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Drittes Kapitel.

Advokat Archibald Benham von Lincoln's Inn Fields war der methodischste aller Menschen. Pünktlich Sommer und Winter, wenn die Uhr zehn schlug, stieg er die alte Eichenwendeltreppe mit ihren seltsam geschnitzten Geländern zu seinen Zimmern hinauf, setzte sich sofort an seinen Schreibtisch und sah mit sorgsamer Ueberlegung die Morgenpost durch. Am Tage nach Hubert Darrells Rückkehr nach London wich er jedoch von der alten Gewohnheit ab. Ein Telegramm lag auf seinem Schreibtisch. Er öffnete es und las:

Benham, 94, Lincoln's Inn Fields.

Frau Darrell starb heut abend. Bitte meine Anweisungen auszuführen. Ihr Sohn wird wahrscheinlich heut morgen zu Ihnen kommen.

Darrell.

Endlich! sagte der Advokat und warf sich in seinen Stuhl zurück. Arme Seele! Endlich!

Er war von angenehmer und sympathischer Erscheinung – ein Mann gegen sechzig, glattrasiert, mit dicken, runden, rosigen Wangen, braunem dichtgelocktem, hier und da etwas meliertem Haar und einem paar milder blauer Augen, die gütig durch eine goldene Brille blickten. Er war vielleicht kein Mann von außergewöhnlicher Geisteskraft, aber einer von schnellem Urteil und klarem Denken, der großen juristischen Scharfsinn in unprahlerischer Weise bei manchem verwickelten Problem anwandte. Vor allem war er diskret, vorsichtig und fleißig und ließ sich unter keinen Umständen je eine Uebereilung zuschulden kommen; und so war er in der Tat, was die Welt in Ermangelung einer besseren Bezeichnung einen sicheren und vertrauenswürdigen Anwalt nennt. Ueberdem war er ein Mann, dessen Sympathien leicht erweckbar waren, wie es offenbar auch bei dieser Gelegenheit der Fall war.

Endlich! wiederholte er. Was muß diese arme stolze Seele all diese langen Jahre gelitten haben! Und, gütiger Himmel, was für ein Weib war sie! Den letzten Abend, in den sechziger Jahren, als sie in La Favorita in Her Majesty's Theatre auftrat – den werde ich nie vergessen. Wie stolz, wie königlich sie blickte! Wenig ahnte ich in jener Nacht davon, daß gerade ich eines Tages gerufen werden würde, um ihren Sarg und ihr Leichenkleid zu bestellen. Was kann ihres Lebens Tragödie gewesen sein? Damals lag ganz London ihr zu Füßen. Jeder war von ihrer Schönheit entzückt. Sie hätte heiraten können, wen sie wollte – sie brauchte nur auszusuchen und zu wählen. Und ging nicht wirklich das Gerede, daß sie sich von einem Edelmann hätte entführen lassen? Aber ich bezweifle das. Und der Anwalt schüttelte seinen Kopf. Nach dem, was ich seither von ihr sah, kann ich das nicht glauben. Nie werde ich auch den Tag vergessen, als sie in mein Bureau trat, so stolz und königlich wie nur je, an ihrer Seite der alte Puritaner Sydney Darrell mit dem harten Gesicht und der steifen Haltung, der sie mir als Frau Darrell vorstellte und von mir verlangte, die Scheidung einzuleiten; nie, bis an mein Ende, werde ich das vergessen. Er verlangte tatsächlich von einer solchen Frau getrennt zu werden, und ich bezweifle, daß sie sich je seitdem wiedergesehen haben. Nie ist es mir gelungen, ein Wort der Erklärung von beiden zu erhalten. Das ist wirklich ein ganz seltsames Geheimnis. Und nun kommt dies Telegramm. Und er las es wieder. »Ihr Sohn«! Warum »ihr Sohn« statt »mein Sohn«? Das ist sehr sonderbar. Ich kann, ich will nichts Böses von dieser lieblichen Frau denken, und doch starrt mir die Tatsache ins Gesicht, daß nach Sydney Darrells Testament dieser junge Mensch keinen Pfennig bekommt. Armer Teufel, das ist wirklich ein böser Streich, und nun muß, um sein Leiden noch auf die Spitze zu treiben, dieser Schuft von Selhurst hingehen und ihm sein Liebchen stehlen. Ich dachte, Selhurst würde, als er erfuhr, daß der Skandal mit Hubert nur ein Versehen war, wenigstens ehrenhaft genug gewesen sein, es dem Mädchen zu sagen. Bei Gott, um ihrer beider willen wollte ich jetzt, ich hätte wenigstens ihr geschrieben!

