Kurt Aram
An den Ufern des Araxes
Kurt Aram

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III.

Ich stehe gerade und sage zum alten Andrejew, der ein großer Trinker war, aber viel Mut hatte: Also wiederhole mir, Väterchen, wie wirst du nächsten Sonntag den Popen fragen, wenn er Mission hält und glaubt, niemand wird ihm widersprechen? Andrejew schmunzelt und antwortet: Heiliger, werde ich fragen, du sagst, an die Heilige Schrift müssen wir glauben und auch die heilige Jungfrau müssen wir als Gottesmutter heilig halten. Wo steht das in der Heiligen Schrift geschrieben? Richtig, erwidere ich, und du sollst sehen, was für ein Gesicht der Pope machen wird, und wie ihm der Atem ausgeht, unwissend und dumm, wie er ist. So rede ich mit Andrejew, und wie er dann weiter fragen solle und den Popen, der eigens nach Tiflis gekommen, um zu missionieren, weiter in Verlegenheit bringen. Ich lache noch laut, denn Andrejew macht seine Sache gut, und es gab dann auch am Sonntag eine große Freude, da der Pope keine Antwort auf Andrejews Fragen wußte, und Andrejew war doch in der ganzen Stadt nur dafür bekannt, daß er der größte Säufer ist in Transkaukasien. Da klopft mir jemand auf die Schulter und sagt: »Ihr seid ja sehr vergnügt heute.« Ich wende mich um, und weiß Gott, vor mir steht Marja Feodorowna und ihre Freundin.«

»Wie sah sie aus?« fragte Viktor.

»Groß, schlank, schwarz, schön, Manja nannte sie Marja Feodorowna.«

»Vor wieviel Tagen war das?«

»Vor vierzehn Tagen. Und dann gingen wir zusammen in mein Magazin.« Der Erzähler strich sich wieder lächelnd seinen großen roten Vollbart. »Da hatten wir einen neuen Spaß.«

»Wann reisten die Damen weiter?« fragte Viktor.

»Marja Feodorowna blieb hier.«

»Ich weiß, sie wurde mit dem Fürsten hierher verbannt, ich weiß auch warum, ich war selbst dabei.«

»So? Weshalb sagtet Ihr das nicht gleich?«

»Ich lerne vorsichtig sein.«

»Da tut Ihr gut. Doch verzeiht, auch ich muß vorsichtig sein. Nennt mir deshalb noch ein paar Namen von damals, als Ihr dabei wäret, dann kann ich offen reden.«

Viktor erwiderte: »Nun, einer namens Petrow war dabei, dann ein Herr von Rohden.«

Der Rotbärtige nickte zustimmend. »Es genügt mir.« Er reichte Viktor die Rechte. »Nun freue ich mich erst recht, nun seid Ihr mir noch einmal so lieb. Jetzt muß ich Euch aber auch gleich den neuen Spaß erzählen, über den auch die fremde Dame, die Freundin Marja Feodorownas, laut gelacht hat. So wie die Sonne lacht. Niemand kann sonst so lachen. Man wundert sich sehr darüber, weil man ihrem Gesicht gar nicht ansieht, daß es so lachen kann.«

Viktor unterdrückt nur mühsam einen Seufzer der Ungeduld. Aber er hat inzwischen schon ein wenig das Geduldhaben gelernt und erfahren, daß Ungeduldigwerden vor allen Dingen gar nichts nützt im Orient, daß man damit nicht um eine Sekunde schneller vorwärts kommt ...

Der Rotbärtige hebt wieder zu erzählen an: »Kaum kommen wir in mein kleines Magazin, stürzt mir die Haushälterin entgegen, ganz außer Atem und voll Schreck. Herr, flüstert sie, soeben kam ein Pope, und zwei Polizisten und drei Gendarmen sind gekommen, wühlen in Euren Sachen herum und suchen. Verbotene Bücher und Dokumente suchen sie, haben sie mir gesagt und mich durch fünf Rubel bestechen wollen, daß ich ihnen sagen soll, wo sie liegen. Aber ich weiß ja nichts. Ich besorge das Haus, sage ich, und das andere geht mich nichts an. Was andere? fragt der Pope, und glaubt sehr schlau zu sein. Ich meine nur so, erwidere ich und mache ein dummes Gesicht. So, wißt Ihr, sagt sie und macht ein Gesicht, daß Marja Feodorowna jetzt schon lachen muß. Aber die andere Dame verzieht nicht eine Miene. Kommen viel Leute her? fragt der Pope wieder. Manchmal viel, manchmal wenig, antworte ich ... Wie sehen sie aus? inquiriert der Pope weiter. Nun, wie Leute, die Spielsachen kaufen für ihre Kinder, sagte ich, wie ehrbare Leute aussehen. Da macht der Pope ein böses Gesicht, schilt mich und fängt an, im Magazin herumzugraben. Alles wirft er durcheinander, findet aber nichts von dem, was er sucht. Wird er nie finden, wird er gar nichts finden, sage ich, was meine Haushälterin, die treue Seele, und auch die beiden Damen sehr beruhigt. Bin ich doch nicht so dumm, wenn ich was zu verbergen habe, es so hinzulegen, daß nur ein Pope zu kommen braucht, um es zu finden. Wir gehen in den ersten Stock und treffen den Popen, der einen ganz roten Kopf hat vom Bücken, was er nicht gewöhnt ist. Du sollst ein Sektierer, ein Feind Rußlands, ein Nihilist sein! schreit er mich an, weil er immer noch nichts gefunden hat und die Gendarmen ihn schon ansehen, als wollten sie ihn auslachen. Gestattet, Marja Feodorowna, daß ich Euch den Popen vorstelle, wende ich mich an sie und stelle ihn vor, nenne dabei auch ihren Namen, den der Fürstin. Wie aber jetzt erst der Pope rot wurde! Nicht vom Bücken, sondern vor Ehrfurcht. Er wollte sich empfehlen. Ich aber hielt ihn zurück. Nein, sage ich, die Pflicht gebietet Euch zu bleiben, tut, was Eure Pflicht ist. Er murmelt, es sei nicht mehr nötig. Aber Ihr habt ja längst noch nicht alles gesehen, rufe ich und stoße eine Tür auf. Schaut dorthin, vielleicht findet Ihr da etwas Verdächtiges. Der Pope wird immer röter, diesmal vor Zorn, denn er muß sich wieder bücken und herumkramen, schon der Gendarmen wegen. Wir gehen derweil in den Garten, sage ich, wenn Ihr mit dem Haus fertig seid, kommt auch dahin, denn auch im Garten, gerade im Garten kann man manches verstecken. Ich gehe mit den Damen in den Garten, wir plaudern, sie erzählen mir von Moskau, und wie dort die Sachen stehen. Endlich kommt der Pope mit seinen Gendarmen. Er will sich wieder empfehlen, vorher aber noch ein wenig an der Fürstin sich sonnen, denn es kommt hier einem gewöhnlichen Popen nicht oft vor, daß er eine Moskauer Fürstin sehen darf. Warte, denke ich, dich will ich foppen, du sollst ein für allemal das Wiederkommen vergessen. Während er mit den Damen redet und fast dahinschmilzt vor Ehrfurcht und Bewunderung, blicke ich von Zeit zu Zeit ängstlich um mich, bald hierhin, bald dorthin. Ich sehe wohl, die Gendarmen werden plötzlich aufmerksam auf mein Gebaren, sie beißen an. Ich seufze und blicke immer häufiger um mich, um dann wieder ganz erschrocken unter mich zu sehen, als könnten meine Blicke ein Geheimnis verraten. Der Pope will sich endlich empfehlen. Aber Ihr habt Euch ja noch gar nicht den Garten angesehen, sage ich. Ihr wollt mich foppen, meint der Pope. Ich will nur, daß Ihr Eure Pflicht tut, erwidere ich feierlich. Wir verlangen, daß der Garten untersucht wird, erklärt einer der Gendarmen und glaubt besonders klug zu sein. Ich erschrecke, ich stottere. Aber das wird doch Euer Ernst nicht sein. Verzeiht mir, ich wollte wirklich nur einen Scherz mit Euch treiben. Der Pope sieht die Gendarmen an, sieht mich an, ich schaue immer erschreckter drein. Da faßt ihn ein neuer Eifer, und sie verteilen sich im Garten. Da liegt ein Haufen Stangen. Ich zittere. Also werfen sie ihn auseinander. Es ist nichts. An einer anderen Stelle habe ich eine Grube gegraben für Gemüse. Kommt doch weiter, sage ich, und bebe. Sie graben das Gemüse aus der Erde und finden nichts. Der Pope reibt sich seinen struppigen, wirren Bart und will aufhören. Aber mit den Gendarmen geht es wie mit den Jagdhunden. Je länger es dauert, bis sie auf eine Fährte kommen, um so eifriger werden sie. Langsam nähern wir uns dem Ende meines Gartens. An der Mauer ist ein Bienenstand. Ihr seht, ich habe nichts zu verbergen, sage ich, und drehe um. Die Gendarmen starren die Bienenkörbe an. So kommt doch, dränge ich, es ist nichts da. Der eine Gendarm mustert mich scharf. Ich senke unter seinem Blick die Augen. Sie können doppelten Boden haben, sagt er, und starrt auf die Bienenkörbe. Ich lache, aber so recht gezwungen. Nehmt ein Schnäpschen zur Belohnung für alle Mühe, dränge ich. Nun starrt auch der Pope die Körbe an. In der Tat, sie können doppelten Boden haben, meint er ebenfalls. Ich fasse ihn am Arm. Komm, Väterchen. Da reißt er sich los. Laß mich, wir wollen doch sehen. Mir lacht das Herz im Leibe, als ich merke, sie nähern sich den Körben. Gut, wenn Ihr eigensinnig seid, wenn Ihr mir nicht glauben wollt, rufe ich, und eile voran zu den Körben. Wißt Ihr, in einem Korb befand sich ein besonders wilder, böser Schwarm. Ich nähere mich ihm, rüttele an ihm. Hei, wie das da drinnen summt und brummt, als ich zu schütteln beginne! Als der Pope nahe genug, öffne ich flugs das Flugloch. Haha, das hättet Ihr sehen müssen. Die Bienen wie toll aus dem Korb und dem Popen in den struppigen Bart, daß es nur so eine Art hat. Vor Schreck fällt er auf den Rücken, schlägt um sich, schreit und ruft alle Heiligen um Hilfe an, und die russische Kirche hat deren nicht wenige. Daß es so viele sind, wußt' ich bis dahin selbst nicht. Die Gendarmen ziehen ihre Waffen und wehren sich der Bienen, die natürlich nur wilder werden. Es sah zu drollig aus. Bald schrie der eine: Au!, bald der andere. Überall stachen sie. Da mußte ich lachen. Auch Marja Feodorowna, ja sogar ihre Freundin, so komisch war es anzusehen.«

Der Rotbärtige lehnte sich weit in den Hotelstuhl zurück und lachte wieder. »Die kommen mir nicht mehr wieder, haha!«

»Und hattet Ihr denn gar nichts Verbotenes?« fragte Viktor.

»Aber selbstverständlich!« rief sein Gegenüber, »und alles war tatsächlich in den Bienenkörben versteckt.«

»War es dann nicht furchtbar leichtsinnig? ... Es konnte doch anders ausgehen?«

»Ich bitte Euch, einen Spaß muß man doch haben! Wie könnte man weiterleben, wenn man den nicht zuweilen hätte!«

Viktor sah wieder auf den rotbärtigen Mann mit dem kindlichen Lachen, den weichen, kindlichen Zügen, der sein Leben aufs Spiel setzte für einen Spaß. Und nicht nur sein Leben. Wer weiß, wieviel auf dem Spiel stand, wenn jener Pope und die Gendarmen die Papiere doch entdeckt hätten.

Der Rotbärtige strich sich immer wieder wohlgefällig durch seinen Bart.

»Ihr hättet uns lachen sehen müssen, und besonders die Freundin von Marja Feodorowna!«

»Und wohin ging sie dann?« fragte Viktor, und atmete erleichtert auf, denn endlich war er so weit.

»Nach Persien«, erwiderte der andere.

»Allein?«

»Freilich.«

»Ist das nicht gefährlich?«

»Selbstverständlich.« Der Rotbärtige sah ihn erstaunt an. »Hier ist alles gefährlich.«

»Warum ließet Ihr sie allein fort?«

Der andere lachte laut. »Als wenn ich sie hindern könnte. Nicht ich, sie hat mir zu befehlen.«

»Wißt Ihr, wo sie jetzt ist?«

»Wahrscheinlich in Täbris. Sie ging als Armenierin verkleidet von hier fort«

»Ja aber, gerade unter den Mohammedanern sind doch jetzt die Armenier besonders verhaßt?« warf Viktor erschrocken ein.

»In Persien hat sie nur die Kurden, die Schlangen und den türkischen Konsul zu fürchten«, erwiderte der Rotbärtige ruhig. »Das ist weniger als in Rußland, weniger, als wenn sie am Araxes der russischen Behörde durch europäische Kleidung auffiele.«

»Und wann reisen wir?« fragte Viktor nun ungeduldig.

»Bis übermorgen wird es möglich sein«, sagte der andere. Und wieder lachte er. Nein, wie sonderbar der Zufall spielt! Höre ich vorgestern, im Hotel Stadt London sitzt ein Europäer, will nach Persien, kann aber niemand finden, der mit ihm geht, weil sich die Leute fürchten vor dem Weg bis zum Araxes, der von Räubern belagert ist, dies Jahr gerade besonders. Und ich will auch mal wieder nach Persien, wo ich schon lange nicht mehr war. Halt, denke ich, gehst in die Stadt London, suchst den Herrn auf, vielleicht nimmt er dich mit. Ich komme und frage: Ist hier der Herr, der nach Persien will? Da tretet Ihr schon eilig aus dem Lesezimmer zum Büfett und stellt Euch vor. Mein Name ist Hoijer, sage ich, Nils Frederik Hoijer. Ein alter Schwede, sagt Ihr, sieh da. Daß Ihr das sagtet, und wie Ihr es sagtet, das hat mich sehr gefreut. Ich dachte gleich, wir werden auskommen miteinander.« Er reichte Viktor die Hand, die dieser kräftig drückte, denn er fand tatsächlich ein großes Gefallen an diesem so offenen, nordischen Menschen, in dessen Augen immer der Schalk lag, um dessen Mundwinkel aber oft ein gar listiges, fuchskluges Lächeln glitt.

»Was meinen Sie, könnte ich nicht erst noch die Fürstin Minkow aufsuchen?« fragte Viktor.

Herr Hoijer schüttelte energisch, ablehnend den Kopf. »Ich würde nicht dazu raten. Ich bin gewiß nicht ängstlich, aber besser ist besser Die Fürstin steht unter Beobachtung der Behörde, unzweifelhaft bewacht man auch ihren Umgang. Sie könnte Euch Scherereien bereiten wegen der persischen Reise, denn seit jenem Sieg von Martyros Akunian ist man hier sehr nervös.«

»Kennen Sie ihn?«

»Und ob ich ihn kenne, sehr gut, wir sind alte Freunde, wir haben gar manches Stücklein gemeinsam ausgeführt. Doch davon erzähle ich Euch lieber unterwegs, wo viel Zeit dazu sein wird.« Herr Hoijer erhob sich. »Also bis morgen. Es ist besser, ich bleibe nicht länger. Zwar speist in der Stadt London der Großfürst und viele Offiziere, das Hotel gilt also für regierungsfromm, aber, mein Gott, man weiß, daß ich es nicht bin, und wer weiß, ob man nicht jetzt schon weiß, daß ich bei Euch war. Glücklicherweise ist man hier in seinen Entschlüssen langsam, auch habe ich einige Freunde unter den höheren Beamten. Jedenfalls, es ist ganz gut, wir machen, daß wir morgen schon weiterkommen.« Herr Hoijer verabschiedete sich und ließ Viktor in den widerstreitendsten Gefühlen zurück.

Viktor zog sich einen Schaukelstuhl auf die Terrasse, die nach dem Chur ging, der mit gewaltigem Getöse durch das Tal rauschte und mit einer Wildheit, wie sie nur der Kaukasus seinen Gewässern gibt.

Viktor träumte vor sich hin. Wie anders hatte er sich Tiflis vorgestellt, die Stadt, von der Mirza Schaffy so Schönes, Berauschendes zu singen und zu sagen weiß. Er hatte gedacht, überall unter Palmen zu wandeln. In Wahrheit gab es nur weit draußen im botanischen Garten einige Exemplare. Die eigentliche Stadt war russisch, das heißt unsauber, mit viel engen, winkeligen Gassen und penetranten, üblen Gerüchen. Russisch, das heißt weiter: teuer, laut und voll Bettler. Und der Orient in Tiflis? In der Nähe gesehen, machten die persischen Bazare gerade keinen sehr prunkvollen Eindruck. Die Teppiche waren allerdings prachtvoll, aber auch in diesen Vierteln roch es höchst übel, und die Menschen waren von unglaublicher, marktschreierischer Zudringlichkeit.

Und dieser ohrenzerreißende Lärm aus all den offenen Werkstätten der Gold- und Waffenschmiede, den Bäckereien, den Kramläden, den Schusterwerkstätten und Garküchen. Freilich, die Menschen sahen oft recht interessant aus, die Perser mit rotgefärbtem Haar und Bart, die grusinischen Gemüseverkäufer, die hohen, schönen Georgier in der kleidsamen Tscherkeßka, Vertreter der kaukasischen Bergvölker in bunten Trachten, so bunt, wie die bunten Vögel, die sich überall zeigen, sowie man von den Höhen des Kaukasus zu Tal kommt. Und das Gewimmel von Tieren! Hunde aller Sorten, kleine, lebhafte Esel, auf denen oft eine ganze Familie ritt, feierlich einherschreitende Kamele und Pferde aller Arten, aber alle, wenn sie nicht gerade ganz armen Leuten gehörten, wild, unruhig, laut wiehernd, nur Hengste.

Viktor fühlte sich wie betäubt von all dem Lärm und Getriebe, das sich ihm aufdrängte, sowie er den Fuß vors Hotel setzte. Allerdings, er war ungerecht gegen die Stadt, war er ja doch nicht zu seinem Vergnügen hierhergekommen, sondern nur, um Manjas Spuren zu folgen, die er sich erringen wollte, koste es, was es wolle.

Als er damals, vor vierzehn Tagen etwa, aus dem Palais des Fürsten mit einer Verwarnung entlassen worden, weil sein Paß in Ordnung befunden und man dem deutschen Offizier glaubte, daß ihn nichts Arges in dieses Palais geführt, als er damals allein auf der Straße stand, mit noch leise zitternden Gliedern, wie aus einem wüsten Traum erwachend, da hatte er sich gelobt, Manja aus dieser gefährlichen Umgebung zu befreien. Stundenlang blieb er in der Nähe des Palais in der Hoffnung, auf Manja oder wenigstens auf Rohden zu stoßen. Aber er fand keinen von den beiden. Schließlich warf er sich in einen Wagen und ließ sich zur Villa seines Onkels fahren. Langsam fuhr der Kutscher, als sie aus der Stadt waren, er schien zu schlafen, auch die Pferde schienen müde zu sein. Ihm war es recht, hatte er doch Zeit, sich zu fassen, sich einen Plan zurechtzulegen, was er seinen Verwandten erzählen wollte; und vor allem auch den Plan, wie er Manjas wieder habhaft werden und sie überzeugen könnte, daß das kein Leben für sie sei, daß sie auf diese Weise nichts erreichen würde, als daß sie eines Tages ihre Freiheit, vielleicht ihr Leben verlor. Wie konnte man Manja nur von ihrem Wahn erlösen? Er grübelte und grübelte. Er fühlte deutlich, mit Vernunftgründen war hier nichts zu machen, denn das Herz hört nicht auf die Vernunft, und das Herz war es, das sie in den Kreis dieser Leute getrieben. Gewalttaten wollte sie verhindern und dem Volk dieses Riesenreiches zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen. Nur das Herz konnte einen solchen Plan fassen, denn der Verstand würde sofort erkennen, daß der einzelne, daß einige Hundert zu schwach waren, um diesem Riesenland zu der Freiheit zu verhelfen, von der einige Hundert, vielleicht einige Tausend seiner Bewohner träumten, Und ging nicht der Plan des Häufleins im Palais des Fürsten Minkow noch weiter? War man nicht schon im Begriff, auch die Armenier und Syrer in Persien und der Türkei mit einzubeziehen? Auch die Mazedonier, Bulgaren, Serben würden eines Tages herangezogen werden. Alles, was da litt und irgendwie seufzte. Geradezu grotesk waren diese Pläne, die mit einer Selbstverständlichkeit erörtert wurden, als handle es sich um lauter nicht allzu schwer ausführbare Dinge. Wahrlich, solche Pläne ernsthaft zu diskutieren, dazu gehörte schon eine orientalische, schrankenlose Phantasie. Gewiß, es war etwas überaus Hohes und Edles, das Streben dieser kleinen Gruppe von Menschen. Aber was würde unter der rauhen, harten Wirklichkeit daraus werden? Zerschellen würde alles und nichts übrigbleiben als ein Häuflein unglücklicher, zugrundegerichteter, in ihrem Edelsten aufs tiefste verwundeter Menschen. Wie Kinder kamen ihm diese Leute vor, die doch zum Teil weit älter waren als er.

Der Tag dämmerte, grau in grau, hoffnungslos, tief melancholisch. Schwere Nebel krochen über das ebene, starre Land. Nur ab und zu wie aus weiter Ferne ein Hornsignal. Weit draußen im Nebel mußte Militär üben. Viktor stieß den Kutscher an, einmal, zweimal, endlich erwachte er. »Was ist das?« fragte er und deutete über die Ebene zur Linken des Wegs. Der Kutscher verstand ihn nicht, wohl aber die Handbewegung. »Chodjinskoje«, murmelte er, gähnte und fing wieder an, vor sich hinzuduseln. Chodjinskoje? dachte Viktor. Das Wort hatte er doch schon gehört. Er murmelte es vor sich hin. Da, jetzt wußte er's, und fröstelnd starrte er über das graue Feld, über dem langsam die Nebel einherkrochen. Das war ja das Feld, auf dem bei der Krönung des Kaisers Nikolaus II. an einem Tage über 1400 Menschen umgekommen waren ... Ein leichter Wind erhob sich, warf die Nebel durcheinander, daß sie sich wanden wie Menschenleiber, und klagte in den Bäumen am Weg. Viktor schauderte zusammen. 1400 Menschen, murmelte er. Was für eine Zahl! Mitten in lauter Fröhlichkeit gestrichen aus dem Reich der Lebendigen, als wäre es gar nichts. 1400 Menschen! Erst wenige Jahre war es her. Wer wußte noch etwas von ihnen? Wer vermißte sie? Eine kleine Welle in der Riesenflut dieses Volkes. Was bedeutete sie für Rußland? Sie alle hatten ihre Hoffnungen, ihre Pläne gehabt. Und jetzt? Ein Vater, eine Mutter, eine Braut mochte noch zuweilen an den einen oder andern unter den 1400 denken, das war alles. Und jene Gruppe im Palais Minkow? Eine noch kleinere Welle unter dem Völkermeer des Orients, und sie glaubte, das ganze Meer umwandeln zu können. Zum Lachen war diese Vorstellung, wenn es nicht gar so traurig gewesen wäre, diese Welle ihrer Vernichtung so getrost und siegesgewiß entgegentreiben zu sehen.

