herrscher oder der fremdgewordenen Fürsten aus unsern Stämmen zurückwiese. Fast alle europäische Reiche sind durch dergleichen Grundgesetze gegen Zersplitterung ihrer Lande und gegen verderbliche Einmischung fremder Mächte geschützt. Ein solches Gesetz müßte auch für Deutschland da sein, ein Gesetz, welches besagte, daß in dem Falle, wo dem Fürsten eines fremden Staates durch Vermählung mit einer deutschen Prinzessin das Erbe eines deutschen Landes zufiele, oder wo ein deutscher Fürst durch Vermählung oder Wahl auf einen fremden Thron erhoben würde, deutsche Lande durch solche Verbindungen und Ergebnisse nimmer als Provinzen oder als von fremden Thronen her regierte Landschaften an fremde Herrschaften fallen könnten, sondern daß sie dann dem nächstgebornen Vetter oder Sohn so vermählter oder entfremdeter Häuser zufallen müßten. Wir wollen hier nicht an den Jammer zurückdenken, welchen die Verbürgung der deutschen Freiheit von Frankreich und Schweden über unsere Urgroßväter gebracht hat. Wir wollen nur an die Auguste, Könige von Polen, an die George, Könige von Großbritannien, und an Kriege und Verheerungen denken, welche dergleichen Verbindungen deutscher Lande mit fremder Herrschaft und fremden uns oft feindseligsten Vorteilen und Strebungen über unser Vaterland zusammengezogen haben. Wahrscheinlich wäre z. B. der Siebenjährige Krieg nicht als ein vorzüglich deutscher Krieg in unsere Jahrbücher eingeschrieben, wenn Georg H., König von Großbritannien, nicht auch Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg gewesen wäre. Erinnern wir uns auch an die Ansprüche und Vorwände, welche Ludwig XIV. weiland in Deutschland greulichsten Gedächtnisses für die unmenschlichen Greuel, Scheußlichkeiten und Mordbrennereien in der Rheinpfalz und am Oberrhein vorhielt, weil eine pfälzische Prinzessin mit seinem Bruder, dem Herzog von Orleans, vermählt gewesen war. Wir können bei allem diesem unsern ungeschützten Zustande immer noch Gottes Glücke danken, daß die Bourbons mit ihren vielen Seitenlinien in früheren Jahrhunderten nicht mehr in unsre Fürstenhäuser hineingeheiratet haben; aber ein Hüts eng! Maria Hüts eng, gewöhnlich Maria Hitzing genannt, in Wien. Hüts eng! Hütet euch! dürfen wir uns wohl zurufen, zumal wenn von möglichen oder wirklichen Verbindungen mit den treulosen Welschen die Rede ist. Was würden z. B. in der jetzigen Weltstellung Frankreich und Rußland darum geben, wenn sie auch unter dem Titel irgend eines deutschen Fürstentums unter den deutschen Bundesgliedern mitsitzen, stimmen und mischen könnten! Darum rufe ich noch einmal: Hütet euch!

14. Obgleich wir als Bundesstaat ein Friedensstaat sind, der keinen Reiz haben kann, aus Kriegslust und Eroberungssucht Krieg anzufangen, so können wir uns doch darauf gefaßt machen, daß die unruhigen und eroberungslustigen Nachbarn westlich und östlich uns nimmer als einen Friedensstaat achten sondern mit List und Gewalt an uns bohren und brechen werden. Da ist die Gefahr denn allerdings eine viel größere und die Arbeit eine viel schwerere als die der beiden Großstaaten im Westen und Osten, welche als eine gewaltige Einheit durch einen Wink in einer gleichen fortdrückenden Bewegung fortgeschnellt werden können, die auch durch den Geist der volkstümlichen Einheit viel mächtiger erregt und zusammengehalten werden als wir Verteilte. Nur in dieser Beziehung, nur im Hinblick auf unsre Wehrhaftigkeit hat mir die größere politische Einigung Deutschlands in den Jahren 1813 und 1815 so wichtig gedeucht. Denn das will ich nicht leugnen, daß die Vielherrschaft neben manchen anderen Vorteilen die ich hier verschweige, schon den Vorteil hat, daß sie durch die vielen Mittelpunkte, welche zwanzig, dreißig Hauptstädte und Fürstensitze bilden, für Bildung, Kunst, Wissenschaft und Mannigfaltigkeit der Entwickelungen und Gestaltungen eines großen Volkes einen glücklichen und belebenden und das Verderbnis zu großer Massenanhäufungen verteilenden Einfluß übt. Aber vor allen Dingen, daß ein Volk sich wehren und verteidigen könne, daß es nicht jeden Schimpf und Jammer geduldig auf sich sitzen lassen müsse, das ist und bleibt das erste Gebot. Ich springe von dieser großen Wahrheit, die uns Deutschen endlich wohl genug eingebleut sein sollte, wieder auf das Wort und den Begriff Friedensstaat zurück.

