Kurt Aram
An den Ufern des Araxes
Kurt Aram

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Schloß Gandern liegt eine halbe Stunde von dem Städtchen gleichen Namens in einer fruchtbaren Talmulde, umgeben von Wäldern, Buchen- und Eichenwäldern, die die kleinen Berge, welche die Mulde nach Norden, Osten und Westen abschließen, vom Fuß bis zum Gipfel bestehen, dicht und gerade, ein Stamm schöner als der andere. Diese Wälder sind der besondere Stolz Viktor Amadäus von Ganderns. Durch die Talmulde fließt behaglich ein kleiner Fluß, der die Wiesen, die nach Süden hin sich an den Schloßgarten anschließen, reichlich wässert, üppig und grünen macht. Nach Norden hin umgeben alte Fichten das Schloß und schützen es so noch besonders gegen alle rauhen Winde. Von ihnen hebt sich das graue, alte Gemäuer, dem man es ansieht, daß schon viele Jahrhunderte darüber hingingen, sehr hübsch und wirkungsvoll ab. Es ist das richtige, alte Raubritterschloß, mit Zinnen und zwei Türmen geschmückt. Amadäus von Gandern ist stolz auf dieses Äußere, das so deutlich die Vergangenheit und Tätigkeit seiner Vorfahren erkennen läßt. »Plündern und rauben war nun mal ihr Metier«, pflegte Amadäus zu sagen. »Weshalb soll ich mich dessen schämen? Wenn ich nur selbst nicht stehle und die Leute plündere.« Neben sich ließ Herr Amadäus nur noch einen gelten, den alten Bruneck, dessen Schloß jenseits der nächsten Hügel lag, denn er war auch noch vom alten Schrot und Korn, hatte seine Türme und Zinnen ebenfalls stehen lassen, schämte sich seiner Ahnen nicht, trieb auch nicht Schindluder mit den Leuten, kurz, war ein ganzer Kerl, der seinem alten Namen Ehre machte, wenn er auch nicht ganz so fortschrittlich gesinnt war wie Gandern. Nur schade, daß er keinen Sohn hatte, sondern nur das Mädel, die Amanda. Wer weiß, wen die in das Nest brachte, denn daß Viktor doch noch um sie anhalten würde, das war vorbei, seit jenem Brief von vor acht Tagen aus Moskau. »Weiß der Henker, was er mir da ins Haus bringen wird«, brummte Herr Amadäus ärgerlich vor sich hin, während er durch die Wiesen nach Hause schritt. Manja hieß sie, hatte er geschrieben. Was für ein Name! Welcher ehrliche Christenmensch heißt so! Herr Amadäus war sehr schlechter Laune seit jenem Brief. Der Bursche ist ja viel zu jung und unerfahren, um sich allein eine rechte Frau zu suchen. Weiß der Himmel, worauf er hineingefallen ist. Die Stieftochter eines Lederhändlers! Unglaublich, so etwas. Und wenn der Stiefvater auch sein leiblicher Bruder war, Lederhändler war er und blieb er trotzdem.

Kaum hatte er sich zu Hause die schweren Wasserstiefel ausgezogen, kaum war er zu seiner Frau hinübergegangen, die eilig Viktors Brief versteckte, den sie immer bei sich trug (was er aber wohl bemerkte, als er ins Zimmer trat), fing er wieder zu brummen an über diese sonderbare Schwiegertochter, die ihm da sein Filius angekündigt hatte.

»Aber Viktor schreibt doch, sie ist aus altem russischem Fürstengeschlecht«, sagte Frau Marie von Gandern.

»Wird ein nettes Fürstengeschlecht sein. In Rußland ist ja jeder dritte Mann ein Graf oder so was, und jeder fünfte ein Fürst, billiger tun sie's da nicht. Das kennen wir.«

Frau Marie schwieg, obwohl sie es in Erstaunen setzte, woher ihr Gatte auf einmal solche Kenntnisse hatte.

»Oder glaubst du vielleicht,« rief Herr Amadäus, »daß eine wirkliche Fürstin, ich meine, was man so bei uns in Europa Fürstin nennt, einen Lederhändler heiratet, he? Glaubst du das?«

Frau Marie schwieg.

»Wird 'ne nette Fürstin sein. So eine mit 'nem Ring durch die Nase, aus dem Kaukasus, gelb wie 'ne Zitrone!«

Nun konnte sich aber seine Frau nicht helfen, sie mußte lachen.

Herr Amadäus stutzte. Lachte ihn seine Frau aus? Das wurde ja immer schöner.

»Nimm mir's nicht übel, Amadäus, daß ich lache. Aber schließlich, es ist doch auch komisch, was du da sagst. Viktor wird doch nicht so etwas tun! So nimm doch Vernunft an!«

»Geld hat sie natürlich auch nicht«, knurrte der Gatte.

»Woher willst du das wissen?«

»Das hätte Viktor doch sicherlich geschrieben, schon um mich zu ärgern«, fiel Herr Amadäus hastig ein. »Den Trumpf hätte er sich gewiß nicht entgehen lassen.«

»Wer denkt denn an so was. Ein Bräutigam!«

»Ach was, Bräutigam. Er soll daran denken!«

Wieder lächelte Frau Marie und fragte: »Hast du denn darauf gesehen, Amadäus, als wir uns fanden?«

»Dummes Zeug! Brauchte ich auch nicht. Damals war es nicht nötig. Aber heutzutage! Und überhaupt, du kamst doch nicht aus Rußland! Das war ganz etwas anderes.«

Wieder lächelte seine Frau. »Er braucht ja auch gar nicht darauf zu sehen. So nötig hat er es doch wirklich nicht.«

»So? Das wird ja immer schöner! Heutzutage ist Geld die Hauptsache! Hat er davon nicht eine schwere Menge, wenn er das Gut übernimmt, wird er noch unangenehme Tage sehen, höchst unangenehme, dafür garantiere ich dir.« Fast schien es, wenn man Herrn Amadäus so reden hörte, als wäre es ihm eine Genugtuung, wenn es seinem Sohn einmal recht schlecht ginge. Aber seine Frau kannte ihn lange genug, um zu wissen, daß das alles nicht so ernst gemeint war.

»Mir ist nun aber mal eine exotische Schwiegertochter unsympathisch, ich mag von solchem Volk nichts wissen.«

»Weißt du was?« lächelte Frau Marie, »urteilen wir über sie erst, wenn sie hier ist. Dann wollen wir weitersprechen.«

»Bald genug wird das sein. Gib mir noch 'mal seinen Brief.«

Frau Marie errötete.

»Du brauchst nicht so zu tun, als wüßtest du gar nicht, wo er ist, er schaut ja aus deiner Tasche heraus«, sagte Herr Amadäus, nicht ohne Vergnügen darüber, daß er jetzt einmal seiner Frau überlegen war, die ihm den Brief hinreichte.

»Was glaubst du, wann wir sie erwarten können?« fragte er, während er aufs neue den ausführlichen Brief studierte.

»Jedenfalls sind sie jetzt schon auf deutschem Boden«,

Frau Marie sprang erregt auf. »Ich hoffe, dieser Tage schon werden sie kommen.« Sie schlang ihre Arme um des Gatten Hals. »O, wie freue ich mich, daß wir ihn wieder haben. Und du freust dich auch?!«

Er strich ihr über den Scheitel. »Verliebte Mutter, du! Natürlich freue ich mich auch. Freilich, diese Manja ...«

»Wir wollen sie lieb haben, und alles wird gut.«

»Ein recht einfaches Rezept.«

»Aber gewiß auch das wirksamste.«

»Und wenn dein Bruder mitkommt?« fragte sie nach einer kleinen Weile.

»Was? Das wird ihm schon nicht einfallen.«

»Aber, Amadäus, verstelle dich doch nicht so. Tu' doch nicht so schlimm, es steht dir gar nicht gut. Ich bin überzeugt, du würdest dich sehr freuen, deinen einzigen Bruder wiederzusehen.«

Beide horchten auf, das Tor unten war gegangen. Sie sahen sich an. Frau Marie erhob sich. »Ich werde selbst gehen, bleibe nur hier«, sagte Herr Amadäus. »Du bildest dir natürlich ein, es sei eine Nachricht von Viktor.«

»Du etwa nicht?«

Amadäus war schon hinaus. Frau von Gandern sah still, aber doch mit einem gespannten Ausdruck im Gesicht, vor sich hin. Wenn er mir nur erst wieder heil im Haus ist, dachte sie, wie froh will ich sein. Etwas beunruhigte sie allerdings auch die unbekannte Schwiegertochter. Man lebte ja hier so dicht beieinander, da war es schon von großer Wichtigkeit, ob man sich auch verstand und miteinander leben konnte. Sie strich sich etwas sorgenvoll über die Stirn, schalt sich aber gleich selbst. Der Junge hat sie ja so lieb, dachte sie. Er müßte nicht mein Junge sein, wenn ich die, die er liebt, nicht auch sollte lieben können.

Herr Amadäus erschien wieder und reichte seiner Frau mit möglichst gleichmütigem Gesicht eine Depesche hin. »Morgen kommen sie«, sagte er und tat ganz ruhig, als handle es sieh um die gleichgültigste Sache von der Welt.