Viktor erhob sich von seinem Schaukelstuhl und ging in den Garten, der terrassenförmig abstieg bis zum Wasser des Chur. Auf der untersten Terrasse begegnete ihm die Besitzerin des Hotels. Sie kam von den Pferden, die sie seit dem Tode ihres Mannes, der Pferde über alles liebte, selbst versorgte.

»Aber, Herr Baron, was machen Sie für ein Gesicht!« rief sie schon von weitem.

»Sie haben's gut, Frau Richter«, erwiderte Viktor und sah lächelnd auf die kleine, rundliche, energische, lebensfrohe Frau.

»Ich?! Hier unter diesem Gesindel? Na, hören Sie, Herr Baron, das hat mir noch niemand gesagt!« Sie war förmlich beleidigt.

Wenn Frau Richter böse dreinsah, mußte Viktor lachen. Es stand der lebenslustigen Mainzerin, die in der schönen Stadt am Rhein jung gewesen zu jener lustigen Zeit, da dort noch die Österreicher lagen, so absonderlich zum Gesicht, das so weinfroh und humorvoll dreinsah und sich soviel Fröhlichkeit mit hierher gerettet hatte, als sie, aus einer Hoteliersfamilie stammend, ihrem Mann, der damals Koch war, nach Tiflis folgte.

»Sie können auch nie ernst bleiben, wenn ich einmal ernst dreinsehe«, schmollte Frau Richter. »Aber so sind die Männer. Weil mer Humor hat, soll mer'n immer hawe, un kei Mensch glaubt eim, daß mer auch emal traurig is.«

Viktor mußte jetzt erst recht lachen, denn es kam ihm zu drollig vor, daß diese Frau, die nun schon fünfzehn Jahre hindurch nicht aus Tiflis herausgekommen, doch immer wieder in ihren alten Mainzer Dialekt fiel, sowie sie lebhaft wurde und mit einem Deutschen sprach.

»Morgen reise ich ab.«

»Ach, du lieber Gott! Wirklich?« Frau Richter sah ihn erschreckt an. »Und wirklich nach Persien?« Viktor nickte. »So eine Marotte! Was wollen Sie nur dort in dem häßlichen Land, unter den wilden Menschen. Sehen Sie sich doch das Volk hier auf der Straße an! Genügt Ihnen das noch nicht?«

»Es geht nicht anders.«

Frau Richter war ernstlich böse, denn sie bemutterte alle Deutschen, die zu ihr kamen, ein wenig. »Ihre Frau Mama wird nit wenig erschrecke, wann sie das erfährt.«

»Sie braucht es ja nicht zu erfahren.«

»So? Un wenn Sie krank wer'n in dem Land? Un wenn Ihne sonst e Unglück zustößt?«

»So schlimm wird's ja nicht gleich werden.«

»Ei no, des Menschen Wille is sein Himmelreich. Aber ein schönes entrecôte werd ich Ihne noch mache un pommes soufflés. Sobald bekomme Sie das nit wieder!« Energisch wandte sie sich dem Hause zu. Viktor sah ihr nach. Dies Gesunde, Tätige, Resolute, das in seinem kleinen Kreis aufging, diesen aber auch völlig ausfüllte, wie wohl das tat. Das war deutsch. Die Frau stand auf dem rechten Fleck, hatte erreichbare Ziele, deshalb war sie immer so frisch und zufrieden. In Westeuropa lachte man immer die Deutschen als unpraktisch, als närrische Ideologen aus. Das stimmte gar nicht, wenigstens nicht mehr. Hier im Orient, da sah man erst, wie fest sie auf der Erde standen. Deshalb brachten sie es hier auch zu etwas. Wahrhaftig, neben den Russen, all den Sektierern, den Duchoborzen, Malakanern, neben all den politischen Ideologen und Weltbeglückern, die mit ihren Glücksstangen stets in mystischen Nebeln herumfuhren, wie praktisch kamen ihm jetzt auf einmal seine Deutschen vor. Wie gesund waren sie neben all diesen verstiegenen Leuten hier zu Land. Und zum erstenmal empfand Viktor deutlich, wieviel für ein Volk doch solch gesundes, reelles Wesen wert ist, und wie schlimm für diese orientalischen Völker dies Ausschweifen in tausend Phantastereien war, worüber alles Konkrete vernachlässigt wurde.

Solchen Gedanken hingegeben, wandelte er am Chur auf und ab. Plötzlich machte er halt und blickte scharf auf einen bestimmten Punkt. War das nicht Ter, der da drüben so trübselig ins Wasser starrte? »He, Ter!« Die Gestalt fuhr auf und näherte sich langsam der niedrigen Gartenmauer.

»Was bist du denn so betrübt, Ter?«

»Habe ich gehört, reisen wir morgen nach Persia, Herr«, stammelte der kleine Perser. Er schwieg einen Augenblick, dann faßte er Mut und sprach: »Herr, versprich mir, daß ich nicht heiraten muß Ina!« Viktor lachte laut, denn er kannte die Geschichte. Aber Ter war gar nicht einverstanden mit diesem Gelächter, er machte ein sehr ernstes Gesicht und sprach feierlich: »Schwöre, Herr!«

»Gut, bei allem, was mir und dir heilig ist, ich schwöre dir, du wirst nicht heiraten müssen. Wenn du sehr brav und brauchbar bist, werde ich dich vielleicht sogar loskaufen.« Ters Augen glühten vor Freude. Dann verneigte sich der kleine Mann dreimal feierlich vor seinem Herrn zum Zeichen des Dankes. »Morgen reisen wir, Ter, geh' und packe schon ein wenig zusammen.«

Der arme Kerl, er hat auch seine Sorge, wenn sie einem andern auch recht komisch vorkam. Viktor dachte wieder an Moskau, und wie in Ter damals vor zehn Tagen, als er ihn aufforderte, mitzugehen, sichtlich zwei starke Gefühle um die Herrschaft rangen. Einmal die Verehrung für Manja, der ja die Reise galt, wie man ihm gesagt, dann aber die Angst, wenn er erst in Persien sei, doch heiraten zu müssen.

Das waren aufregende Tage gewesen in Moskau. Schon am nächsten Morgen nach jenem Abend beim Fürsten Minkow war Viktor wieder in die Eremitage gegangen, in der Hoffnung, Rohden dort zu treffen. Aber er kam nicht. Jeden Tag ging Gandern nun in die Eremitage, zu den verschiedensten Tageszeiten, denn eine andere Möglichkeit gab es ja für ihn nicht, über Manja etwas zu erfahren. Endlich traf er Rohden wirklich. Manja war schon nach Täbris abgereist und Rohden wollte ihr in einigen Tagen dahin folgen. »Sie will es zwar nicht, sie hat ausdrücklich gewünscht, daß ich hierbleibe, offenbar schon deshalb, weil sie den Heißspornen ihrer Gruppe selbst nicht traut, weil sie fürchtet, sie könnten sich während ihrer Abwesenheit doch zu einer Dummheit hinreißen lassen. Aber ich halte es nicht aus hier, ich bin zu sehr in Sorge um sie. Sie wissen gar nicht, was das heißt, eine Dame allein dorthin reisen zu lassen.« Viktor biß sich die Lippen wund, sagte aber nichts. Unzweifelhaft, dieser Rohden liebt sie, das ging ihm immerzu im Kopfe herum. Endlich erwiderte er möglichst ruhig: »Ich werde Sie begleiten.« – »Was?« Ein so erstauntes Gesicht hatte Viktor lange nicht gesehen. »Warum nicht?« sagte er ruhig. »Erstens interessiert mich Persien. Außerdem handelt es sich um meine Cousine. Also ...« – »Na, so schrecklich nahe verwandt sind Sie ja nun eigentlich nicht«, meinte Rohden. »Also ist Ihnen mein Vorschlag unangenehm?« warf Viktor scharf ein. »Aber nicht im geringsten. Im Gegenteil, sogar angenehm. Denn ein Vergnügen ist diese strapaziöse Reise wahrhaftig nicht, das werden Sie schon sehen.« Wie gut er sich verstellen kann, dachte Viktor, und war nun erst recht entschlossen, mitzureisen. Er sprach gleich mit seinem Onkel, der nach einigem Zögern einverstanden war. »Vielleicht wird sie durch Persien kuriert,« meinte er, »dann ist es jedenfalls gut, wenn sie einen von uns zur Hand hat, denn ohne Schmerzen wird das für sie nicht abgehen. Außerdem, da Rohden hinreist, wie du sagst, ist es mir, offen gestanden, noch aus einem andern Grunde recht angenehm, wenn er nicht mit ihr allein ist. Geht er wirklich, so hat er offenbar eine tiefere Neigung zu Manja gefaßt, denn zum Pläsier reist niemand nach Persien. Was meinst du? Hab' ich nicht recht?«

»Es scheint mir auch sehr wahrscheinlich.«

»Na, siehst du.« Plötzlich fuhr sich Onkel Philipp verwundert durchs Haar.

»Ja aber, nun sag' mal, weshalb willst du denn eigentlich nach Persien?«

»Weil mich das Land interessiert, weil ich die Welt sehen will.«

»Na ja, na ja, du suchst dir ja immerhin ein sonderbar Stück Welt aus. Originell ist's freilich, und wenn du durchhältst, ohne Schaden zu nehmen, kannst du später interessant davon erzählen, denn obwohl wir hier doch ziemlich dicht dabei sind, als ein unbekanntes Land gilt es auch uns.«

Natürlich mußte man nun auch bei der Tante und Olga davon reden. Tante erschrak tief, als sie erfuhr, ihre Tochter sei dort. »Na, wenigstens ist sie der russischen Polizei weit vom Schuß«, beruhigte der Onkel. Olga war sehr blaß geworden, als sie hörte, daß Rohden dorthin wolle. Eine Weile saß sie stumm, in sich versunken. Sie begrub einen schönen Traum, und sie merkte erst jetzt, wie teuer ihr der Traum war, jetzt, wo sie ihn ausgeträumt. Plötzlich merkte sie, wie alle teilnehmend auf sie sahen. Da nahm sie sich zusammen, lächelte, es war ein recht unglückliches, wehes Lächeln, und meinte: »Wie gut es Viktor hat, daß er Manja so bald wiedersehen wird.« Onkel Philipp sprang auf. »Da ist mir ein guter Gedanke gekommen. Wenn du denn absolut dorthin willst, Viktor, dann nimm Ter mit, der kennt die Gegend, spricht ja auch ein bißchen deutsch, so daß du leichter durchkommen wirst.« Allen leuchtete diese Idee ein.

Viktor fuhr allein mit Ter zur Bahn. Der Onkel wollte nicht mit, um Rohden jetzt nicht wiederzusehen. Tante entschuldigte sich, sie könne nicht, es sei ihr zu schmerzlich. Und Olga war überhaupt nicht im Haus, als Viktor fortging. »Wo steckt denn das törichte Mädchen?« brummte Onkel Philipp scheinbar ärgerlich, in Wahrheit aber betroffen, daß es Olga so naheging. Hatte sie denn den Rohden immer noch nicht vergessen? Halt, am Ende ging ihr der Abschied von Viktor so nahe! Er lächelte, denn das wäre ihm gar nicht unangenehm gewesen. »Junge, Junge, sei vorsichtig, schone dich und mach' mir da unten keine Dummheiten!« hatte der Onkel schmunzelnd zum Abschied gesagt. Leise hatte er ihm ins Ohr geflüstert: »Am Ende, weißt du, ich glaube fast, eine kleine Gewisse vermißt dich.«

Viktor hatte mühsam gelächelt, denn er glaubte bestimmt, daß Olga auch diesen Rohden liebte. Weiß der Himmel, was die Frauen an ihm fanden! Nicht mit den freundlichsten Empfindungen war er in den Wagen gestiegen. Drüben an der Chaussee erwartete ihn Olga. Als er wirklich kam, erschrak sie leicht, suchte nach Worten, fand sie nicht, drückte ihm nur heftig die Hand mit beiden Händen, die heiß waren, sah ihn lange mit fieberhaften Augen an und sagte schließlich nur: »Grüßen Sie Manja. Wir warten auf sie. Sagen Sie ihr, wie sehr ich ihr alles Schöne wünsche. Und ... und grüßen Sie auch Herrn von Rohden.« Fort war sie.

An der Bahn wartete Rohden schon auf ihn. Er war etwas nervös. »Weiß der Henker, wohin man heute spuckt, steht ein Polizist. Und nüchtern sind sie auch. Das ist allemal kein gutes Zeichen für unsereinen, der immer auf der Hut sein muß, obwohl es für mich eine Lächerlichkeit ist, denn mir ist diese ganze Weltbeglückerei ja so gleichgültig!« Eilig ging er zum Schalter, die Fahrkarten bis Wladikawkas zu bestellen. Auf dem Bahnsteig ärgerte er sich wieder. »Sehen Sie, da stehen schon wieder so zwei Kerle!«

Als sie ihre Plätze belegt hatten, sprangen plötzlich zwei Polizisten herzu und ergriffen Rohden. »Da haben wir's«, murmelte er leise. »Ruhig! Nur kein Aufsehen! Das ist immer das Schlimmste. Ich gehe mit den beiden, und sollte ich diesen Zug versäumen, komme ich halt später nach. Jedenfalls warten Sie in Tiflis, Stadt London, auf mich. Ich werde dorthin telegraphieren.« Gleichmütig verließ er mit den Polizisten den Zug. Neugierig schauten ihm alle nach. »Aha, ein Nihilist«, sagte ein dicker Kaufmann französisch im Nachbarabteil und begann, Schauergeschichten über Nihilisten zu erzählen. »Ich begreife gar nicht, was sie wollen. Leben wir nicht gut in Rußland? Geht uns etwas ab? Aber ich habe es immer gesagt, zuviel Bildung, das taugt nicht, das verwirrt den Kopf. Und seit wann haben wir sie? Seitdem die Deutschen im Lande sind, diese verdammten Deutschen. Verrückt machen sie unsere Jugend, stopfen ihnen das Gehirn mit Philosophie voll und anderem Blödsinn. Zum Beispiel Tolstoi. Er ist ein Deutscher. Dick hat er geheißen. Nun sehen Sie, was haben wir von den Leuten? Kummer und Sorgen. Weiter nichts. Sie stören nur das Geschäft.«

Rohden erschien nicht wieder. Auch nach Tiflis hatte er bis jetzt nicht telegraphiert. Offenbar befand er sich immer noch nicht auf freiem Fuß. Viktor seufzte. Wenn er wirklich noch gefangengehalten wurde, wie er vermuten mußte, wenn man ihn vielleicht für lange Zeit einkerkerte in so einen ungesunden russischen Kerker, was der zehnte nicht überstand, wie entsetzlich war das. Und wie tragisch für den Mann, der sich nicht einer Idee zuliebe geopfert hatte, sondern ... Was würde Manja sagen! Immer wieder mußte Viktor daran denken. Die ganze Reise über hatten ihn diese Gedanken verfolgt, kaum, daß er darauf acht hatte, als sie über den Don fuhren auf der eisernen Riesenbrücke, die nach Rostow führte. Über den Kaukasus war er gefahren, auf schwindelnden Wegen, über Eisfelder, dann wieder durch grünende Wiesen; die eine Stunde regnete es lauwarm, zwei Stunden darauf schneite es und fror. All das kam ihm nur ab und zu zum Bewußtsein, so sehr beschäftigte ihn Rohdens Schicksal und im Zusammenhang damit: Was würde Manja sagen? Düster starrte Viktor in die gelben Fluten des Chur ... Rief ihn nicht jemand? Er sah sich um. Oben auf der obersten Terrasse stand Frau Richter, winkte und rief: »Herr Baron, Herr Baron!«

Eilig sprang Viktor die drei Terrassen in die Höhe, denn ihm war, als hätte Frau Richter eine Nachricht von Rohden für ihn. Und während er so in die Höhe eilte, schämte er sich vor sich selbst, denn so sehr er Mitleid mit dem gefangenen Rohden empfand, so unangenehm wäre es ihm gewesen, wenn er ihm wirklich nach hierher nachgekommen wäre. Ziemlich atemlos kam er bei Frau Richter an, aber sie hatte kein Telegramm von Rohden, sie wollte ihn nur fragen, ob er schon seinen Paß habe für Persien visieren lassen. Viktor bejahte. Dann riet sie ihm, noch einige Einkäufe zu machen, sie stellte ihm sogar ihren Privatwagen zur Verfügung. Viktor überlegte. »Sie müsse noch allerhand einkaufe, Herr Baron, so wie Sie meine, kann mer nit nach Persie gehn, verlasse Sie sich drauf.« Und da er immer noch unschlüssig vor ihr stand, nahm sie ihn einfach mit sich zum Büfett und schrieb ihm einen großen Zettel voll Gegenstände auf, die er sich noch besorgen solle. Schokolade, Konserven, einen leichten Anzug usw. »Jetzt lache Sie mich aus und denke, die alt' Frau is nit ganz gescheit. Wann Se erst bei dene Wilde sein, Sie solle sehn, wie dankbar Sie mer noch sin.«

So machte denn Viktor Einkäufe, verbrachte den Abend damit, zu packen, mit Frau Richter zu plaudern, die voll guter Ratschläge war, und am andern Morgen, schon zeitig, erschien Herr Hoijer, und fort ging es zur Bahn, die man bis Akstafa benutzen konnte. Dann mietete man eine Troika und einen Beiwagen fürs Gepäck und Ter.

Langsam, die Sonne war schon untergegangen, begann die Fahrt, zwischen Ruinen, dann über flaches Land, das wie erstorben dalag. Kaum war die Sonne untergegangen, so herrschte auch schon tiefste Finsternis, daß man die Hand vor den Augen nicht sah. »Das macht nichts«, erklärte Herr Hoijer gemächlich, indem er sich eine Zigarette anzündete. »Die Pferde wissen den Weg. Diese transkaukasischen Pferde sind überhaupt ein Wunder an Klugheit, und die persischen erst! Ihr werdet noch sehen. Weil die Menschen so dumm sind, hatte Gott wenigstens mit den Pferden ein Einsehen. Ohne ihre Klugheit wäre die ganze Bevölkerung schon längst zugrundegegangen. Und dann, in zwei Stunden geht der Mond auf, oder wenn nicht, scheinen die Sterne, und es wird fast taghell. Wir haben zwar keine Dämmerung hier, wie ihr in Europa, dafür aber um so schönere, hellere Nächte, wenn die Sonne erst zwei Stunden untergegangen.«

Herr Hoijer hatte ganz recht. Knapp waren zwei Stunden vergangen, stand der Himmel voll Sterne. Sie schienen viel heller, als Viktor es gewohnt war. Man hätte fast bei ihrem Schein lesen können. Tiefe Stille ringsum, nur das leichte Schnaufen der Pferde vor dem Wagen, deren Hufe, die keine Eisen trugen, fast lautlos über den Weg galoppierten. Ter, der bis dahin geschlafen hatte, begann leise vor sich hin zu singen, eine traurige, persische Weise. Nach drei Stunden wurden die Pferde durch drei neue, junge Tiere ersetzt, und wieder ging es für drei Stunden über das stumme, flache Land, unter den strahlenden, funkelnden Sternen, beim leisen Gesang Ters. Mit ganzer Seele versenkte sich Viktor in den wunderbaren Reiz dieser Fahrt, die fast etwas Gespenstiges hatte. Herr Hoijer war eingeschlafen. Viktor bemerkte es gleich, es war ihm nicht unangenehm. Um so mehr konnte er sich dem phantastischen Reiz dieser gespenstigen, fast lautlosen Fahrt durch unbekanntes Land beim leisen, melancholischen Singsang Ters hingeben. Nach drei Stunden wurden wieder die Pferde und der Kutscher gewechselt. Jetzt ging es durch wildes Geklüft, das bei der raschen Fahrt im unsicheren Licht der Sterne immer neue, immer sonderbarere, unirdischere Formen annahm. Und diesen selben Weg war Manja gefahren. Die leichte Wagenspur stammte vielleicht von ihrem Wagen, denn der Verkehr war sehr gering zwischen Tiflis und Eriwan, aus Angst vor Wegelagerern. Wer nicht unbedingt mußte, schob die Reise auf, bis er erfuhr, daß die ausgesandten Kosaken die Räuber aufgeknüpft. Dann war für einige Wochen wieder Ruhe, bis eine andere Bande erschien, verstärkt um die Trümmer und Reste der früheren. Viktor richtete sich etwas strammer auf. Am Ende barg jenes Geröll dort drüben ein paar Banditen? Herr Hoijer schlief, der Kutscher schlief, Ter und sein Kutscher auch. Nur die Pferde und er waren wach. Wie das im Blut prickelt, dies Bewußtsein, an der nächsten Wegbiegung, aus der nächsten Schlucht können ein paar Wegelagerer auftauchen, kann die Totenstille plötzlich durch wildes Geschrei und Flintenknallen unterbrochen werden.