15. Dieses fromme Wörtlein Friedensstaat und dieser politische Ausspruch Friedensstaat soll der Bundesstaat sein und kann er seiner Idee nach nur sein, macht eine sehr ernste Mahnung an die deutschen Fürsten. Da eben ihre Vielherrschaft allerdings eine große politische Schwäche mit sich führt und die Verteidigung und Erhaltung der Lande viel schwerer macht als bei konzentrierter Einheit des Befehls, so müssen sie die Ersetzung und Vergütung der Geschwindigkeit und Beweglichkeit der Macht, welche die Einheit des Befehls mit sich führt, durch die alleredelsten und göttlichen Herrschertugenden, durch Mildigkeit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit zu gewinnen und durch solche fürstliche Herrlichkeit und Mächtigkeit die Fremden zu überbieten und zu überwältigen suchen: sie müssen sich bestreben, im wahren Sinn des Wortes Könige der Gerechtigkeit und des Friedens zu sein, wie Melchisedek von Salem in seinen Tagen, und durch solche erhabene deutsche Fürstlichkeit ein so hehres Bild der Majestät in dem Volke erschaffen, daß dies für jedermänniglich ein Mittelpunkt der Kraft, Stärke und Liebe wird. Denn dadurch allein wird die Erhaltung der Fürstenhäuser möglich sein bei den Stürmen, die in dem Zeitalter drohen, und deren immer näheres, dumpfes Heranbrausen allen feineren Ohren vernehmlich genug ist; dadurch allein wird es möglich sein, daß eine gemeinsame deutsche Liebe, eine gemeinsame, feste und stolze Liebe des Vaterlandes, eine innige Liebe und Achtung der erhabenen Güter unserer Art, Sitte, Kunst und Wissenschaft erzeugt werde, welche dem, was Russen, Franzosen und Engländer in so reichem Maße besitzen, einen meinethalben dummen und verkehrten, aber doch wirksamsten Nationalstolz, mit einer noch edleren und mächtigeren Kraft begegnen können.

Mit goldenen Buchstaben möchte ich es in alle deutsche Fürstenherzen schreiben, ja mit Gold einbrennen, damit die Farben ewig leuchtend blieben, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, ein offener, fröhlicher Mut und Sinn – diese hohen, deutschen Tugenden sind bei der gegenwärtigen Weltlage und Weltentwicklung, bei dem ernsten Aufschauen und Auflauschen aller Völker viel notwendiger als in früheren Menschenaltern; in diesen muß ein Fürst dem andern vorleuchten, der eine den andern, wenn Gewalt, Übermut und Rechtzertretung irgendwo und irgendwie aus der Bahn übergleiten und überschreiten wollten, durch das erhabene Beispiel und die schöne Selbstüberwindung zu warnen suchen. Woher anders sollte uns das tapfre, stolze Gesamtgefühl kommen, das die Herrscher und das Volk unverletzt den kommenden Zeiten entgegenführen konnte? Denn auch das muß ich sagen, durch Erscheinungen aufgeschreckt, die nun schon einige Jahre wie schwarze Donnerwolken durch uns hingrollen dürfen, ohne daß die rechten Blitzleiter gebraucht würden, wir Deutsche können weniger als andre Völker Gewalt und Ungerechtigkeit ertragen, ohne tiefer in unser altes Unheil der Gleichgültigkeit und Zwietracht hinabgerissen zu werden. Die Freudenlächler und Hohnlächler darüber fehlen an der Seine und Newa nicht; gebe Gott, daß sie ewig unter den Eigenen fehlen! Völker aber, die seit vielen Jahrhunderten einer zusammenbindenden, ja zusammentreibenden Einheit gewohnt sind, mögen allenfalls Tyrannen verdauen und viele Erschütterungen, ja selbst schreiende Ungerechtigkeiten und Greuel überdauern, welche unsern weniger gebundenen Zustand unheilbar zerrütten würden.