»Seine Schwiegermutter ist auch dabei, der Lederhändler offenbar nicht, was mir nur lieb sein kann.«

Sie sprang auf mit strahlenden Augen, ordentlich jung sah sie aus. »Tu doch nicht so herzlos, du machst mir doch nichts vor.«

»Höre mal, ich werde ordentlich eifersüchtig auf den Bengel. Wie du aussiehst, wie du strahlst!«

Frau Marie ging zur Tür.

»Wohin willst du denn?«

»Ich muß es doch den Leuten sagen, daß morgen der junge Herr wiederkommt. Sie freuen sich ja alle auf ihn.« Hinaus war sie, ehe ihr Mann ihr etwas erwidern konnte. Sie wußte ganz gut, daß er Einwendungen machen würde, deshalb war sie so schnell verschwunden.

Kaum war sie draußen, ging auch mit Herrn Amadäus' Gesicht eine große Veränderung vor. Er fühlte das wohl, und deshalb sah er beharrlich, während er mit großen Schritten durch das Zimmer ging, nicht in den Spiegel. Sonst hätte er sich doch sagen müssen: Amadäus, du bist nicht besser als deine Frau, du bist gerade so närrisch wie sie, denn man sieht es ja deinem Gesicht schon einen Kilometer weit an, wie unbändig du dich freust, du verliebter Vater du.

Liebevoll schaute sich der Vater nach einer Weile im Zimmer seines Sohnes um. Es war natürlich längst alles in schönster Ordnung und wartete nur auf seinen Herrn. Er trat an den schönen, geräumigen alten Bücherschrank, der schon manchem Gandern gedient. Er schloß ihn auf und nahm ein paar Bände heraus. Keine Spur von Staub war an ihnen. »Diese Mutter«, murmelte Amadäus. »Da sieht man's wieder. Alle paar Tage hat sie hier Ordnung gemacht, ohne ein Wort davon zu sagen.« Er schlug unwillkürlich einen Band auf, ein kleines, altmodisches Bändchen: Goethes Gedichte. Er nahm einen andern: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Fast ein wenig wehmütig betrachtete er diese alten Bändchen. Es war eine Ausgabe, die Goethe selbst noch besorgt hatte. Von Viktors Großvater stammte sie. Auch die Schillerausgabe daneben stammte noch aus des Dichters Lebenszeit. Liebevoll glitt sein Blick über die Jean-Paul-Bände mit den roten Rückenschildern. Auch Herder war da und Wieland, Tieck, die Schlegel, Novalis. Amadäus lächelte, als sein Blick jetzt auf die alten, bescheidenen Ausgaben von Fielding, Sterne, Swift fielen. Diese Halunken! Und den Bulwer, Scott, Dickens, wie hatte er sie verschlungen, als er jung gewesen. Er schloß die Tür des Schrankes wieder, denn die neuen Sachen, die sein Sohn angeschafft, sie interessierten ihn nicht recht. Er trat zu einem andern Schrank, entnahm ihm Viktors Lieblingsflinte und schaute durch den Lauf. Kein Rostfleckchen fand sich. Nein, diese Mutter, jetzt kam er ihr auf die Schliche.

Herr Amadäus sprang auf und lauschte. Es wurde lebendig auf der Treppe. Vorsichtig öffnete er die Tür. Ein wenig hastig schloß er sie hinter sich, ein wenig eilig und mit langen Schritten ging er über den Gang zur Treppe. Es war ihm sehr angenehm, daß ihn niemand beobachtet hatte.

»Ja, was ist denn hier los?« rief er, als er unten angekommen war, wo die Knechte und Mägde beisammen saßen, große Körbe voll Laub und Blumen vor sich. »Was wollt ihr denn mit all dem Grünzeug?«

Die Leute lachten übers ganze Gesicht, antworteten aber nicht, weil sie bei dem Herrn nie gleich recht wußten, ob er böse oder zufrieden war, wenn er diesen Ton in der Stimme hatte wie eben.

»Wir flechten Kränze für das Brautpaar«, sagte Frau Marie, die aus der Küche kam und ihres Gatten Frage gehört hatte.

»So etwas Überflüssiges und Dummes!« erwiderte Herr Amadäus und ging eilig über die Terrasse in den Garten, denn im Grunde freute es ihn ja nur, daß man schmücken wollte, aber zeigen wollte er es nicht. Die ganze Gesellschaft ist sowieso schon verdreht, sagte er zu sich selbst, da muß doch wenigstens ich den Kopf oben behalten.

Herr und Frau von Gandern hatten keine allzu ruhige Nacht. Sie lagen recht lange wach, dachten im Grund dasselbe, sagten einander aber nichts. »Um Gottes willen, Marie, so halt' doch endlich Ruh und schlafe. Man kann ja kein Auge zutun!« knurrte er endlich. Vielleicht hilft das, dachte er, sie wird ja morgen ganz kaputt sein, wenn das so weiter geht.

Sie sprachen nichts mehr. Vielleicht schläft er doch ein, dachte sie. Nun wird sie doch einschlafen müssen, dachte er. Aber immer wieder merkten beide, daß sie noch wach lagen und an Viktor dachten. Ganz gerührt wurde Frau von Gandern. Wie lieb er den Jungen hat, dachte sie. So eine Mutter, dachte er, da liegt sie nun und kommt nicht zur Ruhe. Und der Bengel, dem das gilt? Keine Ahnung hat er, was eine Mutter ist, keine Ahnung. Ganz weich wurde ihm. Sie hätte ihm gern die Hand gedrückt. Aber nein, dann brummt er wieder und wird ganz wach, dachte sie und lag mäuschenstill. Gerne hätte er dieser Mutter, seiner Marie, einmal die Hände über den Scheitel gelegt, daß sie merkte, wie er sie liebte. Aber nein, sagte er sich. Dann ist's ganz aus mit dem Schlafen bei ihr. Wenn sie erst merkt, daß ich weich bin, redet sie die ganze Nacht von dem Bengel und dem Frauenzimmer mit dem Ring durch die Nase.

Und wie lang wurde am folgenden Morgen der Vormittag, denn das Brautpaar wurde erst um fünf Uhr nachmittags erwartet.

Endlich, endlich war es so weit. Herr Amadäus befahl, die beiden Landauer anzuspannen. »Warum denn zwei?« fragte Frau Marie erstaunt. »Weil man nicht wissen kann, wen Viktor außer seiner Schwiegermutter noch mitbringt.«

»Du denkst also doch an deinen Bruder?«

»Fällt mir gar nicht ein«, brummte der alte Baron und ging selbst in den Stall, nach den Pferden zu sehen, ob sie auch gut imstande waren und festlich aussahen, denn eins gab es jedenfalls in Rußland, das wußte er: gute Pferde. Es wäre ihm höchst unangenehm gewesen, wenn er nicht mit seinem Gespann vor »diesen Russen« hätte bestehen können.

»Gott sei Dank, daß wir so weit sind. Dieser Tag wollte kein Ende nehmen«, sagte Frau Marie, als sie im Wagen Platz genommen und die Pferde anzogen.

Als die Pferde vor der Bahnhofsrampe hielten, sahen sich die Eltern betroffen an. Was war denn das?

Da eilte auch schon Rittmeister von Schmiedel auf sie zu. Man habe erfahren, daß Viktor heute ankomme. »Woher?« brummte Amadäus und sah wütend um sich.

Der Rittmeister lächelte, er kannte die Art des alten Herrn.

»Der Postmeister hat es uns erzählt«, sagte er dann.

»Ein Donnerwetter soll dem alten Esel in sein geschwätziges Maul fahren!« schrie Herr Amadäus.

»Aber Mann, Mann, mäßige dich!« bat Frau Marie.

Nun wurde auch der Rittmeister etwas betroffen. »Wir dachten, es würde Viktor eine kleine Freude sein,« meinte er, »deshalb haben wir an seine Schwadron telegraphiert. Seine näheren Kameraden sind mit der Musik herübergekommen. Ihr Sohn ist ja so beliebt im ganzen Regiment. Da wollten wir unserer Freude auch Ausdruck geben.«

»Schön!« knurrte der alte Baron, während seine Gattin nicht ohne Sorge auf ihn sah, was er noch weiter sagen würde, bereit, ihm sofort das Wort abzuschneiden, wenn er noch weiter grob war. »Schön!« knurrte Herr Amadäus noch lauter und sah den Rittmeister grimmig an. »Dann haben Sie aber auch die Güte, nachher mit den Leuten zu uns hinaus zu kommen.«

»Aber ich bitte, Herr Baron!«

»Also Sie kommen?«

»Wir wollten allerdings nicht das erste Zusammensein ...« stotterte der Rittmeister nun ernstlich verlegen.

»Das haben Sie ja doch schon gestört!« entfuhr es dem alten Baron. Der Rittmeister wurde krebsrot. Aber Herr Amadäus reichte ihm die Hand, schüttelte sie und sagte: »Es ist nicht schlimm gemeint. Zum Donner, Rittmeister, Sie wissen doch, daß es mich nur freut, mir eine Ehre ist, wenn das Regiment den Jungen gern hat.« Er lachte plötzlich über das ganze Gesicht. Es freute ihn sehr, daß er den Rittmeister und ein wenig auch seine Frau düpiert hatte. »Also, mein lieber Rittmeister, auf Wiedersehen nachher zu einem kleinen Trunk! Nicht wahr?«

Herr von Schmiedel dankte, grüßte und verschwand. – –

»Wissen sie schon, daß Viktor verlobt ist?« knurrte Herr Amadäus.