Hier wurde sein Nachdenken unterbrochen. Ein Schreiber trat ins Zimmer und meldete:

Herr Darrell wünscht Sie zu sprechen, Sir.

Lassen Sie ihn gleich eintreten.

Benham stand auf und streckte ihm die Hände entgegen.

Gestatten Sie mir, Ihnen mein herzlichstes Beileid auszusprechen, Herr Darrell. Ich habe eben ein Telegramm von Ihrem Vater erhalten. Sie kamen noch eben zur rechten Zeit, nicht wahr?

Ja, Herr Benham; ich war bei ihr, als sie starb. Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie mir schrieben. Ich bin nur deshalb hergekommen.

Ich bin froh darüber, daß ich es tat, sehr froh. Sie teilten es natürlich Ihrem Vater mit?

Hubert wurde rot und zog ein Telegramm aus der Tasche.

Ja, ich telegraphierte ihm gestern abend und erhielt dies als Erwiderung.

Benhams Stirn verfinsterte sich, als er es las.

Hm! sagte er. Das hätte ich kaum gedacht – doch bin ich nicht überrascht.

Es ist eine rohe Botschaft, Herr Benham.

Mein Gewissen zwingt mich, dasselbe zu sagen.

Sie haben schon genaue Anweisungen von ihm erhalten?

Schon lange. Ich treffe all die Anordnungen für die Leichenfeierlichkeit, entlasse die ganze Dienerschaft mit einem Monatslohn für jeden, und nach Verlauf von vierzehn Tagen verfüge ich über das Mobiliar und vermiete das Haus. Ihrer Mutter eigene persönliche Habseligkeiten stehen zu Ihrer Verfügung. Das ist alles.

Es ist deutlich genug, das weiß Gott, Herr Benham. Ich meine, nun ist die Zeit gekommen, wo es mir gestattet sein sollte, Ihnen einige offene Fragen vorzulegen.

Bitte, Herr Darrell.

Sie werden mir offen antworten?

Ganz gewiß.

Dann lassen Sie mich, bitte, wissen, was der Grund der langen Entfremdung zwischen meinem Vater und meiner Mutter gewesen ist.

Das kann ich nicht, so gern ich möchte. Das habe ich nie herausfinden können.

Sie haben auch keine Vermutungen darüber?

Keine.

Keine Ansichten?

Keine. Ihr Vater ließ sich nie befragen, und der Stolz versiegelte die Lippen Ihrer Mutter. Wenigstens stellte ich es mir immer so vor.

Haben Sie nie etwas von einem vermißten silbernen Kästchen gehört?

Niemals. Warum?

Sie sprach am letzten Abend von einem solchen, aber ganz unzusammenhängend. Sie sagte, es enthielte etwas, das, wie ich folgerte, von Wichtigkeit für sie und mich sei – Papiere, mußte ich annehmen. Ihre Worte waren, daß ihr guter Name daran hinge.

Benham spitzte bei diesen Worten die Ohren. Er dachte an Sydney Darrells Testament.

Dies kann für Sie von der größten Wichtigkeit sein, sagte er. Haben Sie Nachforschungen angestellt?

Ja. Der alte Diener erinnert sich dessen sehr deutlich; er sagt, daß es vor einiger Zeit gestohlen wurde und daß meine Mutter sich sehr um jenen Verlust grämte. Er sagt, daß es von sehr seltsamer Form und Arbeit war und daß er es sofort wiedererkennen würde. Vielleicht könnte man ihm nachforschen.