16. Und ich spreche hier Mahnungen, Wünsche und Gelübde aus, welche jeder deutsche Mann, der seinem Vaterlande noch bei den Enkeln und Urenkeln einen guten Klang wünscht, gewiß warm im Herzen trägt, für Einigung, Belebung, Begeisterung deutschen Mutes und deutscher Gesinnung – und eben lodert, wie einige meinen, eine neue Flamme auf, welche nicht bloß mit Dampf und Gestank sondern mit Brand und Verwüstung das Vaterland bedrohen könnte Gemeint ist der Streit über die gemischten Ehen, der 1837 zwischen der preußischen Regierung und den Erzbischöfen Droste zu Vischering von Köln und Dunin von Gnesen-Posen ausgebrochen war. (D. H.). Ich meine nicht so, ich fürchte diese Flamme nicht, wenn man sich durch den Dampf, den sie verbreitet, nur die Augen nicht trüben läßt sondern ihr grad und besonnen in das funkensprühende Gesicht schaut. Das arme, verkommene Volk in Italien und Rom will im neunzehnten Jahrhundert die gutmütigen Deutschen wieder wie die Dummen und Albernen hänseln, als welche es sie immer ausgelacht hat. Unter dem gleißenden Mißbrauch des herrlichen Verses: Man muß Gott mehr gehorchen denn den Menschen, fangen selbst einige deutsche Nachtraben und Eulen an mit ihren heiseren Kehlen durch diesen Dampf zu schreien und hätten gar nicht ungern, daß Aufruhr und Empörung um einiger fanatischen Plattlinge willen, die den alten ultramontanischen Teufel im Leibe haben, unsern vielköpfigen deutschen Leib wieder zerhaderten, und daß die lauernden Welschen über Alpen und Ardennen herbeiliefen, die Zerspaltenen und Zwieträchtigen nach ihrer Weise zu schützen und miteinander zu befrieden. Ich denke hier nicht sowohl an die Anfänge als an die Enden solcher Hader; auch frage ich nicht, wo in dem einzelnen Falle eben Recht und Unrecht liegt; im Streite zwischen Staaten wird das Recht auf andere Weise gesucht und gefunden als zwischen Sonderleuten. Der Papst und seine Kardinäle bilden einen Staat; der Papst ist, mit Herrn von Görres Erlaubnis, kein geborner deutscher Papa noch Großpapa, er ist ein fremder Herrscher, und weder ein Kaiser von Österreich noch ein König von Preußen wird diesem fremden Italiener das deutsche Herz aus der Brust herauszufühlen suchen. Ich meine, die deutschen Herrscher haben die Wärme italienischer Priesterherzen genug gefühlt. Ich habe hier auch über den Streit des Kirchenfürsten in Rom und des Königs von Preußen nichts zu erörtern – ich will nur auf die Finsterlinge und auf die Hadernfetzer hinweisen, welchen der deutschen Ehre und des deutschen Glücks schon wieder zuviel deucht. Wehe ihnen! Wehe jedem, der über dem Kleinen, über unauflöslichen Fragen, die den Erdenfrieden nun nicht mehr stören sollten, über einem bißchen Pfaffenehre und Pfaffenhoffart das heilige Vaterland vergisset! Ich meine, wir brauchen nur unsre deutsche Reichsgeschichte vom Jahre des Heils 1070 bis zum Jahre 1650 ein bißchen zu durchblättern, um mit blutigen Tränen zu empfinden, welchen Jammer uns die mit Himmel und Seligkeit, wie es heute wieder am Tage ist, verzierten Greuel der Gregore, Innozenze und Urbane und die süßen Loyolaiten eingetragen haben. O die süßen, freundliche Mordlisten lächelnden Jesuiten, wie sie sich wieder mit leisen Kratzfüßen bei uns einschleichen möchten! Aber wie? Sollen wir uns von diesen Mördern der letzten deutschen Majestät und Herrlichkeit zum hundertsten und tausendsten Male etwas vorlächeln und vorlügen lassen? Was sie sich doch einbilden! Wie sie uns dummen und gutmütigen Deutschen doch das allerkürzeste Gedächtnis zutrauen! Wie? Wir sollten vergessen haben, wie sie uns zuerst mit den Spaniern in die burgundischen Lande kamen und beinahe ein volles Jahrhundert hindurch mit ihren Hinterlisten und Mordbrennereien in dem alten Francien und Lotharingien von Dünkirchen bis Trier deutsche Freiheit, Wissenschaft, Glück und Macht abfingen und erwürgten? Wie sie zu derselben Zeit im Herzen unsres Reiches die Flammen schürten, die von Wien bis Stralsund und vom Neckar bis zur Eider unser Vaterland in Blut und Schande verzehrten und unter den Säbeln der Fremden unsre letzte Herrlichkeit unter Schutt und Asche begruben? Wie sie unter Ludwig XIV. von Frankreich – doch wohin? Ich denke, es ist der Erinnerungen schon zuviel für ein deutsches Herz. Doch, indem ich mir auch den Spruch vorbete: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen und menschlichen Rücksichten, spreche ich hier vor katholischen und evangelischen Christen meinen Abscheu kühn aus: Die Jesuiten sind der Fluch unsrer Geschichte, sie mögen mir mit ihrem Pater Lorenz in Lüttich oder ihrem Pater Rothahn – ein Name bösester Bedeutung – in Rom kommen. Ich hoffe, wir Deutsche lassen uns im neunzehnten Jahrhundert den Roten Hahn nicht wieder aufs Dach setzen.