»Aber was denkst du! Woher sollten sie das denn wissen?«

»So was tratscht sich doch schnell genug herum, wenn es erst alle Dienstboten wissen.« Er war sichtlich befriedigt und meinte: »Sie werden nicht schlechte Augen machen, wenn sie Viktors Braut sehen.« Er rieb sich schmunzelnd die Hände.

»Die mit dem Ring durch die Nase?«

»Aber Marie, rede doch keinen Unsinn.« Beide lachten und traten auf den Bahnsteig. Die halbe Stadt war dort versammelt, grüßte, grüßte immer wieder und freute sich mit den Eltern.

»O, dieses Nest!«

»Wie nett von den Leuten, daß sie sich so mit uns freuen.«

Da kam auch schon der Zug. Kaum hielt er, lag Viktor auch schon in den Armen seiner Eltern. »Ja, aber, wo ist denn ...« polterte der Alte. Viktor führte Manja den Eltern zu, die einige Schritte seitwärts gestanden, um wenigstens einen Augenblick den Sohn den Eltern zu lassen. Frau Marie schloß das schöne Mädchen gerührt in die Arme. Der alte Baron aber wandte kein Auge von ihr. »Junge, Junge! Was fällt dir ein! Die ist ja viel zu gut für dich!« Nun näherte sich Manja auch ihrem Schwiegervater, der sie so strahlend ansah, daß sie ihn bewegt nach russischer Sitte küßte, was dem alten Herrn ausnehmend gut gefiel. Er bot ihr gleich seinen Arm und sagte zu Viktor: »Du wirst Mama führen. Sie sehnt sich schon lange danach.« Stolz schritt der alte Baron mit seiner neuen Schwiegertochter durch die Reihen der Leute, die sie verwundert anstaunten, dem Wagen zu.

Viktor bot seiner Mutter den Arm, wandte sich aber plötzlich um: »Das hätte ich ja fast vergessen. Unsere beiden Kleinen.« Da standen sie, Hand in Hand, Ter und Ina, und sahen ängstlich auf all die Menschen. Viktor führte sie seiner Mutter zu: »Sie konnten sich von Manja nicht trennen, Mama, du wirst sie gut aufnehmen.« Frau Marie schüttelte kaum merklich den Kopf. Was waren das für sonderbare Kinder, diese zwei da. Als sie aber sah, wie sie immer ängstlicher dreinblickten und dem Mädchen schon das Wasser in die Augen schoß, beugte sie sich liebevoll zu den beiden, strich Ina durch das Haar. Wie schön das Kind ist! dachte sie. Wieder schüttelte sie leise den Kopf. »Was sollen wir denn mit ihnen?« fragte sie dann Viktor leise, etwas ratlos.

»Aber Mama!« Viktor lachte. »Wir nehmen sie vorläufig mit nach Gandern. Das weitere wird sich finden.«

Als sie vor die Station traten, begrüßte sie ein Tusch der Militärkapelle. »Gilt das mir?« Frau Marie nickte. »Das ist aber wirklich nett von den Leuten. Da sind ja auch Kameraden.«

»Der Vater hat sie zu uns geladen, du brauchst sie jetzt nicht zu begrüßen«, sagte seine Mutter.

Viktor grüßte, und während er seiner Mutter in den Wagen half, spielte die Musik. Wie merkwürdig mir das vorkommt, dachte Viktor, so fremd, so fern. Nachdem er Ter und Ina in dem andern Wagen untergebracht, stieg er zu seinen Eltern und Manja.

Im Wagen fragte Frau von Gandern plötzlich, fast erschrocken sich an Viktor wendend: »Wo ist denn deine Schwiegermutter? Sie wollte doch auch mitkommen.«

»Sie hat am letzten Tag in Berlin noch eine alte Freundin getroffen,« sagte Manja, »deshalb läßt sie sich entschuldigen. Auch möchte sie nicht so weit von Moskau fort. Sie hat mir das zwar nie gesagt, ich merkte es ihr aber an. Sie erwartet in diesen Tagen dort eine wichtige Entscheidung und hofft dann sofort hierher nachkommen zu können.«

Viktors Gesicht wurde ernst, als er sagte: »Darüber müssen wir gleich morgen mit euch reden. Die Schwester Manjas nämlich ...«

Manja sah Viktor bittend an: »Nicht wahr, morgen!«

»Ich hatte auch bestimmt erwartet, Philipp käme mit und sähe sich seine alte Heimat einmal wieder an«, sagte der Baron.

»Der Papa?« fiel Manja lebhaft ein. »O, wie gerne wäre er gleich mitgekommen. Aber es ging nicht Olgas, meiner Schwester, wegen. Ich hoffe sicher, in einigen Tagen schon können sie kommen.« Sie seufzte schwer, fuhr sich dann aber energisch über die Stirn, die trüben Gedanken fortzuscheuchen. »Wir wollen jetzt nicht davon reden, nicht jetzt gleich, wo ihr euch gewiß freut, euern Sohn wiederzuhaben.«

»Na, und daß er uns so eine Tochter mitbringen würde! Junge, nimm mir's nicht übel, ich hätte es dir nicht zugetraut.«

Als Viktor am andern Tag ins Frühstückszimmer trat und sich, etwas enttäuscht, vergeblich nach Manja umsah, sagte seine Mutter lächelnd: »Sie ist schon mit deinem Vater in den Garten. Sie wollte zwar auf dich warten, aber Amadäus ließ ihr keine Ruhe, sie mußte mit ihm, daß er ihr gleich alles zeigen könne. Er ist ganz verliebt in seine Schwiegertochter.«

»Und du, Mama? Was meinst du?«

Sie zog ihren Sohn an sich. »Ich kann mich auch nur freuen und Gott danken.« Viktor küßte sie voll Freude. Dann sah er wieder fragend zu seiner Mutter auf, ohne aber gleich sprechen zu können. Sie verstand ihn sofort. »Amanda ist Rotekreuzschwester geworden und fühlt sich sehr wohl dabei. Sie schwärmt für ihren neuen Beruf, geht darin auf und hat für gar nichts anderes mehr Gedanken.«

»Gott sei gelobt!« erwiderte Viktor und fühlte sich sehr erleichtert.

Da kamen auch schon Manja und der alte Baron. »Wie wunderhübsch es bei euch ist!« sagte Manja mit geröteten Wangen, als sie Platz genommen hatten. »Und der Vater Gandern, er verwöhnt mich schrecklich!«

»Wenn man aber auch dich nicht verwöhnen soll!« sagte Herr Amadäus heftig und sah sich herausfordernd um, als wollte er jedem an den Kragen, der das nicht für selbstverständlich hielt.

»Und wie anders die Menschen hier aussehen als in Rußland. Ich hätte nie gedacht, daß der Unterschied so groß wäre. Sie haben so etwas Freies, auch die Knechte und Mägde, gar nicht gedrückt, versorgt, verkümmert. Bei uns drüben denkt man vielleicht mehr, hier aber sind die Leute glücklich, jedenfalls viel glücklicher, viel, viel glücklicher.« Wieder glitt ein Schatten über ihr Gesicht.

»Ich glaube, es ist am besten, wir berichten nun gleich, wie es mit Olga steht«, meinte Viktor, seine Braut ansehend. Sie nickte zustimmend.

Und Viktor erzählte, während Manja nur ab und zu ein Wort einwarf, wenn ihr schien, daß dadurch alles noch klarer würde.

Als Rohden damals dem Attentäter in den Arm gefallen, war er samt ihm verhaftet worden, und der Attentäter rächte sich an Rohden, indem er der Polizei erklärte, auch Rohden gehöre seiner Gruppe an, wenn er auch nicht mit ganz den gleichen Mitteln zu dem Ziele wolle wie er und seine engsten Freunde. So wurde denn auch Rohden nicht wieder auf freien Fuß gesetzt. Man transportierte ihn mit dem andern als politischen Verbrecher in die Peter-Pauls-Festung, trotzdem er ja den andern an weiteren Attentaten auf den Minister verhindert hatte. Eine Zeitlang mußte man fürchten, Rohdens Unvorsichtigkeit könne ihm den Kopf kosten. Als dann aber der Attentäter zur Hinrichtung geführt wurde, berichtete er, daß er Rohden nicht näher kenne, daß er sich nur an ihm hätte rächen wollen, weil er schuld sei, daß das Attentat verunglückt. Das machte den Justizminister doch wieder ein wenig stutzig.

»Mein Gott, und was wird mit ihm geschehen?« unterbrach hier Frau von Gandern entsetzt die Erzählung.

»Er wird nach Sibirien deportiert«, erwiderte Viktor.

»Wenn es ihm nicht noch vorher gelingt, zu entfliehen«, sagte Manja.