Zweifellos kann man das. Jedem Ding kann man in London nachforschen. Und Benham schrieb sich sorgsam diesen Umstand auf. Machte sie Ihnen eine weitere Mitteilung, Herr Darrell?

Hubert zögerte einen Augenblick. Sollte er ihm von den Juwelen sagen? Es schien kein triftiger Grund dafür vorhanden. Es war sicher seiner Mutter Wunsch, daß es Geheimnis zwischen ihnen bleiben sollte – ein Geheimnis, von dem, wie er aus Klugheitsgründen fühlte, nur sein Vater, aber kein andrer, erfahren dürfte.

Nein, sagte er dann endlich, nichts, was mit diesem Gegenstand irgendwie zusammenhängen könnte, Herr Benham. Kann ich meines Vaters Telegramm sehen?

Natürlich. Hier ist es.

Als Hubert es aus des Anwalts Händen nahm und las, stieg ihm heiße Röte bis an die Haarwurzeln.

»Ihr Sohn«, wiederholte er; »ihr Sohn«! Er tut, als ob ich ein Gleichgültiger, ein bloßer Fremder für ihn wäre, und das bin ich ja auch für ihn; das ist nur zu wahr. Aber darin liegt etwas anderes, Herr Benham, das ist deutlich zu verstehen. Doch es ist eine Lüge, Herr Benham!

Ich würde mein Leben dafür verpfänden, sagte der Anwalt, sich ebenfalls ereifernd. Keine bessere Frau hat je gelebt als Ihre Mutter, und niemand soll mir je ins Gesicht Böses von ihr zu sagen wagen.

Bei Gott! sagte Hubert mit erstickter Stimme, das ist prächtig von Ihnen! Ich – ich kann Ihnen nicht ausdrücken, wie diese Worte mich trösten. Ich fühlte mich schrecklich niedergedrückt; aber nun weiß ich, daß meine arme Mutter wenigstens einen guten Freund hatte und daß – darf ich es sagen? –, daß auch ich in Ihnen einen solchen besitze.

Sie haben ihn, mein lieber junger Mann, sagte der Anwalt, erhob sich und legte seine Hand auf Huberts Schulter, Sie haben ihn; und wir werden schon trotz alledem diesem Geheimnis auf den Grund kommen. Wenn ich Ihren steifnackigen Vater nicht zum Schluß zu Kreuze kriechen lasse, dann soll man mich als Stümper von der Anwaltsliste streichen!

Es muß unbedingt irgendeinen Weg geben, um das zu bewerkstelligen, fuhr Hubert fort. Ich kann nicht viel mehr ertragen; ich bin übervoll von Betrübnis. Doch jetzt erinnere ich mich an etwas anderes, nämlich, daß ich mich wundere, weshalb Sie Ihren Brief nach Simla sandten.

Das war doch Ihre Adresse, und Sie erhielten ihn?

Aber Sie hörten doch zweifellos von dem schrecklichen Skandal wegen –

Ich achte selten auf Skandal.

Aber da es mich betraf, so dachte ich –

Ich wüßte von keinem Skandal, der Sie betreffen könnte.

Die Zeitungen hier schrieben, ich sei mit eines Obersten Frau weggelaufen.

Ach ja, so war es. Man sollte die Zeitungen dafür verklagen; ich hoffe, das werden Sie auch tun.

Was kommt dabei heraus? sagte Hubert bitter. Das Unglück ist einmal geschehen. Aber woher wußten Sie, Herr Benham, daß ich nicht der Angeschuldigte war?

Weil ich erst die Sache sich ein bißchen verlaufen ließ. Ich erfuhr die wahren Tatsachen auf dem Kriegsministerium.

Schau einer an, das nenne ich Verstand.

Unterstützt durch Vertrauen. Ich glaubte es gleich nicht.

Dann waren Sie also der einzige?

Denn, fuhr Benham fort, ich wußte, daß Sie bereits stark gebunden waren.

Ah, das wußten Sie?

Ja.

