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Dreizehntes Kapitel.

Um sieben Uhr erwachte ich neugestärkt und in bester Stimmung. An meinen schlimmen Verdacht vom vorigen Abend dachte ich nicht mehr. Als ich die Fenster aufmachte, fand ich zu meiner Ueberraschung die Läden schon geöffnet und den Boulevard ganz belebt. Ich klingelte, bestellte mir meinen Kaffee und genoß ihn, wie ich noch nie zuvor einen Kaffee genossen hatte. Und eine halbe Stunde später erging ich mich in den herrlichen Champs Elisées, mit dem Gefühle, daß das Leben doch lebenswert, und die Welt in ihrer Schönheit über alle Kritik erhaben sei.

Ich war in die Bilder vor mir dermaßen versunken, daß ich sorglos weiterschlenderte und mich erst nach zehn Uhr daran erinnerte, daß ich einen Brief in der Tasche hatte, den ich Herrn Vignaud überbringen sollte. Nunmehr aber rief ich die erste leere Droschke an.

Kutscher! Rue St. Marc 23!

Bon, Monsieur.

Die Peitsche knallte und wir flogen die breite Straße in der Richtung nach der Börse dahin. Es zeigte sich, daß die Rue St. Marc eine sehr kurze Straße war. Die Geschäftsräume des Herrn Vignaud befanden sich auf ebener Erde und waren nicht sehr leicht aufzufinden, aber schließlich entdeckte ich an einer Türe ein kleines Messingschildchen mit der Aufschrift »M. Vignaud & Cie.« Daneben war ein Glockenzug angebracht, den ich in Bewegung setzte. Augenblicklich öffnete sich die Türe selbsttätig, und ich betrat einen sehr kleinen Vorraum. Nirgends war eine Seele sichtbar, und es währte annähernd eine Minute, bis ein Schiebfenster in der Wand aufging, an dem ein Gesicht erschien.

Ich trat sofort näher und erklärte, ich habe einen wichtigen Brief aus London bei mir, den ich, meinen Weisungen gemäß, Herrn Vignaud persönlich überbringen müsse. Das Schiebfenster schnappte wieder zu, und einen Augenblick später ging eine Türe neben mir auf, und ich hörte eine Stimme von drinnen rufen:

Wollen Sie sich hereinbemühen, Monsieur!

Ich trat ein und fand mich einem menschlichen Wesen gegenüber, wie ich wohl noch nie einem begegnet war. Es war ein grotesk zwerghafter Herr, mit einem riesigen Kopf, von dessen Vorderseite sich Büschel blonden Haares bogenförmig nach rückwärts sträubten, und einem, großen runden Gesicht, das von Pockennarben und Runzeln entstellt war. Bei meinem Eintritt blickte er von seinem Schreibtische auf, und ich begegnete einem Paar kreisrunder und leuchtend blauer Augen. Im selben Moment öffnete sich in diesem Gesichte ein wahrer Abgrund von einem Munde, und ein Lächeln von erschreckenden Dimensionen begrüßte mich.

Guten Morgen, Monsieur, Guten Morgen, Sie bringen mir einen Brief aus London?

Statt einer Antwort verbeugte ich mich und übergab ihm den Brief.

Er brach den Umschlag auf und warf einen Blick auf die Unterschrift. Dann nickte er, sah auf und lächelte abermals, wenn auch nicht so freigebig, wie zuvor.

Der Brief ist, wie ich sehe, von Herrn Goliby. Bitte, nehmen Sie Platz, Herr – äh – .

Damit blickte er wieder in den Brief und fuhr dann fort:

Herr Lart, nicht wahr, Lart? Ein guter, alter, französischer Name, Monsieur.

Ein normannischer, antwortete ich, vielleicht ein wenig hochmütig.

