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Diebs-Annerl

Es war eine Straße, nicht besser und nicht schlechter, wie sie eben hier zu Lande neben den Feldern und Weingärten herlaufen, rechts und links Gräben – zur Aufnahme des Regenwassers – Bäume, je einer von zehn zu zehn Schritten, und der Abwechslung wegen, wieder hübsch regelmäßig, hie und da ein Steinhaufen – zweckdienlich mit dem Schlegel zerkleinerte, scharfkantige Stücke Kiesel, um damit die Unebenheiten des Fuhrweges auszuschottern; was offenbar nur geschieht, um die Pferde vor gedankenlosem Hintrotten auf immer gleichen Wegen zu bewahren, die Reisenden einer angenehmen Erschütterung zu unterziehen und die lästernden fluchkundigen Fuhrleute um einige Kraftworte zu bereichern. Und das geht so fort und fort in einer Eintönigkeit, die nur nach stundenlangem Wandern durch ein Dorf unterbrochen wird. Leider hat auch diese Unterbrechung für den Erfahrenen längst den Reiz der Neuheit eingebüßt, denn wenn in einem Dorfe geschmackvolle Häuser mit blauem Anstrich und grünen Fensterläden, oder umgekehrt, seinen Farbensinn erfreuen, so weiß er sofort, daß ihn im nächsten Orte dieselbe Zusammenstellung in Orange und Ziegelrot erwartet; dieser beständige Farbenwechsel von Ort zu Ort wirkt auf die Dauer sehr niederschlagend, es erwacht ein brennendes Verlangen nach anderen Farben und mit kindlich heiterem Lächeln begrüßt der Blasierte ein Haus mit rosafarbenem Anstrich und schwarzen Läden.

Wie weit kann man doch auf gerader Straße abirren! Es ist übrigens wohl auch Schuld der letzteren, welche dadurch ein übles Beispiel gibt, daß sie von dem Orte der Handlung dieser wahrhaften Geschichte seitwärts abbiegt und ihn liegen läßt, als wäre er ihrer Beachtung nicht wert, während sie durch manch geringeres Dorf in ihrer ganzen Breite durchzieht. Der Straße nach können wir also nicht ans Ziel gelangen, wir müssen einen Feldrain gehen, mitten durch wogende Kornfelder, deren Ähren sich nach unseren Händen neigen, wie Dorfkinder, die nach denen des hochwürdigen Herrn Pfarrers haschen, der sie ihnen aber lächelnd entzieht, nicht aus Demut, sondern weil ihm die Kleinen etwas gar … ungewaschen erscheinen. Dort, wo der Feldweg beginnt, steht ein Baum, und auf einem Aste desselben saß ein Rabe und betrachtete wohlgefällig einen in der Sonne glitzernden, von der Straße aufgelesenen tombacknen Pfeifenbeschlag … da schütterte ein Steinwurf an dem Aste, zu einem erschreckten Krächzen öffnete Meister Dieb seinen Schnabel und flog auf, während seine Beute in dem Straßengraben in einer Pfütze versank; ein barhäuptiger, bloßfüßiger Zunge tanzte ausgelassen in der Mitte der Straße und sah dem Vogel nach, es war ihm offenbar ein ungeheures Vergnügen, den unredlichen Finder ertappt zu haben, aber dem »zu stande gebrachten« Gegenstande forschte er gar nicht weiter nach; er sprang den Straßengraben hinunter und kletterte, sich an den Wurzelfasern des Baumes anhaltend, hinauf nach dem beträchtlich höher liegenden Fußsteige, ein Unternehmen, das nur auf Kosten der ohnehin sehr schadhaften Höschen geschehen konnte. Sonst war nichts auf seinem Leibe als ein grobes Hemd und das besagte in Auflösung begriffene Beinkleid, das mit einem Hosenträger querüber festgehalten wurde.

Der Bub' hätte in der Stadt zu den sogenannten hübschen Kindern gehört, aber das günstige Vorurteil, das sein blonder Krauskopf und seine blinkenden blauen Augen erwecken konnten, wurde durch seine, sagen wir, Nachlässigkeit in Betreff auf die Kleiderordnung und Reinlichkeit sehr herabgestimmt. Von seinem, nach einigen Abrutschungen glücklich erreichten höheren Standpunkte, die Kniee vom Anstemmen und Abrutschen lehmig gefärbt, blickte er lachend hinüber nach jenem Baume, auf den sich Meister Rabe geflüchtet hatte und jetzt verdrießlich, mit den Flügeln schüttelnd, einzelne Federn mit dem Schnabel glättete.

»Rah – raah –« schrie der Knabe.

Der Raabe klappte ein paar Mal mit dem Schnabel. Es wird wohl aus Ärger gewesen sein.

Der Kleine huschte den Feldrain dahin, bis er die Kornfelder hinter sich hatte, da lag von Zäunen umgeben, rechts und links eine große Wiese, er sah umher, dort war ein Busch, und hinter dem Busch sah er ein rotes Tüchelchen hervorblicken. Wer dort wohl im Grase saß? Wozu raten? Er schlich nahe zu: ein kleines Mädchen saß dort und spielte mit einem glänzenden Dinge, das funkelte so hübsch in der Sonne. Das Annerl war's.

»Annerl!« rief der Knabe.

Das kleine Mädel verbarg sogleich geschickt den funkelnden Gegenstand und wandte sich bald erschrocken um.

»Leopold!« rief es.

»Was hast denn da?«

»Wo?« sagte die Kleine, möglichst unbefangen, und wies die leeren Händchen, die sie gespreizt von sich abhielt.