Es ging stark bergauf, und doch galoppierten die Pferde ruhig weiter. Er bekam Respekt vor den Tieren ... Alles was recht ist, aber das machten ihnen die deutschen Rosse so leicht nicht nach. Das ging ja herrlich. Er rief ihnen zu. Sie spitzten neugierig die Ohren, denn sie waren gar nicht gewöhnt, daß noch jemand wachte und auf sie acht hatte, wenn sie durch die Nacht galoppierten. Es waren drei kleine, blutjunge Schimmel. Er gab ihnen Schmeichelnamen. Sie schnauften lauter, freudiger und warfen die Köpfe. Der Reiteroffizier hatte seine helle Freude an den Tieren. Wieder rief er ihnen ermunternde, liebkosende Worte zu. Wie sie sich tummelten! Vor lauter Übermut bissen die beiden Außenseiter dem, der in der Gabel ging, sogar in die Mähne. Viktor lachte. Und er schnalzte mit der Zunge, lockte, schmeichelte, es machte ihm zu viel Spaß, wie eifrig die feurigen jungen Tiere darauf reagierten. »Na, na,« sagte er plötzlich ganz laut, »nun gebt aber acht, da kommt ein Berg, ein ganz respektabler Berg, meine Lieben, da wird euch die Puste schon ausgehen, wenn ihr so fortfahrt.« Die drei verlangsamten einen Augenblick ihr Tempo. »Seht ihr, ich hab's euch ja gleich gesagt.« Plötzlich, als es steiler in die Höhe ging, gab's einen Ruck, daß Viktor, der sich ein wenig erhoben hatte, hinten überfiel und der Kutscher fast vom Bock gefallen wäre, so fingen die drei jungen Hengste an, den Berg hinanzurasen, pleine carrière. Der Kutscher begann zu fluchen und griff wütend zur Peitsche. Aber Viktor fiel ihm entrüstet in den Arm. »Kerl, wenn du dich unterstehst, du Kaffer!« Die drohende Bewegung verstand der Kutscher, er brummte vor sich hin und ließ die Tiere gewähren. So ging es in Karriere mit vorgestreckten Hälsen bis zur Posthalterei von Delishan, die auf der Spitze des Berges lag. Viktor sprang vom Wagen und tätschelte die Tiere. Er lobte sie, immer und immer wieder. Wie die drei Burschen eitel wurden, wie sie zu tänzeln anfingen und nach ihm knappsten, aber nur zum Spaß, wie gute Kameraden. Weiß der Himmel, Herr Hoijer hatte recht, diese Pferde besaßen wahrhaftig mehr Verstand als die Menschen!

Am andern Morgen, schon um vier Uhr, ging es weiter. Stunde um Stunde verran. Allmählich empfand auch Viktor diese Fahrt nicht mehr als Vergnügen sondern als Strapaze. Seine Reisegenossen aber duselten den ganzen Tag vor sich hin. Sie scheinen sich für einige Wochen im voraus auszuschlafen, dachte Viktor. Nur wenn eine Station in Sicht kam, wurden sie wach und aßen.

Plötzlich fuhr Viktor hoch auf vor Bewunderung. Die Straße machte einen Bogen, kaum hatte man ihn genommen, breitete sich tief unten im Tal ein weiter, blauer, großer See aus. Der Goktschasee, erklärte Hoijer und gähnte. Herr Gott, ist der Mensch verrußt, dachte Viktor, daß ihm dieser Anblick nichts als ein Gähnen entlockt. Um so mehr freute er sich an dem wundervollen Bilde. Mitten im See lag eine kleine Insel, auf ihr offenbar ein Kloster, dessen Kuppel im Strahl der Sonne glänzte. Einzelne Fischerkähne glitten durch die blaue Flut, leicht kräuselten sich die Wellen hinter ihnen, von der Sonne versilbert. Man sah alles so deutlich, und doch lag der See viele Meilen tief unter ihnen. Plötzlich richtete sich Herr Hoijer energisch auf und sagte: »Wahrhaftig, das hätte ich fast vergessen!« Er rief dem Kutscher etwas zu, der schmunzelnd dazu nickte. »Ich habe ihm gesagt, er soll in Jelenowka Station machen, da gibt es nämlich die besten Forellen der ganzen Welt, aus dem Goktschasee. Ich sage Ihnen, nie wieder werden Sie solche Forellen essen.« Viktor lachte. Auch berührte es ihn drollig, daß Herr Hoijer, der ihn für gewöhnlich mit Ihr anredete, angesichts der Forellen auf einmal die europäischen Formen wiederfand.

Bald darauf hielt man vor der Posthalterei in Jelenowka. Eine kleine Laube, an der Wein blühte, war an das Haus angebaut. Da ließ man sich nieder in Erwartung der Forellen, mit der Aussicht auf den See. Die Dorfjugend kam angelaufen, auch einige Weiber näherten sich der Laube mit den Fremden. Wären nicht die dunkleren Gesichter, die fremdartigen Trachten gewesen, Viktor hätte glauben können, er befände sich in einem Dorf seiner Heimat.

Hoijer, der ihn eine ganze Weile still, aber aufmerksam beobachtet hatte, meinte schließlich mit leichtem Lächeln: »Nehmt mir's nicht übel, aber ihr Deutsche seid doch zu sonderbare Menschen. Ich bin doch auch ein Germane, aber vielleicht bin ich schon so lange im Orient, mag sein, daß ich Euch deshalb nicht mehr recht verstehe. Wenn Ihr es unbequem habt, wie in der Troika, und man nichts Besseres tun kann als schlafen, dann wacht Ihr und seid guter Dinge. Und wenn Euch etwas besonders Gutes bevorsteht, wie die Forellen aus dem Goktschasee, dann seufzt Ihr.« Er schüttelte ganz bedenklich den Kopf.

»Es gibt ja noch andere Dinge auf der Welt als Forellen, die einem zu schaffen machen.«

Nun wurde Herr Hoijer ganz lebendig. »Seht Ihr, das ist der Fehler, daran krankt ihr alle in Europa. O, ich kenne das, vor vielen, vielen Jahren war ich auch einmal so. Immer an Vergangenes oder Zukünftiges denken, nie einfach der Gegenwart leben. Hier bei uns gibt es nur den Tag, der gerade da ist. Kommt ein neuer Tag, nun, wir werden ja früh genug sehen, wie er sein wird, weshalb sich heute schon den Kopf zerbrechen? Kommt er deshalb schneller, wenn er ein guter Tag ist, oder langsamer, wenn man ihn fürchtet? Das Ei von heute ist immer besser als die Henne von morgen, heißt ein persisches Sprichwort. Und ist der heutige Tag schlecht, so tragen wir ihn in Geduld, wird halt der morgige gut sein. Ein jedes Weinen hat sein Lachen, sagt der Türke. Und am Ende: alles ist Kismet.«

»Wie's kommt, wird's gefressen, sagen bei uns die Studenten«, warf Viktor ein.

»Seht Ihr, seht Ihr, das ist doch noch vernünftig. Aber wenn ihr nicht mehr Studenten seid, vergeßt ihr den guten Spruch und werdet sauertöpfig.«

»Wie seid Ihr eigentlich hierher gekommen?« fragte Viktor interessiert.

»Nun, es war einfach. Ich war nämlich Missionar.«

»Was?« Viktor sah den Rotbärtigen verwundert an.

»Da staunt Ihr. Nun, es muß auch Menschen geben, die einmal Missionar waren, es gibt ja sogar solche, die es bis an ihr Ende bleiben ... Vor vielen Jahren wurde ich ausgeschickt nach Rußland, Seelen zu gewinnen für die schwedisch-lutherische Kirche. Na, zu Anfang gab ich mir redliche Mühe. Aber ich hatte wenig Glück. Fand ich so eine russische Seele, konnt' ich ihr nicht so recht die Hölle heiß machen, donnern und fluchen, denn auch die Missionare fluchen, wenn auch nur auf biblische Weise. Warum sollte ich auch? Das Leben heizte ihnen ja schon genug ein. Und wenn sie ehrlich auf ihre Weise glaubten, weshalb sollte ich ihnen Unfrieden und Zweifel bringen? Es gibt ja auch ohne das schon Sorgen genug für jeden. Und war's ein unehrlicher Kerl, war mir der Name Luthers zu schade für ihn, auch fand ich den Unterschied nicht so groß, ob einer ein griechisch-orthodoxer oder ein lutherischer Lump ist. War mir schon lieber, er blieb ein orthodoxer, da ja auch an lutherischen kein Mangel, daß man sie künftig vermehren müßte.«

»Sie sind mir aber ein origineller Missionar, das muß ich sagen.«

»Schade um die Missionare«, versetzte Hoijer ruhig und naiv. »Es stände ums Christentum besser, wenn es ihrer recht viele von der Art gäbe, die nicht auf den Seelenfang ausgingen, sondern sonst tüchtig zugriffen und auf die Weise zeigten, daß sie besonders tüchtige Leute sind.«

»Ich glaube, Ihr steht unter den Missionaren und Geistlichen ziemlich allein mit solchen Ansichten.«

»Durchaus nicht«, fiel Hoijer ein. »Es gibt viel mehr, die meiner Meinung sind, als Ihr glaubt. In der russischen Kirche freilich nicht, aber sonst. Viele wagen es nur nicht zu sagen. Ich kann's ihnen auch nicht mal so sehr verargen. Wer weiß, wenn ich Weib und Kind hätte, am Ende nähme ich auch nicht den Mund so voll.«

»Ihr meint, hier im Orient gäbe es mehr Leute wie Ihr, auch unter der Geistlichkeit?«

»Aber sicher. Ich will Euch sogar ein hübsches Stückchen erzählen, nur wartet einen Augenblick, ich bin sofort wieder da.« Hoijer erhob sich eilfertig und ging ins Haus.

Schau, schau, dachte Viktor, das scheint ein Original zu sein.

»Es ist noch Zeit, Herr Baron, ich kann Euch die Geschichte noch erzählen, bevor die Forellen kommen!« rief Herr Hoijer und setzte sich nieder. »Euer Wunder werdet Ihr an ihnen erleben, die Forellen meine ich.« Er schmunzelte. »Doch erst meine Geschichte. Sie wird Euch schon deshalb nicht unwillkommen sein, weil Ihr den Katholikos, von dem sie stammt, in Etschmiadsin sehen werdet.«

»Was heißt das?«

»Katholikos? So heißt das Oberhaupt der armenischen Kirche, der armenische Papst, wenn Ihr so wollt. Und Etschmiadsin, das ist das Kloster, in dem er mit seinen Archimandriten lebt, in der Nähe von Eriwan. Also dieser Katholikos, der ein gescheiter alter Herr ist, wurde vor einigen Jähren vom russischen heiligen Synod nach Petersburg geladen, wohin man alle Oberhäupter aller in Rußland vertretenen Kirchen geladen hatte, um über eine Einigung aller Kirchen zu beraten, das heißt natürlich auf russisch, um zu sehen, ob die Häupter der anderen Kirchengemeinschaften nicht willig wären, griechisch-orthodox zu werden, und dann alle ihre Schäflein diesem einen Stall zuzutreiben. Natürlich kamen alle die Kirchenfürsten, denn wenn der russische Synod bittet, so heißt das: wenn ihr nicht kommt, werdet ihr geschunden, daß es eine Art hat. Man saß also feierlich zusammen, und da sich der Oberprokuror ein wenig genierte, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, machte er einen kleinen Umweg und ließ zunächst darüber beraten, was sich tun ließe, um den Glauben zu mehren. Nun hub ein großes Disputieren an. Der eine meinte, es müßten mehr Bibeln verbreitet werden, der andere war der Ansicht, es solle mehr gepredigt werden, und zwar in der Sprache des Volks, daß es auch etwas davon verstände. Dies war natürlich ein Lutheraner. Und so ging das Gespräch hin und her, der eine wußte dies, der andere das, alle redeten, nur der armenische Katholikos schwieg beharrlich. Da er sonst nicht auf den Mund gefallen war, verwunderte man sich, und schließlich fragte ihn der Oberprokuror: ›Ehrwürdiger Bruder, was meinst denn du?‹ Unser Katholikos lächelte, aber schwieg. Als man schließlich von allen Seiten in ihn drang, er möge doch seine Ansicht äußern, meinte er: ›Aber ihr dürft mir nicht böse sein, wenn ich eine Ansicht äußere, die euch nicht gefallen wird.‹ Man versicherte ihn dessen, und er begann: ›Wie des Glaubens mehr werden könnte in der Welt? Es gäbe ein Mittel, aber allerdings nur eines. Gott der Herr müßte mir für einen Tag seine Allmacht verleihen.‹ Der Katholikos lächelte wieder und schwieg. Aufs neue drang man in ihn. ›Aber ihr dürft mir auch wirklich nicht zürnen. Gut. Wenn mir Gott, der Herr, auf einen Tag seine Allmacht überließe, würde ich befehlen, daß alle Priester auf der Welt getötet würden, und zwar noch an diesem selbigen Tag. Und wenn mir dann meine himmlischen Boten die Nachricht brächten, daß kein Priester auf Erden mehr lebe, dann würde ich mich selbst töten.‹ Alles war erstarrt über diese Erzählung des Katholikos. Der lächelte wieder und meinte nach einer kleinen Weile: ›Denn solange Leute wie wir noch leben, liebe Brüder, solange kann der Glaube auf Erden nicht zunehmen.‹«

Herr Hoijer schlug sich begeistert aufs Knie. »Was sagt Ihr nun, war das nicht fein? Gäbe es heute bei Euch in Europa einen Kirchenfürsten, der das vor seinen Kollegen sagen würde, he?«

Viktor schwieg, denn in der Tat, das verwunderte ihn.

»Aber hört nur weiter,« fuhr Hoijer fort, »das andere ist noch feiner, was ich Euch eigentlich erzählen wollte. Als der Oberprokuror endlich auf das Hauptthema kam, die Vereinigung aller Kirchen zu einer, natürlich der russisch-orthodoxen, ging selbstverständlich wieder ein großes Debattieren los. Der lutherische Propst verteidigte seine Dogmen, der katholische Bischof die seinen, der Metropolit von Petersburg erklärte die griechisch-orthodoxen Dogmen für die einzig richtigen, der Syrer sprach für sein Bekenntnis, die Erzbischöfe der grusinischen Kirche für das ihre, die Vertreter der reformierten Gemeinden legten sich für ihr Bekenntnis als des einzig wahren ins Zeug usw. Nur der armenische Katholikos schwieg derweil wieder. Es schien sogar, als sei er auf seinem Sessel eingeschlafen. Das ärgerte natürlich die andern, die sich so erhitzten, nicht wenig. Und schließlich stieß man den Schlafenden an, daß er erwachte und wie geistesabwesend eine Zeitlang um sich sah, als könne er sich nur mühsam aus einem Traum, von dem er noch ganz befangen, losreißen. Wieder drang man in ihn, doch auch seine Meinung zu sagen. ›Aber der ehrwürdige Bruder wird diesmal im Ernst reden‹, meinte der Oberprokuror mit Nachdruck. Der Katholikos tat, als riebe er sich den Schlaf aus den Augen, und sprach: ›Ich hatte soeben einen Traum, den ich euch erzählen werde, denn einer weiteren Antwort bedarf es nicht. Mir träumte, der Tag des Jüngsten Gerichts war da. Die Erzengel bliesen auf ihren Posaunen, und siehe da, alles, was tot war, wurde lebendig und sammelte sich um Gottes Thron, auf dem nicht Gott saß, sondern Christus. Der Thron stand in einem herrlichen Saal, so wie ihn die Offenbarung Johannis schildert. Einzeln traten die Menschen vor den Thron, und der Sohn Gottes fragte jeden einzelnen: Wes Glaubens warst du auf Erden? Da trat der erste vor und sagte: Nestorianer war ich. Und Christus wies hinter sich, da war ein Weg, der führte zu einer großen Tür, die ging in einen großen, großen Saal. Dahinein verschwand der Nestorianer. Ein zweiter trat vor. Wes Glaubens warst du auf Erden? Ich war Lutheraner. Christus wies ihn denselben Weg. Ein dritter kam. Er bekannte sich zur russischen Kirche. Ein vierter trat vor, ein Reformierter. Es kam ein Armenier, ein Syrer, ein Grusinier und so fort. Jeder bekannte sein Bekenntnis, und alle wurden zu der großen Tür gewiesen, die in den großen Saal führte, der sich immer mehr füllte, während es in dem Saal, da der Sohn Gottes thronte, immer leerer wurde. Schließlich waren Christus und der Erzengel ganz allein in diesem Saal. Und der Sohn Gottes ließ wieder die Posaunen blasen, daß es weithin schallte bis an alle vier Enden der Welt. Aber es kam niemand mehr. Da erhob sich der Heilige von seinem Thron, blickte traurig hinter sich zu der großen Tür, hinter der die ganze Menschheit war, und sprach: Wie ist mir denn? Da waren Griechisch-Orthodoxe, Römisch-Katholische, Armenier, Lutheraner, Reformierte, Bekenner aller Bekenntnisse, ja, wo sind denn die Christen? Und der Sohn Gottes sah wiederum von seinem Thron durch den großen Saal ringsum, er war leer ...‹ Der greise armenische Katholikos lehnte sich müde in seinen Sessel zurück, verstummte einen Augenblick und sagte dann: ›So träumte ich. Da wecktet ihr mich.‹«

Die beiden in der Laube der Posthalterei am Goktschasee schwiegen lange Zeit, dann meinte Hoijer: »Seht Ihr, solche Leute gibt es bei uns im Orient!«

Viktor antwortete nicht. Es lag soviel Wahres und Ergreifendes in der Erzählung jenes greisen armenischen Kirchenfürsten.

Plötzlich sprang Hoijer erfreut auf. »Aha, da kommen die Forellen!« Und nun ließen sie es sich schmecken.

Weiter ging die Fahrt, Stunde um Stunde unter glühender Sonne auf staubigem Weg. Es war kein Vergnügen, nur noch eine Last, eine schwere körperliche Anstrengung, die Viktor schließlich fast betäubte, während zu seiner Verwunderung Hoijer ziemlich frisch und guter Dinge blieb. Ihr seid das noch nicht gewöhnt,« meinte er, »deshalb kommt es Euch so hart an. Aber wenn Ihr Persien wieder verlaßt und zum erstenmal wieder in einer Troika sitzt, die Euch jetzt eine Folter ist, werdet Ihr glauben, Ihr führt durch ein Paradies in einem himmlischen Fahrzeug.«

»Das sind ja hübsche Aussichten«, meinte Viktor trüb lächelnd, und wieder mußte er an Manja denken, die das gleiche durchgemacht. Er schämte sich seiner Übermüdung, seiner Erschöpfung. Wer weiß, ob ihre Fahrt nicht noch viel schlimmer und anstrengender gewesen! Und eine Frau! Welch' erstaunliche Energie in ihr lebte, daß sie nicht einfach umgekehrt war.

»Bald ist's überstanden,« tröstete Hoijer, »noch eine Stunde etwa, und Ihr werdet eins der schönsten Panoramen sehen, das die Welt kennt.«

Hoijer hatte recht, denn als sich gegen Abend die Araxesebene vor ihnen auftat, mußte Viktor sich gestehen, daß das allerdings überwältigend schön war.

»Wir treffen es auch bei der untergehenden Sonne besonders gut«, sagte Hoijer. »Seht Ihr, das gehört zu meinen besonderen Freuden, die ich mir, wenn irgend möglich, einmal im Jahr bereite, dieser Blick auf diese Ebene.«

Purpurrote Streifen zogen sich quer über den Himmel, der sonst eine rein stahlblaue Farbe zeigte. Weit im Süden wurde die riesengroße Ebene begrenzt durch die tiefschwarze Linie persischer und türkischer Grenzgebirge. Mitten in der Ebene aber ragten hoch in den Himmel purpurüberflutet die weiten Schneefelder zweier Gipfel, Sis und Masis, oder, wie wir sie nennen, der kleine und der große Ararat. Wie zum Greifen nah ragte er urgewaltig aus der Ebene. Gruß aus grauester, sagenumsponnenster Vorzeit. Sollte am Ararat doch einst die Arche Noah haltgemacht haben, sollte nach der Sintflut am Fuß dieses Kolosses, dessen Dimensionen gerade, weil sie sich ganz allein aus dem flachen Land erhoben, ungeheuerlich erschienen, doch Noah den ersten Weinstock gepflanzt haben! Durch diese Ebene war Alexander der Große gezogen. In dieser Ebene hatten all die großen Entscheidungsschlachten der alten Weltreiche stattgefunden. Das Purpurrot ging langsam in tiefes Violett über, leichte Nebel stiegen auf, die sich sanft rötlich färbten, und als man wieder um eine Wegbiegung kam, lagen die Zinnen der Minarets, die Kuppeln der Kirchen von Eriwan gerade vor den Augen. Wie ein Märchen war es. Um so mehr, als wenige Minuten, nachdem die Sonne verschwunden, alles in blauvioletter Finsternis wie hinter einem Prunkvorhang wieder verschwand.

In vollem Galopp ging es nun talabwärts Eriwan zu, wo man zwei Tage Station machte, um dann durch die weite, stille Ebene dem Araxas zuzueilen, denn Viktor drängte weiter. Je näher er der persischen Grenze kam, um so tiefer wurde seine Sehnsucht nach Manja, um so mehr beschlich ihn das bestimmte Gefühl, er müsse eilen, als drohe ihr irgendeine Gefahr, aus der er sie nur befreien könne, wenn er sich keinen Augenblick länger Rast gönnte, als für Pferd und Mensch unbedingt nötig war. Und wenn er Hoijer vorsichtig nach Persien ausfragte, und wie es da wohl einer Europäerin ergehen könnte, hörte er auch nicht viel Erfreuliches. Näher, direkter wollte er aber nicht fragen, er scheute die fuchsklugen Augen Herrn Hoijers, daß sie mehr sehen möchten, als ihm recht war.

Je näher man dem Araxes kam, um so primitiver wurde alles, und Viktor merkte oft mit Schaudern, wieviel der Kulturmensch als selbstverständlich hinnahm, kleine Bequemlichkeiten, und wie sehr man gerade diese Kleinigkeiten entbehrte und darunter litt, wenn es sie auf einmal nicht mehr gab. Herrn Hoijer beneidete er gar oft in diesen Tagen, dem das alles nichts ausmachte, der auf der Holzpritsche gerade so gut schlief wie im besten Bett, dem es gar nicht darauf ankam, ob er sich einmal an einem Tag weder kämmen noch waschen, noch die Kleider reinigen lassen konnte, der sich in ungewichsten Stiefeln gerade so wohl fühlte wie in gewichsten, dem es vollauf genügte, wenn er trockenes Brot zu Mittag hatte und Wasser.

»Wie ging es eigentlich zu, daß Sie so bedürfnislos wurden?« fragte ihn Viktor einmal, dem ganz elend war von dem eben überstandenen Nachtquartier, wo immerzu Hunde bellten, Ungeziefer zu spüren war und man den einzigen zur Verfügung stehenden Raum mit noch sechs anderen Menschen hatte teilen müssen. Herr Hoijer hatte auf einer Pferdedecke zusammengerollt wie ein Igel geschlafen bis an den hellen Morgen, während Viktor kein Auge schließen konnte die ganze Nacht. »Das will ich Ihnen erzählen«, erwiderte Hoijer. »Daß ich nicht lange Missionar blieb, können Sie sich denken, aber auch nach Schweden wollte ich nicht zurück, denn es gefiel mir recht gut in Rußland, und solange man nicht irgendwie politisch verdächtig wird und der Paß in Ordnung ist, lebt man nirgends in der Welt so unbehelligt wie in Rußland. Haben Sie hier schon einmal eine Tafel gesehen, auf der stand: Es ist verboten; und dann kommt Gott weiß was, daß es ein Mensch allein gar nicht behalten kann, was alles verboten ist. Das gibt's in Rußland nicht, noch weniger in Transkaukasien und am wenigsten in Persien, das mir deshalb am liebsten ist, wenn nur nicht der ewige Hammel wäre, Hammel mittags und abends, nach Hammel schmeckt das Huhn, weil nur ein Topf für alles da ist, was gekocht werden muß, nach Hammel das Ei, mit Hammelfett wird alles angemacht, mit Hammelseife nur gewaschen. Hammel aber ist das einzige auf der Welt, worüber ich Schrecken, ja Entsetzen empfinde.« Hoijer besann sich einen Augenblick. »Wie war das nur? Eigentlich wollte ich ja etwas anderes sagen. Ja, jetzt weiß ich wieder. Nehmen Sie zum Beispiel die russische Eisenbahn. Haben Sie da schon je ein Plakat gesehen, worauf steht: Es ist verboten, den Kopf zum Fenster hinauszustrecken und dergleichen?