Nun, das ist ja alles vorbei. Diese Zeitungen haben mein Glück zertrümmert. Und daß nur Sie allein genügendes Vertrauen zu mir hatten und genügenden Verstand, um –

Einen Augenblick, Herr Darrell. Ich fürchte, ich habe unachtsamerweise ein großes Versehen begangen. Ich werfe mir selbst sehr ernstlich vor, daß ich mir nicht die Freiheit nahm, an Fräulein Clare zu schreiben und sie von dem, was ich erfahren hatte, zu benachrichtigen. Ich dachte jedoch, daß Sir John Selhurst Gentleman genug und ehrenhaft genug sein würde, um dem armen Mädchen die Wahrheit zu sagen.

Hubert wurde sofort blaß vor Leidenschaft. Wollen Sie mir damit etwa sagen, daß er vor der Heirat davon wußte?

Lange vorher. Ich traf ihn auf dem Kriegsministerium. Er war dort in derselben Absicht gewesen wie ich.

Dann, sagte Hubert mit Zähneknirschen, gilt es jetzt zwischen uns Kampf bis aufs Messer.

Ich sehe auch keine andre Möglichkeit, sagte der Richter trocken. Ich wünsche Ihnen das Beste, das versichere ich Ihnen, was auch immer geschehen mag. Nur, fügte er lächelnd hinzu, darf es keinen Mord geben. Daran kann ich mich nicht beteiligen. Und nun, Herr Darrell –. Und er sah auf seine uneröffneten Briefe.

Sie haben recht, Herr Benham, ich will Sie auch nicht länger aufhalten. Sie sind sehr freundlich gewesen, und –

Nichts da! Und er streckte ihm die Hand entgegen. Auf morgen, Herr Darrell?

Auf morgen, ja. Und ein paar Minuten später durchschlenderte Hubert die Straßen ohne Ziel noch Zweck, in seinem Gemüt einen tollen Wirbel von einander widersprechenden Empfindungen, die wir nicht zu analysieren brauchen. Unbewußt, fast automatisch, strebte er westwärts, bis er sich vor der Tür seines Klubs befand.

Bei Gott! sagte er, aufsehend; der Wanderer-Klub! Na, ich glaube, ich bin hier so gut aufgehoben, wie anderswo. Und er trat ein. Der Portier überreichte ihm ein Schreiben. Es war von Sir Harry Ogilvie und war vom Abend vorher datiert.

Lieber Darrell, besagte es, Jimmie Selhurst kam fünf Minuten, nachdem Du uns gestern abend verließest, und sitzt jetzt hier bei einem starken Brandy-Soda, schimpft wie ein Rohrspatz auf seinen Onkel und sagt alle möglichen, nicht wiederzugebenden Dinge von sich selbst, daß er je ein Wort gegen Dich geglaubt hat. Er nennt mich ein siebzehnhörniges Tier (was das sein mag, wird er wohl selber wissen), weil ich Dich mit der Reitpeitsche und andern dummen Dingen bedrohte, und ich vergebe es ihm, denn ich weiß, daß ich es verdiene. Hätte er noch ein Dutzend Hörner mehr zu dem Ungeheuer hinzugefügt, das ich zu sein scheine, so hätte ich's ihm auch nicht im geringsten übelgenommen. Wir reisen morgen früh um 9 Uhr nach Windwhistle Hall und haben beschlossen, einen vereinigten Angriff auf den Feind um acht Uhr oder sobald das Abendessen aufgetragen ist, zu machen, je nachdem die Gelegenheit günstig ist. Jimmie wäre es ganz recht, wenn eine wirkliche Petarde seinen Onkel vom Tische wegräumte. Er hat genug eignes Vermögen; das Gut ist Fideikommiß, und der Titel kommt ihm zu, wofern nicht –. Aber, armer Junge, ich will Deine arme gequälte Seele nicht noch mit solchen schauerlichen Unwahrscheinlichkeiten quälen. Wenn es möglich ist, will ich es so einrichten, Dir nach dem Diner ein Telegramm zu senden; darum ist es besser, Du bleibst den Abend über im Klub.

Immer Dein Harry Ogilvie.