In allem Ernst von unserm deutsch-polnischen, neuen Pfaffenrumor gesprochen, ist es meine volle Überzeugung, daß dieser böse Wurm, wenn man ihn nicht für mehr gelten läßt, als was er ist, wenn man ihm mit dem Licht der deutschen Ehre, Wissenschaft, Frömmigkeit und Tapferkeit begegnet, endlich in seinem eignen Gestank und Dampf ersticken wird. Doch muß ich hiebei zugleich eine andere Überzeugung aussprechen, daß ich den Staat noch will geboren werden sehen, in welchem ein gesetzliches und edelsinniges Königtum und eine in sich abgeschlossene, fest zusammengekettete und zusammengeklettete Priesterschaft, die ihren engen Weg zum Himmel mit tausend künstlichen Hornwerken und Basteien verschanzt und gesperrt hat, nebeneinander bestehen können. Bis jetzt hat die Erfahrung der Geschichte dies verneint. Ich glaube, es gibt viele Wege und auch Fußpfade zum Himmel, die aber zuletzt freilich alle in dem einen engen Weg zusammenlaufen müssen, wovon der Heiland geredet hat; aber das Maß der Enge und Weite desselben ist ein ganz anderes als das des gesperrten engen Weges der Hohenpriester und Pharisäer. Ich spreche nicht von frommen Priestern sondern von jenen, die sich fromm gebärden und schreien, der Himmel leuchte allein in Rom, und nur von Rom aus könne Deutschland erleuchtet werden. Es muß ja Streit sein auf Erden, und auch christlicher Streit. Auch schütteln wir den Vorwurf wie Federn ab, als ob wir Protestanten losere und leichtere Christen wären als die römischen und schon an unsern Straußenfedern Anspielung auf Strauß' Leben Jesu. (D. H.) zu schwere Last trügen. Läßt uns Gott nur die einzige Bibel, so werden wir uns, wenn ja mal eine Verirrung und Verdunkelung eintritt, immer wieder zu Licht und Wahrheit durchkämpfen und die flatternden Straußenfedern und die ganze Hohepriesterschaft Roms dazu als eine leichte Last abschütteln, indem wir singen: Das Wort sollen sie uns lassen stehn. Ja das Wort sollen sie uns Deutschen lassen stehn. Das Christentum und Evangelium wird wohl bleiben in seiner unvergänglichen Schönheit und Wahrheit und wachsen von Ewigkeit zu Ewigkeit; aber eine herrschsüchtige Priesterschaft wird mit der Macht dieser Welt, die allerdings von dieser Welt aber darum noch nicht vom Teufel ist, d. h. sie wird mit dem Staate immer zusammenstoßen, weil sie begehrt, was er begehren muß und sie nicht begehren soll. Mein Reich ist nicht von dieser Welt, sprach der Reinste und Demütigste, aber was sprechen und wollen die Servi Servorum Dei?