Das gibt es nicht. Sie können machen, was Sie wollen. Behagt es Ihnen, fahren Sie auf dem Trittbrett mit oder auf dem Tender, passiert Ihnen ein Unglück, so ist das Ihre Sache und Ihr persönliches Pech. Sie werden jedenfalls nicht, wie in Europa, noch außerdem bestraft. Das sind Kleinigkeiten, werden Sie sagen. Gewiß, aber wie im Kleinen, so ist es im Großen, wenn man vom Politischen absieht, und die Politik interessierte mich zunächst gar nicht. Ich zog durch Rußland, und gab man mir nicht zu essen, arbeitete ich als Gärtner, was ich auf der Missionsschule gelernt, oder als Schreiner, was mich von jeher interessiert hatte. Es ist so eine reinliche Arbeit, und frisches Holz riecht so gut. Schließlich kam ich nach Tiflis, wo es mir unter all den verschiedenartigen Menschen ganz besonders gefiel. Hier kam ich auch zum erstenmal mit der Politik in Berührung. Auf der Bahn von Tiflis nach Baku saß ich nämlich zufällig mit einer jungen Dame zusammen und ihrem Wächter, der sie nach Sibirien transportieren sollte. Das junge Geschöpf, das so unschuldig dreinsah, dauerte mich, und es stieg der Gedanke in mir auf: Wie wär's, wenn du versuchtest, sie zu befreien? Da es nicht leicht war, reizte es mich erst recht, und nach einigen Schwierigkeiten gelang es mir auch. Die Regierung war wütend, wußte aber nicht, mit wem sie es zu tun hatte. Ich brachte die Dame nach Schweden in Sicherheit, hielt es selbst aber nicht lange dort aus, es war mir alles zu wohl geordnet. Wißt Ihr, es ging alles so sicher nach der Schablone, überall war man seines Lebens sicher, kurz, es langweilte mich unsäglich. Ich kehrte nach Tiflis zurück, interessierte mich nun natürlich überhaupt für die nach Sibirien Verschickten, hatte noch öfter Gelegenheit, ihnen zu helfen, einige zu befreien; und da ich merkte, wie sehr das die Regierung aufregte, machte es mir erst recht Spaß. Bald hatte man in Erfahrung gebracht, wer der freche Mensch sei. Aber« – Herr Hoijer lachte laut und herzlich – »nun kam mir mein Name sehr zu paß. Der Russe kann nämlich kein H aussprechen, weil sein Alphabet keins hat. Auch für das oij in meinem Namen hat er kein entsprechendes Zeichen. So konnte man denn den Namen dessen, den man verfolgte, weder schreiben noch sprechen. Bald hieß der Gesuchte Geier, bald Weuer usw. Ich hatte den Vorteil davon. Ihr seht, schon von Natur bin ich dazu bestimmt, die russische Regierung zu ärgern. Ich wurde auch Mitglied der russischen Gesellschaft zur Bibelverbreitung, die unter dem Protektorat des heiligen Synod steht, und wenn ich wirklich einmal in eine Verlegenheit kam, aus der ich mir nicht helfen konnte, hielt ich der Behörde diesen Schein, der die Unterschrift des Oberprokurors trägt, unter die Nase. Davor hatten sie noch immer solchen Respekt, daß sie mich wieder meiner Wege gehen ließen. So kam ich auch mit den Nihilisten und allem, was hier im Orient um politische Freiheit ringt, in Berührung. Das ist in wenigen Worten meine Geschichte. Am liebsten aber und deshalb am meisten habe ich mit den Armeniern zu tun.«

Viktor sah ihn verwundert an.

»Ich weiß, Ihr kennt von den Armeniern wahrscheinlich, wie die meisten Europäer, nichts als das berühmte Sprichwort: Ein Grieche ist schlimmer als sieben Juden, und ein Armenier schlimmer als sieben Griechen.«

»Vielleicht auch«, fuhr Hoijer fort, »habt Ihr von Europäern, die einmal auf drei Tage ihre Nase nach Konstantinopel steckten, jammern gehört, die Armenier seien die größten Gauner der Welt. Sie erzählen Euch Wunderdinge, wie sie betrogen worden sind bei ihren Einkäufen. Daß aber unter denen, die sie für Armenier hielten, Griechen, Italiener, Juden, Perser und weiß der Himmel, wer noch alles sich befand, das ahnen die braven Leute nicht, die sich einbilden, alles, was nicht Türke ist und Handel treibt, ist Armenier. Und daß die Türken auf die Armenier schimpfen, das nehmen sie für bare Münze. Was wäre wohl der Deutsche für ein Mensch, wenn man ihn nur nach dem Russen beurteilte? Sie sind beide fleißig, solid, bringen es zu etwas, daher die Wut der Russen auf die Deutschen, der Türken auf die Armenier. Natürlich gibt es unter beiden auch schlechte Menschen, in Konstantinopel wär' es sogar ein Wunder, wenn es ihrer nicht viele gäbe ... Doch verzeiht, ich ereifre mich unnötig, Ihr werdet ja selbst sehen, und außerdem, seht Ihr die kleinen, armseligen Häuserchen da vorn? Das ist Djulfa, wir sind am Araxes, an der persisch-russischen Grenze.«

Bald darauf hielten die beiden Wagen vor den mürben, schmutzigen Mauern, die den Hof des russischen Zollamtes umfaßten. Ter, der kleine Perser, näherte sich Viktor und versicherte sich nochmals, daß er nicht werde heiraten müssen, wenn sie nach Kalassar kommen sollten. Hoijer amüsierte sich sehr darüber und meinte: »So unrecht hat er nicht, der kleine Kerl, nicht heiraten ist besser.«

»Weshalb meinen Sie?«

»Weil es in Persien jedenfalls kein Vergnügen ist«, wich Hoijer sichtlich aus.

Viktor fragte nicht weiter, da sich gerade das Hoftor des Zollamtes öffnete und die beiden Wagen der Reisenden hineingelassen wurden.

Hoijer hatte sich auf den einen Koffer gesetzt, eine Zigarette angezündet und fühlte sich recht wohl. Viktor schritt ungeduldig auf und ab. Er wollte so schnell wie möglich weiterkommen, denn es waren immer noch drei Tagereisen bis Täbris. Der Kosak, der das Tor geöffnet hatte, schloß es wieder ab und verschwand. Es verging eine Viertelstunde, eine halbe, eine Stunde. »Das ist doch unerhört!« knirschte Viktor. »Für zwei Stunden Warten garantiere ich, wenn uns nicht der Zufall besonders günstig ist«, meinte Hoijer gemütlich. Es verging wieder eine Viertelstunde, nichts regte sich; »Das halt' ich nicht aus!« rief Viktor. »Ihr vergeßt immer wieder, daß wir nicht in Europa, daß wir im Orient sind«, tröstete Hoijer. »Im Orient gibt es keine Zeit, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an.«

»Aber das ist doch eine schändliche Bummelei, das braucht man sich doch nicht gefallen zu lassen!« Viktor klopfte energisch an ein Fenster, das halb offen stand. Von drinnen erklang ein lautes Gähnen, dann ein heftiges Schimpfen, dann war es wieder totenstill. Die beiden Kutscher hatten sich niedergelegt und schliefen, die Pferde standen mit eingeknickten Beinen da und duselten vor sich hin. Nur ab und zu bewegten sie ein Ohr, wenn zudringliche Fliegen sie allzusehr belästigten. Mensch und Tier schienen gleicherweise daran gewöhnt zu sein, hier ausgiebig warten zu müssen. »He, holla, Wirtschaft!« rief Viktor wieder und donnerte mit der Faust an ein Tor.

Da öffnete sich im ersten Stock ein Fenster, und eine verschlafene Stimme rief deutsch hinunter: »Einen Augenblick, ich komme gleich!«

Viktor sah Hoijer an. »Gibt's denn hier auch Deutsche?«

Hoijer lächelte. »Es scheint so.«

Wenige Minuten später erschien ein junger eleganter Herr und stellte sich als Doktor Rosen vor. »Wir tun hier nichts als schlafen, schlafen, denn nur alle acht Tage einmal stört uns ein Europäer in unserer Ruhe, ein Konsul, ein Attaché, der nach Täbris oder Teheran will oder von dort kommt. Sonst schlafen wir, schlafen.«

»Ja mein Gott, Sie sind Arzt?« Doktor Rosen nickte. »Weshalb sind Sie denn gerade hier an dieser Station?«

Doktor Rosen lächelte spöttisch. »Weil die russische Regierung mich hierher beordert hat. Es geht nämlich die Sage, in Indien sei wieder einmal die Pest besonders schlimm. Da soll ich hier die Grenze bewachen, daß kein Pestkranker nach Rußland kommt. Natürlich ist das ein Unsinn, denn wenn wirklich einmal ein Inder über Persien hierher kommt, dann muß er heillos gesund sein, um diese Riesenreise überhaupt lebend zu überstehen. Ein Kranker kommt gewiß nicht bis hierher. Aber die Regierung befiehlt, ich habe zu gehorchen, nitschewo!«

Nachdem Viktor dem Doktor Rosen, der ein Balte war, auch Herrn Hoijer vorgestellt hatte, schlug Rosen vor, in die »Stadt« zu gehen. »Es gibt hier nämlich einen Armenier, der einen Kramladen und einige Flaschen Bier sein eigen nennt. Ich denke, den suchen wir auf, den Schuft.«

»Warum Schuft?« fragte Hoijer ruhig.

Doktor Rosen sah ihn erstaunt an. »Mein Gott, so nennt man doch jeden Armenier, und der Schuft verlangt vierzig Kopeken für die Flasche Bier.«

»Was mag es ihn wohl kosten, bis er sie hier hat?« fragte Hoijer.

»Ach was, das ist mir ganz egal, jedenfalls ist die Flasche unverschämt teuer.« Doktor Rosen wandte sich an Viktor. »Gestatten Sie, daß ich meine Frau benachrichtige? Sie hat lange keinen gebildeten Menschen gesehen, sie wird sich sehr freuen; und wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich sie mit.«

Er eilte wieder ins Haus. »Sehen Sie, so kommt man zu seinen Urteilen über die Armenier«, sagte Hoijer ärgerlich. »Der eine plappert's dem andern gedankenlos nach, ohne daran zu denken, wieviel nicht nur für den einzelnen, sondern auch für eine Nation von Ruf und Ansehen abhängt.«

»Weshalb regt Sie das so besonders auf?« fragte Viktor.

»Weil die armenische Nation in ihrer augenblicklichen Lage die Sympathien Europas besonders nötig hat!« rief Herr Hoijer. »Wären sie nicht zu Unrecht verschrien, würde man in Deutschland, in Frankreich ihr Unglück ganz anders ansehen. Wenn man zum Beispiel von ihnen wie von den Buren redete, was glauben Sie, was das für die Armenier bedeutete? Statt dessen schimpft man sie feige Krämer, und mit feigen Krämern hat man da drüben kein Mitleid, wenn sie niedergemetzelt werden. Und weshalb feig? Weil sich in Konstantinopel einige hundert Lastträger haben totschlagen lassen wie die Schafe, ohne sich zu wehren. Man verpflanze aber einmal irgendeine europäische Nation hierher, lasse sie einige Jahrhunderte unter mohammedanischem Joch, und dann wird man sehen, daß sich auch ein paar hundert deutsche Lastträger wie Schafe abschlachten lassen. Wenn aber die armenische Jugend sich zur Wehr setzt, dann schreit man da drüben gleich: Revolutionär! Die Franzosen scheinen ganz ihre Revolution, die Deutschen ihre Freiheitskriege vergessen zu haben. Wenn das Vorgehen der armenischen Komitees Revolution ist, dann war auch die Erhebung der Deutschen wider Napoleon Revolution. Oder ist etwa der Sultan der rechtmäßige Herr der Armenier?«

Viktor schwieg zu dem allen. Aber verwundert war er darüber, daß Hoijer, der, wie ihm wenigstens schien, die Dinge gern von der spaßhaften Seite sah, in dieser Frage so ernst wurde. Das stimmte ihn nachdenklich, denn so wenig er sich bisher um die armenische Frage gekümmert hatte, darin hatte Hoijer jedenfalls recht, daß die meisten bei ihm zu Haus die Armenier feige Krämerseelen nannten. Möglich, daß es ein Unrecht war.

Doktor Rosen erschien mit seiner Frau, einem blutjungen, hübschen Geschöpf, dem man die helle Freude darüber ansah, daß es einmal wieder mit einem Europäer zusammen sein konnte.

»Nicht heiraten ist besser«, murmelte Hoijer, während man zu dem Armenier ging. Als ihn Viktor fragend ansah, deutete Hoijer auf die junge Frau und sagte leise: »Oder glauben Sie, daß die junge Dame es zu Hause schlechter hatte als hier, in diesem Nest, unter lauter Wilden?«

»Aber ihr Mann?«

»Den rechne ich auch zu den Wilden«, knurrte Hoijer erbost.

Der Armenier zeigte eine sehr zuvorkommende, orientalische Art, aber keineswegs würdelos, wie es Viktor seit einigen Tagen gewöhnt war. Das fiel ihm auf, da ihn Hoijer nun einmal für die Armenier interessiert hatte.

Für Frau Doktor Rosen brachte er einen Stuhl, die Herren setzten sich auf die Theke, da für mehr Stühle in dem Raum kein Platz war.

Man redete über dies und das, wie Leute miteinander reden, die sich eigentlich nichts angehen, die nur der Zufall zusammengebracht hat. Im Verlauf des Gesprächs meinte Doktor Rosen, als seine Frau über das öde Leben hier klagte, und wie sie so gar niemand habe, mit dem sie sich abgeben könnte: »Vielleicht dauert das nur noch wenige Tage, lieber Schatz.« – »Ach, damit wird's doch wieder nichts. Und wenn auch, dann muß ich in steter Sorge um dich sein.«

»Ein Kosakenregiment steht nämlich schon bereit,« erklärte Doktor Rosen, »vielleicht können wir es auf seiner Streife nach Persien begleiten. Schon einmal war ich da drüben, hab' es aber nur vier Tage ausgehalten. Bei so einem Kurdenfürsten, dessen eine Frau schwer erkrankt war. Er hatte mich eigens holen lassen. Es war schrecklich, sag' ich Ihnen. Das Haus des Fürsten ging ja zur Not noch an, aber diese barbarischen Sitten, dies Uneuropäische, einfach greulich! Aber wenn unser Regiment loszieht, wird's wohl besser werden, jedenfalls geht's nach einer größeren Stadt.«

»Was will denn aber ein russisches Regiment in Persien? Das bedeutet ja so viel wie Krieg, genau besehen.«

»So genau muß man's eben nicht besehen. Es handelt sich nur darum, daß man Unruhen befürchtet, von wegen Ihrer geliebten Armenier. Uns kommt das natürlich ganz gelegen, denn Nordpersien ist doch schon so gut wie unser, es bedarf nur eines Vorwandes, und wir nehmen's. Diesen Vorwand, so hofft offenbar die Regierung, werden diese Unruhen abgeben. Jedenfalls weiß ich, daß man nach Teheran geschrieben hat, wenn wieder Christenmetzeleien stattfänden, würde man sich im Interesse der Christen genötigt sehen, einzugreifen und ein Regiment Kosaken zu ihrem Schutz über die Grenze lassen. Na, ist erst mal eins drüben, folgen andere leicht, und so bald werden uns die Herren dann jedenfalls nicht wieder los.«

»Sind Sie denn eigentlich Russe?« fragte Viktor verwundert.

»Selbstverständlich, Russe vom Kopf bis zu den Füßen.«

»Trotz Ihrer deutschen Sprache?«

»Nicht zum wenigsten gerade deshalb!«

»Und wo befürchtet man oder vielmehr wo erhofft man diese Unruhen?« fragte Hoijer.

»In Täbris.«

Viktor wollte schon erschrocken aufspringen, da wurde er durch einen lauten Schreckensruf von Frau Doktor Rosen daran gehindert. Die Frau war plötzlich mit beiden Füßen auf den Stuhl gesprungen, schrie und riß verzweifelt an dem spitzenbesetzten Kleid. Sie schrie immer lauter.

Ihr Mann eilte herzu und riß einen Skorpion von ihrer Schulter. Die Frau tobte vor Schmerz. Mühsam, fast mit Gewalt brachten sie die drei Männer zum Zollhaus, denn sie wand sich so heftig hin und her, daß man sie kaum halten konnte.

»Glücklicherweise war es kein Bergskorpion, nur ein grauer«, sagte Doktor Rosen. »Daran könnte sie sterben, so wird sie nur einige Tage arge Schmerzen haben!«

Wie gefühllos, geschäftsmäßig das klang. Viktor entsetzte sich und war ganz blaß vor Schrecken. Auch als man die Frau längst ins Haus gebracht hatte, hörte man noch im Hof ihr Schreien. Die Schmerzen mußten ungeheuer groß sein. Endlich wurde es still. Ihr Mann hatte ihr eine starke Morphiumeinspritzung gemacht.

»Diese verdammte armenische Spelunke!« tobte er, als er wieder auf den Hof trat. »Nun muß ich womöglich ein paar Tage länger hierbleiben, wenn es drüben losgeht. Der Teufel soll's holen.«

»Man darf hier keine Spitzenkleider tragen«, erwiderte Hoijer ruhig. »Daran allein lag es. An den Spitzen vermögen die Tiere in die Höhe zu kriechen. Auf einmal zuckt man zusammen, und das Tier bedient sich, erschrocken, seines Stachels.«

Doktor Rosen war tief verstimmt. Man sah ihm deutlich an, es war weniger Mitleid mit seiner Frau als Ärger über die Unbequemlichkeit, die derlei mit sich bringt, und Zorn darüber, daß er deshalb vielleicht den Zug nach Täbris und damit die ersehnte Abwechslung nicht mitmachen konnte.

Da nun die Zollrevision außerordentlich schnell erledigt wurde, der Zollbeamte untersuchte nämlich gar nichts, da es ihm zur Sicherheit des russischen Reiches genügte, daß Doktor Rosen die beiden Herren kannte, so brachen Viktor und Hoijer bald auf und ließen ihre Sachen auf der Fähre über den Araxes schaffen.

Nun waren sie in Persien.

»So,« sagte Hoijer, »jetzt hört auch das Fuhrwerk auf, jetzt gibt's nur noch Reiten.«

»Und wie kommen wir am schnellsten nach Täbris?«

»Mit Postpferden. Aber dazu würde ich nicht raten. Einmal sind es schreckliche Schindmähren, und man muß sich vor jedem Strauch schämen, wenn man auf so einem armen Vieh vorbeireitet. Und dann müßten wir unser Gepäck zurücklassen. Lassen wir es aber mit einem Chawadar, so heißt hier der Führer einer Karawane, nachkommen, so erhalten wir es entweder überhaupt nicht – es ist in eine Schlucht gefallen, pflegt der Chawadar zu sagen, wenn er die Koffer geplündert hat – oder aber, wenn er nichts Wertvolles fand, aber für diese Leute ist fast alles wertvoll, dann kommen unsere Koffer erst in unsere Hände, wenn ich längst wieder in Tiflis bin und Sie nach Deutschland zurückgekehrt sind.«

»Das sind ja reizende Zustände!«

»Persisch sind sie, das genügt. Ich schlage also vor, wir kaufen uns ein paar anständige Gäule ...«

»Aber Ter könnte doch mit dem Gepäck nachkommen?« meinte Viktor erleichtert.

»Gewiß. Aber was kann der Junge machen, wenn ihm der Chawadar unterwegs den Hals abzuschneiden droht, falls er nicht zugeben will, daß unsere Koffer bestohlen oder ganz geraubt werden? Ter wird sich wehren, wie ich ihn kenne. Der einzige Effekt wird sein, daß ihn der Chawadar wirklich umbringt und nachher mit der größten Dreistigkeit behauptet: Ein Löwe hat ihn gefressen. Obgleich er so gut wie ich weiß, daß es hier überhaupt keine Löwen mehr gibt.«

»Das sind ja schreckliche Zustände.«

»O nein, nur Naturzustände«, scherzte Hoijer, der überhaupt bester Laune war von dem Augenblick an, da er auf persischem Boden stand. »Man muß sich halt um seine Sachen kümmern. Wir kommen statt in drei in fünf Tagen nach Täbris. Es ist auch nicht schlimm, denn die Gerüchte sind hier immer mindestens zehn Tage den Taten voraus. So ein persisches Gerücht verbreitet sich hundertmal so schnell wie ein Telegramm. Sollten wirklich Unruhen in Täbris ausbrechen, kommen wir doch noch reichlich früh. Ich habe dafür noch einen besonderen Grund. Heute beginnt nämlich bei den Persern das Muharramfest. Da haben sie vollauf mit sich selbst zu tun, und die Christen sind klug genug, ihnen in diesen Tagen, wo sie religiös besonders fanatisiert sind, nicht in die Nähe zu kommen, sich möglichst still und abseits zu halten. Freilich brechen dann im Verlauf des Muharramfestes in der Tat gerne Unruhen aus. Aber erst, wenn die Sache schon einige Tage in Gang ist. Sie können mir vertrauen, ganz ruhig sein, es müßte sehr wunderlich zugehen, wenn wir nicht noch früh genug nach Täbris kämen, vorausgesetzt, daß überhaupt etwas an dem Gerücht ist, von dem der Doktor Rosen sprach.«

Was sollte Viktor tun? Er fand sich in sein Schicksal und betrachtete die persischen Kinder, die aus den etwas abseits liegenden Hütten herbeigeeilt waren, die Fremden anzustaunen.