»Aus dieser Festung entfliehen?«

»Es ist schon mehr Leuten gelungen«, entgegnete Manja. »Sie liegt ja in Rußland, wo es immer Wärter und Aufseher gibt, die für Geld einiges tun.«

»Ihm zur Flucht verhelfen?«

»Direkt nicht. Aber ihm einige Erleichterungen verschaffen, so daß eine Flucht in einem weniger bewachten Augenblick für ihn möglich wird.«

»Und das ist eure ganze Hoffnung?« fragte der alte Baron und machte ein bedenkliches Gesicht.

»Unsere ganze. Aber sie ist groß genug, und ich wäre ganz sicher, daß sie Wirklichkeit würde, wenn ich dort hätte bleiben können.«

»Mein Gott, Kind, auch das noch.« Frau von Gandern streichelte Manjas Hände.

»Ich mußte leider weg, denn man konnte schließlich auch mich verdächtigen, und man hätte mehr Grund dazu gehabt als bei Herrn von Rohden.«

»Wie?« Frau von Gandern starrte sie erschrocken an.

»Davon sprechen wir ein andermal«, sagte der alte Baron, und Manja nickte ihm dankbar zu. Wie zartfühlend er sein konnte.

»Nun, Petrow, einem alten Freund, habe ich die Sache anvertraut«, fuhr Manja fort. »Auf ihn kann ich mich verlassen, er wird es an nichts fehlen lassen, um die Flucht zu bewerkstelligen.«

»Aber wie soll das möglich sein?«

Manja lächelte. »Ein Aufseher hat ein Briefchen an Rohden passieren lassen. Er weiß nun, daß wir wissen, wo er ist, und daß wir ihn retten wollen. Das ist die Hauptsache. Er wird schon die Augen offen halten und merken, wenn etwas im Gange ist. Näheres kann ich auch nicht sagen, denn wie der Fluchtversuch vor sich gehen wird, die Details weiß ich nicht, kann ich auch nicht wissen, da das von Umständen abhängt, die ich von hier aus nicht übersehen kann.«

»Schrecklich, schrecklich ist das alles. Wenn man denkt!« Frau von Gandern zitterte leicht und versank in Nachdenken.

Als sie mit Viktor wieder allein war, fragte sie ihn: »Ist das wirklich wahr? Hatte deine Braut wirklich Beziehungen zu diesen, diesen entsetzlichen Menschen, den Nihilisten?«

»Ja, Mama.«

»War sie am Ende gar selbst ...?«

»Ja, Mama!«

»Wie ist das aber möglich? Ein Mädchen wie Manja!«

Nach einer Weile fragte sie: »Und wann glaubst du, daß sich das mit dem Herrn von Rohden entscheiden wird?«

»Du meinst seine Deportation?«

»Ja.«

»In den allernächsten Tagen muß sie vor sich gehen. Deshalb glaube ich auch, daß vielleicht schon heute oder morgen der Fluchtversuch unternommen wird.«

»Schreckliche Dinge, an die wir jetzt denken müssen, die ihr uns mit hierher in unser stilles Haus gebracht habt«, seufzte die Mutter.

»Onkel Philipp und Olga warten jedenfalls in Moskau die Entscheidung ab. Auch Onkel Philipps Frau wartet auf sie, in Berlin, wohin sich der Flüchtling und daher auch Olga wenden werden.«

»Wenn man aber entdeckt, daß sie bei der Sache beteiligt sind? Oder wenn der Fluchtversuch mißlingt?«

»An solche Dinge denkt man besser überhaupt nicht, Mama. Das darf eben einfach nicht geschehen, sonst ...«

»Sonst?«

»Nein, nein, wir wollen nicht einmal daran denken!«

Aber aller Gedanken flogen doch öfter hinüber nach Moskau. Herr und Frau von Gandern hatten natürlich keine rechte Vorstellung von der Peter-Pauls-Festung. Aber man hatte doch schon so viel über sie gehört und gelesen. Es mußte wohl das Entsetzlichste sein, was es gibt, da gefangengehalten zu werden.

Und der Gefangene selbst? Unruhig ging er in seiner schmalen, düsteren Zelle auf und ab. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß übermorgen ein Transport nach Sibirien abgehe. Er wußte, daß er auch zu ihm gehören würde. Aller menschlichen Voraussicht nach war also morgen der letzte Tag, an dem er den Fluchtversuch unternehmen konnte. Er zermarterte sich das Hirn, wie er vor sich gehen könne. Daß man seine Flucht vorbereitete, wußte er aus dem Brief, der ihm zugesteckt worden war. Aber mehr wußte er nicht, da es seinen Freunden nicht wieder gelang, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Er war also auf seine eigenen Kombinationen angewiesen. Auf sie mußte er seinen Plan gründen. Aber wer garantierte ihm, daß seine Kombinationen richtig waren? Daß sie sich mit dem Plan seiner Freunde begegneten? Rohden lächelte bitter. Aber nein, was auch werden mochte, solange noch ein Funken Verstand in seinem Kopf und ein Funken Kraft in seinen Gliedern, würde er auf Rettung sinnen. Und wenn die Rettung gelang, dann war es genug des grausamen Spiels. Dann wollte er allen überflüssigen Stolz beiseitelassen, dem alten Gandern auf den Pelz rücken und nicht eher ruhen, bis er Olga herausgab. Schließlich, mehr Proben der Standhaftigkeit konnte niemand liefern, als er es in diesen Monaten getan hatte. Und mit Olga würde er dann nach Deutschland gehen, denn hier war für ihn der Boden doch zu heiß geworden, seine Heimat, seinen Vater aufsuchen und ... Er setzte sich auf seinen Strohsack und versank in Zukunftspläne und Gedanken.

Plötzlich fuhr er auf. Ein Wärter und ein Gendarm erschienen, wie alle drei Stunden, um nach ihm zu sehen, ob er auch noch da war, ob er sich auch noch kein Leid zugefügt. Doch nein, diesmal kamen sie aus einem andern Grund. Sie teilten ihm mit, daß er übermorgen die Peter-Pauls-Festung verlassen würde. Sie schwiegen und sahen ihn erwartungsvoll an. Sie erwarteten offenbar, daß Rohden sie nun ausfragen würde. Sie durften zwar nichts sagen, aber schließlich, man ist ja auch ein Mensch, und die Verwandten würden schon für ein anständiges Trinkgeld sorgen, wenn sie erführen, daß man den Gefangenen gut behandelt hatte. Rohden lächelte ein klein wenig über der beiden erstaunte Gesichter, als er schwieg, kein Wort auf die Nachricht sagte. Eine Weile standen sie noch unschlüssig da und warteten. Aber es erfolgte nichts, sie mußten wieder gehen.

Kaum waren sie draußen, nahm Rohden seine Wanderung wieder auf. Jetzt ist nicht Zeit zu träumen und schöne Zukunftspläne zu machen, jetzt heißt es alle Energie und allen Scharfsinn zusammennehmen, denn morgen ist der letzte Termin zur Flucht.

Er vergegenwärtigte sich noch einmal langsam und systematisch alle Vorgänge der letzten Tage, die ihm irgendwie einen Hinweis geben konnten auf das, was seine Freunde mit ihm vorhatten. Es war nicht viel, was ihm da aufgefallen war, aber doch einiges.

Merkwürdig war es jedenfalls, daß er jedesmal, wenn er im Gefängnishof seine Stunde spazierenging, was jeden Tag einmal geschah, hörte, wie draußen auf dem holprigen Pflaster seit nun vier Tagen ein Wagen fuhr, der offenbar in der Nähe hielt. Am ersten Tage hatte er gedacht, irgendein Beamter, der in der Festung zu tun habe, würde ihm entsteigen. Aber das war augenscheinlich nicht der Fall, wenigstens sah er niemand durch das Gefängnistor treten. Möglich war es ja immerhin, daß der Insasse des Wagens einen andern Eingang in die Festung wählte, den Rohden nicht kannte. Aber weshalb fuhr er dann immer gerade dicht an diesem Hoftor vor?

Rohden wurden jeden Tag zu einer andern Stunde ins Freie gelassen. Offenbar wollte man dadurch verhindern, daß er irgendeine Beziehung zur Außenwelt fand während dieser Zeit, jedenfalls es durch diese Maßnahme erschweren, denn hätte man ihn immer um dieselbe Stunde seinen Spaziergang machen lassen, war es leichter für ihn und seine Freunde, sich irgendwie zu verständigen, wenn auch noch schwer genug, da am Tor zwei Soldaten postiert waren, die ihn keinen Augenblick aus dem Auge ließen. Um so seltsamer war es, daß er jeden Tag genau zu der Zeit, wo er den ersten Rundgang im Hof machte, den Wagen näherrollen hörte. Es lag also nicht so sehr fern, diesen Wagen mit den Rettungsabsichten seiner Freunde in Verbindung zu bringen. Er kam immer von rechts her, fuhr nie an dem Tor vorbei, hielt also rechts vom Tor. Wenn er nur gewußt hätte, wie weit von ihm entfernt. Gestern nun hatte er gesehen, wie eine Peitsche, offenbar die des Kutschers auf dem Bock, hochgehoben wurde und sich langsam hin- und herbewegte. Danach mußte er annehmen, daß der Wagen hart am Tor stand. Zuweilen hörte er auch, wie ein Wagenschlag laut geöffnet und laut zugeschlagen wurde. Es war also jemand in dem Wagen. Er verließ ihn eine Weile, ging wohl in der Nähe in ein Haus oder tat wenigstens so, was sehr gescheit war, denn schließlich hätten sonst selbst die stumpfsinnigen Soldaten, die auf Posten standen, wenn sie auch täglich wechselten, sich darüber wundern müssen, warum der Wagen fast eine Stunde lang hier hielt. So konnten sie glauben, sein Insasse habe hier in der Nähe zu tun. Daran war nichts Auffallendes, das konnten die Posten schon annehmen.