»O, ich hab's schon gesehen, du hast's in die Tasche gesteckt. Es war ein mächtig glänzend Ding'. Geh, laß mich's sehen.«

Zögernd griff die Kleine nach der Tasche und brachte das Verlangte langsam zum Vorschein, stieß aber die Hand des danach langenden Jungen weg, und hielt es ihm mit krampfhaft geschlossenen Fingern vor das Auge. Es war ein Goldstück.

»Äh!« machte der Knabe. »Woher hast du das?«

Das Kind senkte den Kopf, so daß aus dem roten Tüchelchen, das es über das Haar gebunden und gegen die Sonne ins Gesicht gezogen hatte, nichts hervorsah, nicht einmal die Nasenspitze, und sagte scheu: »Gefunden halt.«

»So, – gefunden hast's, Annerl? Wo?«

»Beim Stiegenwirtshaus – in der Lauben.«

»Was das ist?«

»Geld ist's, so viel – so viel Geld,« sagte die Kleine und blickte herum über die ganze Gegend, bis wo weit rückwärts blaue Berge lagen und auf einem ein weißes Schloß ins Land leuchtete. Darauf blieb ihr Auge haften, und das Geldstück in der kleinen Hand nach der Richtung schwenkend, als wollte sie es auf einen unsichtbaren Zahltisch, so hoch wie die Berge, neben das Schloß legen, wie sie beim Krämer den Groschen mit der einen Hand gab und mit der andern das Brot nahm, wiederholte sie, – »viel Geld, das (sie meinte das Schloß) könnt' man wohl dafür kaufen.«

»Ah – du irrst dich sehr; das ist, wie der Lehrer sagt, ein Dukaten, das sind vier und ein halb Gulden Münz', keine fünf Gulden Neugeld – dafür kauft man kein Schloß.«

Die Kleine schien über diese fachmännische Auseinandersetzung nicht sehr erbaut. Aber es schien sie gleich ein anderer Gedanke zu beschäftigen, denn, hatte sie auch ihre überschwenglichen Hoffnungen verloren, so war sie doch über den wahren Wert jetzt aufgeklärt und setzte denselben sogleich praktisch um in erreichbare Herrlichkeit, denn nahezu fünf Gulden Neugeld – davon konnte man wohl lange und in Herrlichkeit leben, und was alles konnte man dafür haben!!

»Wenn du es aber gefunden hast, Annerl,« sagte der Knabe, »wenn du es gefunden hast, so mußt du es zurückgeben.«

»Zurückgeben?« fragte erschreckt das Kind, schloß schnell die kleine Hand und fuhr damit in die Tasche.

Die Wirklichkeit hatte die Illusion getötet und die Moral – ach – die setzte den sehnlichsten Gelüsten Schranken. Das war etwas viel Erfahrung auf einmal, armes Annerl!

»Ei freilich wohl, denn weißt, Annerl,« begann der kleine Moralprediger, »weißt« – und zitierte in singendem Tone ein Schulknabensprüchlein:

»G'schenkt, g'schenkt –, nimmer geb'n,
G'fund'n, g'fund'n – wiedergeb'n.
Mußt's wiedergeb'n, wem's gehört.« –

»Ich geb's nicht.«

»So – so,« sagte der Knabe mit feierlicher Miene, »weißt, dann betrügst, und wer betrügt, der stiehlt, und wer stiehlt, der kommt an den Galgen.«

Hier war er freilich mit seiner Schulweisheit zu Ende, aber der Ernst hatte gewirkt. Freilich, was wußte das arme Annerl, daß diese erbärmliche Schulweisheit längst in der Sonne der Humanität unseres Jahrhunderts erblaßt sei und daß überhaupt kein Dieb mehr an den Galgen kommt, nicht einmal die kleinen, viel weniger die großen, die man schon, wie das alte Sprichwort besagt, in früheren düsteren Zeiten laufen ließ – heutzutage wollen sie gar nimmer zu Fuß gehen.

Das Kind war sehr eingeschüchtert von der furchtbaren Aussicht, an den Galgen zu kommen, sie hatte von dieser staatlichen Einrichtung zwar keinen Begriff, aber doch eine heilsame Furcht als vor etwas Unbekanntem, jene allgemeine, wohlauszunützende und allzeit wohlausgenützte Eigenschaft des menschlichen Herzens.

Sehr kleinlaut fragte sie: »Zurückgeben, meinst, müßt' ich's?«

»Gewiß,« sagte der Knabe. »Weißt auch, wer's verloren hat?«

»Wohl,« sagte das kleine Annerl und wurde rot bis in die Stirne und wandte sich ab und fuhr spielend mit den kleinen Fingern durch das Gras. »Wohl, einer aus der Stadt.«

»Ah, der schöne Herr, was beim Stiegenwirt wohnt, seit gestern?«

Das Kind nickte. Wir wollen gerade nichts Übles denken, aber – aber wo das Goldstück gefunden wurde? Wir wollen doch nicht gar zu genau nachfragen.

»Wenn der schöne Herr das verloren hat,« sagte der Knabe, der sah, wie das Mädchen langsam das Gesicht verzog, was auf einen Ausbruch von Tränen hindeutete – »wenn der schöne Herr das verloren hat, so wird er dir wohl etwas geben, wenn du es wiederbringst.«

»Und an den Galgen komm' ich nit?«

»Nein, du kommst, wo die ehrlichen Leut' hinkommen, in 'n Himmel!«

Das Mädchen sprang auf vom Boden.

»Dann geb's ich's zurück.«

Die zweitverheißene Erhöhung schien eine ganz andere Wirkung auf sie zu äußern, als die erst angedrohte. Sie faßte Leopold, der auch aufgestanden war, bei der Hand und zeigte sich bereit zu gehen.

»Aber,« sagte sie, »wird er mir wirklich auch etwas geben?«

»Freilich, wohl, wohl,« sagte der Knabe.