Nun kamen auch Männer, alle in hohen schwarzen Lammfellmützen und langen dunklen Röcken. Die Füße bloß, die Nägel der Zehen und der Hände sowie die Vollbärte mit Hennah rot gefärbt, ziegelrot. Viktor hatte zwar schon in Moskau und in Tiflis einzelne Perser gesehen, aber daneben doch auch andere Leute, meist auch Europäer. Dort in Rußland hatte er sie als Fremde empfunden, hier waren sie die Herren, hier gab es im Augenblick außer Hoijer und ihm keine Europäer. Jetzt wirkten diese Menschen etwas unheimlich auf ihn. »Eben ging mir doch so ein leichter Schauer über die Haut«, meinte er leise zu Hoijer, ohne daran zu denken, daß ihn außer Hoijer doch niemand verstand, und wenn er auch laut gerufen hätte. »So ähnlich, wie ich ihn manchmal als Kind empfand, wenn ich Lederstrumpf las.«

Hoijer lachte vergnügt. »Seht Ihr, ich erinnere mich ganz genau, als ich zum erstenmal hierher kam, ging es mir ganz ähnlich. So plötzlich unter eine wildfremde Rasse versetzt sein, unter Menschen, die sich schon äußerlich sehr von uns unterscheiden, mit denen wir gar keinen Berührungspunkt finden als den, daß sie auch auf zwei Beinen gehen, das hat etwas Sonderbares. Aber man gewöhnt sich daran, an diese Physiognomien, an die rote Färbung, an die andern Sitten, und bald sieht man, sie sind gar nicht so viel anders wie wir selbst.«

Die Perser musterten mehr die Koffer als die beiden Europäer, denn nach dem Umfang und dem mutmaßlichen Inhalt der Koffer würden sie dann die beiden Menschen taxieren.

Hoijer deutete ungeniert von einem zum andern. »Sind sie nicht wundervoll rot gefärbt? Dagegen ist mein Bart gar nichts. Aber einen Vorzug hat er, er ist nicht gefärbt, und da bei den Persern rot eine heilige Farbe ist, und ein Mensch, der mit rotem Haar zur Welt kommt, ein von Allah besonders Auserwählter ist, so hab' ich's gut unter ihnen. Wofür man mich in Europa auslacht, verehrt man mich hier. Ihr seht, mein Name prädestinierte mich, die Russen zu ärgern, und mein Bart, unter Persern zu leben.«

Jetzt näherte sich ein älterer Mann, langsam, mit würdigen, abgemessenen Bewegungen. Die andern machten ihm schon von weitem ehrerbietig Platz. Kaum erblickte ihn Ter, verbeugte er sich tief. Das wunderte Viktor sehr, und fragend schaute er auf Hoijer. »Seht Ihr den grünen Gürtel, den er um die Taille geschlungen hat?« Viktor nickte. »Das bedeutet, daß dieser Mann schon nach Mekka gepilgert ist, wohin jeder gläubige Mohammedaner einmal in seinem Leben von Rechts und Glaubens wegen reisen soll zum Grabe des Propheten. Er war schon da, hat somit ein besonders gutes Anrecht aufs Paradies, deshalb verbeugt sich Ter vor ihm. Daß er sich aber so tief verbeugt, hat noch einen andern Grund. Ihr seht, er trägt keine schwarze Lammfellmütze, sondern einen grünen Turban. Das bedeutet, daß er ein Nachkomme Mohammeds ist, und diese genießen ganz besondere Verehrung, sie sind die eigentlichen Herren hier. Er bekommt zwar keinen Zehnten wie die jüdischen Leviten, dafür aber alles, was er gebraucht, von jedem, den er darum angeht. Will er eine Reise machen, schickt er zum Reichsten um ein Pferd, der gibt ihm unweigerlich das beste, das er im Stall hat. Nachher liefert er es wieder ab. Jede Bitte, die er äußert, wird, wenn irgend möglich, erfüllt; ist er doch ein Nachkomme des Propheten. Mit solchen Leuten muß man sich gut stellen, denn wenn sie für einen eintreten, fürchtet sich selbst der Schah, einem ein Unrecht zu tun, weil es ihn eine Revolution kosten kann.«

Hoijer trat auf den Mann zu, schüttelte ihm die Rechte und sprach eine Weile mit ihm. Er schien ihn gut zu kennen. Viktor hatte derweil Muße, die Anmut und Würde zu bewundern, die aus jeder Bewegung dieses Mannes sprach. Wie gemessen jede Geste war, die er machte! Es war ein Anblick, der Viktor geradezu begeisterte, so ästhetisch schön war es, diesen Menschen reden und sich bewegen zu sehen. Jetzt sprach man offenbar über ihn, denn der Perser sah ihn einen Augenblick lang an. Nicht neugierig, nicht erstaunt oder dergleichen, sondern hoheitsvoll, ruhig, vornehm. Dann machte er drei Schritte vorwärts, verbeugte sich leicht, indem er mit seiner rechten Hand erst die Stirn, dann den Mund, dann die Brust berührte. Fast sah es aus, als schlüge er ein Kreuz. Darauf reichte er ihm die Hand und lud ihn dann mit einer feierlichen, weiten Bewegung ein, ihm zu folgen. Viktor fühlte sich fast befangen von dieser fürstlichen Art, sich zu geben. Während sie langsam dem Mohammedaner folgten, sagte Hoijer zu Viktor: »Wahrscheinlich dachten Sie eben, er schlüge vor Ihnen ein Kreuz. Aber das stimmt nicht. Er berührte seine Stirn, das heißt: Meine Gedanken dienen dir; die Lippen: Mein Mund redete von dir; seine Brust: Mein Herz denkt immer an dich.«

»Wie hübsch das ist.«

»Gewiß. Hübsch sind überhaupt die Verkehrsformen der Perser, nur darf man sie nicht allzu wörtlich nehmen.«

»Das tut man bei uns ja auch nicht.«

Hoijer lächelte. »Recht so, ich sehe, Persien beginnt schon, Euch zu gefallen, sonst würdet Ihr es eben durch Eure Worte nicht in Schutz genommen haben.«

»Wenn auch Persien nicht, so doch diesen würdigen Mann.«

»Und wißt Ihr, was er von Beruf ist? Gastwirt und Schneider!«

»Wenn die Schneider hier schon so aussehen, wie werden sich erst die Hochgestellten benehmen.«

»Ich hoffe, daran werdet Ihr noch Eure Freude haben.«

Inzwischen war man zu dem Haus des Persers gelangt, der sie wieder durch eine überaus majestätische, langsame Armbewegung einlud, ihm ins Innere zu folgen.

»Seht Ihr, jetzt haben nicht nur die Wagen aufgehört, sondern auch die Betten und Pritschen«, sagte Hoijer, indem er auf den dicht mit Teppichen bedeckten Boden des Zimmers wies, an dessen Wänden einige Kissen lagen. Der Perser ließ sie durch einen kleinen Jungen näherbringen, man ließ sich mit gekreuzten Beinen nieder, und der Junge schob als Stütze eins der Kissen in den Rücken.

»So, jetzt müßt Ihr vor allem persisch liegen lernen«, meinte Hoijer. »Laßt es Euch nicht verdrießen, wenn Euch in den ersten Tagen die Knochen ein wenig schmerzen von der ungewohnten Sitzart. Bald werdet Ihr dahinterkommen, daß es auf der ganzen Welt keine angenehmere und zweckmäßigere gibt.«

»Wahrhaftig, Ihr lobt Persien gar zu sehr!« sagte Viktor und rückte unruhig hin und her, denn vorläufig fand er diese Lage gar nicht bequem.

»Nur was lobenswert ist, das lobe ich. Oder glaubt Ihr wirklich, es entspräche der Natur des menschlichen Körpers, auf einem Stuhl zu sitzen? Er ist rechtwinklig. Ist das unser Körper vielleicht auch?«

Es kamen Diener und trugen Brot auf, lange, matzenartige, runde, dünne Fladen, die sie vor den beiden ausbreiteten. Dann stellte einer vor jeden ein dickes Büschel grüner Kräuter und rohe Gurken. Wieder ein anderer brachte Salz. Dann wurden drei schmale Teetassen aus feinem Glas hingestellt. Wieder ein anderer Diener brachte den Samowar.

»Wieviel Diener hat der Mann eigentlich?«

»Er ist zwar nicht wohlhabend, aber fünf oder sechs mindestens, denn es wäre eine Schande für einen Perser, auch wenn er arm ist, aber etwas gelten will, weniger Diener zu haben.«

»Hat er denn keine Frau?«

»Selbstverständlich, sogar wahrscheinlich mehrere. Aber die bekommt Ihr nie zu sehen, es wäre auch im höchsten Grade unanständig, danach zu fragen. Von den Frauen redet man nicht, sie sieht man im Hause nie, und auf der Straße nur in sackartige Überwürfe gehüllt. Auch das ist ein Vorzug Persiens, daß man – so ganz von den Frauen verschont bleibt!«

Da Viktor die frauenfeindlichen Äußerungen Hoijers schon öfter aufgefallen waren, fragte er ihn: »Nehmen Sie mir's nicht übel, aber Sie reden so oft ähnlich, was haben Sie eigentlich gegen die Frauen?«

Hoijer wurde auf einmal sehr ernst, sah eine Weile vor sich hin und antwortete dann: »Ich spreche zwar nicht gern davon, aber ich will nicht, daß Ihr mich mißversteht, und dann, wir werden noch oft zusammen sein, da ist's vielleicht ganz gut, wenn ich Euch das erkläre.« Wieder schwieg er einen Augenblick nachdenklich, und Viktor sah, wie sich eine tiefe Falte in seine Stirn grub, die sonst so glatt und freundlich aussah. Fast reute es ihn, danach gefragt zu haben, und schon wollte er etwas Derartiges sagen, da fing Hoijer wieder zu reden an: »Ich bin nämlich verlobt gewesen, mit einer Schwedin. Ich habe sie sehr geliebt, wir waren als Brautleute sehr glücklich. Kurz vor der Hochzeit verunglückte sie bei einem Unwetter im Gebirge. Ich habe es viele Jahre nicht verwinden können.« Er seufzte schwer. »Es waren schreckliche Jahre, die mich viel Kraft und Freude und Leben gekostet haben. Seht Ihr, deshalb rede ich so. Ich habe selbst erlebt, wie einen eine Frau in Bann schlagen kann. Daß man dumm und närrisch wird, nicht mehr davon loskommt und sich unglücklich macht. Und das Leben ist schon so arm und kurz, daß es schade ist um jeden Tag, den man nicht in Frohsein verbringt. Deshalb habe ich einen Respekt vor den Frauen und gehe ihnen aus dem Weg. Sie bringen soviel Unglück.«

»Aber doch auch Glück.«

»Mag sein. Ich kenne es nicht, denn so schön jene kurzen Monate unserer Verlobung waren, die Jahre danach!« Er schwieg wieder und seufzte. »Ach was«, ermunterte er sich dann selbst. »Es lebe Persien! Hier wenigstens hat man nichts von den Frauen zu fürchten. Hier braucht man nicht vor ihnen auf der Hut zu sein.«

»Das alles zeigt doch nur, wie empfänglich Sie für Frauenart und Frauenreiz sind«, meinte Viktor.

»Aber gewiß, und deshalb geh ich dem aus dem Wege, wo ich nur kann. Gebrannt' Kind scheut's Feuer.«

Der Perser erschien wieder, und auf eine Aufforderung Hoijers hin ließ er sich neben ihm auf der Erde nieder. Jetzt trugen zwei Diener einen gekochten, dampfenden Hammel ins Zimmer und stellten ihn in die Mitte zwischen die drei. Hoijer machte ein klägliches Gesicht. »Jetzt kommt das Häßlichste an Persien. Nur Mut!«

Da es keine Gabeln gab, sah Viktor ziemlich hilflos drein und zugleich aufmerksam auf die beiden andern, wie das nun wohl weiterginge?

Der Perser nahm ein Stück von dem Brotfladen in die Linke, ein großes Messer in die Rechte, ergriff mit dem Stück Brot in der Linken das eine Bein des Hammels und säbelte mit der andern große Fetzen Fleisch ab. Dann spießte er sie aufs Messer, legte sie auf ein anderes Stück seines Brotfladens und präsentierte die Stücke. Nicht mit einem Hauch hatten seine Finger das Fleisch berührt. Bewundernd sah dem Viktor zu und langte mit Hilfe eines Brotstücks reichlich ungeschickt nach einem der Fleischstücke. Der Perser drehte inzwischen wieder aus einem kleinen Teil seines Fladens eine zierliche Tüte, mit der er sich Sauce schöpfte. Viktor mußte gestehen, daß es gar nicht unappetitlich aussah, im Gegenteil. Wenn man in dieser Art zu essen so gewandt war wie der Perser, sah es sehr hübsch aus und erforderte gewiß viel Geschicklichkeit. Mehr, als wenn man einfach mit Messer und Gabel hantierte.

»Nun, wie gefällt Euch das?« fragte Hoijer.

»Es sieht reizend aus, man meint, man könnte es sofort gerade so gut, aber ich merke, wie schwer es ist, ohne Gabel anständig zu essen.«

Hoijer lachte. Der Perser fragte ihn, weshalb, und als er erfahren, worum es sich handelte, huschte ein ganz kleines, dünnes Lächeln um seine Lippen. So aß man denn; Viktor, der starken Hunger verspürte, ziemlich viel, trotzdem es ihm auffiel, daß das Fleisch einen überaus strengen, gar nicht angenehmen Geschmack besaß. »Das kommt daher«, erklärte Hoijer, »daß man hier den Hammel der großen Hitze wegen nicht erst an die Luft hängen kann, sondern gleich zubereiten muß, sowie er geschlachtet ist. Deshalb dieser Geruch. Als ob man die Nase in das schmutzige Fell eines alten Hammels steckte, der vierzehn Tage nicht an die Luft gekommen ist. Findet Ihr nicht?«

»Um Gottes willen, hören Sie auf, verderben Sie mir nicht meinen guten Appetit.« Der Perser aber blickte ab und zu mit leichter Verwunderung auf Viktor, ohne daß dieser es merkte. Denn es gilt in Persien für unfein und gewöhnlich, viel zu essen. Ein wahrhaft vornehmer Perser begnügt sich mit einer Handvoll Reis, einem Stück Fleisch und Tee. Tee trinkt er dafür ungeheuerlich viel, den ganzen Tag über, und in jedem der kleinen Täßchen mindestens fünf Stücke Zucker.

Dann wurde Käse gebracht, und nun griff Hoijer energischer zu. »Der Käse, das ist das beste an der persischen Mahlzeit außer dem Tee«, erklärte er. In der Tat, der zarte Schafkäse, der reichlich mit grünen Kräutern durchsetzt war, die noch ihr ganzes Aroma bewahrt hatten, schmeckte ausgezeichnet. »Ist es nicht, als nähme man die schönste Wiese in sich auf bei diesem Käse, den ganzen Frühling mit all seinen Wohlgerüchen?« fragte Hoijer Viktor begeistert. »So was hat man in Europa nicht.«

»Was sind Sie für ein Materialist«, scherzte von Gandern.

»Gott sei Dank!« erklärte Hoijer sehr befriedigt. »Den Spiritismus hab' ich endlich abgetan. Sie wissen gar nicht, was das für eine Wohltat ist für einen, der früher Missionar war.«

Nun erschien ein junger Perser, den Viktor noch nicht gesehen hatte. In der Linken eine große Zinnkanne, dickbauchig, mit langem, schmalem, schön geformtem Hals. Wie ein edelgebogener Schwanenhals war er und lief in einen spitzen Schnabel aus. In der Rechten hielt er ein Leinentuch. Hinter ihm trat ein Diener mit einem großen Zinnbecken ein. Viktor blickte fragend auf Hoijer. »Der junge Mann, das ist der älteste Sohn unseres Gastgebers. Das andere werdet Ihr gleich selbst sehen.«

Kein Wort wurde gesprochen. Stumm kniete der älteste Sohn des Hauses vor seinem Vater nieder und goß ihm das Wasser aus der Zinnkanne über die Hand, während der Diener das Zinnbecken unter die Hände hielt. Dann trocknete sich der Vater vorsichtig die Hände an dem Leintuch ab, und als er es dem Sohn zurückgab, verneigte der sich ehrerbietig und berührte mit der Rechten Stirn, Mund und Brust. Es lag etwas außerordentlich Feierliches in diesem Vorgang. Viktor dachte unwillkürlich an jene klassischen Bilder, die die Fußwaschung Jesu von Nazareth darstellen. So ähnlich empfand er den Vorgang, dessen Feierlichkeit dadurch etwas besonders Warmes erhielt, daß der Sohn, auch schon ein erwachsener Mensch, so ehrerbietig vor seinem Vater kniete. Dann trat der Sohn des Hauses zu Viktor, und das Ganze wiederholte sich. Darauf auch bei Hoijer. Auch die Reihenfolge war charakteristisch. Erst der Hausvater, dann der, den man für den vornehmsten Gast hielt, und dann die folgenden.

»Ich wußte, daß Euch das gefallen würde«, schmunzelte Hoijer wohlgefällig, während der Sohn samt dem Diener wieder stumm das Zimmer verließ. Kaum waren sie draußen, erschien wieder ein Diener mit zwei Galianpfeifen, deren Holzkohle dunkel glühte. Die eine setzte er vor Viktor hin, die andere vor den Hausherrn, der einige Worte zu Hoijer sprach, die dieser Viktor verdolmetschte. »Er läßt sich entschuldigen, daß er nicht aus einer Pfeife mit uns raucht. Aber der Koran verbietet es ihm.«

Viktor betrachtete interessiert das große Gestell, das vor ihm stand. Oben war ein silberner Aufsatz, mit Rubinen reich geschmückt, von dem kleine, silberne Schnüre herabhingen, die sich, leise klingend, bewegten. In diesem Aufsatz befand sich die glühende Holzkohle und der Tabak. Der Aufsatz mündete in ein langes, schwarzes Rohr, das mit Schnitzereien versehen war und in ein Glasgefäß auslief, mit Wasser gefüllt, in dem Rosenblätter schwammen. Ein zweites, zierlicheres Rohr mündete ebenfalls in den Glasbehälter. An ihm sog jetzt der Perser. Leise gluckste das Wasser, während die Rosenblätter in ihm auf- und niedertanzten und der Tabaksrauch von dem breiteren Rohr aus durch das Wasser und das schmale Rohr zu den Lippen des Rauchers gelangte. Viktor imitierte den Perser. Es gelang besser, als er erwartet hatte, und es bedurfte auch gar nicht so großer Lungenanstrengung, wie er befürchtete, um den Rauch durch Rohr, Wasser und wieder Rohr zum Mund zu treiben, es ging vielmehr ganz leicht. Der Tabak aber mundete ihm ausgezeichnet. Durch das Wasser verlor er an Nikotin und bekam etwas sehr Weiches, Wohlschmeckendes.

»Ja, ja,« lächelte Hoijer, »vier Dinge gibt es, die findet man gut nur in Persien: Tee, Käse, Tabak und Pferde. Ich habe mir schon oft den Kopf zerbrochen, was wohl das beste sei. Aber eins ist so hervorragend wie das andere. Und nun müßt Ihr mir auch die Pfeife geben, sonst wird unser Perser unruhig, denn hier raucht man aus einer Pfeife, und tut einer nicht mit, ist's eine schwere Beleidigung. Deshalb entschuldigte sich vorhin unser Herbergsvater auch.«

So saßen sie eine ganze Weile, tranken Tee, rauchten Galian und führten ein zwar etwas umständliches Gespräch, weil Hoijer dolmetschen mußte, aber fühlten sich alle recht wohl, insbesondere auch Viktor, der nie geglaubt hätte, daß es ihm in Persien so behaglich zumute sein könnte.