Kombinierte Rohden also recht, so galt der Wagen ihm, der Schlag wurde so vernehmlich auf- und zugemacht, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Durch die hochgehobene Peitsche wollte man ihm wahrscheinlich ganz genau den Ort zeigen, wo der Wagen hielt, so daß Rohden imstande war, die Entfernung vom Hoftor bis zum Wagen ganz genau zu berechnen. Nach etwa dreiviertel Stunden pflegte der Wagen wieder fortzufahren, und zwar fuhr er auch nicht am Hoftor vorbei, sondern drehte. Nur gestern war es anders gewesen. Da war er langsam am Tor vorbeigefahren, so daß ihn Rohden genau sehen konnte. Es war ein geschlossener Wagen, trotzdem es Hochsommer war, wo man in Rußland fast nur offene Wagen zu sehen bekommt. Sehr leicht war er gebaut. Auch die Pferde sahen sehr gut aus. So viel hatte Rohden in dem kurzen Augenblick des Vorüberfahrens sehen können. Auf die Bauart des Wagens und auf die Art der Pferde hatte er auch seine ganze Aufmerksamkeit konzentriert. Es wollte ihm sogar einen Augenblick scheinen, als kenne er Pferde und Wagen. Doch da spielte ihm wohl seine Phantasie einen Streich, denn daß Philipp von Gandern seinen Wagen und seine Pferde für einen solchen Zweck hergäbe, nein, das konnte er nicht glauben. Das hieße ja, daß Gandern seine Gesinnung ihm gegenüber geändert. Dummes Zeug, sagte Rohden halblaut vor sich hin, indem er ratlos durch seine Zelle wanderte. Na, und wenn es wirklich Ganderns Fuhrwerk ist, so bewiese das nur, daß er mir gern aus der Patsche heraushelfen will, in die ich nicht ganz ohne seine Schuld hineingekommen bin. Ich glaub' schon, daß ihm das im Augenblick gerade kein angenehmes Gefühl ist, daß es ihm schon lieb wäre, wenn er mir durch seinen Wagen wieder in die Freiheit verhelfen könnte. Mehr beweist das nicht, gar nichts zum Beispiel dafür, lieber Freund, daß Gandern nun auch damit einverstanden ist, daß ich ihm seine Tochter wegnehme. Gar nichts beweist das hierfür. Nur immer hübsch kühl und kaltblütig und nicht wieder gleich Träume träumen, mein Lieber. Um so unangenehmer ist nachher das Erwachen. Angenommen also, der Wagen ist für mich bestimmt, ich soll also einen günstigen Moment benutzen, hineinzukommen, für das weitere werden dann die andern sorgen. Schön, gut. Aber woher den günstigen Moment nehmen? Das war die schwierige Geschichte. Das Hoftor war freilich offen, aber das half ihm wenig, denn rechts und links standen die beiden Soldaten mit schußbereiten Gewehren. Wie an ihnen vorbeikommen? Für gewöhnlich standen sie an der Mauer. Der eine links, der andere rechts. Dann zwischen ihnen durchzulaufen war ja einfach Selbstmord. Zuweilen freilich vertraten sie sich ein wenig die Füße. Der links ging ein paar Schritte nach rechts, der rechts einige nach links, so daß sie mitten vor dem Tor zusammenkamen. Hier blieben sie zuweilen einen Moment stehen und flüsterten sich ein paar Sätze zu, denn laut miteinander sprechen durften sie nicht, weil das ihre Aufmerksamkeit abgelenkt haben würde. Jedenfalls, in dem Augenblick, wo sie sich allerhand zuflüsterten, waren sie am unaufmerksamsten. Wenn man diesen Augenblick benutzte, indem man sich rechts der Mauer näherte und dann rechts hinaussprang, so war es immerhin nicht unmöglich, daß man bis auf die Straße kam, ehe es den Soldaten bewußt wurde. Aber das würde nur Sekunden dauern, dann waren sie zur Hand und würden unbedingt zuschießen, denn es ging ihnen selbst an den Kragen, wenn sie einen Gefangenen lebendig entkommen ließen. Das wußten sie selbst ganz gut.

Rohden machte halt und sah vor sich hin. Sekunden! Wieviel Schritte habe ich also zur Verfügung? Er zog seine Uhr und berechnete mit ihrer Hilfe, wieviel Sekunden er etwa zu zehn Schritten brauchte, denn wenn er ganz dicht am Tore rechts stand in dem Augenblick, da die beiden Soldaten in der Mitte desselben zusammentrafen, so brauchte er bis zum Wagenschlag etwa zehn Schritte. Nach seiner Taxierung wenigstens. Die beiden Leute würden wohl einige Sekunden verblüfft sein, zu keinem Entschluß kommen können. Bis das vorbei, mußte der Wagen sich aber schon in Bewegung setzen. Halt, wenn der Wagen nicht drehen wollte, was unmöglich war, weil es zuviel Zeit erforderte, so mußte er einfach an dem Tor vorbeirasen. Eine üble Geschichte, denn bis dahin wußten die Soldaten jedenfalls, was sie zu tun hatten, und wenn es der Zufall nicht anders führte, konnten sie gerade in den Wagen hineinschießen in dem Augenblick, wo er an ihnen vorbei mußte. Immerhin, wenn er bei der Gelegenheit totgeschossen wurde, so war es angenehmer, ihm weit angenehmer, als lebendig wieder in ihre Hände zu fallen. Aber das, was die ganze Mühe bezweckte, wurde jedenfalls nicht erreicht. Die bösen Gewehre, wenn die nicht gewesen wären!

Rohden machte wieder halt. Man müßte versuchen, diese Gewehre wenigstens noch für einige Sekunden unschädlich zu machen. Aber wie?

Gestern zum Beispiel hatten die beiden Soldaten ihre Gewehre für einige Minuten an die Mauer gelehnt. Es waren junge Kerle gewesen, die das Leben und auch ihren Dienst noch nicht allzu schwer nahmen. Wenn morgen wieder so zwei Soldaten die Wache hatten, wenn sie wieder die Gewehre an die Wand lehnten, womöglich beide Gewehre rechts an die Wand, dann konnte man ihnen im Vorbeispringen einen leichten Stoß versetzen, daß sie hinfielen. Das wäre so übel nicht. Wenn, ja wenn ... Er hatte es jedenfalls nicht in der Gewalt, daß sie ihm diesen Gefallen taten.

Rohden schüttelte bedenklich das Haupt, als er wieder auf seinem Strohsack Platz nahm. Es hing doch von gar vielerlei Zufällen ab, das ganze Unternehmen. Es brauchte nur der eine oder andere von ihnen zu seinen Ungunsten auszufallen, und die Flucht war schon im Keim mißlungen, ganz abgesehen davon, daß seine Lage noch schwierig genug und auch gefährlich genug war, wenn er glücklich mit heiler Haut im Wagen am Tor vorbeikam, denn verfolgen würde man ihn sicher, und zwar ziemlich schnell. Auch da mußten wieder einige günstige Zufälle zusammenkommen, um ihn zu retten. Ach was, nur nicht mutlos. Andern war unter ähnlichen Verhältnissen die Flucht gelungen, andern war das Schicksal günstig gewesen. Er erinnerte sich an die Flucht des Fürsten Krapotkin, die unter ganz ähnlichen Umständen vor sich gegangen, wie der Versuch, den er morgen unternehmen wollte. Manche Einzelheiten seines Planes hatte er sogar direkt jenem Fluchtversuch des Fürsten nachgebildet.

Endlich schlief Rohden ein. Ein unruhiger, wüster Schlaf war es, der ihm wenig Erquickung brachte. Immer wieder fuhr er auf, weil es ihm einen Augenblick lang war, als hätte er irgend etwas Wichtiges, Entscheidendes bei seinem ganzen Plan vergessen. Aber so viel er auch, beherrscht von diesem Gefühl, nachsann, er konnte nichts Neues, ihm Günstiges, finden. Er schlief nach einer Weile wieder ein, um bald aufs neue unter Angstgefühlen zu erwachen. Er war sehr froh, als es endlich Tag wurde. Aber nun fing wieder das Warten an, wußte er doch nicht, wann man ihn heute auf den Hof ließ. Er lauschte, die Morgensuppe wurde gebracht. Dann war er wieder allein. Auf einmal fuhr er ganz erschrocken zusammen. Nein, der Gedanke, der ihm da eben durch den Kopf schoß, durfte nicht wahr werden. Das wäre zu abscheulich gewesen. Wenn man mich heute überhaupt nicht an die Luft ließe? hatte er gedacht. Man konnte wegen des Wagens Verdacht geschöpft haben. Oder man konnte auch ganz einfach denken: Was brauchen wir den Gefangenen heute noch ins Freie zu lassen, von morgen an, auf dem Transport, wird er frische Luft genug haben. Mehr als ihm vielleicht lieb ist. Möglich war es immerhin. Warum sollte man nicht auf diesen Gedanken kommen? War er doch auf ihn gekommen.