17. Drei große Staaten umlagern uns, und auf diese drei, da sie, wann sie sich erheben, die Welt rücken und auch unsre Zustände mit rücken und verrücken können, muß ich noch einen letzten flüchtigen Blick werfen. Dies sind die drei mächtigen Reiche der Russen, Engländer und Franzosen, den Fremden gegenüber so eines Sinnes und Mutes, als wir oft durch die heilloseste Zwietracht zerrissen gewesen sind. Komm ihnen nah und wage an ihrer Einheit dich zu erproben, du wirst es fühlen, was lange, uralte Gewohnheit tut, selbst wenn solche einmal von einem Tyrannen mit der Geißel getrieben würden. Sie haben das jungfräulichste, verletzlichste noli me tangere.

Rußlands geschwindestes Wachstum ist etwas über ein Jahrhundert alt; es beginnt mit Peter I. und ist seitdem unter schwachen wie unter starken Regierungen instinktartig fortgeschritten, und indem es alle Blößen, die ihm gegeben werden, benutzt, alle Lücken, die vor ihm gebrochen sind, geschwind und listig gefüllt hat, steht es nun seit zehn Jahren an unsern Grenzen. Es hat starke Beine und gute Zähne und wird nicht freiwillig aufhören, weiter gegen Westen vorzugehen und jeden dargebotenen Raub zu fassen. Es könnte, wenn ein Unheil des Nordens fortwucherte, welches das ganze achtzehnte Jahrhundert und das unsrige fast bis diesen Tag schwarz bezeichnete, Herr der Ostsee werden, und dann sähe es auch für Deutschlands Unabhängigkeit sehr schlimm aus. Dieses Unheil ist die Zwietracht unsrer nordischen Stammverwandten, die sich zu Rußlands Vergnügen, welches meisterlich verstanden, sie aufeinander zu hetzen, vielfältig geschwächt und zerhadert haben und wahrscheinlich auch jetzt eben noch nicht des freundlichsten Sinnes zueinander sind. Am meisten ist hier jedoch Dänemark anzuklagen, welches im achtzehnten Jahrhundert leider des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts noch nicht vergessen konnte und, sobald von der Newa ein Wink kam, als russischer Bundesgenoß den Schweden in die Fersen biß. Hätten diese der früheren Zeiten zu rechter Zeit vergessen können, so wäre Finnland noch schwedisch, Norwegen noch dänisch und die Russengrenze vielleicht noch der Dniepr. Rußland ist sehr mächtig, aber glücklicherweise sind weder die Russen noch die Polen Seeleute; das vereinigte Skandinavien, ein echtes Seevolk, hält beim Vormarsch der Russen gegen Westen ihre rechte Flanke im Schach. Nach der Lage und Stellung der Stämme und Völker zueinander ist Rußland im Osten Deutschlands natürlicher Feind, die skandinavischen Völker sind unsre natürlichen Freunde und Bundesgenossen. Preußen müßte also, wenn Europa jetzt in von der Natur gegebenen und gebotenen Verhältnissen und Verbindungen stünde, da wir Deutsche keine Flotten haben, Skandinaviens Bundesgenosse sein. Durch diese politische Verbindung, welche alle verständige Notwendigkeiten gebieten, sollte den Russen, die nicht bloß mit leisen Winken nach dem Muster Napoleons auf eine slawonische Weltherrschaft anspielen, die Lust, nach Westen vorzudringen, wohl teuer zu stehen kommen, ja es könnte gelegentlich recht sehr in seinem äußersten engen Ostseewinkel eingesperrt werden.