»Nun brauchen wir noch zwei Flinten und zwei anständige Pferde bis morgen früh, dann kann's weitergehen«, sagte Hoijer schließlich. »Die beiden Flinten muß unser Perser auf dem russischen Ufer zwei Kosaken abhandeln, die Pferde bekommen wir hier.«

»Brauchen wir denn Flinten, und dürfen die denn die Kosaken verkaufen?«

»Allerdings brauchen wir sie, denn man weiß hier nie, wozu es gut ist. Jedenfalls schadet es nichts, wenn sie über unseren Schultern hängen und jeder, dem wir begegnen, schon von weitem sie sieht, denn so idyllisch wie im Augenblick ist's nicht immer, Baron. Verkaufen dürfen die Kosaken ihre Flinten natürlich nicht, aber sie tun's doch, sagen, sie haben sie verloren, sie seien in den Araxes gefallen oder dergleichen, lassen sich einsperren und durchprügeln, aber sie haben das Geld, das ist wichtiger und entschädigt sie für alle Prügel.«

Der Perser verließ sie, nachdem ihm Hoijer seine beiden Wünsche mitgeteilt hatte, und Viktor zog seine Brieftasche, indem er meinte: »Nun müssen Sie mir sagen, was wir eigentlich schuldig sind.«

Hoijer lachte. »Ich habe schon gefragt, aber man will von Geld nichts wissen. Wir würden den Perser schwer beleidigen, nachdem er das gesagt, wenn wir ihm trotzdem Geld anböten.«

»Wir können uns doch aber nicht umsonst beköstigen lassen. Außerdem ist er doch Gastwirt, wie Sie mir vorhin sagten.«

»Richtig, richtig, alles richtig. Aber er will von uns nun mal kein Geld. Es war ihm halt eine besondere Ehre. Übrigens wird er an uns nicht zugrundegehen, denn er ist ja nicht nur Gastwirt, sondern auch Nachkomme Mohammeds. Drückt ihn, was wir verzehrt, wird er sich schon an seinen Dorfgenossen schadlos halten. Und da er kein bar Geld will, schlage ich vor, wenn wir zurückkommen, dedizieren wir ihm unsere beiden Flinten. Da ist er reichlich bezahlt, und außerdem liebt er wie alle Perser gute Waffen ganz besonders.«

Viktor hielt immer noch seine Brieftasche in der Hand. »Übrigens, was habt Ihr denn da für Geld?« Viktor reichte ihm seine Brieftasche hin. »Ja, um Himmels willen, das ist ja persisches Papiergeld! Das hat ja nur zwei Drittel seines Nennwerts. Wer hat Euch denn das aufgehängt?«

»Eine Bank in Tiflis, an die mich Frau Richter empfahl.«

»Wer sind denn die Besitzer, diese Spitzbuben?«

»Armenier!«

Beide stutzten einen Moment, dann lachten sie laut. »Jetzt könnt Ihr also auch getrost in Europa erzählen, die Armenier sind Gauner und Betrüger,« meinte Hoijer, nicht ohne Galgenhumor, »wenn Ihr auch versichert sein könnt, daß Euch jeder russische Bankier, wenn er gemerkt hätte, daß Ihr nicht Bescheid wußtet, ebenfalls das Papiergeld aufgehängt hätte. Nach Persien reist man mit einem Säckchen Keran, das ist Kupfergeld, und Thoman, das ist Silbergeld, und einer Anweisung auf die Filiale der Londoner Bank in Täbris. Jetzt ist aber nun mal das Unglück geschehen. Bis Täbris werde ich allein bezahlen, denn die Londoner Bank wird Euch das Papier immer noch am ehrlichsten in Silber umwechseln.«

Viktor steckte seine Brieftasche wieder ein und meinte etwas kläglich: »Ein wahres Glück, daß ich Euch mithabe. Wie würde es mir sonst wohl gehen.«

»Nun ja, gut ist's schon, Ihr müßtet etwas mehr Lehrgeld bezahlen als so. Aber jetzt möchte ich Euch, der Ihr bis jetzt fast nur Persien von der angenehmen Seite kennenlerntet, den Revers zeigen«, fuhr er fort und verließ mit Viktor das Haus, aus dem sie sich nicht ganz leicht hinausfanden, da es Nacht geworden und noch keine Sterne leuchteten. Die schmalen Straßen lagen öd und leer, nur ab und zu schlich sich scheu ein Hund beiseite. »Das ist auch charakteristisch für dies Land«, erklärte Hoijer. »Sowie es Abend geworden, wagt sich niemand mehr aus seinem Haus, außer daß mehrere, meist bis an den Hals bewaffnet, zugleich, weil sie müssen, auf die Straße gehen. Dabei kommt eigentlich selten etwas vor, und ich glaube manchmal, es ist weniger die Angst um ihr eigenes Leben, die sie abends zu Hause hält, als die Angst, wenn einer ermordet würde, könnte ein anderer mit in die Affäre verwickelt werden, denn ein Mord bedeutet für den Verwalter der Provinz immer etwas Gutes, da er dann das Recht hat, den betreffenden Ort zu brandschatzen, so viel er will; und da in Persien alle öffentlichen Ämter verkauft werden und jeder natürlich, was er hineingesteckt, wieder mit reichen Zinsen herauspressen will, so brandschatzt er ein Dorf, in dem ein Mord geschehen, nicht wenig. So hütet sich jeder Ort denn vor diesem Unglück, so gut er kann, vor allem dadurch, daß niemand seiner Bewohner vom Dunkelwerden an ausgeht. Nur während des Muharramfestes geht es nicht anders, da müssen sie hinaus, aber meist gehen sie noch vor Einbruch der Nacht weg und sind noch vor Dunkelheit an Ort und Stelle, wo gefeiert wird. Bis man sich trennt, ist es wieder Tag. Offenbar sind an diesem Ort auch schon alle längst im Hof des Gemeindehauses versammelt.«

Die beiden horchten auf ihrer einsamen Wanderung plötzlich auf. »Aha,« nickte Hoijer, »sie sind schon am Werk.«

»Was für sonderbare, langgezogene Klagetöne sind das?«

»Es ist der Trauergesang um Husejn und Hasan, die Söhne Alis, des Schwiegersohnes von Mohammed. Husejn fiel im Kampf, Hasan wurde vergiftet. Beide verehren die Perser, die Schiiten sind, im Unterschied zu den türkischen Sunniten, als die rechtmäßigen Nachfolger Mohammeds.«

»Schauerlich klingt das durch die Nacht.«

»Noch schauerlicher ist es in der Nähe«, murmelte Hoijer leise, indem er Viktor vorsichtig mit sich zog zu dem nach der Straße zu offenen Hof des Gemeindehauses. In dem Hof brannten große Feuer, deren dunkellodernde Flammen unruhig hin und her züngelten und dunkle gespenstige Schatten an die hell getünchten Wände warfen. An den Wänden saßen tief verschleiert die Frauen und klagten um den Tod der Söhne ihres Propheten. Im Hof selbst standen die Männer in Gruppen von je sieben, mit entblößtem Oberkörper, den sie sich gegenseitig schlugen, während sie ebenfalls laut klagten um den Tod Husejns und Hasans. Wohl eine halbe Stunde sahen die beiden Europäer dem zu, stumm, ergriffen von den klagenden Tönen dieser Männer- und Frauenstimmen, und Viktor außerdem entsetzt über das furchtbare, grausame Schlagen der Fäuste der Männer, die, je länger die Klage dauerte, um so heftiger sich gegenseitig bearbeiteten. »Das dauert so die ganze Nacht bis an den Morgen. Am nächsten Abend beginnt es wieder. Außerdem herrscht strenges Fasten. Acht Tage lang hört es nicht auf. Natürlich werden die Nerven von Tag zu Tag gereizter, erregter. Immer gewaltsamer muß man sich aufpeitschen, nur um diese langen acht Tage auszuhalten. Ich habe es schon erlebt, daß man sich mit Stöcken schlug, schließlich sogar mit den langen, eisernen Stäben, die die Derwische mit sich führen. Das Blut floß in Strömen, manche fielen um und starben auf der Stelle. Dann frohlockten alle, sein Weib stimmte einen Jubelgesang an, denn bei diesem Fest sterben, ist etwas besonders Hohes. Der Betreffende geht gleich ins Paradies ein und genießt dort besondere Wonnen.«

Viktor wandte sich ab. Ihm graute vor dem Anblick. »Wir wollen gehen«, meinte er. – »Es schadet auch nichts, denn, wie ich Euch schon früher sagte, in diesen Tagen kann man nicht vorsichtig genug sein. Wenn es plötzlich irgend so einem Fanatisierten einfällt, gegen die Christen zu schreien, kann's einem, wenn man in der Nähe ist, übel genug ergehen.«

Langsam kehrten sie in das verödete Haus ihres Gastgebers zurück. »Ob wir hier wohl sicher sind?« meinte Viktor, noch ganz benommen von dem schauerlichen Anblick. – »Ganz sicher, denn wenn dem Perser etwas heilig ist, so ist es die Gastfreundschaft. Überhaupt, solange Ihr bei einem Orientalen zu Gast seid, könnt Ihr ganz ruhig sein. Eine Gefahr gibt's erst wieder, wenn Ihr seine Schwelle verlaßt. Von dem Augenblick an aber, wo Ihr im Freien steht, seid Ihr wieder vogelfrei.«

Lange lag Viktor noch wach auf dem Boden des Zimmers. Von fernher vernahm er ununterbrochen die langgezogenen Klagerufe der Perser. Am Himmel aber ging ruhig der Mond, leuchteten klar und hell die ewigen Sterne. Wie mochte es jetzt in Täbris aussehen, zugehen? Viel hätte er darum gegeben, wenn er heute schon hätte dort sein können. Unruhig wälzte er sich hin und her, während Hoijer fest und ruhig schlief. Dies arme, verblendete Volk, dachte er, während er wieder dem Klageschrei lauschen mußte. Und doch, welche Energie zeigte sich darin, daß man sich so plagte, marterte, ja tötete. Er dachte unwillkürlich an die Christen daheim. Die ließen es sich nicht so viel kosten um ihren Propheten. Eine Stunde Kirchgang am Karfreitag. Das war alles. Allzu weh tat das nicht.

Am andern Morgen waren richtig zwei gute Flinten mit den nötigen Patronen und zwei gute Pferde zur Stelle. Zwei dreijährige Hengste. Den stärkeren nahm sich Viktor, den anderen wählte Hoijer, der kleiner und leichter war als sein Reisegefährte. Auch ein Chawardarpferd wurde erstanden, das man mit den beiden Koffern bepackte, zwischen denen Ter Platz nahm; und fort ging es.

Heiß brannte die Sonne schon am frühen Morgen. Stunde um Stunde verrann. Zuerst beobachtete Viktor noch alles, war doch alles für ihn neu und fremdartig. Schon dies, daß es keine Straßen gab, daß man einfach nach dem Kompaß querfeldein ritt, einer schmalen, kaum sichtbaren Wegspur nach, der man ansah, daß sie nicht allzu häufig betreten wurde. Aber immer heißer brannte die Sonne, immer größer wurde der Durst, nichts gab es, ihn zu stillen. So sprach denn gegen Mittag keiner mehr ein Wort. Stumpf, müde, mit von der Hitze leicht taumelndem Gehirn ließ man die Pferde gehen, gleichgültig gegen alles, nur von einem Verlangen erfüllt: Wenn doch ein Wasser käme, daß man den quälenden Durst löschen könnte. »Daß Wasser etwas so Kostbares ist, wußte ich bis dato auch noch nicht«, seufzte Viktor. Plötzlich klatschte Ter in die Hände, die Pferde, die auch die Köpfe hatten hängen lassen, blähten die Nüstern, Viktors Hengst wieherte sogar leise und reckte sich freudig auf. Man war einer Quelle nahe. Nachdem man eine Stunde gerastet, ging es wieder weiter. Wieder brannte die Sonne, immer weiter durch öde, reizlose, trockene Gegend, in weiter Ferne die Berge von Karabagh, auf denen ein grünlicher, schwacher Grasschimmer lag. Von morgens sechs war man mit nur einer Stunde Unterbrechung unentwegt zu Pferd gesessen, und jetzt ging es auf sechs Uhr abends. Elf Stunden waren das.

Viktor glitt von seinem Pferd und ging langsam vor ihm her, um sich ein wenig die Füße zu vertreten. Auf einmal fühlte er, wie das Tier seinen langen, schmalen Kopf an sein Rückgrat schob. Was wollte das Tier nur? Er lächelte und lehnte sich an den Kopf. Das wollte der Hengst, denn nun schob er ihn, während Viktor so zugleich eine angenehme, wenn auch primitive Rückenlehne hatte, gemächlich vorwärts. Auch Hoijer mußte lachen. »Sagt' ich Euch zuviel von den persischen Pferden? Ist es nicht klug, das Tier? Weiß es nicht ganz gut, was Euch im Augenblick am angenehmsten ist?« In der Tat, Hoijer hatte recht. So verging wieder eine Stunde. Dann drehte sich Viktor seinem Pferd zu, streichelte und liebkoste es. Wie es schnob, wie seine Augen funkelten und glühten, wie es mit den Hufen scharrte. O, es wußte ganz genau, daß es seine Sache gut gemacht hatte und gelobt wurde. Viktor wollte wieder aufsitzen. Aber sowie er den Fuß zum Bügel hob, trat das Tier beiseite, schnaufte und schnubberte an ihm herum. Wiederholt versuchte er, in den Sattel zu kommen, aber es gelang nicht. »Was will er nur?« Auch Hoijer wußte es nicht. Während die beiden überlegten, steckte der Hengst plötzlich seine trockene Schnauze in Viktors Rocktasche. »Belohnt will der Spitzbube werden!« rief Hoijer. »Ein Stück Zucker will er haben!« So war es auch. Als Viktor ihm ein Stück Zucker gereicht, hielt das Tier still, und er konnte aufsteigen. »Bist du ein schlauer Kerl«, sagte Viktor, und tätschelte dem Hengst den Hals. »Und ein echter Perser dazu«, meinte Hoijer. »Wenn er mal wirklich was Gutes getan, will er auch gleich dafür belohnt werden.« Und wieder ging es weiter, immer Schritt vor Schritt, weil sonst ja Ter mit dem Gepäck nicht hätte nachkommen können. Und gerade dies ewige Schrittreiten ermüdete unsäglich. Endlich erreichte man ein mageres Gestrüpp, wo man wieder haltmachte.

»Habe die Ehre, meine Herren, habe die Ehre, Herr von Hoijer!« klang es plötzlich aus dem Gebüsch. Viktor war sprachlos und starrte den kleinen Mann, der sich ihnen näherte, fast entsetzt an. Hatte er Halluzinationen? Oder gab es überall in der Welt, an den unmöglichsten Stellen, wirklich Deutsche?

Hoijer war aufgesprungen und schüttelte dem Mann erregt die Hand. »Weiß Gott, daß ich das vergessen konnte! Das kommt von der verdammten Hitze, an die ich noch nicht wieder gewöhnt bin, Herr Steinhuber.« Er stellte Viktor vor. Herr Steinhuber verbeugte sich. »Habe die Ehre, freut mich sehr, Herr Baron.« Viktor blickte von einem zum andern. »Ja, um Gottes willen, sagen Sie mir nur, wie kommt denn ein Deutscher, ein Österreicher plötzlich hierher?« Die beiden andern konnten sich das Lachen nicht verbeißen. »Herr Steinhuber ist hier stationiert, hier befindet sich eine Station des englisch-indischen Telegraphen, den Herr Steinhuber nun schon seit zehn Jahren bedient«, erklärte Hoijer. »Nein, daß mir das nicht gleich einfiel.«

»Seit zehn Jahren?« sagte Viktor und sah sich den Mann aufs neue an, der unverfälschtes Wiener Vorstadtdeutsch sprach, in zwar recht verbrauchten, dafür aber immer noch den besonderen, eleganten Wiener Schnitt offenbarenden Kleidern steckte. »Das ist doch einfach unglaublich«, stammelte Viktor. Herr Steinhuber schmunzelte vergnüglich über das Aufsehen, das er hervorgerufen. »I bitt' Ihne, meine Herrn.« Er zeigte in das Gebüsch. »Aber gewiß, wir kommen mit in Ihr Stationsgebäude«, erwiderte Hoijer und schritt voran.

»Bitte nach Ihnen, i bitt' schön, nach Ihnen, Herr Baron«, sagte Steinhuber, indem er das Gesträuch mit Wiener Kellnereleganz auseinanderbog. Viktor mußte auf einmal laut und herzhaft lachen. Das war zu drollig. Wenn er sich vorstellte, hier mitten unter Persern, da taucht plötzlich, als wäre es ganz selbstverständlich, ein Wiener auf! Nein, nein!

Jetzt stand man vor einem kleinen, steinernen Häuschen mit eisenvergitterten Fenstern. Ein kleines Gärtchen war auch da. In ihm blühten Kartoffeln, grünte Salat. Es war einfach erstaunlich. Viktor schüttelte immer wieder den Kopf, während man ins Innere des Häusleins ging.

Es enthielt nur zwei Zimmerchen. Das eine war kahl. In ihm standen nur der Telegraphenapparat und ein eisernes Bett, über diesem eine Madonna, bunt koloriert. In dem andern, etwas größeren Raum hingen an der Wand drei Stahlstiche: der Kaiser Joseph, die Kaiserin Elisabeth und Radetzky ... Die übrigen freien Stellen der Wandflächen waren behängt mit Dolchen, Säbeln, Pfeifen und Silhouetten. Ein kleiner Tisch, drei Stühle, ein Wandschrank, eine Flinte und ein Tabakskasten, damit war die Ausstattung beendet. Nein, etwas hatte Viktor übersehen. An einem Fenster hing ein Käfig mit einem Kanarienvogel, der aber schon schlief.

Eilfertig schleppte Herr Steinhuber den Samowar und Zigaretten herbei. Bei dem freundlichen Summen des Wassers kam es bald zu einem gemütlichen Gespräch. Viktor interessierte natürlich am meisten, was der Österreicher hier eigentlich trieb, wie er lebte und sich beschäftigte. Viel zu tun hatte er nicht, und das schien ihm sehr angenehm zu sein. Ein paar Telegramme täglich, das war alles. Freilich, zuweilen gab's auch lebhaftere Zeiten, wie zum Beispiel damals während der armenischen Massakers im Wanbezirk. Er seufzte und fand es höchst überflüssig, daß sich die Menschen an die Hälse gerieten, er hatte ja nur Arbeit davon. Dafür gab es dann freilich auch wieder Tage, an denen er schon in aller Frühe sagen konnte: Guten Morgen, Feierabend! Diese Tage waren ihm offenbar am liebsten. Ob er sich denn nicht langweile? Herr Steinhuber sah Viktor verwundert an, Langweile? Das kannte er nicht. Er rauchte, trank Tee, las ein bißchen. Was er denn zu lesen liebe? Nestroy, Heine, Anzengruber, Dickens, Börne, Swift, und an Sonn- und Feiertagen: Grillparzer. Das war so seine Bibliothek. Der Nestroy war ihm aber am liebsten. Eine sonderbare Zusammenstellung, dachte Viktor. Herr Steinhuber hatte eben gern etwas zu lachen, und über Nestroy könne er sich immer wieder halbtot lachen, auch bei den andern. Nur Grillparzer, der ersetzte ihm offenbar den Sonntagsgottesdienst. Ob er sich manchmal nach Hause sehne? Gar nicht. Zuerst habe er freilich das Café und die Tarockpartie vermißt. Aber jetzt liebe er den Tee über alles und das Kartenspielen vermisse er gar nicht. Ja, aber, so gar keine Europäer in der Nähe, ob das nicht zuweilen doch schrecklich sei? Jetzt lachte Herr Steinhuber. Nein, das sei gar nicht schrecklich, denn erstens könne er sich ja mit seinen Kollegen telegraphisch unterhalten, wenn es ihm Spaß mache, und dann brauche er keine Menschen. Ab und zu käme ein Europäer ja sowieso vorüber. Und nur so sei es ein Genuß, wirklich ein großer, mit Europäern unverhofft zusammen zu sein.

Plötzlich fragte Viktor, ob er auch in telegraphischer Verbindung mit Täbris stehe? Aber gewiß, versicherte er. Vorhin habe er gerade noch ein Telegramm weitergegeben, denn man befürchte dort jeden Augenblick den Ausbruch von Unruhen. Weiteres dürfe er nicht mitteilen, das sei ihm verboten. »Also haben die Unruhen noch nicht begonnen?« fragte Hoijer. »Nein, aber es könne jeden Augenblick losgehen.« Er seufzte, augenscheinlich, weil er von ihnen neue Arbeit und eine Störung seines idyllischen Lebens befürchtete.

Hoijer und Viktor sahen sich auf diese Nachricht hin fragend an. Dann meinte Viktor: »Wie wär's, wenn wir die Nacht benutzten und weiterritten? Wir könnten dann wenigstens morgen abend in Täbris sein. Damit wäre immerhin ein ganzer Tag gewonnen. Außerdem ist es eigentlich angenehmer, die kühle Nacht mit zu benutzen.« Hoijer war einverstanden, und trotz des energischen Protestes Herrn Steinhubers, der immer wieder bat, wenigstens diese eine Nacht bei ihm zu bleiben, brach man bald wieder auf. Auch Hoijer schien zu drängen, denn wenn der englische Telegraph erst spielte, mußte etwas an den Gerüchten sein, von denen vor kurzem Doktor Rosen gesprochen.

Langsam ritt man wieder weiter. »Welch ein glücklicher Mensch, dieser Steinhuber«, meinte Hoijer. »Man könnte ihn fast beneiden. Er verkehrt mit der Welt eigentlich nur noch per Telegraph, raucht, liest, träumt, trinkt Tee. Geht an der Welt vorüber!«

»Wenn man alt ist, gewiß, da mag das verlockend sein, aber ich, ich ginge zugrunde, ich hielte das keinen Monat aus!« rief Viktor.

»Merkwürdig. Und doch sind die Deutschen, wenn ich ein paar Österreicher hinzurechne, die einzigen, die es tatsächlich aushalten. Es ist der englischen Regierung gar nicht angenehm, daß sie Deutsche in ihren Dienst nehmen muß. Aber die Engländer, mit denen sie es zuerst versuchte, bekamen alle den Spleen. Es ging nicht. Jetzt sitzen über ganz Persien hin bis nach Indien in all den kleinen Telegraphenhäuschen, allein und abgeschlossen von aller Welt und doch durchaus zufrieden, lauter Deutsche.«

Wieder schwiegen die zwei und sahen vor sich hin. Sie dachten wohl alle beide in diesen Minuten, wenn auch aus verschiedenen Motiven, an Manja und ihre Situation in Täbris.

Plötzlich scheute Viktors Pferd und machte einen weiten Satz zur Seite. Viktor konnte nichts bemerken. Nur eine Wagenspur, so schien ihm wenigstens, nicht tief, aber seinen scharfen Augen deutlich sichtbar, zog sich vor ihm her. Hoijer war sofort vom Pferd gesprungen. Viktor fühlte, wie das seine leicht zitterte und unruhig hin und her tanzte. »Ihr sagtet doch,« wandte er sich an Hoijer, »es gäbe in Persien keine Wagen. Aber ich sehe deutlich eine Radspur.« Er schwang sich auch aus dem Sattel und zog das leicht widerstrebende Tier mit sich. Kaum befand er sich wieder an der Wagenspur, bäumte sich sein Pferd aufs neue hoch auf, und auch Hoijers Hengst wurde sichtlich unruhig. Hoijer, der eine Weile der Spur gefolgt war, erwiderte nun: »Es ist keine Wagenspur, sondern eine Schlange von respektablem Umfang zog dieses Wegs und hat die Spur hinterlassen, die allerdings einer Wagenspur sehr gleicht. Deshalb auch wurden die Pferde unruhig, namentlich das Eure, das feinere, edlere.« Er saß wieder auf. »Könnte uns die Schlange nicht unangenehm werden?« fragte Viktor, der immer noch damit zu tun hatte, seinen Hengst zu beruhigen, der tänzelte, schnob und mit erschreckten Augen ausäugte ... »Sie ist groß und hat sich vollgefressen; wenn wir ihr nicht gerade auf den Bauch treten, wird sie froh sein, ihre Ruhe zu haben. Und daß wir ihr nicht auf den Bauch treten, dafür sorgen die Pferde schon, die vor dem Geziefer mehr Angst haben als vor tausend Kurden.«

Nun saß auch Viktor wieder oben, und langsam ging die Reise weiter. Nur das Chawadarpferd war stumpfsinnig weiter getrottet. »Man macht sich in Europa überhaupt falsche Vorstellungen von der Gefährlichkeit der Schlangen. Je größer sie sind, um so ungefährlicher sind sie für gewöhnlich, wenn sie nicht direkt gereizt werden. Unangenehm sind die kleinen rötlichen Bergschlangen, die aber hier in der Ebene nicht vorkommen. Die Luders leben immer auf dem Kriegsfuß mit allem, was Beine hat. Aber die großen. Ich habe mich mal eines Nachts, es war in Kaschgar, weil ich es für einen Baumstumpf hielt, ganz getrost auf so eine dicke Schlange gesetzt. Sie war sogar zu faul, um gleich Lärm zu schlagen. Erst als ich mich ein wenig lebhaft bewegte, fing sie an zu zischen. Als ich aber sehr höflich, wie Ihr Euch denken könnt, und auch nicht allzu langsam aufsprang, blieb sie ruhig liegen.«

»Ich muß gestehen, mir geht's da ein wenig wie den Pferden,« meinte Viktor, »Schlangen sind mir etwas, na, sagen wir, recht Ungemütliches.«

Die Tiere griffen wieder ruhiger aus. Die vermeintliche Radspur hatte sich seitwärts in einem Gestrüpp verlaufen.

Still war es, totenstill. Kein Laut in der Luft, kein Tier, das sich regte. Auch die Sterne am Himmel regten sich nicht. Auf einmal fiel Viktor Homer ein. Das war so die Landschaft, wie sie sich Homer vorgestellt haben mochte, die zur Unterwelt führte zum Nachen des Charon.