Und die Kinder gingen längs dem Gesträuche dem Dorfe zu: an einer Stelle, wo sie vorbeikamen, stand, überwuchert von Gras und Strauchwerk ein arg verbröckeltes und verwittertes Gemäuer, das sich ansah wie ein runder Turm, dessen Bau, kaum über Manneshöhe gediehen, seiner Zeit eingestellt worden war. Niemand hätte es mehr gewußt, wäre es nicht ein traditionelles Überkommen gewesen, daß dies der Unterbau des Meisters Dreibein war, die Richtstätte des einst vor nahezu vergessenen Zeiten im Besitze einer Gerichtsbarkeit gewesenen Ortes! Nicht umsonst also war der Ort, der ein solches Zeichen vorgeschrittener Zivilisation noch aus alter Zeit aufwies, ein Ort, dem gegenüber andere gering heißen konnten, durch welche die stolze Landstraße in all ihrer Breite durchzog. Im Volksmunde hieß die Stelle immer noch »beim Galgen«.

Annerl warf einen scheuen Seitenblick nach der vielbedeutsamen Ruine und der Knabe, der sie verstand, beschleunigte seine Schritte und so gerieten sie ins Laufen, das erst nachließ, als sie die Häuser des Dorfes in Sicht hatten, von wo Leopold gelassener, in der Richtung des Stiegenwirtshauses, seine Bekehrte an der Hand leitete.

Ja, wer nur auch immer seine Gründe so bei der Hand hätte!

*

Da war das freundliche Haus mit dem rosafarbenen Anstrich und den schwarzen Fensterläden, das selbst aus der Ferne noch von diesem zurückgesetzten Orte der undankbaren Landstraße zulächelte. Über dem Tore war groß und breit zu lesen, daß es dem müden Wanderer mehr als bloß heiteren Anblick gewähre, daß es das Gasthaus zum »roten Hahn« sei.

Ein sehr freundliches Haus.

Nebenan aber führte eine ziemlich steil ansteigende Stiege durch ein schmales Gäßchen zu der auf einem Hügel gleichsam über dem Orte thronenden Kirche. Darum konnte auf dem Blechschilde des Gasthauses an der langen Eisenstange der arme »rote Hahn« entweder in stiller Ergebung sich im Winde schaukeln, oder erbost, wie eine Wetterfahne, knarrend sich um seine Achse drehen, niemand achtete auf ihn, niemand ging in den »roten Hahn«, wer einkehrte, kam ins »Stiegenwirtshaus«.

Auf dem Wege dahin waren unsere kleinen Bekannten in ein eifriges Gespräch geraten. O, daß es verschwiegen bleiben könnte, daß auch hier das so schön erlangte moralische Übergewicht zur Erlangung sehr irdischer Vorteile mißbräuchlich verwertet wurde! Aber eine wahrhafte Geschichte hat die Pflicht rücksichtslosester Offenheit und so muß denn zugestanden werden, daß der Knabe Leopold die Meinung aufwarf, daß man den Eltern nichts zu sagen und nichts von dem abzugeben brauchte, was ihnen der »schöne Herr« ganz zuverlässig schenken würde, sondern daß man sich dafür etwas kaufen könne. Annerl stieß sich nicht an dem kommunistischen Plural dieses Vorschlages und erklärte sich einverstanden, und so stiegen alle Herrlichkeiten, die der Laden des hiesigen Krämers barg, vor ihren kindlich begehrlichen Augen auf. Jedes hatte eifrig hinzuweisen auf die eine oder die andere, welche man doch ganz gewiß kaufen müsse, wobei die teil- und genießbaren sich merklich in den Vordergrund drängten. Also in den Vorahnungen erlesener Genüsse schwelgend, betraten beide Hand in Hand den Hausflur des Stiegenwirtshauses, schüchtern nahten sie sich der schönen Stube des Wirtes, dem sogenannten Präzimmer, d. i. Prachtzimmer, denn nur dort, das wußten sie, konnte ein Gast von der Art des »schönen Herrn« über Nacht untergebracht werden.

An der Tür standen sie aber sehr herabgestimmt stille.

In dem Wirtshause ging es recht laut zu, und es war doch zur Zeit nur ein einziger Gast anwesend; also vollführte der den ganzen Lärm und es brauchte wahrlich niemand erst das Ohr an die Tür zu legen, um etwa zu erlauschen, was das Gemüt des einzigen Gastes des Stiegenwirtes in so große Erregung versetzte.

Unseren kleinen Freunden wurde sehr bedenklich zu Mute.

»Den Teufel auch,« sagte eine scharfe schneidige Stimme, »den Teufel auch! Verloren? Verloren, meint Ihr, Wirt? Glaubt Ihr, daß ich ein Narr wäre, der auf sein Geld, nun gar auf rare blanke Dukaten, so wenig acht hätte, daß ich sie verstreute, wie … wie …«

Der Mann war offenbar so achtsam auf jeden ihm zukommenden Gegenstand und jedenfalls so von der Verwertbarkeit auch des Unscheinbarsten überzeugt, daß ihm durchaus kein leichtsinnig zu verstreuender beifiel und er das Gleichnis durch eine Pause ersetzte.