Aber, wird man sagen: Haben wir nicht England? Können wir, wenn Rußland jemals böse Entwürfe gegen deutsche Lande brütete, nicht auf Englands Flotten rechnen? Gut. Aber England mit seinen Flotten ist zu fern; es hat in der Ostsee keine gegebene Station; es scheut jeden ernsten Zusammenstoß mit Rußland schon seiner Handelsvorteile wegen wie die Pest; es würde uns auch jede Hilfe, wie es bis jetzt getan, teuer bezahlen lassen; es hat auch mit uns nimmer so sehr einerlei Vorteile gegen die Russen als die Dänen und Schweden, wenn diese ihre unseligen Zwiste stillen und versöhnen könnten. Sie waren nach dem Tode des schwedischen Kronprinzen, Herzogs von Holstein-Augustenburg, im Jahr 1810 auf einem guten Wege dazu, ja sogar zu einer Vereinigung beider Reiche unter demselben Haupte. Wie glücklich, wenn die damals von klugen und weisen Männern bereiteten Entwürfe auf dem Reichstage von Örebro wären ausgeführt worden! Denn durch die allerlosesten Vorspiegelungen und durch die wunderlichsten Kleinlichkeiten und Persönlichkeiten ist es damals geschehen, daß die Schweden nicht den ersten Fürsten von Holstein sondern einen französischen Marschall auf den Wasathron erhoben haben.

England, aber England – sollen wir das endlich gar beargwöhnen und fürchten? Das will und bedarf ja nichts von unsern Landen; es ist ja auch unser natürlicher Bundesgenoß, besonders gegen Frankreich, und ist es in den letzten Kriegen wieder gewesen. Allerdings war es das; denn Not und Gefahr war für uns beide eine gemeinsame. Aber wir müssen es sagen, es ist ein ungroßmütiger Bundesgenoß gewesen, und hat uns ungefähr behandelt wie nach Pitts Sturz das elende Ministerium Bute weiland den großen König; auf unsere Kosten, um unser edelstes Blut hat es Frankreich, den gemeinsamen Feind, nachdem es ihm sein Beliebiges abgenommen, gegen unsre gerechtesten Ansprüche und Rückforderungen geschützt, in unsern inneren deutschen Verhältnissen aber auf das emsigste für die Schwächung, Teilung und Spaltung gearbeitet. Welche unwürdige Eifersucht und Neid gegen Preußen, weil das schien etwas Großes werden zu können! Welche dreifache Eifersucht würde es sogleich offenbaren, wenn Deutschland je in die würdige Stellung kommen könnte, nur den Anfang einer Seemacht zu bilden?

Aber wir wollen auf diesen großen, freilich oft kleinlich neidischen Kaufmann, der nach Sinn und Art doch in vielem so nah mit uns verwandt ist, nicht zu scheel hinsehen. Wir werden ihn noch lange nötig haben für unsre politischen Lehrjahre. England ist und bleibt doch ein Land europäischen Beispiels, doch groß durch seinen echten Freiheits- und Bürgersinn und wird dadurch die Gefahren und Erschütterungen überwinden, welche es bedrohen. Ja, wenn die Irländer nicht gleich den Polen bloß die Feldliebe hätten, wenn sie einen Seemannstrieb im Leibe hätten, dann könnte von ihnen eine Zersprengung des großbritannischen Kaisertums kommen – denn Kaisertum ( Empire) nennen die stolzen Briten ihr Reich, während ihr Herrscher sich König nennt. – Die Flotten beherrschen Irlands Schicksale.