Weiter ging es, immer weiter. Als der Morgen graute, wollte Hoijer Rast machen, aber Viktor überredete ihn, noch bis gegen Mittag fortzureiten, erst, wenn die Sonne lästig wurde, zu ruhen. Hoijer war es recht. Nach einer Weile wurden die Pferde wieder unruhig. Hoijer hielt an und lauschte, Viktor ebenfalls. Erst vernahm er nichts, als er aber sein Gehör mehr anstrengte, hörte er in weiter Ferne ein Geräusch wie helles Bellen. »Da scheinen Menschen und Hunde in der Nähe zu sein«, sagte er erfreut. Aber Hoijer entgegnete: »Mir kommt es auch so vor, als sei das Hundegebell ... Dann ist eine Schafherde nicht weit von hier. Der Hirt schläft natürlich und hört nichts. Unangenehm, sehr unangenehm.«

»Weshalb?« fragte Viktor verwundert.

»Weil es in Persien außer dem Hammel nur eins gibt, was mir wirklich unangenehm ist«, erwiderte Hoijer. »Das sind die Hunde der Hirten. Wilde, tolle Bestien, die sich in einen festbeißen, sowie sie uns wittern, und da es stets viele sind, ist das eine höchst fatale Situation, wenn der brave Hirt gerade schläft oder zu faul ist, sie energisch zurückzupfeifen.« Wieder lauschte er. »Nur scheint mir, das Gebell ist zu hell, zu spitz. Am Ende ...«

»Brauchen die Hirten denn hier solche Hunde, täten es andere, zahmere nicht auch?«

»Sie brauchen sie allerdings, denn eine Schafherde ist nächst einer Stute das wertvollste Besitztum für den Perser, das man gar nicht genug vor Räubern und Kurden schützen kann.«

»Ich weiß nicht, ich höre soviel von Räubern und Kurden. Gesehen haben wir bis jetzt noch keine. Ist das nicht auch sehr übertrieben, so wie die Geschichte mit dem Löwen, die Sie neulich erzählten?«

Hoijer lachte. »Wartet es nur ab. Wenn Ihr erst mit ihnen zu tun habt, werdet Ihr etwas anders denken.«

Wieder horchten die beiden. Das Bellen klang zwar immer noch ziemlich fern, aber doch etwas deutlicher. Auch Ter hatte haltgemacht und lauschte. Dann wandte er sich zu Hoijer und flüsterte ihm etwas zu. »Wahrhaftig, der Bengel hat recht, er besitzt wirklich bessere Ohren als ich.« Hoijer seufzte. »Gräßlich, wenn man merkt, daß man alt wird. Es ist nämlich nur ein Schakal oder mehrere, die sich um etwas balgen, irgendeinen Kadaver oder dergleichen.«

Ein leichter Morgenwind erhob sich und trug einen pestilenzialischen Gestank zu ihnen. »Da haben wir's!« rief Hoijer, »ein verendetes Kamel wahrscheinlich. Kommen Sie hierher, hierher!« Er winkte Viktor, der sein Pferd ihm nachlenkte. Bald darauf roch man nichts mehr. »So, jetzt werden wir in weitem Bogen um das Aas herumreiten, denn sonst kann einem wirklich schlecht werden, zumal wenn man so wenig im Magen hat wie wir.«

Bald darauf erblickten sie zweihundert Schritte von sich entfernt den Kadaver eines Kamels, um dessen Überreste wilde Hunde, Schakale, Raben und Geier stritten. Es war ein trostloser, schrecklicher Anblick in dieser Morgenfrühe, der sich Viktor tief einprägte, weit mehr als manches andere, denn es war zu bezeichnend für die Stimmung, in der sie sich in diesem Augenblick befanden: übermüdet, halb verhungert, nach Wasser lechzend, elend.

Endlich, gegen Mittag, wurde Hoijer wieder munterer. »Seht Ihr dort drüben den Steinhügel? Das ist das Grab eines berühmten persischen Häuptlings, seinen Namen hab' ich längst vergessen, aber in der Nähe wohnen ein paar Leute, in der Nähe gibt es eine Quelle, da wollen wir rasten.«

Bald sah man vier hohe, mastartige Baumstämme in die Luft ragen, die ein Gestell trugen. »Da pflegen die Perser im Hochsommer zu übernachten,« erklärte Hoijer, »weil es auf dem Erdboden einfach nicht auszuhalten ist. Da oben hingegen ist es nachts ganz erträglich, zumal wenn der Wind drunter herstreicht.« Bald sah Viktor auch, daß zu dem Gestell, das die vier Mastbäume trugen, eine primitive, steile Leiter führte..

Endlich sattelte man ab, und wenn Hoijer Viktor nicht mit aller Gewalt wach gehalten hätte, bis sie etwas von den mitgenommenen Konserven verzehrt und getrunken hatten, wäre er sofort eingeschlafen.

Es war ein bleischwerer Schlaf, in den die beiden dann fielen, während Ter in die persische Hütte kroch und sich mit ihren Bewohnern lebhaft unterhielt. Er spürte am wenigsten von Müdigkeit, war er doch in diesem Land, unter dieser Sonne geboren.

Ter hatte seine liebe Not, als die Sonne schon stark im Westen stand, die beiden Schläfer, deren Häupter regungslos auf den harten Sätteln ruhten, als seien es die weichsten Kissen, aufzuwecken. Hoijer ermannte sich zuerst. Als er Viktor zurief: »Schnell, schnell, sonst erreichen wir Täbris heute doch nicht mehr«, da kam auch er wieder zu sich, rieb verwundert die Augen, denn er hatte gerade geträumt, wie ihm seine Mutter, als er noch ein kleiner Junge war, immer so liebreich das Kissen zurechtschob, wenn er es beiseite geworfen und hart und unbequem lag. »Ach so!« rief er laut, reckte sich, und weiter ging die Reise. »Sonderbar, wie wenig Hunger man hier hat«, meinte Viktor. »Das macht die Übermüdung und die Sonne«, erklärte Hoijer. »Es ist auch recht praktisch von der Natur eingerichtet, denn hätten wir plötzlich einen germanischen Bärenhunger, wären wir sehr blamiert.«

Endlich erreichte man einen breiten, sehr staubigen Weg. »Das ist der Stolz von Persien«, scherzte Hoijer. »Der einzige Weg im ganzen Reich. Er führt über Täbris nach Teheran. Vollkommen ist er freilich nicht, denn seht selbst, wie beschwerlich haben es nun die Gäule, und man könnte fast vor Staub auf dieser Wunderstraße umkommen, um die sich, nachdem sie einmal angelegt, natürlich kein Mensch mehr kümmert, bis der Schah einmal selbst des Wegs kommen sollte, dann wird er eilig wieder in Ordnung gebracht, und das kostet natürlich zehnmal soviel, als wenn jedes Jahr ein bißchen an ihm gearbeitet würde.« Allmählich tauchten auch von rechts und links Leute auf. Fast alle trieben mit lauten Zurufen und spitzigen Stachelstöcken Esel an, die mit Säcken und geflochtenen Körben aller Art beladen waren. Je weiter man kam, um so mehr Esel bedeckten die Straße. Auf manchen saßen auch dicht verschleierte Frauen mit ihren kleinen Kindern. Links schritt der Mann. So mochten einst Maria und Joseph auf der Flucht nach Ägypten gereist sein, dachte Viktor. Bald mußte er diese kleinen Tiere bewundern, die auf ihrem kleinen Körper soviel Lasten tragen konnten und so schnell vorwärtskamen.

Aber der Staub war fürchterlich, und die Sonne brannte gräßlich, trotzdem sie schon recht tief stand. »Erst müssen wir mal wieder Luft schöpfen«, sagte Viktor und lenkte sein Pferd seitwärts vom Wege ab. Hoijer hatte zwar Bedenken gegen längeres Rasten, denn man würde dann erst mit einbrechender Dunkelheit nach Täbris kommen, und das war keineswegs angenehm, da man nicht wissen konnte, wie es eigentlich mit dem Aufruhr in der Stadt stand, und es für Christen und Europäer überhaupt nicht gut ist, in der Dunkelheit durch die Straßen einer mohammedanischen Stadt zu wandern. Aber Viktor mußte eine Weile frische Luft schöpfen, koste es, was es wolle. Er fühlte deutlich, daß er einer Ohnmacht nahe war. Ter breitete eine Decke aus, auf der man sich niederließ. So saß man und sah müde den vorbeihastenden Menschen und Eseln nach, die es alle eilig hatten, noch bei Tag nach Täbris zu gelangen. Hoijer und Viktor bemerkten diese Eile sehr wohl, folgerten auch aus dieser Eile der Eingeborenen, daß offenbar ein triftiger Grund vorlag, zu eilen. Aber nun sie einmal saßen, brachten sie es nicht so bald über sich, wieder aufzustehen. Sie hatten einen gar zu argen Gewaltritt hinter sich, der ihnen alle Glieder bleischwer und den Willen schwach machte. Die Sonne war schon im Untergehen, still und leer wurde es auf der Straße, da brachen sie endlich wieder auf, nun nicht mehr vom Staub belästigt.

Als sie an die Tore von Täbris kamen, sollten diese gerade geschlossen werden, und eben schlüpften die drei Reisenden noch durch.

Viktor sah neugierig nach rechts und links. Eine orientalische Stadt hatte er sich doch anders vorgestellt. Bunt, bewegt, prächtig, so wie die Dichter sie darstellen. Nichts davon traf zu, wenigstens jetzt nicht, wo man nur noch die nächstliegenden Gegenstände erkannte. Hohe Lehmmauern, in denen nur ganz kleine, unscheinbare Pforten waren. Nur selten eine Ziegelsteinmauer mit einem etwas größeren, reicheren Tor. Dahinter wohnten offenbar schon sehr wohlhabende Leute. Aber trostlos und finster sah es aus, diese schmalen, holprigen, krummen Wege, rechts und links nur von hohen Mauern begrenzt, in deren Schutz erst die Häuser standen, von denen man aber nichts erkennen konnte. Plötzlich erscholl hoch oben in den Lüften ein langgezogener Singsang. Nach einigen Sekunden klang es von allen Seiten. Die Mullas sangen von den Minaretts das Abendgebet über die Stadt. In hellen und dabei doch gutturalen Tönen klangen die Stimmen. Es lag etwas Ergreifendes, aber zugleich unheimlich Fanatisches in diesen Kehlen. In diesen Tönen vibrierte Inbrunst und Haß durch alle Poren der großen Stadt, durch die man nun schon fast eine halbe Stunde lang geritten war.

»Sind wir noch nicht bald am Ziel?« fragte Viktor leise. Leise, weil ihm, er wußte selbst nicht recht, warum, dieser Gesang schwer auf dem Herzen lag und ihn bedrückte ...

»So eine mohammedanische Stadt hat eine riesige Ausdehnung,« entgegnete Hoijer ebenfalls leise, »weil jedes Haus allein für sich steht, von einer Mauer umgeben, wie eine Festung, und meist auch in einem kleineren oder größeren Garten. Noch eine halbe Stunde haben wir zu reiten, bis wir zum Bazar und damit ans Christenviertel gelangen.«

»Und wo werden wir einkehren?«

»Bei einem alten Freund von mir, dem einzigen armenischen Fürsten, der noch eine gewisse Selbständigkeit besitzt, bei Abraham Djanian, dem Fürsten von Karadagh.«

»Und werden wir dort erfahren, worauf es für mich doch am meisten ankommt ...?«

»Gewiß«, unterbrach ihn Hoijer. »Die Dame ist entweder auch dort oder in der Nähe, und jedenfalls weiß man im Hause Djanians, wo sie wohnt.«

Schweigend ritt man weiter durch die öden Gassen, über die nur ganz selten noch eine Gestalt eilfertig zu einem Tor huschte. Sie klopfte laut und hastig, daß es hallte, die Pforte öffnete sich, und wieder lag die Straße öde, menschenlos.

Man bog um eine Ecke, und Hoijer hielt sein Pferd an. »Soweit wären wir also glücklich«, sagte er leise. »Jetzt kommt das Unangenehmste, der Bazar, haben wir den noch überwunden, ohne einen Kinschal in den Rücken zu bekommen, dann können wir von Glück sagen.« Viktor sah ihn verwundert an. Hoijer mußte lächeln. »Mit der glücklichen Naivität dessen, der Land und Leute nicht kennt, als handele sich's um einen Vergnügungsausflug, seid Ihr bis jetzt durch diese Stadt geritten, und doch gibt es nichts Gefährlicheres als solch einen Ritt nach Einbruch der Dunkelheit. Aber ich habe Euch getrost in Eurer Sorglosigkeit gelassen, nun muß ich sie aber in Eurem eigenen Interesse beseitigen. Seht Ihr da vorne das dunkle Loch?« Viktor nickte. »Das ist der Eingang in den Bazar, den nach Sonnenuntergang ein Mensch, der auf sein Leben hält, nicht betritt, ohne etliche möglichst hell leuchtende Fackeln und einige gut bewaffnete Diener zur Seite und im Rücken zu haben. Mein einziger Trost ist nur, daß die persischen Spitzbuben zu viel damit zu tun haben, über den Tod Husejns und Hasans zu klagen, und daß die christlichen Spitzbuben während des Moharramfestes sich selbst nicht hierher getrauen, denn der Ritt durch den dunklen Bazar dauert etwa fünf Minuten, wenn wir uns zuhalten. In fünf Minuten, in einem finsteren, persischen Bazar, kann viel geschehen, was verteufelt unangenehm ist, denn die Spitzbuben lieben keinen Frontangriff, sondern ziehen den Rücken vor, und eh' man sich's versieht, sitzt einem so ein blankes Eisen, Kinschal genannt, zwischen den Schulterblättern, und mit dem Herausziehen ist's dann leicht zu spät.«

Hoijer spähte und horchte eifrig in den dunklen Schlund hinein, und da ihn Viktor als furchtlosen Menschen kannte, der eher mit der Gefahr spielte, als daß er sich ins Bockshorn jagen ließ, so klopfte ihm jetzt doch auch das Herz ein wenig schneller über die Vorsicht und den Ernst, mit dem Hoijer seine Erwägungen und Beobachtungen anstellte. Das wär' so was, dachte er, so kurz vor dem Ziel und doch noch gescheitert, gescheitert durch die feige Hand eines Spitzbuben.

»Es gibt zwar staatlich angestellte Wächter für die Nacht«, fuhr Hoijer leise fort, mehr zu sich selbst sprechend. »Aber sie sind so feig, daß sie sofort Reißaus nehmen, sowie sie etwas Verdächtiges hören. Seht Ihr hier so einen Kerl? Fällt ihm gar nicht ein, obwohl er gerade am Bazar stehen soll. Ich bin fest überzeugt, vor fünf Minuten standen hier ihrer mindestens noch drei. Als sie aber hörten, daß jemand sich näherte, sind sie schleunigst verduftet. »He, Ter, hast du Mut?« wandte er sich an den jungen Perser, der ängstlich lauschte. Ter zog eine verlegene Grimasse. »Dacht' ich mir's doch.« Hoijer lächelte gutmütig.

»Galoppieren wir doch einfach hindurch!« meinte Viktor.

»Es ist leider kein Manöverfeld. Wir brächen samt den Gäulen einfach den Hals. Die Straße bis jetzt war gewiß nicht verlockend, aber auf dem Weg, der durch den Bazar führt, der also der meist begangene ist, können wir froh sein, wenn unsere Gäule im Schritt dabei nicht über allerhand Löcher zu Fall kommen ... Ach was, durchs Warten wird die Geschichte nicht angenehmer. Ich bin der älteste, also am leichtesten zu entbehren, ich reite zuletzt. Das ist die unangenehmste Position. Ter mag vor Euch herreiten. Ihr bleibt in der Mitte. Nur spitzt die Ohren. Beim leisesten Geräusch die Zügel los, die Beine fest um den Bauch Eures Hengstes und die Pistole parat. Beim kleinsten Luftzug baff, drauf, in die Richtung, von der er kommt. Und noch eins: Wenn Ihr merkt, daß ich mit jemand ins Handgemenge komme, nicht zögern, sich nicht um mich kümmern, sondern langsam weiter mit ruhigen Nerven. So, und nun wollen wir sehen, ob wir trotz des endlosen Ritts noch Schneid haben. Nur ruhig Blut!«

In der von Hoijer gewünschten Reihenfolge tauchte man ins Dunkel. »Wir können ruhig reden,« sagte Hoijer, »denn hören tut man uns doch.« Aber trotzdem schwiegen sie, da jeder mit sich und seinem Pferd genug zu tun hatte, denn die Pferde stolperten alle paar Schritte, knickten leicht zusammen, wenn sie mit den Vorderhufen in ein Loch gerieten, oder hoben sich plötzlich mit dem Oberkörper, weil sie über irgendeinen Kehrichthaufen mußten, dessen Ausdehnung sie in dieser pechschwarzen Finsternis natürlich auch nicht voraus wußten, wodurch ihre Bewegungen größer ausfielen, als nötig war. Außerdem empfanden die Reiter in dieser Dunkelheit jede kleinste Erhöhung oder Vertiefung wie etwas Ungeheures. Auf einmal hielt das Chawadarpferd an, die kleine Karawane stand still. »Weiter zum Donner!« rief Hoijer. »Ter, vorwärts, oder behagt es dir hier so, daß du übernachten möchtest, du Schlingel ...?« Der Pfad war so schmal geworden, daß das Chawadarpferd, dem die beiden Koffer zur Seite hingen, nicht sofort weiter konnte. Dann ging es wieder Schritt vor Schritt. Viktor kam es vor, als ritte man mindestens schon eine halbe Stunde in dieser übelriechenden, beklemmenden Finsternis, und doch war man in Wahrheit erst eine Minute lang im Bazar. Knisterte dort nicht etwas an der Wand? Es war ein Sandkorn, das niederfiel, und doch glaubte Viktor, es sei mindestens ein dicker Stein gewesen. Was war das auf einmal für ein Geräusch? Der eine Koffer rieb sich an der Mauer, sonst nichts. »Nimmt denn das nie ein Ende?« flüsterte Viktor, und doch hallten seine Worte so laut, daß Hoijer laut erwiderte: »Noch zwei Minuten, dann haben wir's überstanden und mehr Glück als Verstand gehabt. Merkt Ihr nicht, wie die Hufe unserer Pferde lauter schallen? Wir sind auf einem andern, felsigeren Boden, daher kommt das, und deshalb sage ich, das Schlimmste ist überstanden.« Endlich spürte man einen frischen Luftzug, auch wurde es vor ihnen heller, das heißt, es wurde weniger dunkel. Man hatte den Bazar überwunden, man befand sich am ersten Haus des Christenviertels!

Die drei Pferde hielten an. Als Viktor seinem Tier über den Hals fuhr, merkte er, daß es klatschnaß war. Also auch dieses hatte eine Gefahr empfunden, auch ihm hatte der Ritt durch den finsteren Bazar mehr Anstrengung gekostet als die ganze Reise bis hierher.

Die Pferde standen immer noch stumm und erschöpft, auch die Reiter schwiegen. »Ihr seid ein Glückspilz«, meinte Hoijer. »Diese fünf Minuten gehören mit zu den leichtsinnigsten meines Lebens.«

Viktor lächelte und wollte gerade sagen, daß Hoijer offenbar doch die Gefahr überschätzt habe, da zuckten die Pferde und die Reiter plötzlich entsetzt zusammen, denn aus der Tiefe des Bazars tönte ein einziger gellender Schrei zu ihnen, so entsetzlich, daß Viktor eine Sekunde lang das Herz stillstand.

»Weiter, weiter!« befahl Hoijer, »denn helfen können wir nicht, weiter!«

Viktor wollte nicht. »Seid Ihr des Teufels?« fuhr ihn Hoijer an. »Ist Euch Eure Haut so billig, daß Ihr sie nochmals einem Straßenräuber bieten wollt?«

Viktor lauschte, aber kein Laut drang mehr aus der Nacht des Bazars. Langsam ritten sie weiter. »Hörtet Ihr die Antwort auf die Frage, die Ihr eben an mich richten wolltet, ob ich nicht doch ein Angsthase sei und ein Schneiderherz in der Brust trage?« sagte Hoijer. »Man hat sich an uns, die wir mehrere waren, nicht herangetraut. Dann kam einer, der zu sehr an das Kismet glaubte, dem vielleicht noch das Geräusch unserer Pferdehufe in den Ohren lag und der deshalb glaubte, er könne den Gang riskieren. Nun, sein letzter Schrei sagt Euch wohl, was er bedeutet.«

Wieder vergingen zehn Minuten. Viktor fiel es auf, daß die Mauern hier besser, nicht so verwahrlost aussahen, wie auf weiten Strecken in der mohammedanischen Stadt. Auch die Tore waren nicht so eng und klein, meist sogar reich mit Holzschnitzerei verziert. Freilich schien ihm trotzdem eins auszusehen wie das andere, und er begriff nicht, woran man das eine dieser hinter gleichartigen Mauern verborgenen Häuser von dem andern unterscheiden konnte.

Endlich hielt man an, und Hoijer klopfte dreimal in einem besonderen Rhythmus mit dem Klopfer an das Tor, daß es weithin hallte. Bald darauf erklang von innen eine fragende Stimme, mit der sich Hoijer kurze Zeit wie in Stichworten unterhielt. Dann wurde das Tor geöffnet und die drei Reiter samt ihren Tieren eingelassen.

»Der Fürst ist nicht zu Hause,« erklärte Hoijer, »er hat eine Unterredung mit Amenisam, dem Statthalter von Nordpersien, den man auch den persischen Bismarck nennt. Ich folgere daraus, daß man in der Tat ernstliche Unruhen fürchtet. Aber die Lage ist für die armenischen Christen im Augenblick nicht besonders schwierig, was sie offenbar dem Umstand verdanken, daß die russische Regierung gedroht hat, Kosaken zu schicken zu ihrem Schutz. Amenisam, der ein schlauer Fuchs ist, durchschaut natürlich die wahre Absicht Rußlands und wird alles tun, etwaige Unruhen im Keim zu ersticken und so den Besuch der Kosaken überflüssig zu machen. Die Russen werden sich nicht wenig ärgern, wenn Amenisam ihre Pläne und Absichten durchkreuzt. Auch erzählte mir der Pförtner, daß man den Verdacht hat, hinter den Unruhen steckten in Wahrheit der türkische Konsul und sein Anhang, der der persischen Regierung gern eine Unannehmlichkeit bereite, weil sich die türkische Regierung ärgert, daß man in Persien die Armenier in Ruhe läßt, ja sogar nichts tut, sondern ruhig zusieht, wie Tausende aus der Türkei geflüchtete Armenier bei ihren Landsleuten in den persischen Grenzbezirken Unterschlupf finden und so eine ständige Gefahr für die Türkei bilden. Die persische Regierung tut das natürlich nicht aus Vorliebe für die Christen, sondern nur um ihrerseits wieder die Türken zu ärgern.«

Viktor schüttelte den Kopf.