»Und wenn es nicht sollte verloren sein,« warf, diese Pause nützend, eine breite Stimme ein – offenbar war der Stiegenwirt der Besitzer derselben – »und wenn es nicht sollte verloren sein?«

»So ist's gestohlen – gestohlen – und obendrein in Eurem Hause! Wo man noch in solche Spelunken auf dem Lande kommt, ist man nicht besser dran, als in einer Räuberhöhle. Ihr habt es not, solche Wirtschaft bei Euch einreißen zu lassen; so oft ich noch zu Euch gekommen bin, Stiegenwirt, war ich der einzige, der bei Euch eingekehrt, nun laßt noch solch ein Wesen einreißen bei Euch, daß man die Gäste bestiehlt, dann mögt Ihr zusehen! Zahl' ich nicht, was ich zehre, – zahl' ich nicht, was ich nachtlagere, – greif' ich nicht in die Tasche und gebe der schielenden Magd … verflucht verdächtige Personage das … ein Trinkgeld?! He?! Und obendrein soll man da in Eurer elenden Kneipe bestohlen werden – um einen Dukaten gleich – als ob dies nur so wäre, als nähme man einem …«

Hier mußte der Redner wohl inne werden, daß er, wenn er überhaupt einen Vergleich aufstellte, im Begriffe war, alle gesellschaftliche Moral über den Haufen zu werfen, denn er mochte nennen, was er wollte, so gab er ja doch damit ein Maß an, innerhalb welchem man dann das Stehlen für erlaubt anzusehen berechtigt war. Der Mann hatte offenbar Unglück mit seinen Vergleichen.

Die Lücke füllte wieder der Stiegenwirt, indem er mit tiefem Gebrumme einwarf: »Was Sie da für einen Lärm machen, Herr Verwalter. Ist je so etwas in meinem Hause begegnet? Hat sich's nicht immer wieder gefunden? Das wär' doch das erste Mal.«

»Ist's nicht genug an dem? Den Teufel auch! Soll ich mir's vielleicht zur Annehmlichkeit rechnen, in Eurem Hause bestohlen zu werden? Wohl, es ist das erste Mal, aber es soll auch das letzte Mal sein, oder denkt Ihr vielleicht, Ihr seid hier der einzige Wirt im Orte, bei dem sich's übernachten ließe? – Ja, Ihr denkt so, – aber da denkt Ihr falsch, – da denkt Ihr falsch, wie …«

Wie gesagt, der Mann hatte Unglück mit seinen Vergleichen, es fiel ihm auch jetzt nicht bei, was so falsch denken könnte, wie der Stiegenwirt, wenn er meinte, er wäre der einzige im Ort, bei dem sich's übernachten ließe.

Der Stiegenwirt ließ diese Lücke unausgefüllt; vielleicht genoß er einen stillen Triumph.

»Denn« – fuhr der Gast noch grimmiger darüber fort, daß ihm eigentlich niemand widersprach, sondern nur er selbst sich immer in die Rede fiel. »Denn angenehmer, denke ich mir doch, dürfte es wohl überall sein, als in Eurer Diebsherberge da. Das sage ich Euch, wenn sich der Dukaten nicht bis morgen früh vorfindet, dann sollt Ihr etwas erleben!«

»Hm, wo sollt' er sich vorfinden?«

»Muß sich und sollte das ganze Haus gewendet werden. Habe ihn heute früh hier auf dem Tische liegen lassen!«

»Hier auf dem Tische? Herr Verwalter, bedenkt's, das wär' übel! Aber es wird Euch nicht recht erinnerlich sein, wie immer …«

»Wie immer,« brüllte der Gast, »wie immer?! Das fehlte, noch – das – meine Rechnung! Wie immer! Ich reise – sogleich! Hinaus!«

Die Tür öffnete sich und der Stiegenwirt trat ruhig heraus, seine Miene verriet nicht die geringste Erregung, er wußte, daß zuletzt diese Aufforderung erfolgen und was dann kommen würde, das wußte er auch. Der sorgliche Herr, vielleicht als der Sohn einer sehr häuslichen Mutter und eines leichtsinnigen Vaters, die Eigenschaft der größten Sparsamkeit mit der größten Nachlässigkeit in Bezug auf die Bewahrung des Geldes verbindend, wird das Vermißte wiederfinden und morgen ohne Abbitte, bloß mit der Anzeige, daß er wieder im Vorbeifahren einkehren würde, Abschied nehmen – wie immer!

Der entrüstete Gast stand am Fenster, wandte dem Abziehenden den Rücken zu und trommelte an den Scheiben. Ein feiner Zug durch die Spalten der schlechtschließenden Rahmen ließ ihn gerade auf die Vermutung kommen, daß der Wirt die Tür offen gelassen habe, vielleicht um sich böswilligerweise durch einen örtlichen Rheumatismus zu rächen, als er sich unten, ganz unten am Rockschoße gezupft fühlte; er wandte sich überrascht um und erblickte ein kleines Mädchen, das mit weinerlich verlegener Miene ihm auf dem linken kleinen Handteller den bewußten Dukaten präsentierte; hinter der Kleinen stand ein etwas größerer Junge, der sich im Haar kraute und stotterte: »Sie hat das g'funden, Herr Verwalter!«

Der Verwalter nahm hastig das Goldstück, schob es in die Westentasche und brummte dazu etwas, das ebensogut ein Dank wie ein unterdrückter Fluch sein konnte.

Die Kleine sah mit ängstlicher Miene zu dem »schönen Herrn« auf, dieser aber schien die Gegenwart der beiden Kinder nicht sonderlich zu beachten; es war freilich ein seliges Wiederfinden des schon verloren Geglaubten, aber es ärgerte ihn auch, daß der Wirt abermals recht behalten sollte, sein keineswegs anmutendes, trockenes Gesicht verzog sich in dieser Bitternis gar sonderbar, mit den langen Fingern schob er das Goldstück in der geräumigen Westentasche von einer zur anderen Seite, während er mit der andern freien Hand rückwärts um das Hinterhaupt wild wuchernde Haarstränge sammelte, welche er symmetrisch über die kahle Schädeldecke zu verteilen bemüht war. Man mußte gestehen, der »schöne Herr« war gar nicht schön; übrigens genügt zur Aufklärung, daß diese Bezeichnung auch gar nicht seiner Person an sich galt, sondern unsere beiden kleinen Landleute darunter, wie alle Dorfkinder, einen Herrn in städtischer, d. i. schöner Kleidung verstanden.