Anders stehen wir zu den Franzosen. Das waren die alten deutschen Reichsfeinde, sie sind jetzt die Bundesfeinde. Sie haben es kein Hehl, daß sie unter uns und lieber noch über uns mitsprechen und herrschen wollen. Für sie gibt es uns gegenüber keine Heiligkeit der Verträge, keine politische Schonung, keine Wohlanständigkeit, welche in Zeit des Friedens wenigstens in öffentlichen Verhandlungen die Völker einander schuldig sind. Denn von der Rednerbühne ihrer beiden Parlamentshäuser sprechen sie jeden Tag gegen uns nur Treulosigkeit und Verachtung und die Hoffnung aus, von uns gelegentlich wieder Beute zu machen. Ja sie sprechen über unsre Lande- und Fürstentümer mit einer offenen Frechheit, die man über Indien, die Türkei und Polen zu hören wohl gewohnt ist, wie sie am bequemsten zu verteilen und zu zerschneiden sind. Und es wären unter uns noch so gutmütige Toren, die sich von diesen Prahlern immer noch aufbinden ließen, daß sie die Führer der europäischen Bildung, Menschlichkeit und Freiheit seien? »Der Rhein ist Frankreichs natürliche Grenze, die kleinen deutschen Fürsten sind Frankreichs natürliche Bundesgenossen, welches sie gegen Preußens und Österreichs Despotismus in Schutz nehmen muß; die Schweiz und Belgien sind Frankreichs Brückenköpfe« – dies und viel Schlimmeres klingt und schnurrt uns von der Seine als die alltägliche Musik entgegen. Man kann dies Volk immer noch mit vier, fünf Worten beschreiben, wie die römischen Geschichtschreiber es schon geschildert haben: es ist neuerungssüchtig, herrschsüchtig, eitel und prahlerisch und des Wechsels und Aufruhrs lüstern. Sie werden, sobald sich eine günstige Gelegenheit zeigt, sich wieder auf ihren Rhein versuchen und auch von ihren Brückenköpfen heraus zu uns herüberspringen. Der Freudentaumel, den ihr Freiheitsruf weiland erregte, hat sich im Laufe eines halben Jahrhunderts sehr abgekühlt. Das Gute, was darin war, schwimmt als Gewinn der Zeit aus so vielem Schmutz und Blut noch oben, aber das meiste ist versunken und ein Spott der Verständigen geworden. Aber dieses Volk, ein echtes Bienenvolk, kann nur zu bald wieder ins Schwärmen kommen und dann in fürchterlichen Massen sich gegen uns stürzen. Denn in Frankreich halte ich die greulichen Bewegungen der unteren Klassen viel gefährlicher für die europäische Ruhe als in England. Der Engländer versteht sich auf Freiheit; der Franzose will nur Gleichheit. Er ist darin, wenn man will, ein Türke und Moskowite und nennt das Aufbauung und Wiederherstellung der Menschenrechte, wenn einer da ist, der den Feldmarschall wie den Korporal gleich tief mit der Stirn in den Staub drücken darf. Daher ward Napoleon ein französischer Götze, nicht bloß, weil er ein gewaltiger Kriegsfürst war. De Serre aus Metz, Niebuhrs Freund, der sein Volk kannte, hat das köstliche Wort darüber gesprochen Si la liberté est pour les Français une corde détendue, l'égalité est une corde toujours frémissante. (Wohl aus einer Parlamentsrede des Grafen de Serre, der 1817–18 Präsident der französischen Deputiertenkammer war; als Schriftsteller ist er nicht hervorgetreten. D. H.: » Wenn die Freiheit für die Franzosen eine erschlaffte Sehne ist, so ist die Gleichheit eine immer schnurrende Sehne

Ja von den drei Furienbremsen der Habsucht, des Stolzes und des Übermuts gestochen, werden sie wieder heranbrausen, die wilden Massen, und mit ihrem Geschrei Egalité et liberté zu betören suchen. Uns aber, damit wir mit gutem Gewissen und im festen, gewissen Mut mit ihnen streiten können, verleihe Gott, der nach dem Sprichwort keinen Deutschen verläßt, in unsern Fürsten die Melchisedeke der Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit und Wahrheit, damit nicht allein die Unsrigen tapfer und heldenmütig für das liebe Vaterland in den Kampf gehen, sondern damit auch unsre Brüder, die Bewohner der deutschen Länder, welche die Welschen ihre Brückenköpfe gegen uns nennen, Lust haben im Bunde gegen sie mit uns zu stehen und zu fallen. Wenn die Übermütigen uns aber zuschreien: Der Rhein, Frankreichs Naturgrenze, so wollen wir ihnen antworten: Heraus mit dem Elsaß und Lothringen! So stehe und bleibe der politische Haß, weil sie ihn haben wollen, und weil wir ihn als Wehr gegen ihre Gaukeleien und Treulosigkeiten bedürfen.


Druck von Hesse & Becker in Leipzig.

 


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