Hoijer lachte. »So macht man im Orient Politik. Ich sehe, es kommt Euch kurios vor; und doch, was bliebe wohl überhaupt von den politischen Motiven übrig, wenn man überall die Lust, dem andern einen Streich zu spielen, abzöge.«

Inzwischen hatten Diener die Pferde abgesattelt, und mit ihnen war Ter über den großen, dunklen Hof zu den Stallungen verschwunden. Viktor und Hoijer geleiteten zwei Diener mit Fackeln eine Stiege in die Höhe zu einem großen, nach dem Hof hin offenen Raum, wo sie nächtigen sollten und wo man ihnen eine Mahlzeit auftrug, die sie sich beide, wohlig die müden Glieder dehnend, samt dem guten, leichten Weißwein trefflich munden ließen.

»Welche Sprachen sprecht Ihr eigentlich nicht?« fragte Viktor, denn es kam ihm ganz erstaunlich vor, wie Hoijer sich mit jedem in seiner Sprache unterhalten konnte.

»Eigentlich kann ich keine Sprache außer Deutsch und Schwedisch ordentlich. Ich habe gar keine Geduld und auch kein übermäßiges Talent für derlei. Aber wenn man sich, wie ich, nun schon fast ein Menschenleben lang unter diesen Leuten herumtreibt, lernt man alles, was für den Hausgebrauch nötig ist, ein bißchen Persisch, ein wenig Türkisch, Russisch und auch Armenisch, das einzige, worum ich mich ernster bemüht habe, außer Deutsch, was ich daher auch ziemlich beherrsche.«

Nach der Mahlzeit streckte man sich auf den Kissen aus, und Hoijer schlief auch fast sofort ein, wie Viktor an den ruhigen, tiefen Atemzügen hörte. Viktor aber fand nicht so schnell Ruhe. Seine Glieder schmerzten gehörig, auch bewegte die Aufregung der letzten Stunden noch stark sein Blut. In seinem Rücken war ein Mensch getötet worden, und er hatte nicht helfen können. Ein Aufstand bereitete sich vor, und da er keine Vorstellung davon hatte, wie derlei hier zu Lande aussah, hatte seine Phantasie natürlich weiten Spielraum. Und wo war die, um deretwillen er diese ganze Reise unternommen hatte? Hoijer hatte nicht danach gefragt, und Viktor mochte ihn nicht daran erinnern. Mit geschlossenen Augen lag er, tausend wirre Gedanken und Vorstellungen wirbelten auf und ab. Unruhig warf er sich hin und her, wie im Fieber. Plötzlich war es ihm, als wäre der Schein eines Lichts ihm über die Augenlider gehuscht. Ach was, dachte er und hielt die Augen geschlossen, zu müde, seine Lage zu verändern, die Augen aufzuschlagen. Aber wieder huschte es wie ein Lichtschein über seine Lider. Wie im Halbschlaf kam ihm der Gedanke: Am Ende brennt es in der Nähe. Mochte es brennen! So lange das Feuer noch nicht seine Haut erreichte, würde er sich nicht von der Stelle bewegen. Er lauschte. Es war ihm, als hörte er leises Flüstern. Waren es vielleicht Diebe, Mörder? Gräßlich, daß man nicht einmal jetzt Ruhe haben sollte, dachte er im Halbschlaf. Plötzlich fuhr er aber doch auf. Ganz deutlich hatte er jemand in der Nähe sprechen hören. Er lag nach der Wand zu, konnte sich nicht sofort orientieren, so schwer und matt war sein Gehirn, und hielt sich eine Weile willenlos in halb aufrechter Stellung. Müde wollte er wieder umsinken, da hörte er ein leichtes Lachen und fuhr herum. Was er sah, ließ ihn allerdings sofort wieder ganz zu sich kommen.

Gerade seinem Gemach gegenüber, auf der andern Seite des Hofs, befand sich ein ähnlicher Raum, den jetzt einige Kerzen erhellten. Dienerinnen gingen ab und zu, trugen Decken und Kissen herbei. Dann erschien eine blutjunge, bildhübsche Armenierin, ein Kind im Arm, vor der sich die Dienerinnen tief verneigten. Wahrscheinlich die Fürstin, dachte Viktor. Man wußte ja drüben offenbar noch nicht, daß hier, in dem Gemach auf der andern Seite des Hofes, Gäste herbergten. Die junge Fürstin ließ sich mit dem schlafenden Kind nieder, Dienerinnen brachten einen summenden Samowar und Zigaretten. Die junge Frau trank Tee und rauchte, während die Dienerinnen geschäftig hin und her eilten, das Kind betteten und alles herrichteten für die Nacht.

Eigentlich ist es unschicklich, dachte Viktor, da die Fürstin nichts davon weiß, daß sie beobachtet wird, ihr zuzusehen. Aber sie war so anmutig in allen Bewegungen, es war ein so wunderhübsches Bild, wie ein Transparent wirkte es im starren Dunkel dieser Nacht, daß er den Blick nicht abwenden konnte. Nach einer Weile erschien eine zweite vornehme Armenierin. Daß sie keine Dienerin war, erkannte er schon daran, daß sich auch vor ihr die andern verbeugten und daß sich die Fürstin ihr mit einem lieblichen Lächeln zuwandte. Haben denn die Armenier am Ende auch Vielweiberei? dachte Viktor und folgte mit unruhigen Blicken den Bewegungen dieser Frau. Manches in ihrer Haltung kam ihm so bekannt vor. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, da es verschleiert war. Sie ließ sich neben der Fürstin nieder, und sofort reichte man ihr ebenfalls Tee und Zigaretten. In demselben Augenblick erwachte das Kind, und eine Dienerin brachte es der jungen Mutter. Es krähte und lachte vor Vergnügen und Behagen, während die Fürstin es ans Herz drückte. Die andere Armenierin beugte sich über das Kind, es zu küssen, und da sie der Schleier hinderte, schlug sie ihn zurück. Viktor sprang auf. Diese Armenierin war Manja. Fast hätte er laut ihren Namen gerufen. Aber er besann sich noch rechtzeitig, wie er bis jetzt ja nur in seinen Träumen ein Recht dazu hatte. Mit glänzenden Augen folgte er der Szene, wie die beiden Frauen mit dem Kind spielten, das immer wieder laut lachte vor Vergnügen. Nun hielt es Manja auf ihrem Schoß. Es griff sofort nach ihren Locken, spielte damit und zerrte nicht wenig daran, wie er wohl sah.

Eine Dienerin trat rasch ein und flüsterte den beiden Frauen etwas zu, die sichtlich erschraken und zu Viktor hinüberblickten, der heiß errötete und sich schleunigst niederlegte, platt auf die Erde. Er hätte sich zu sehr geschämt, wenn die Frauen den Lauscher bemerkt hätten. Aber es war ja dunkel hier, man konnte ihn nicht erkennen. Die beiden Frauen beruhigten sich, die Fürstin erteilte einen Befehl, und sofort zogen zwei Dienerinnen schwere persische Decken vor, so daß Viktor nichts mehr sehen konnte.

Eine Weile lag er stumm und regungslos auf der Erde. Jubeln hätte er mögen, laut hinausjubeln, daß er Manja gefunden, daß er sogar unter einem Dach mit ihr war. O, jetzt würde er sie nicht mehr aus den Augen verlieren, jetzt hatte er wenigstens keine Angst mehr für ihr Leben.

Er legte sich aufs neue zum Schlafen zurecht, die Augen auf die Decken gerichtet, zwischen denen sich zuweilen, bei einem leichten Lufthauch, der sie leise bewegte, ein schwacher Lichtschimmer in die Nacht stahl. Eine große Ruhe kam über Viktor, und bald schlief er ein, so fest, daß er nicht merkte, wie wieder an das Tor gepocht wurde, wie Pferde in den Hof trappelten. Auch der Fürst war von seiner langen Unterredung nach Hause zurückgekehrt.

Wie lange Viktor geschlafen, wußte er nicht. Es mußten aber viele Stunden inzwischen vergangen sein, denn als er die Augen öffnete, begann schon der Morgen zu dämmern. Er rieb sich verwundert die Stirn. Ach so, er war in Täbris, und dort drüben, unter demselben Dach mit ihm, weilte Manja. Er sah hinüber, kein Licht schimmerte mehr, die schweren Decken hingen starr und regungslos. Kein Laut, keine Bewegung war vernehmbar, Doch Viktor richtete sich höher auf, war dort drüben nicht jemand durchs Gebüsch gehuscht? Aber nein, nichts regte sich, er hatte sich offenbar getäuscht. Er blickte auf Hoijer, der immer noch schlief und von dem Augenblicke an, da er sich hingelegt, noch nicht um einen Zentimeter seine Lage verändert hatte. Beneidenswert, ein solcher Schlaf. Kein Wunder, daß er den Mann so frisch erhielt.

Auf einmal kam es Viktor wieder vor, als bewege sich etwas in den Büschen. Gespannt lauschte er. Warum regte ihn das auf? Es konnte eine Katze, es konnte irgehdein Bediensteter des Hauses sein, wenn überhaupt jemand da war und ihn seine Phantasie nicht einfach betrog. Aber er fühlte sich nun einmal beunruhigt, ohne recht zu wissen, weshalb. Jetzt knirschte der Sand. Nur einen Augenblick, aber so deutlich, daß er nicht mehr daran zweifelte, irgendein lebendiges Wesen halte sich im Hof versteckt. Ein Diener hätte doch ruhig über den Hof gehen können. Dabei war doch nichts Unerlaubtes. Ein Tier wäre inzwischen doch auch sichtbar geworden. Was dort hinter den Büschen steckte, gehörte nicht ins Haus, hatte keine guten Absichten. Wenn es doch heller gewesen wäre!

Sollte er Hoijer wecken? Er blickte auf den Schläfer. Es tat ihm zu leid, ihn um den Schlaf zu bringen. Und am Ende sah er Gespenster und hätte den Müden um nichts geweckt. Mit seinem eigenen Schlaf war es allerdings vorbei. Wach und auf der Lauer lag er, rührte sich nicht und beobachtete den Hof.

Wieder knirschte leise der Sand. Sofort wieder Totenstille. Lange Zeit. Nun glaubte er deutlich zu hören, wie jemand vorsichtig Schritt vor Schritt im Schutz des Gebüsches sich bewegte, ohne daß er erhorchen konnte, wohin sich die Schritte richteten. Viktor war schon im Begriff, Hoijer zu wecken, da fiel ihm ein, daß der Schlaftrunkene vielleicht laut werden würde, ehe er ihn verständigen konnte, daß der oder die Leute, die sich dort im Gebüsch verbargen, dadurch gewarnt würden, wenn sie wirklich etwas Arges im Schilde führten.

Viktors Herz klopfte plötzlich schneller, denn ihm war, als hätte er gehört, wie zweimal leise an das Tor geklopft wurde. Aber nichts rührte sich. Er hatte sich doch wohl getäuscht. Die reine Indianergeschichtenphantasie ist über mich gekommen, seitdem ich in diesem fremdartigen Lande bin, spottete Viktor und wollte gerade wieder sein Gesicht der Wand zukehren, als er deutlich sah, wie blitzschnell ein geduckter Mensch drüben an der Wand, wo der Raum sich anschloß, in dem Manja ruhte, vorbeihuschte. Nun war Viktor fest davon überzeugt, daß dem Haus, in dem er sich aufhielt, eine Gefahr drohe. Vielleicht handelte es sich um Einbrecher, vielleicht aber auch um den Beginn der schon längst befürchteten Unruhen, die ihn in den letzten Tagen so viel beschäftigt hatten, daß es für ihn nahe genug lag, daran zu denken. Auch über seinem Kopf schienen sich vorsichtig Menschenfüße zu bewegen. Das Dach da oben war wahrscheinlich gerade so flach wie das Dach dort drüben über Manjas Zimmer. Leise, vorsichtig schob er mit seinem Fuß langsam seine Flinte näher. Als er sie in Greifnähe wußte, lag er wieder stumm, starr wie ein Toter. Nun er selbst nicht mehr zweifelte, daß sich da unten und über ihm eine Schandtat vorbereite, wartete er kaltblütig den Augenblick ab, wo es galt, einzugreifen. Schlage ich jetzt schon Lärm, entgehen die Banditen wahrscheinlich ihrem Schicksal, sagte er sich. Erst muß sich einer zeigen, dann werde ich schießen. Sechs Schuß habe ich in meinem Gewehr. Bis die vergeben sind, ist Hoijer, der auch sechs zu versenden hat, zur Hand, und bis dahin wird auch das Haus lebendig sein.

Ernstlich beunruhigte ihn im Augenblick nur, daß die Entfernung vom Hof bis zur Höhe von Manjas Zimmer höchstens zwei Meter betrug, also sehr leicht und schnell zu erklettern war. Na, solange er noch einen Schuß hatte, kam keiner die zwei Meter in die Höhe, das war sicher. Und dann waren Hoijer und das Haus längst mobil.

Wieder pochte es an das Tor. Diesmal etwas lauter und dringender. Viktor ergriff vorsichtig seine Flinte und hielt sie bereit. Ich schieße in die Arme oder Beine, sagte er sich, damit mache ich die Kerle unschädlich, und das genügt ja. Die Schritte über seinem Kopf vermehrten sich. Kein Zweifel, es waren drei, vier Menschen, die da oben sich zu irgend einer Tat rüsteten.

Fiel da nicht ein Schuß? Nicht sehr weit von hier, und doch nicht so nahe, daß man es hätte beschwören können?

Es wurde ein klein wenig heller, und Viktor sah nun deutlich, wie einzelne Zweige in dem Gebüsch dort drüben rechts sich bewegten.

Zögere ich noch länger, wird erst das Tor geöffnet, wer weiß, was uns da alles auf den Hals kommt, dachte jetzt Viktor, richtete sein Gewehr auf das Gebüsch, gerade auf die Stelle, die sich bewegte. Ein kurzer Knall, ein Schmerzensschrei, ein wildes Geheul! Aus dem Gebüsch sprangen in wilden Sätzen drei Kerle, die wie Armenier gekleidet waren, so daß Viktor einen Moment stutzte, da er Perser erwartet hatte, deren äußeren Habitus er soweit kannte, daß er sie nicht mit Armeniern verwechseln konnte. Im selben Augenblick wurde es auch über seinem Kopf lebendig. Im selben Augenblick stand auch Herr Hoijer auf beiden Füßen, hatte die Flinte parat und rief: »Hallo, hallo!« so laut, daß es weithin schallte. Im selben Augenblick tauchten auch auf dem Dach gegenüber wilde Gestalten auf. »Hallo! Hallo!« schrie Hoijer wieder, riß die Flinte an die Backe, und schon sprang auch einer drüben auf dem Dach unter Geschrei in die Höhe, um dann umzufallen und wild seinen linken Fuß zu schlenkern, den Hoijer getroffen hatte ... Sechs, sieben armenisch gekleidete Kerle eilten durch den Hof und suchten Deckung hinter den dickeren Bäumen. Unter wildem Geschrei schwangen sie Dolche und Pistolen. Als aber dem einen der Dolch kraftlos aus der Hand fiel, weil Viktors Kugel ihn im Arm getroffen, verschwanden schleunigst alle Arme hinter den Bäumen. Plötzlich tauchte eine Hand vor Hoijer auf, die sich anklammern wollte und so an den Feind gelangen. Hoijer lachte grimmig und setzte einen Fuß darauf. Nur einen Augenblick, dann trat er zurück. Es war auch gut, denn während die Hand verschwand, zuckte ein Dolch auf, der Hoijer den Fuß übel zugerichtet hätte, wenn er noch in der Nähe gewesen. Auch drüben, gegenüber, suchte sich einer hochzuschwingen. Aber er fiel heulend zurück, da ihn Viktor ins Bein getroffen. Nun wurde es auch im Haus lebendig, der Vorhang, hinter dem die Fürstin und Manja geruht, wurde aufgerissen; und Viktor stand einen Augenblick das Herz still, denn die Gestalt, die da auftauchte, sah so wild aus, daß er auf sie anlegte und losgedrückt hätte, wäre nicht Hoijer hinzugesprungen und hätte das Gewehr beiseite geschlagen. »Um Gottes willen, das ist ja der Fürst!« rief er.

Im Hof hatte sich mittlerweile das Bild verändert. Die armenische Dienerschaft des Fürsten war mit den angeblichen Armeniern handgemein geworden. Viktor schoß nicht mehr, denn er war nicht imstande, Freund und Feind auseinander zu halten. Es war auch nicht mehr nötig, denn man sah deutlich, daß der Angriff, weil er zu früh bemerkt worden, verunglückte. Auf dem Dach zu Viktors Häupten war es still geworden, und auf dem Dach gegenüber lag nur noch der eine und schlenkerte den Fuß auf und ab, während er gräßliche Verwünschungen ausstieß. Die andern waren verschwunden.

Das Ganze hatte höchstens zehn Minuten gedauert. Nur wenige waren entkommen, sieben lagen gefesselt, verwundet im Hof. Man hörte nur ab und zu ein leises Stöhnen, sonst nichts mehr.

Doch halt, ringsum auf den Nachbardächern, aus den Nachbarhöfen knallten noch Flinten. »Auf die Dächer!« rief Hoijer und eilte mit Viktor eine Stiege höher.

Auf allen Dächern tobte der Kampf. »Da haben wir's!« rief Hoijer, »da haben wir den Aufstand. Aber mir scheint, die Mohammedaner haben uns unterschätzt. Haha, das ist ein Glück für uns!« Er wandte sich plötzlich zu Viktor und schüttelte ihm heftig die Hand. »Wie könnt' ich das nur vergessen. Ihr waret ja unser Retter. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier, erst Euer Schuß brachte mich wieder zum Leben. Herr Gott, wenn Ihr nicht gewesen, wer weiß, na ja, wahrscheinlich schliefen wir in diesem Haus jetzt endgültig und für immer.«

»Es war ein glücklicher Zufall«, erwiderte Viktor nicht ohne Verlegenheit.

»Freilich, freilich, ich sagte ja schon einmal, Ihr seid ein Glückspilz. Aber daß Ihr gerade zur rechten Zeit Alarm schlugt, nicht zu früh und auch nicht später, das war doch wohl kein Zufall? Ihr müßt schon gestatten, daß ich es eine Tat nenne, und sie rettete viele Leben. Mehr, als wir im Augenblick wissen, denn ohne Euern Flintenschuß wären wohl auch die andern Häuser ringsum erst alarmiert worden, wenn es zu spät war.«

Hoijer schlug sich an die Stirn. »Dumm, dumm bin ich! Gleich werd' ich Djanian sagen, wem wir das zu verdanken haben!« Und ehe ihn Viktor zurückhalten konnte, war Hoijer auch schon wieder die Stiege hinabgeeilt.

Viktor stand etwas ratlos da oben auf dem Dach. Aber mit allen Sinnen lauschte er, ob nicht Manjas Stimme laut würde. Und da er allein war, reckte er sich ein wenig höher. Es schadete am Ende gar nichts, wenn sie erfuhr, daß Viktor von Gandern ein ganzer Mann war, der den Verstand beisammen hatte, wenn es galt. Eine stolze Freude durchflutete ihn, daß ihm Manja sozusagen das Leben verdankte. Und eine tiefe Dankbarkeit gegen das Schicksal erwachte in ihm, das ihm vergönnt, gerade zur rechten Zeit hier zu sein.

»Wollt Ihr eigentlich dort oben auf dem Dach übernachten?« hörte er jetzt Hoijers Stimme von unten. »So kommt doch herunter aus Eurer Höhe. Der Fürst, die Fürstin und noch jemand, die Ihr kennt, wollen Euch danken.«

Langsam, ein wenig unsicher, begab sich Viktor nach unten, wo der Fürst ihm entgegeneilte, ihm die Rechte schüttelte und in gutem Französisch, aber orientalisch überschwenglich, ihm dankte. Auch die Fürstin schritt auf ihn zu und dankte ihm.

Jetzt mußte Manja kommen.

Viktor sah auf. Manja war nicht da.

»Der Schreck ist ihr etwas in die Glieder gefahren, sie erwartet Euch drinnen, ohne zu wissen, wer Ihr seid,« erklärte Hoijer, »denn ich habe ihr nicht verraten, daß Ihr sie schon kennt. Die Überraschung wird um so größer sein!« Viktor schlug das Herz gar laut, während er mit der Fürstin, dem Fürsten und Hoijer dem Haus zuging. Wie würde sie ihn empfangen?

Die Tür öffnete sich. Auf einem Kissen lag Manja und sprang auf, sowie die Tür aufging. Aber Viktor sah deutlich, wie angegriffen sie war. Einen Augenblick starrte sie ihn sprachlos an, wie entgeistert. Dann huschte ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht. »Viktor!« rief sie, und wie es kam, er wußte es nicht, er hielt sie plötzlich im Arm, sie lehnte an seiner Schulter, und er fühlte, wie ein heftiges Schluchzen sie schüttelte. Mit bebenden Händen stützte er sie und stand tief erschüttert, denn zum erstenmal sah er sie schwach.

»Sie kennen sich?« fragte der Fürst erstaunt, verwundert.

Manja löste sich aus Viktors Armen, errötete leicht, sah Viktor einen Augenblick forschend an. Ja, wie kommt er denn so auf einmal hierher? schoß es ihr durch den Kopf. Ihr Gesicht veränderte sich. Was wollte der in Persien?

»Woher kennen Sie sich?« fragte der Fürst, der immer wieder erstaunt von einem zum andern sah.

»C'est mon cousin«, erwiderte Manja.

»Das ist nicht wahr!« entfuhr es Viktor.

Eine peinliche Stille herrschte. Dann entgegnete Manja, die bleich aber stolz zur Fürstin trat: »Sie haben recht, Herr von Gandern. Entschuldigen Sie, daß ich einen Augenblick lang vergaß, daß wir nicht einmal verwandt sind, wenn man es genau betrachtet, wie Sie als Deutscher ja gewöhnt sind.« Fast feindlich blickte sie Viktor an. Und zugleich lag etwas Verächtliches in dem Ton, mit dem sie das sagte. Viktor wurde bleich vor Zorn.

Hoijer beobachtete die beiden stumm. Viktor hatte sich dem Fürsten zugewandt, Manja ergriff der Fürstin Arm und verließ mit ihr das Zimmer.

Hoijer schüttelte bedenklich den Kopf und murmelte: »O weh, o weh, da haben wir's!«

 


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