Er war damit zu Ende gekommen, sein Haar, zwar nicht wie Lorelei mit goldenem Kamme, sondern mit seinen fünf Fingern, zu strählen, als sein Blick wieder auf die Kinder fiel, die sich schon bis zur Tür zurückgezogen hatten, indes ihre munteren Augen das Spiel seiner Finger in der Westentasche verfolgten, das ihnen ein vielverheißendes zu sein schien.

Der »schöne Herr« aber warf ihnen einen sehr ungnädigen Blick zu, sonst aber nichts, seine Hand verließ leer die Westentasche und er sagte: »Was wollt ihr noch da? Macht fort!« Mit langen Schritten kam er auf die Kinder zu, das Mädchen drückte sich furchtsam zur Türspalte hinaus, und den Knaben veranlaßte ein sogenannter »Schupser«, seiner Gefährtin zu folgen.

Leopold, in dem Bewußtsein der erfüllten Pflicht der Ehrlichkeit, faßte seine kleine weinende Freundin an der Hand und die Tugend verließ leer und ungelohnt die Stube des Überflusses. Der »schöne Herr« hatte nicht einmal »ich danke« gesagt, »macht fort« hatte er gesagt.

Auf der Straße lag unmittelbar neben dem Wirtshause der Laden des Krämers; im Angesichte der im Schaufenster desselben lockend winkenden Herrlichkeit hob Annerl laut zu weinen an und in völliger Ratlosigkeit schlug sie sich beide Hände vor das Gesicht.

Das mußte aber dem Knaben so komisch vorkommen, daß er laut auflachte. Da ließ das kleine Mädchen vom Weinen ab, sie ließ die Hände sinken, betrachtete ihren Freund mit grimmigen Blicken und stieß hervor: »Nichts hat er gegeben! Nichts. Siehst.« Sie biß die Zähne übereinander, ballte die kleinen Fäuste und drosch nun unbarmherzig auf Leopold los. Da aber diese Kraftäußerung auf das Objekt derselben gar keine schmerzliche Einwirkung zustande brachte, sondern der Knabe nur scherzend jammerte und schrie und sich dabei wie ein Kreisel drehte, seiner Angreiferin immer neue Seiten bietend, so ließ auch das Mädchen lachend die Arme sinken, der Befreite rannte voran und sie, bestrebt, ihn einzuholen, hinter ihm her.

Du aber, »schöner Herr«, hast du auch bedacht, daß du hier sehr unklug gehandelt hast? Mit wenig hättest du diese Kinder glücklich gemacht, so aber hast du die Freude über die Ehrlichkeit in einem ganz jungen Herzen gerade nicht aufgemuntert, und an der Genugtuung an sich findet kaum ein hübsch erwachsener Mensch Genüge, um wieviel weniger einer, der kaum sieben Jahre zählt, wie das Annerl.

Am Ende des Dorfes werden die Gatter und Zäune häufiger, einzelne Felder schieben sich zwischen den spärlichen Häusern ein, die Orte sehen aus als veratmeteten sie leiser und leiser, hier noch ein Haus, dann später wieder eines, endlich noch eine kleine Hütte und dann nichts als die weite urbare Fläche, vielleicht noch ein Kreuz oder eine sogenannte Martersäule, von alters her auf Pest oder Kriegsnot hinweisend, die ein Geschlecht erlitten, das lange nicht mehr existiert, ein Bindeglied zwischen dem Gewesenen und dem Seienden, von da ab aber ist der Reisende allein gelassen mit der Natur und hat sich mit ihr abzufinden, – ob sie freundlich blickt oder grämlich unter Schauer und Regen.

Dort am Ende des Dorfes verließ der Kleine seine Begleiterin und hüpfte durch eine Gattertür in den Hof seiner Elternhütte, das Mädchen ging noch ein gutes Stück weiter und bei der letzten, allerletzten Hütte, trat sie auf die Staffel vor der Tür, streckte sich nach der Klinke, drückte diese auf und trat in die Küche.

Diese letzte Hütte war wohl die ärmste im Orte, sie war arg verfallen, der Regen schlug durch die Schindeln des Daches, Wind und Wetter konnten da nicht vorbei, ohne der Armut ihren Besuch abzustatten; böse Gäste, denen der Wohlhabende strenge den Eintritt wehrt.

In der Hütte lebten vor kurzem noch drei Menschen, aber man trug den einen heraus, senkte ihn in die kühle Erde, und das war der Ernährer, das war der Taglöhner Veit; so blieben nur zwei in der Hütte, die keine Freude darüber empfinden konnten, daß nun mehr Raum geworden, das waren Weib und Kind des Taglöhners. Das Kind kennen wir, es war die kleine Annerl, – die Mutter, die Taglöhnerin – soll sie beschrieben werden? Auf den Höhen des Lebens und in den Niederungen desselben verflachen die Charaktere, sie tragen nur noch die Signatur gut oder böse, aber eigengeartet sind sie nimmer, sobald ihre Stellung nur vom Überfluß oder Mangel bestimmt wird; ein eigenartiges Geschick gehört dazu, auf den Höhen oder in den Tiefen des Lebens eigenartige Charaktere zu schmieden.