Der Brief hatte noch eine Nachschrift von andrer Hand, und zwar lautete diese:

Kopf hoch, mein melancholischer Buff! Du hast ja noch keine grauen Haare. Wenn Du denkst, daß eine tüchtige knallende Explosion in Deinem Fall überhaupt Zweck hat, so kann es morgen nacht losgehen. Harry hat das Kommando. Wir wünschten nur, wir hätten ein bißchen mehr Dynamit. Du könntest es uns wohl nicht verschaffen?

Deiner und der ihre für alle Zeiten!
Jimmie.

Ob ich mehr Dynamit verschaffen kann? Hubert sah auf seine Uhr und füllte dann ein Telegrammformular aus.

Bald danach flog folgende Botschaft über die Telegraphendrähte:

Sir Harry Ogilvie, Baronet
Windwhistle Hall, bei Addlehead, Berks.

Betreffs Dynamit: Feind wußte alles, vor Kapitulation. War benachrichtigt vom Kriegsministerium. Dies steht sicher fest.

Buff.

Als dies fertig war, wurde er plötzlich vom Dämon der Unruhe besessen. Neun lange, ermüdende, angstvolle Stunden lagen zwischen ihm und jeder denkbaren Möglichkeit einer Nachricht über die Explosion. Wie sollte er die traurige Zwischenzeit ausfüllen? Es war zu früh zum Lunch. Er konnte nicht einmal einen anständigen Vorwand finden, um die Morgenzeitungen mit Ruhe zu lesen. Einen kurzen Augenblick dachte er daran, hinzugehen und die Unterredung mit seinem Vater zu suchen; aber er hatte seiner Mutter Juwelen zu Haus gelassen, und in seiner gegenwärtigen reizbaren Gemütsart fühlte er, daß die Besprechung jedenfalls erregt sein würde, und daß es vielleicht besser wäre, sie einen oder zwei Tage hinauszuschieben. Vielleicht würde er dann in ruhigerer Gemütsstimmung sein und seinen Vater ebenso gestimmt finden. Denn, zwar nicht so sehr aus persönlicher Kenntnis, aber vom Hörensagen wußte er, daß der alte Herr eine seltsame Mischung von Feuerfunken und Eis war und von noch andern Ingredienzien, die jede freundschaftliche Annäherung zurückstießen. Es war nicht anzunehmen, daß dieser große, muskelstarke rot und weiße Riese, der sechs Fuß zwei Zoll hoch auf bloßen Sohlen stand, als er gemessen wurde – und bei den Buffs würde das niemand bestreiten –, es war nicht anzunehmen, sagen wir, daß der sich niederwerfen und sich neigen und vor dem väterlichen Eisberg Kratzfüße machen würde, sondern vielmehr, daß er ihn mannhaft fragen würde, warum seine Mutter, die Dame, ihr ganzes Leben lang so niedrig behandelt worden und sogar auf ihrem Sterbebette verhöhnt worden war. Diese Auskunft beschloß er sich um jeden Preis zu verschaffen, aber nicht sofort, sondern erst in einem oder zwei Tagen. Da in Berkshire war ein Schurke von Baronet, namens Selhurst, der denn doch den ersten Anspruch auf seine Aufmerksamkeit hatte, und auch deswegen mußte er warten.

Er sah wieder auf seine Uhr. Sie mußte stillgestanden haben, und er hielt sie an sein Ohr. Nein. Nie zuvor waren seiner Erfahrung nach die Stunden so träge vorwärtsgeschlichen.

Nun, sagte er endlich, es ist ebensogut, wenn ich diese Juwelen an den Mann zu bringen suche. Das wird mir auf alle Fälle die Zeit vertreiben. Hatton Garden ist wohl der Markt für lose Edelsteine. Ich kann auch im Adreßbuch nachsehen und ein paar Adressen heraussuchen.

Dies beschäftigte ihn etwa zwanzig Minuten lang.

Das Halsband, sagte er endlich, wird, glaube ich, jeder große Juwelier im Westend kaufen. Und nun auf zu einem kleinen Bummel!