Ja eben, bemerkte er höflich und verbeugte sich über den Schreibtisch herüber. Dann las er den Brief aufmerksam durch, und als er damit zu Ende war, wiederholte er seine Lektüre. Nach dieser Prozedur förderte er irgendwoher eine Schnupftabaksdose zutage, schlug nachdenklich auf den Deckel, füllte sein Riechorgan mit einer reichlichen Dosis dieses eigenartigen Reizmittels und sagte zuletzt:

Eine eklige Geschichte, Herr Lart, eine sehr eklige Geschichte mit diesen geraubten Papieren! Dieser Brief enthält schweren Tadel für mich. Herrn Golibys Kritik ist sehr streng. Ich verdiene ihn wirklich nicht. Der Fehler liegt nicht auf meiner Seite; trotzdem deutet er hier an – hierbei wies er mit seinem fleischigen Zeigefinger auf den Brief –, ich würde für den Verlust haftbar gemacht werden. Das ist ein Unsinn. Ich war von der Einlösung dieser Papiere nicht ordnungsmäßig benachrichtigt worden. Herr Goliby hätte mich einige Tage zuvor davon in Kenntnis setzen sollen. Der Fehler in dieser Sache liegt ganz auf seiner Seite.

Aber, erwiderte ich, ziemlich erstaunt, hat er denn nicht geschrieben und Ihnen mitgeteilt, daß ich die Papiere Ihnen zur Einlösung überbringen sollte?

Nicht das geringste. Ich habe schon zu verschiedenen Malen mit Herrn Goliby zu tun gehabt, bedeutende Geschäfte. Er ist ein bezaubernder alter Herr, aber trotzdem habe ich gefunden, daß er im geschäftlichen Verkehr etwas nachlässig ist. Ach, hätte ich nur ahnen können!

Herr Vignaud erhob nicht nur seine Augen, sondern auch seine Arme gegen die Decke empor. Seine stumme Verzweiflung machte Eindruck auf mich.

Was wäre dann geschehen? fragte ich leise, nach einer kleinen Pause des Beileids.

Was geschehen wäre? wiederholte er. Dann wäre ich hier gewesen, statt in einer kleinen Provinzstadt auf einer Hochzeit, die mir nicht das Geringste genützt hat. Ich hätte Sie mit Ihren Papieren erwartet, wäre mit denselben zum Rathaus gefahren und hätte Ihnen das Geld eingehändigt.

Das wäre unter den obwaltenden Umständen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, bemerkte ich lächelnd.

Ach ja, richtig, meinte er. Aber ich nehme an, daß mich dann Herr Goliby noch rechtzeitig von Ihrer Reise in Kenntnis gesetzt haben würde, verstehen Sie? Und in diesem Falle hätte ich hier gesessen, hier an diesem Schreibtische, als das Telegramm ankam, in dem er mich beauftragte, die Papiere zu sperren. Ich wäre unverzüglich aufs Rathaus geeilt. Es wäre die einfachste Geschichte der Welt gewesen, aber das Unglück wollte es, daß ich zu dieser Hochzeit mußte und daß das Telegramm, das mir von der Post von hier aus nachgesandt wurde, bei den jämmerlichen Postverhältnissen in jenem Städtchen schon mit großer Verspätung mich erreichte. Ich fuhr mit dem nächsten Zuge zur Stadt zurück – ein Telegramm konnte ich nicht aufgeben, da um diese Zeit das Postamt geschlossen war –, aber ich kam zu spät. Habe ich nun nicht getan, was menschenmöglich war? Ich sehe unter diesen Umständen nicht ein, wie Herr Goliby dazu kommt, mich für den Verlust verantwortlich zu machen. Sie vielleicht?

Ich zuckte mit den Achseln. Um eine passende Antwort war ich verlegen. Es war mir irgendwie, ich weiß nicht wodurch, aufgefallen, daß Vignaud über den Verlust der 20 000 Pfund nicht das Interesse an den Tag legte, das man von ihm hätte verlangen können. Seine Erklärungen machten einen gequälten Eindruck auf mich und kamen mir unsäglich trivial vor. Nach kurzer Ueberlegung sagte ich indes:

In dieser Sache bin ich persönlich nicht in Mitleidenschaft gezogen, noch darein verwickelt, daher stehe ich mit meiner Ansicht weder auf der einen, noch auf der anderen Seite. Und dies bringt mich darauf, daß ich ja keine Kenntnis von dem Inhalt des Briefes habe. Nimmt Herr Goliby darin mehr als in allgemeiner weise Bezug auf mich?