Er wartete, aber nichts regte sich. »Eine nette Folter, die ich mir da selbst erfunden habe, das muß ich schon sagen«, murmelte Rohden vor sich hin und nahm seine ruhelose Wanderung durch die schmale Zelle wieder auf.

Woher wußten die Besitzer jenes Wagens überhaupt so genau die Stunde, zu der er in den Hof gelassen wurde? Das konnten sie doch nur durch Verrat erfahren, einen Verrat, der täglich wieder begangen werden mußte. Wenn nun dem Verräter auf einmal das Gewissen schlug? Oder wenn er auf einmal ganz gemeine, gewöhnliche Angst bekam und heute nichts verriet oder gar in seiner Angst sich selbst verriet?

Stunde verging um Stunde. Niemand näherte sich der Tür seiner Zelle. Aber er durfte die Hoffnung nicht aufgeben, so mutlos ihm auch zuweilen zu Sinn wurde. Gewaltsam raffte er sich immer wieder auf. »Es ist ja schon öfter vorgekommen, daß man mich erst am Nachmittag an die Luft ließ«, suchte er sich zu trösten. »Das kann auch heute der Fall sein. Solange es Tag ist, habe ich Hoffnung. Jawohl, Hoffnung!« sprach er ganz laut in die öde Zelle, die so teilnahmslos, tot, dalag.

Immer später wurde es. Er sah auf die Uhr, es war schon fünf Uhr geworden, fünf Uhr nachmittags. »Noch zwei Stunden Galgenfrist. Holt man mich bis um sieben nicht ab, komme ich heute nicht mehr heraus. Und dann ...?« Nein, ruhig, ruhig! Dann war ja immer noch Zeit, zu verzagen, zu verzweifeln. Jetzt nur den Kopf hoch, nur jetzt den Verstand klar behalten und die Nerven in der Gewalt.

Kam da nicht jemand? In der Tat. Rohden schlug das Herz im Hals. Gewiß, draußen auf dem Korridor ging jemand. Aber er ging an seiner Tür vorbei. Es war wieder nichts. Die Knie zitterten ihm vor Aufregung.

Mit Schrecken bemerkte er das. Hatte er denn schon wirklich alle Gewalt über sich verloren? Einen Augenblick stand er und lauschte noch, dann zwang er sich mit aller Gewalt, sich ruhig hinzusetzen. »Ich bin zu viel seit gestern hin- und hergegangen. Das hält am Ende die eisernste Konstitution nicht aus. Jetzt heißt es ruhig sitzen, sich ein wenig ausruhen. Das ist die Hauptsache, damit die Glieder im entscheidenden Moment nicht versagen.«

Sein Gehirn arbeitete ununterbrochen, seine Phantasie sah immerwährend den kleinen Hof vor sich, das Tor, die Soldaten. »Auch das ist jetzt nichts«, sagte sich Rohden. »Ruhe, Ruhe!« Er begann aufmerksam seine Handflächen zu betrachten und die Linien zu zählen. »Ich werde ganz genau feststellen, ob sie in beiden Händen gleich sind. Und wenn sie nicht gleich sind, werde ich in aller Ruhe feststellen, auf welcher Handfläche sich mehr befinden, ob auf der rechten oder der linken. Ich könnte sogar eine kleine Wette entrieren. Also wetten wir, daß auf der linken Handfläche mehr Linien sich befinden als auf der rechten.«

Auf einmal lauschte er wieder und vergaß im selben Augenblick seine Wette, seine Hände, ihre Linien, alles außer dem einen: da draußen geht wieder jemand. Wie langsam er vorankam. »Wetten wir also wieder!« Ein etwas krampfhaftes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Unglück habe ich in der Liebe, also Glück im Spiel. Wetten wir also, daß der Wärter da draußen vor meiner Tür haltmacht, sie öffnet, mich auf den Hof läßt!« Wie lange es dauerte, bis der Mensch der Tür nahe kam. Eine Ewigkeit dünkte es ihm. Jetzt hielt er an. Warum zögerte er noch? Auch rasselten die Schlüssel nicht wie sonst, wenn er sich anschickte, zu öffnen. Wenn doch wenigstens die Schlüssel geklirrt hätten, daß dies unerträgliche Warten aufhörte! Da, jetzt hörte er die Schlüssel. Die Tür wurde geöffnet. »Aufstehen, Rohden, an die Luft!« sagte eine mürrische, harte Stimme. Rohden erhob sich, wankte aber ein wenig, zugleich fühlte er einen stechenden Kopfschmerz, der ihm fast die Besinnung raubte.

»Ich bitte Wasser, ein wenig Wasser, für meinen Kopf!« stammelte er.

Mürrisch sah der Wärter zu ihm auf. Nun, begreiflich war es schon, daß dem Gefangenen der Kopf schmerzte. Die Aussicht auf Sibirien hat schon manchem den Schädel zum Brummen gebracht. Das wußte er aus langjähriger Erfahrung recht gut. Er pfiff auf einer kleinen Pfeife. Rohden zuckte zusammen bei dem Ton. So wird es bald durch alle Gänge pfeifen, schoß es ihm durch den schmerzenden Kopf, wenn mein Fluchtversuch vor sich geht. Ein anderer, jüngerer Wärter erschien und brachte nach einer Weile einen Napf mit Wasser, in dem sich Rohden die glühend heiße Stirn badete. Wie das gut tat! So, und nun Kaltblütigkeit, absolute Ruhe, die Augen offen, den Verstand beisammen.

»Na, wird's bald, Rohden!« brummte der Wärter.

Man trat auf den Gang. Als der Wärter die Zellentür wieder abschloß, wurde es dem Gefangenen auf einmal ganz leicht ums Herz. So, sagte er sich, in dies Loch kommst du jedenfalls nicht mehr zurück. Gott sei Lob und Dank! Das ist schon etwas. Entweder die Flucht gelingt oder du läßt dich totschießen, zwingst die Soldaten dazu. So oder so, jedenfalls sehe ich die Zelle lebendig nicht wieder.

Der Wärter schüttelte den Kopf. Was man nicht alles mit diesen Gefangenen erlebte. Fast jeden Tag etwas Neues. Da war nun dieser Rohden. Vor einer Minute noch zum Umfallen, daß man hätte glauben können, er würde ohnmächtig und könnte heute überhaupt nicht in den Hof. Und jetzt? Jetzt ging er so elastisch und munter daher. »Langsam, langsam, zum Donner!« knurrte er mürrisch und ärgerlich. Es war einfach ungehörig für so einen Gefangenen, an diesem Ort so zu gehen. Er mußte doch wissen, daß sich das für ihn nicht schickte.

Nun war man im Hof. Der Wärter blieb einen Augenblick an der Treppe stehen und sah dem Gefangenen zu. Er lächelte leise. Na, nun war ihm der Mut schon wieder vergangen. Er schlich wieder wie gewöhnlich dahin. Er wollte es dem Rohden auch geraten haben! Der Wärter drehte sich um und ging zurück, die Zelle genau zu durchsuchen, während der Gefangene im Hof war, ob auch nichts Verbotenes in ihr, nichts vor allem, mit dessen Hilfe sich der Gefangene ums Leben bringen konnte. So war es die Vorschrift in der Peter-Pauls-Festung, wo man den größten Wert darauf legte, daß die Gefangenen am Leben blieben und für ihr Verbrechen bis zur Neige büßten.

Mitten in dem Hof befand sich ein kleiner Grasplatz, um den der Kiesweg führte, den der Gefangene zu gehen hatte. Immer im Kreis wie der blinde Gaul an der Ölmühle. Auch stehen durfte er nicht bleiben, sonst wurden die Soldaten direkt aufmerksam auf ihn.

Langsam ging Rohden um den kleinen Grasplatz herum. Von dem Wagen war nichts zu hören. Vorsichtig sah er rechts an der Mauer in die Höhe. Er konnte ja schon dastehen. Aber dann hätte er die Spitze der Peitsche erblickt. Sie war nicht zu sehen. Langsam ging Rohden um den kleinen Grasplatz herum. Leider kehrten ihm die beiden Soldaten am Tor den Rücken zu. Er hätte gern ihr Gesicht gesehen, um nach ihm zu taxieren, wie sie sich wohl benehmen würden, wenn er plötzlich aus dem Tor spränge. Besonders stark sahen sie nicht aus, dachte Rohden. Es wäre nicht allzu schwer, sie über den Haufen zu rennen. Wenn sie nur nicht so steif und stumm auf ihrem Platz stehen wollten, der eine rechts, der andere links am Tor. Blieben sie so stehen, würde er schwerlich ungeschoren zwischen ihnen durchkommen. Er machte einen Augenblick halt. Sofort sah der eine Soldat, der rechts stand, zu ihm hin.