Wie Sir Harry Ogilvie vorausgesagt hatte, traf er im Laufe dieses Bummels mehrere Bekannte, denen offenbar »die Sonne die Augen blendete«, als sie ihn herankommen sahen. Er zuckte nur seine starken breiten Schultern, kam lachend in den Klub zurück und frühstückte.

Es gab einen vorzüglichen Beaune bei den Wanderern, und Hubert Darrell wußte das. Unter dem entflammenden Einfluß des Burgunders fühlte er sofort das Bedürfnis, an Lady Selhurst, früher Kitty Clare, einen Brief zu schreiben, und so ging er nach dem Kaffee hinauf ins Schreibzimmer, nahm die Feder in die Hand und begann mit entsetzlich finsterm Gesicht. Nachdem er nahezu ein Buch Klubpapier verdorben hatte, schimpfte er auf sich selbst in einer im Druck nicht wiederzugebenden Weise und fing wieder an. Wieder eine Pause, wieder ein Schimpfwort, und der Papierkorb begann sich zu füllen. Ein dritter, vierter, ein fünfter Versuch, und der Korb war voll. Aber zwei Stunden waren damit glücklich hingegangen.

Es wurde dunkel. Er zündete sich eine Zigarre an und ging auf die Straße hinaus, zögerte einen Augenblick und schlenderte dann dem Strand zu. Der Anblick von Charing Croß weckte seltsame Empfindungen in ihm. War es möglich, daß kaum vierundzwanzig Stunden seit seiner Ankunft in London verflossen waren? Ein paar Minuten später fand er sich – er hätte nicht erklären können, wie oder warum – auf dem Ankunftsperron.

Der Pariser Expreß lief auf die Minute pünktlich ein. Hubert sah auf seine Uhr.

Ja, sagte er, vierundzwanzig Stunden, fast auf die Sekunde genau; und doch möchte ich fast schwören, daß es wenigstens einen Monat her ist.

Mit mattem Interesse beobachtete er die Passagiere, die aus den Wagen stiegen, suchte nach Zeichen von Elend und Not in ihren Gesichtern, aber vergeblich. Er hörte nur fröhliches Grüßen und herzliches Willkommen; hier waren Frauen in den Armen der Gatten, da unter Küssen errötende junge Bräute, Mütter und Söhne, die sich zärtlich umarmten, nirgends eine mißtönige Zwietracht zu sehen oder zu hören, und Hubert entfloh, sich selbst aufs neue verflucht nennend und den Himmel um Antwort beschwörend, warum er von allen ausersehen worden wäre, solch schwere Last zu tragen.

Die Glocke auf dem Turm von Sankt Martin schlug sieben, als er die Bahnhofsvorhalle verließ. Wenigstens einige Stunden mußten noch vergehen, ehe er hoffen konnte, Sir Harrys Telegramm zu erhalten. Die Langeweile dieser langen Zwischenzeit könnte verkürzt werden, wenn er zu Abend äße, meinte er, und so lenkte er geradewegs seine Schritte in der Richtung auf das Café Royal.

Es war fast neun Uhr, als er den Klub erreichte.

War nicht ein Telegramm für ihn da?

Der Portier schüttelte den Kopf. Es war keins da.

Dann tat er so, als ob er die Abendzeitungen durchsähe, und schielte dabei etwa alle fünf Minuten nach der Uhr. Um zehn Uhr war er sicher, daß der Tag mit Enttäuschung enden würde.

Ich vermute, es ist Ogilvie nicht gelungen, es noch aufzugeben, sagte er. Dennoch wartete er noch eine Viertelstunde länger; dann ging er auf das Charing Croß-Postamt und erkundigte sich.

Der Beamte sah in einem Buche nach.

Heut abend kann kein Telegramm mehr von da kommen. Das Amt schließt um acht.