Die Farbenpracht der oberen Schichten löst sich, näher betrachtet, in Reflexe auf, die der Schimmer und Flimmer ihrer Umgebung auf sie wirft, so wie das Kahle und Lichtleere der letzteren da unten die Farblosigkeit bedingt, und so selten einer in dem verstreuten Lichte zu einem markigen Kernschatten gelangen mag, so selten auch mag einer in dem Dunkel sich zu einem Feuerzeuge hintasten. Kein besonderes Schicksal war in der letzten Hütte dieses Dorfes eingekehrt und die Taglöhnerin war ein vorzeitig gealtertes, verkümmertes Weib, wie deren zu Tausenden im Lande waren. Die Sorge um das Kind ließ wenig Liebe für dasselbe übrig. Eine Begehrlichkeit nach allem, was zu sehen und zu wünschen, aber nicht zu erreichen und zu erringen war, erfüllte die Herzen der Eltern und die Äußerungen, man könnte fast sagen dieser Leidenschaft waren die ersten Eindrücke, unter denen das Kind aufwuchs. Man hat leicht Genügsamkeit und Zufriedenheit denjenigen predigen, die das Nötige haben, aber denen, welche an allem Mangel leiden, kann man nicht beibringen, sich mit nichts zufrieden zu geben, die brennende Begehrlichkeit zu unterdrücken, das Neiden fremden Gutes, das Hineinträumen in den Besitz desselben, das Hoffen auf ganz außerordentliche Glücksfälle kann man ihnen nicht wehren, und so neiden, träumen, hoffen sie, bis endlich, ob nun die Gehetzten selbst nach Ruhe verlangen oder nicht, Leidenschaft, Traum und Hoffnung es müde werden und an jener dunklen Pforte zurückbleiben, durch die der Mensch ganz für sich allein hinaustritt in ein Unbekanntes.

Die erwähnte Begehrlichkeit der Eltern war auf das Kind übergegangen, ganz klein versuchte es oft größere Gegenstände, Schleifsteine, Backtröge selbst, zum Ergötzen der Leute von den Höfen zu schleppen, dazu lachte man; als aber das Kind größer wurde, begnügte es sich mit kleineren Gegenständen, das war schon bedenklicher. Man fing an, diese kindlichen Ereignisse mit anderen Augen zu betrachten und dem Mädchen auf die Finger zu sehen, und von da an hieß dasselbe »Diebs-Annerl«. Die Leute, die etwas vermißten, nachdem das Annerl im Hofe oder im Hause gewesen, waren sicher, das Abgängige in der Hütte der Taglöhnerin zu finden.

Viele Zurechtweisungen und Schläge trug diese Leidenschaft für fremder Leute Eigentum dem Kinde ein, aber es half nichts, die verhängnisvolle Neigung blieb. Und nicht nur für das augenblicklich Wertvolle, für Geld oder Eßwaren – wobei freilich die letzteren nicht mehr rückforderbar, weil »einverleibt« waren, – sondern auch für alles, was sich überhaupt forttragen ließ, äußerte das Kind diesen Trieb. Wertvoll oder wertlos, das galt gleich, der Reiz lag darin, es heimlich fortzunehmen und sagen zu können: »Das gehört jetzt mein.«

Die Taglöhnerin, welche erst, besonders seit der Pfarrer sich ins Mittel gelegt und ihr die Zukunft des Kindes auf die Seele gebunden hatte, durch Strenge und Vermahnung das Ihrige versuchte, war es nun müde geworden und sah stumpf und gleichgültig dem Treiben des Kindes zu.

»Veitin, gestern ist uns ein Tauftaler weggekommen, wird 'n wohl dein Annerl haben.«

»Werd' nachschau'n. – Annerl, wo ist der Tauftaler hin, den d' gestern beim Lehnerferdl mitgenommen?«

Das Mädel weinte, aber bekannte nichts.

Die Mutter durchsuchte alle Verstecke, brachte endlich das Vermißte aus irgend einem Winkel hervor, gab dem Kinde einen Puff, weil es sie erst hatte so lange suchen lassen, und stellte den Gegenstand seiner Eigentümerin zurück.

»Könntet wohl besser achthaben, wenn der Bankert bei Euch ist,« sagte sie. »Besser noch, Ihr jagt ihn gleich aus.«

Gerade diese Gleichgültigkeit der Mutter machte noch hin und wieder der kleinen Annerl – »was ja ein gar verlassener Wurm war« – einige Freunde, »denn,« sagten die, »was soll auch werden, wenn die eigene Mutter fünfe gerade sein läßt.«

Die meisten aber ließen sich das vom Ausjagen gesagt sein, und hatten nicht Lust, immer ihrem Eigentume nachzulaufen, fanden auch begreiflich, daß die Mutter müde war, das Kind zu schlagen, da sie es ja nicht – wie sie christlich beisetzten – erschlagen dürfe, was wohl das einzige, freilich etwas sehr gründliche Mittel wäre.

Und unter solchen Umständen, mit solchen Neigungen wuchs das Annerl heran und hieß das »Diebs-Annerl«, hätte auch sein Lebtag so geheißen, wäre es später nicht so gekommen, wie eben hier erzählt werden soll.

*

Jahre waren vergangen und die Kinder waren zu großen jungen Leuten herangewachsen. In der letzten Hütte war wieder eines weniger geworden, die alte Taglöhnerin war gestorben und das Diebs-Annerl war in Besitz dieser ärmlichen Räume getreten.

Ihre Mutter hatte ihr noch in letzter Zeit durch vieles Bitten und Betteln hie und da Arbeit verschafft in den Häusern, wo sie einst das Nötige besorgte. Der Leopold war ein großer Bursche geworden, er hatte sich von da ab hübsch von Annerl ferngehalten; es war für einen Burschen nicht besonders ehrbar, mit der Diebs-Annerl zu verkehren, da gab es doch noch andere Dirnen, und gar als Geliebter zu ihr etwa ausgeschrieen zu werden, das wär' doch das Letzte gewesen!