Langsam ging Rohden um den Grasplatz herum. Der Soldat hatte ein junges, gutmütiges, reichlich dummes Gesicht, wie der Gefangene mit Genugtuung feststellte. Rollte da nicht ein Wagen? In der Tat. Aber es schien Rohden, als sei es ein anderer, fremder Wagen. Da fuhr er auch schon an dem Tor vorbei, ohne zu halten. Ein Herr und zwei junge Mädchen saßen darin, Mädchen in hellen, duftigen Kleidern, wohl auf einem Ausflug in die Umgegend, denn der Tag war gewiß heiß gewesen, war es doch Hochsommer. Da benutzten die drei den nahenden Abend zu einem Ausflug. Recht so! Er hätte es an ihrer Stelle auch so gemacht!

Nun wandte ihm auch der andere Soldat sein Gesicht zu, denn Rohden hatte ein leichtes Gelächter nicht unterdrücken können. Wenn das noch lange dauert, wirst du verrückt! dachte Rohden und ging wieder langsam weiter. Auch der zweite Soldat gehörte augenscheinlich nicht zu den klügsten Vertretern seines Standes. Wenn die Burschen sich nur endlich in Bewegung setzen wollten, womöglich auch die Gewehre hinstellen, wie es Rohden in seinem Programm vorgesehen hatte. Aber es ist ja noch gar nicht nötig, sagte sich der Gefangene, der Wagen ist ja noch gar nicht da, und der war doch die Hauptsache. Was fange ich an, wenn er heute gar nicht kommt? Dann war alles umsonst, die ganze Aufregung der letzten Tage.

Aha, da kam er, ja, das war er. Er kannte die Art, wie diese Räder rollten, ganz genau. Jetzt stand er, der Schlag wurde laut geöffnet und wieder zugeschlagen, die Peitsche tauchte über der Mauer auf. Sie bewegte sich eifrig hin und her. Rohden heuchelte einen Hustenanfall, daß der Kutscher hören mußte, daß jenseits der Mauer einer spazieren ging. Spazierengehen ist ein hübscher Ausdruck für die Sache, warum nicht gleich Lustwandeln sagen, dachte Rohden, indem er gespannt auf die beiden Soldaten sah, die immer noch starr und steif auf derselben Stelle standen. Könnte man ihnen nicht suggerieren, so daß sie sich jetzt in Bewegung setzen müßten, ob sie wollten oder nicht? Das wäre höchst vorteilhaft. Aber es ging nicht, sie standen nach wie vor starr auf ihrem Platz.

Langsam ging Rohden um den Grasplatz herum. Wenn sich die beiden nicht bald in Bewegung setzen, laufe ich doch noch am gescheitesten zwischen ihnen hindurch, riskier's, denn mehr als den Kopf kann's nicht kosten. Nein, nein, es geht doch nicht, denn dann erwischen sie mich unzweifelhaft lebendig, und das wäre mehr als fatal. Ruhig, ruhig. Ewig können sie ja so nicht stehen, es ist einfach wider die Natur eines militärischen Postens. Er ist doch kein Storch, daß er es eine Stunde lang aushält, sozusagen wie auf einem Bein zu stehen, ohne sich zu rühren! Die beiden Soldaten bewegten sich langsam auf einander zu. Nun berührten sie sich in der Mitte des Tors. Aber Rohden befand sich gerade jenseits des Grasplatzes. So ging es nicht. Er mußte ausrechnen, wie lange sie brauchten, um bis in die Mitte des Tors zu gelangen. Und gerade in dem Augenblick, wo sie einander am nächsten, mußte er selbst auf seiner Wanderung bis an die Stelle des Kieswegs gekommen sein, die dem rechten Torflügel am nächsten lag.

Mechanisch schritten die beiden Posten auf und ab. Ein Gutes hat doch der militärische Drill, dachte Rohden, während er seinen Gang um den Grasplatz so einrichtete, daß er in dem Augenblick dem rechten Torflügel am nächsten sein konnte, in dem die beiden Soldaten einander am nächsten waren. So einfach, wie er es sich gedacht, war es übrigens doch nicht. Viermal mußte er den Weg um den Grasplatz machen, bis es ungefähr stimmte. Ein Gutes hat der militärische Drill, dachte Rohden wieder, dessen Stirn sich vor Aufregung feuchtete. Die Kerle gehen wie nach dem Zentimetermaß. Nicht um zwei Millimeter ist ein Schritt länger oder kürzer als der andere. Wenn sie jetzt nur noch ihre Gewehre einen Augenblick abstellen wollten, dann wag' ich's. Aber die beiden Soldaten dachten gar nicht daran. Sie sind noch nicht lang genug im Dienst, um das zu riskieren, sagte sich Rohden. Das ist eine böse Geschichte. Was soll ich da machen? Wage ich jetzt den Sprung, knallen sie mich unfehlbar nieder.

Ach was, sei's drum! Lieber tot, als länger diese Marter! Schon war er zum Anlauf bereit, da drehte sich gerade der eine Soldat ihm zu. Es kostete Rohden eine ungeheure Anstrengung, um die schon angespannten Sehnen nicht losschnellen zu lassen, sondern einen Augenblick stehenzubleiben und dann ruhig weiterzugehen. Helle Tropfen rannten ihm über die Strin. Er hörte, wie der Wagenschlag wieder aufgerissen und heftig zugeschlagen wurde. So war es also noch ein Glück, daß ich vorhin nicht sprang, denn offenbar ist jetzt erst mein Freund wieder im Wagen. Wäre ich vorhin gesprungen, wer weiß, ob dann der Kutscher losgefahren, ob er überhaupt gewußt, wohin mit mir.

Langsam ging Rohden um den kleinen Grasplatz herum. Heftig fuhr die Peitschenspitze durch die Luft. »Ich glaube dir's gerne, daß du ungeduldig wirst«, murmelte Rohden. »Ich bin es schon lange. Aber was soll ich machen? Die beiden Burschen lassen ja nicht von ihren Gewehren. Ein Ruck, und sie haben sie im Anschlag. Und schließlich, bloß um sich totschießen zu lassen, dazu waren am Ende diese Stunden doch zu furchtbar, damit wären sie nur mäßig aufgewogen. Das kann ich schließlich einfacher haben.« Nun lehnte der eine Soldat, der rechts postiert war, sein Gewehr rechts ans Tor Rohdens Augen blitzten. Nun noch der andere. Aber der behielt sein Gewehr geschultert. So muß ich ihn halt umwerfen, dachte Rohden, und während er auf der Nase liegt, in den Wagen springen. Das andere Gewehr ergreife ich und schleudere es im Sprung möglichst weit fort. Rohdens Atem keuchte, während er langsam weiterschritt. Während sie in der Mitte des Tors zusammenstehen, werde ich langsam von hinten näherschleichen. Wenn nur der Kies nicht so knirschte! Aber es half nichts. Ich werde mich also heranschleichen, ihn kräftig in die Kniekehlen treffen, daß er zusammenknickt, nach rechts springen, das Gewehr fortschleudern und ... Mein Gott, da kam jemand durch den Korridor! Wenn der sich an die Tür stellte, konnte er nichts machen, war er verloren. Rohden lauschte angestrengt. Dann sah er sich um. Der Wärter war vorbeigegangen. Gott sei Dank!

Die beiden Soldaten standen plötzlich still, gähnten und sahen auf die Straße. Wenn sie jetzt zusammenständen, dachte Rohden, wäre der Augenblick gekommen. Aber sie standen weit voneinander entfernt, jeder an seiner Seite des Tors. Rohdens Knie zitterten heftig. Fast wie Krampf fühlte er es in seinen Fußgelenken, die nun wohl schon eine halbe Stunde auf den einen, entscheidenden Sprung warteten.

Die beiden Soldaten näherten sich wieder. Leise, in drei behenden Schritten war Rohden hinter ihnen, schlug den einen mit aller Gewalt in die Kniegelenke, daß er nach rückwärts zusammenbrach, sprang nach rechts, schleuderte das Gewehr mit aller Kraft weit von sich, war mit drei Sätzen am Wagen, dessen Schlag offenstand, sprang hinein, fiel hintenüber, denn die Pferde zogen sofort an, der Kutscher hieb wie besessen auf sie ein, d'aß sie wie rasend vorwärtsstürmten. Alles in wenigen Sekunden. Da, ein Knall, Rohdens linker Arm zuckte zusammen, wie ein feiner Nadelstich ging es durch ihn hindurch. Noch eine Kugel pfiff, ohne zu treffen, wildes Geschrei ertönte, Pfeifen gellten. Lachend, weinend lag Rohden in Petrows Armen, während das Gefährt in wildestem Galopp weitersauste. Doch Petrow stieß ihn auf einmal hastig beiseite und schrie zum geöffneten Wagenschlag heraus: »Kerl, langsam, langsamer, es ist ja nicht mehr nötig, daß jeder unserm Tempo ansieht, daß wir auf der Flucht sind.« Der Kutscher zügelte die Pferde, und in langsamem Trab, als handle es sich um eine Spazierfahrt, ging es weiter. Man war in wildem Galopp so viel Gassen kreuz und quer gefahren, daß die Verfolger schwerlich gleich die rechte Spur finden konnten.