Das war entscheidend, und so nahm er sich eine Droschke und fuhr nach der Upper Wimpole Street. Da erfuhr er von Simpson, daß Benham und der Arzt eine Besprechung miteinander gehabt hatten und daß alle die traurigen Verrichtungen, die mit seiner Mutter Hinscheiden zusammenhingen, gebührend und ehrfurchtsvoll beobachtet worden wären; ferner, daß Mister Benham ihn gern um zehn Uhr morgens sprechen möchte, um den Tag des Begräbnisses festzusetzen.

Gut, sagte Hubert und ging direkt nach seinem Zimmer hinauf, setzte sich wieder vor das Feuer und grübelte nach. Die Ereignisse wickelten sich jetzt schnell genug ab, und alle Arten von Zufällen würden sich in kürzester Frist deutlich ihm gegenüberstellen.

Er mußte, das fühlte er, sich sogleich einen Handlungsplan festsetzen.

Ich kann vor zehn nicht in den Klub gehen, überlegte er, so will ich denn zuerst Benham sehen, dann in den Klub zurückgehen, und wenn es meine Stimmung, nachdem ich Ogilvies Bericht gelesen habe, zuläßt, so will ich hingehen und mit meinem ausgezeichneten Vater rechten. Ich bin groß und stark und sehe nicht recht ein, warum ich vor einem einzelnen Manne Angst haben sollte; ich tue es auf jeden Fall. Außerdem muß er mir eine oder zwei Fragen beantworten. Ich werde mich in seiner Wohnung einquartieren, bis er's tut, und ich weiß, daß ich einen gewissen Kubikinhalt an Raum gebrauche; schon meine Länge allein wird ihm wohl unbequem werden. Dann muß ich diese Juwelen losschlagen.

Er stand auf, schürte das Feuer an, ging an seinen Schreibtisch und schloß ihn auf.

Ich bin abergläubisch, scheint mir, aber ich kann es nicht ändern. Ich weiß nicht warum, murmelte er, als er den ledernen Beutel mit den Juwelen in die Hand nahm, aber mich läßt der Gedanke nicht los, daß Unglück in diesem Stück Gemsleder verborgen ist. Ich möchte wissen, wieviel Frauenseelen schon durch diese hübschen Juwelen verdorben worden sind! Haben Diamanten ein Gewissen? Was für Unglück brachten sie meiner Mutter, und was für Unglück werden sie mir bringen? Sie machen mir auf alle Fälle ein widerliches Gefühl, und je eher ich sie aus der Hand gebe, desto besser, dessen bin ich sicher. Ich werde sie morgen weggeben, aber ich vermute, sie müssen sortiert und geordnet werden. Es würde verteufelt wunderlich aussehen, wenn ich wie ein Graf von Monte Christo oder ein Aladin mit der Wunderlampe mit einem Beutel voll unsortierter und bunt durcheinanderliegender Edelsteine zu einem Händler ginge und ihm sagte: Bitte, wieviel geben Sie für diese interessante Menge mineralogischer Muster? Ich muß eine geschäftsmäßige Art annehmen, meine ich, wenn ich das auch nicht verstehe, sonst halten sie mich für Bill Sikes oder Kapitän Kidd, den Piraten. Und nun einen Blick auf die gefährlichen Schönheiten! Er breitete ein Tuch auf dem Tische aus, und darauf ließ er in leuchtendem Regen den Inhalt des Beutels strömen. Dann trennte er sie mit sorgsamer Genauigkeit in kleine Häufchen, jeden nach seiner Art, hier die Diamanten, da die Rubinen und Smaragde und Saphire, drei schöne Opale für sich in ruhmvoller glänzender Einsamkeit. Im ganzen waren neun kleine Haufen vorhanden, die Diamanten bildeten einen kleinen brennenden Berg zwischen den andern, einhundertundeinundachtzig nach genauer Zählung. Er schrieb die Zahl in sein Notizbuch und zeichnete schnell auch den Rest auf. Dann wickelte er sorgfältig jedes Häufchen in Schreibpapier und legte es in den Beutel zurück.

Diese kommen nach Hatton Garden, sagte er. Und dies – damit steckte er das Halsband in den Beutel und letzteren in seine Brusttasche – will ich zu Black & White in Picadilly bringen.

Dann zog er sich aus und ging zu Bett.


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