Man hatte nur Augen auf das Mädel aus ganz andern Gründen, denn aus Liebe; wo man sie im Taglohne arbeiten ließ, sah man ihr auf die Finger, und das war recht schade, denn sie war sonst schon auch des Ansehens wert, so hübsch war sie geworden.

Der Leopold, der gar nicht unempfänglich für weibliche Reize war, fing nachgerade an, die Frage aufzuwerfen: ob es denn klug sei, das Mädel so ganz beiseite zu schieben, – so ernst man auch tue, müsse ja doch zum Schlusse nicht Ernst gemacht sein.

Man munkelte eine Weile, daß der Leopold die Hütte der jungen Taglöhnerin nächtlicherweise besuche, aber man konnte nichts Gewisses darüber in Erfahrung bringen, und ehe man Zeit hatte schärfer zuzusehen, kam die Rekrutierung und der Leopold zum Militär.

Die Rekruten zogen die Straße nach der Stadt zu, auf der Landstraße; da mußten sie nicht an der kleinen letzten Hütte des Dorfes vorbei, konnten also dort nicht sehen, wie alles verhangen war, konnten also auch nicht hören, wie eines drinnen weinte und schluchzte. Das war wohl einem der Rekruten ganz recht. Auf dem Wege nach der Stadt lachten und scherzten die Burschen und da kam's denn auch, daß man den Leopold aufzog mit der Diebs-Annerl. Der aber sagte nicht ja und nicht nein, sondern lachte stille vor sich hin.

Die Leute aber, die im Orte blieben, die sollten nicht lange herumfragen müssen, denn als eine Zeit um war, da war in der Hütte wieder eines mehr geworden. Von da an aber wandte sich alles im Dorfe ab und wollte von Annerl nichts mehr wissen; es war doch gar zu frech, sich mit dem braven, hübschen Burschen einzulassen, natürlich doch nur darum, um ihn recht fest zu halten. Die andern Dirnen betrachteten auch das als eine Art, nur noch schändlicheren Diebstahls; keines dachte daran, daß wohl auch die Schuld mit an dem Burschen liegen konnte, der gegen Annerl denjenigen spielte, der allen und allem zu Trotz ihr einziger Freund sei!

Einige sehr widerwillig geleistete und hochfahrend aufgezählte Dienste genoß sie noch von der Familie Leopolds, damit sollte alles ausgeglichen sein.

Nun war das Mädchen mit dem Kinde allein, ganz allein, niemand wollte sich seiner mehr annehmen, und so saß sie denn bettelnd, das Kind am Arme, an der Straße, oder grub Kartoffeln auf ihrem kleinen Acker hinter der Hütte. Da lag denn vor ihr auf dem groben Tuche das Kind, und das wuchs und gedieh trotz Elend und Not, das lachte und strampelte und war heiter wie der Himmel über ihnen. Die Leute liefen ihrer Wege vorab und vorbei, – Annerl wußte sich nicht mehr aus in der Welt, sie hatte nie gefragt, warum es so war und nicht anders, sie fragte auch jetzt nicht, über was das Kind, ihr eigenes Kind, heiter sein mochte. Was es lachen konnte! Höhnte es sie? –

Und eines Tages, da mußte das Kind zu einer armen Häuslerin auf Gemeindekosten in Pflege gegeben werden, und ein Gendarm führte die Mutter aus dem Orte. Sie hatte nie abgelassen von ihrer Leidenschaft für fremdes Gut, aber man hütete sich. Diesmal aber traf es einen, der immer damit groß tat, daß ihm keiner etwas zu enttragen vermöge, so habe er acht, und als es denn doch geschah, machte er aus Verdruß darüber der Behörde die Anzeige und diese waltete ihres Amtes.

Gleichwohl hätte er gerne danach seine Anzeige zurückgenommen, denn nicht nur das Herz, auch der Gemeindesäckel, durch das Kostgeld für das Kind belastet, sprach gegen ihn, aber geschehen war geschehen.

Und Kriegszeit war gewesen, die Leute wußten im Orte nicht viel, aber sie redeten hin und her von den Schlachten, und wie der Feind bald zu erwarten sei; der Feind aber kam nicht, sondern der Friede, und dann kam eine Seuche und Mißwachs, und die Eltern Leopolds verstarben, nachdem sie verarmt waren und ein wenig für den Erben übrig gelassen hatten; bei dem aber war es fraglich, ob er wohl auf das Wenige Anspruch mache, denn er gehörte zu denen, welche in den Verlustlisten als »Vermißte« bezeichnet werden.

Wieder ging eine kleine Zeit ins Land. – Es war ein schöner, heller Tag, auf der Straße knarrte ein Fahrzeug daher, da saßen hinter dem Kutscher ein paar Männer, gar nicht vertrauenerweckenden Aussehens, hinter ihnen saß ein Mädchen und neben dem ein Gendarm, der hatte das Gewehr zwischen den Knieen lehnen und das Bajonett funkelte im Sonnenschein und die Leute auf der Straße lachten:

»Ah, der Schub – der Schub!«

Die zwei Kerle auf dem Karren machten sich den Spaß und grüßten die Leute und nickten ihnen herablassend zu und sagten, sie gehörten zur Begleitung der stummen Prinzessin von Poitzendorf; so hieß der Ort, in welchem unsere Geschichte spielt, und die stumme Prinzessin war Annerl, die nach ausgestandener Haft ihrer Heimat »zugeschoben« wurde, wie es in der Amtssprache heißt. Zur »stummen Prinzessin« war sie geworden, weil sie auf alle Roheiten und Späße ihrer Gefährten keine Antwort gab, sondern still und ohne auch nur auf das Geschwätz zu hören, vor sich hinstarrte.