Plötzlich hielt der Wagen. Ein anderer, der ganz anders aussah, stand einen Schritt davon. In den sprangen die beiden, während das Gefährt, das sie bis hierher gebracht, sich eiligst entfernte.

»So,« sagte Petrow, als sich der neue Wagen gemächlich in Bewegung setzte, »vorläufig wären wir geborgen.« Erschrocken beugte er sich über Rohden, der totenblaß, wie ohnmächtig dalag, aus dessen rechtem Ärmel Blut rieselte. »Sie sind verwundet? Schwer?«

Rohden lächelte. »Nein, nur der Arm ist durchschossen. Das macht nichts. Nur weiter, weiter!« –

Vier Tage später erhielten Ganderns ein Telegramm aus einer kleinen polnischen Stadt: »Kommen morgen alle nach Berlin, dann in zwei Tagen bei euch. Rohden leicht verwundet. Sonst alles gut gegangen. Gruß Philipp.«

Alle atmeten auf Schloß Gandern erleichtert auf, denn diese Tage, wo man vergeblich auf eine Nachricht gewartet hatte, waren schrecklich gewesen.

»Nun wird doch noch alles gut!« rief Manja und sank ihrem Bräutigam schluchzend in die Arme.

Frau Marie aber meinte erleichtert zu ihrem Gatten: »Hoffentlich ist ihr das eine Lehre fürs ganze Leben. Denn im Grunde, wenn man's recht überlegt, hat doch Manja diese ganze Verwirrung angerichtet, weil sie mit dem Kopf durch die Wand wollte.«

»Na ja, na ja«, erwiderte Herr Amadäus etwas verdrießlich, denn er konnte es absolut nicht vertragen, wenn man auch nur das geringste gegen seine Schwiegertochter sagte. »Wenn man alles so kühl, mit dem Verstand sieht und wenn man selbst erst alt geworden ist, gewiß, du hast ganz recht. Gott sei Dank, es gibt auch noch junge Leute, sonst würde es ja unerträglich langweilig auf der Welt. Die bringen doch noch etwas Bewegung und Leben, die sorgen doch noch dafür, daß wir nicht alle im Alltag versumpfen und verfaulen.«

Frau Marie ließ ihren Gatten ruhig reden, wenn sie auch mancherlei gegen seine Ausführungen auf der Zunge und im Herzen hatte. Aber wie er den Bruder aufnehmen würde, darauf war sie wirklich begierig.

Er nahm ihn sehr freundlich auf, schon um Manjas willen. Er sah auch auf einmal gar nicht ein, weshalb er sich so unwirsch gebärden sollte. Es war ihm ja doch nicht Ernst damit. Wie eine zweite Jugend war es über ihn gekommen.

Als alle zum erstenmal um den großen Eßtisch im Speisezimmer saßen, sagte Viktor plötzlich: »Ja, aber Rohden, wie ist das denn? Damals, als Sie sich noch Müller nannten, sagten Sie mir da nicht, Sie seien ein alter Jugendfreund meines Vaters?«

»Was? Er ist ja aber viel jünger.« Herr Amadäus war nicht wenig erstaunt und sah seinen Gast genauer an, der ein wenig verlegen wurde. Manja lächelte vor sich hin. Schließlich meinte sie: »Lügen haben kurze Beine.«

»So ist es«, erwiderte Rohden, der gar nicht aus der Verlegenheit herauskommen konnte, und suchte das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen.

Herr Amadäus sah immer wieder zu ihm hin. Weiß der Kuckuck, dachte er, wenn ich ihn genauer betrachte, er erinnert mich tatsächlich an jemanden, der mir nahesteht, wer ist das nur?

»Aber hier in der Gegend sind Sie vorzeiten einmal gewesen, nicht wahr?« fragte Viktor wieder.

»Jawohl,« erwiderte Rohden, »und ich bitte Sie, Viktor, lassen wir nur noch heute dies Gespräch. Ich verspreche ihnen, morgen schon soll auch dies erklärt werden zu Ihrer und aller Zufriedenheit, was Ihnen allen« – er sah wieder auf den alten Baron, dessen Blicke nicht von ihm wichen – »jetzt noch etwas mysteriös und sonderbar erscheint.«

Philipp von Gandern sprang auf und rief: »Das habe ich wahrhaftig ganz vergessen. In Moskau kam mir ein Päckchen zu, das an dich, Manja, adressiert war und an Viktor. Es kommt aus Tiflis, scheint eine Zeitung oder so was zu enthalten.« Er war schon zum Zimmer draußen.

Manja und Viktor sahen einander an. »Vielleicht von Hoijer?« meinte Viktor. Manja nickte.

Hastig öffnete Manja das Päckchen, das Philipp von Gandern hereinbrachte. Es enthielt einen Pack armenischer Zeitschriften in armenischer Sprache. »Jetzt sind wir so klug wie zuvor,« sagte Viktor, »denn wer von uns spricht Armenisch?« Er beugte sich über Manja und blätterte in einem der Hefte. Plötzlich erblaßten beide. »Was habt ihr denn?« riefen die andern. »Mein Gott, schon wieder ein Unglück?« fragte Frau Marie erschreckt. Alle drängten sich um das Brautpaar, das stumm auf einige Photographien starrte, unter denen in armenischer Sprache Namen standen, mit einem Kreuz vor jedem Namen. Es waren die Bilder von Dr. Ohanian, Dr. Spondarian und den andern Führern jenes Zuges gegen Scharef Pascha.

»Was sind das für Leute?« fragte Olga leise.

»Helden«, erwiderte Manja in demselben Ton. »Und das ist alles, was von ihnen übrig blieb, eine Photographie!« Viktor seufzte schmerzlich auf.

Da sagte Manja laut: »Und ihre Taten, leben die nicht auch, sind sie nicht ihrem ganzen Volk durch diese Bilder, in diesen Photographien, immer lebendig, gegenwärtig? Reden diese armen Bilder nicht eine laute, anfeuernde Sprache?«

Alle schwiegen lange Zeit. Dann nahm Herr Amadäus leise die Blätter fort und sagte: »Lassen wir das jetzt, Manja, nicht wahr? Wir sind ja in Deutschland.«

Manja fuhr sich über die Stirn. »Du hast recht, wir haben es gut, das heißt ja dies: wir sind in Deutschland.«

Viktor ergriff ihre Hand und flüsterte ihr ins Ohr: »Aber wir werden die, die es so viel schlechter haben, nicht vergessen!«

Wieder war die Stimmung ernst geworden, war doch wieder ein Schatten aus jenen geplagten Ländern des Ostens über aller Seelen gefallen.

Am andern Morgen erbat sich Rohden einen Wagen. Er wolle mit Olga einen Ausflug machen. Wohin sagte er nicht, das sei vorläufig noch sein Geheimnis, erklärte er nicht ohne Erregung.

Lange blieb der Wagen aus. Es wurde Mittag, er erschien immer noch nicht.

»So beunruhigt euch doch nicht, wir sind ja nicht in Rußland oder Persien«, sagte Manja, als man bei Tisch saß und sich allen möglichen Vermutungen hingab. Sie lächelte. »Du weißt etwas Genaueres über diesen merkwürdigen Ausflug?« fragte Philipp von Gandern. »Ja, Papa, aber ich darf nichts sagen, ich möchte Rohden die Überraschung nicht verderben. Nur eins kann ich sagen: ihr braucht euch nicht zu sorgen, sie sind ... Nein, fast hätte ich's verraten.« Herr Amadäus meinte: »Wahrhaftig, seitdem ihr im Haus seid, gibt's alle Tage etwas Neues. Über Abwechslung können wir uns nicht beklagen. Was uns in all den Jahren hieran fehlte, holen diese wenigen Tage reichlich nach.«

»Nicht böse sein, lieber Vater Gandern.«

»Aber ich bin ja gar nicht böse, absolut nicht!«

Am Nachmittag erschien dann der Wagen, aber ohne Olga und Rohden. Dafür überbrachte der Kutscher einen Brief von beiden, der das Rätsel aufklärte. Alle außer Manja waren einen Augenblick sprachlos.

»Da hört sich aber wirklich verschiedenes auf!« rief Herr Amadäus. »Also deshalb kam er mir so bekannt vor. Kurt von Bruneck! Das ist wirklich eine Überraschung!« Herr Amadäus sprang auf und ging behend durchs Zimmer. »Wie wird sich mein alter Bruneck freuen, daß er seinen Sohn wieder hat! Nein, dies Rußland, dies Rußland!« Alle lachten.

»Wie ich mich für Olga freue«, sagte Frau Sidonie und strich Manja übers Haar. »Nun ...«

»Nun ist es gut, nicht wahr?« sagte Manja. Alle nickten.

»Aber das bitt' ich mir aus, nun ist's genug der Überraschungen!« rief Herr Amadäus.

»Weitere hat der Orient auch nicht mehr für uns, soviel ich weiß«, meinte Manja.

»Na, du mußt's ja wissen«, sagten alle erleichtert, erregt und doch voll Freude über diese letzte und angenehmste Überraschung.


 << zurück