Keineswegs.

Das wundert mich ein wenig, sagte ich, weil ich nach meinen Instruktionen Ihnen nicht bloß diesen Brief überbringen, sondern auch genaue Mitteilungen von dem Diebstahl, mit allen Einzelheiten, soweit sie bis jetzt zu unserer Kenntnis gelangt sind, machen, sowie Sie und die Polizei nach Kräften in der Verfolgung des Einbrechers unterstützen sollte.

Er überflog noch einmal oberflächlich den Brief und sagte sodann:

Es sind keine solchen Instruktionen hier erwähnt. Ich werde indes mit Interesse Ihrem Berichte folgen.

Im Gegensatz zu seinen Worten war in seiner Miene nichts von seinem Interesse zu bemerken, keine Spur von Neugier, in die Einzelheiten des Verbrechens eingeweiht zu werden, und als ich dasselbe sehr eingehend beschrieb, lauschte er ohne große Aufmerksamkeit meinem Berichte, und ich erhielt sogar den Eindruck, daß ihn die Beschreibung langweilte.

Jawohl, bemerkte er, als ich damit zu Ende war, es scheint sich um einen sehr geheimnisvollen Fall zu handeln. Er ist natürlich der Londoner Polizei übergeben worden?

Gewiß, und ich darf vielleicht hinzufügen, daß Herr Richard Le Noir, Ihr großer Detektiv, die Leitung des Falles, soweit Paris in Betracht kommt, übernommen hat.

Mit einem Male war ein merklicher Wechsel in Vignauds Benehmen wahrzunehmen.

Hat Herr Goliby Sie davon in Kenntnis gesetzt?

Nein.

Aber er weiß es?

Das kann ich Ihnen nicht sagen, es ist möglich, daß ihn mittlerweile die Behörden von Scotland Yard davon benachrichtigt haben.

Darf ich fragen, wie Sie mit diesem Umstand bekannt geworden sind?

Ich habe ihn von Herrn Le Noir selbst erfahren. –

Ein seltsamer Ausdruck, beinahe von Bestürzung, prägte sich in seiner Miene aus.

Sie kennen Herrn Le Noir persönlich? fragte er.

Jawohl. Er hat sich mir gestern auf dem Dampfer während meiner Ueberfahrt nach Boulogne vorgestellt.

Ich dachte einen Augenblick wieder an meine Befürchtungen vom gestrigen Abend; seltsamerweise kamen sie mir heute unbegründet vor, und ich war jetzt überzeugt davon, daß ich den Detektiv und niemand anderes gesprochen hatte.

So? sagte Vignaud nachdenklich. Und er hat Sie über die Sache ausgefragt?

Sehr ausführlich sogar, antwortete ich, lächelnd über meine Aufregung vom vorhergehenden Abend.

Und Sie haben ihm –

Gerade das mitgeteilt, fuhr ich fort, als er seinen Satz nicht vollendete, was ich Ihnen vorhin erzählte.

Ohne Zweifel hat er Sie auch um den Zweck Ihrer Pariser Reise befragt?

Gewiß. Ich sagte ihm, daß ich Ihnen einen Brief zu übergeben habe.

Und haben ihm wohl meine Adresse mitgeteilt?

Er kannte sie bereits. Das erklärt sich wohl so, daß Ihr Telegramm an Herrn Goliby in seinem Besitze war.

In diesem Augenblicke wurde die Klingel draußen heftig, fast gebieterisch gezogen. Herr Vignaud verbarg rasch den Brief Golibys in einer Schublade seines Schreibtisches und hatte gerade Zeit, sich zu erheben, als die Türe aufging und zwei Herren eintraten. Der eine war mir wohl bekannt. Daher musterte ich voller Interesse seinen Begleiter. Instinktiv fühlte ich, daß es ein Detektiv von Scotland Yard war. Der andere war mein einziger Bekannter in Paris, Monsieur Le Noir.


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