An der Wegbeuge hielt der Wagen; der Gendarm half der Dirne herabsteigen und ließ sie ziehen, da er voraussetzen konnte, sie gehe geradewegs, wie ihr aufgetragen war, auf das Bürgermeisteramt.

Und so schlug sie denn jenen Weg ein, wo zwischen den Feldern die Ähren sich nach unsern Händen neigen, als wollten sie dieselben küssen, scheu zog sie die ihren an sich und gesenkten Hauptes betrat sie das Dorf; weder bittend noch herausfordernd hob sie den Kopf, wenn sie hören mußte: »Je, die ist wieder da,« oder »Die Diebs-Annerl kommt, riegelt die Türe zu,« oder »Wie lebt sich's denn in der Stadt?«

Mit gelassenen Schritten ging sie nach dem Bürgermeisteramte, gelassen hörte sie dort die Vermahnung ab, daß sie nun in sich gehen und sich bessern, dem Orte fürder keine Schande mehr machen sollte!

Der gestrenge Mann, der Bürgermeister, vergaß, daß er eines hätte vorab sagen sollen.

So fragte sie denn, statt aller Antwort, nach dem Kinde.

Das – wurde ihr bedeutet – lebe bei der Grundlhofliese, die es pflege, es gedeihe auch recht gut, und da der Vater desselben, wie man nicht umhin könne, ihr hier gelegentlich zu bemerken, wohl tot sei, so möge sie nunmehr demselben eine um so bessere Mutter sein, auf sein irdisch' und ewig' Heil gehörig Bedacht nehmen, da sie dereinstens für diese Seele vor dem Throne des Höchsten strenge Rechenschaft werde ablegen müssen, – und dergleichen mehr, wie man von Amts wegen den armen Leuten in das Herz redet, oder vielmehr, – wenn die eben nicht weich gestimmt sind, da nichts zu ihren Herzen spricht, – zu einem Ohre hinein und zu dem anderen hinaus.

Der Bürgermeister hätte ja, ernstlich um das Heil des Kindes besorgt, der Diebin die Herausgabe desselben verweigern können, aber wenn er es zurückgab, so erlosch vom heutigen Tage das Verköstigungsgeld der Gemeinde und so gab er es zurück, natürlich nicht ohne die oben angedeutete schöne Vermahnung; der würdige Gemeindevorstand war sehr erbaut über den Erfolg seiner Zusprache, denn Annerl weinte heftig dabei.

Wenn er doch bedacht hätte, daß wenig Veranlassung war, über eine derartige Vermahnung zu weinen und daß das junge Geschöpf Tränen vergoß, gemischt aus Freude und aus Bitternis, – nun war sie wieder da, nun sollte sie ihr Kind wieder haben, was soll aber nun aus ihnen beiden werden? … doch das Amt hatte seine Genugtuung und der Bürgermeister war so erbaut von der so kunstreich zuwege gebrachten Zerknirschung, daß er dieselbe mit der freundlichen Meinung vergalt, die er überall herumsagte, Annerl möge wohl noch nicht ganz verloren sein und man dürfe hoffen, diese arme Seele noch zu retten.

Unterdessen eilte die Mutter nach dem Kostorte ihres Kindes und mit demselben, das ihr von seiten der Pflegemutter nur mit widerwilligem Bedenken ausgefolgt wurde, fort, fort in raschen Schritten nach ihrer Hütte.

Wie pochte ihr das Herz, als sie derselben ansichtig wurde! Sie war nicht besser geworden die Zeit über, wo sie verschlossen und verlassen unter Gemeindeobhut stand, aber es war denn doch ein eigenes Heim für sie, für das Kind. Der Gemeindediener, der sie vom Bürgermeisteramte bis hierher begleitet hatte, war ihr behilflich, die Bretterverschalung vor Türe und Fenstern, womit man die Hütte verwahrt hatte, zu entfernen; auf der Bank vor der Haustüre saß unterdessen das Kind und wußte sich nicht aus, es zappelte mit den Füßchen und begehrte in lallenden Tönen nach der Mutter, – aber es meinte nicht sie, nicht Annerl damit.

Das Kind war ihr fremd geworden, Annerl faßte es, trug es in die Hütte, setzte es auf den Boden nieder, – sah um sich, sie war allein, allein mit dem Kinde, das immer noch ein anderes bei dem Namen rief, der eigentlich ihr gehörte. Da warf sie sich neben dem Kinde auf den Boden nieder und weinte, und das Kleine, wie eben Kinder sind, weinte mit, bis die Mutter den Kopf hob und sich und dem Kinde mit den Haarflechten, die ihr über das Gesicht gesunken waren, die Tränen trocknete. Das Kind greinte darüber, sie aber lachte es aus und da verzog es auch das Gesichtchen zu einem Lächeln.

Und da saß sie dann mit dem Kinde und, wie es kam, weinten und lachten sie zusammen, sie erzählte dem Kinde viel, viel, eine Menge geheimer Empfindungen, eine Menge bedeutsamer Erfahrungen aus ihrem Leben, denn sie war es ja dem Kinde schuldig, zu sagen, wie so alles gekommen, damit dasselbe nicht so übel von ihr dächte wie die Leute, und da der Vater tot war, so sprach sie nur wenig von ihm und klagte nicht über ihn. Das Kind bezeigte Aufmerksamkeit und Verständnis, es machte große Augen und lallte gelegentlich dazwischen, und als sie mit der Vergangenheit abgeschlossen hatten, faßten sie zusammen gute Vorsätze, wie sie es von nun ab zu halten gedächten; da aber wenig Hoffnung war, daß die Leute ihnen vertrauen und sie dabei unterstützen würden, so schalten sie auf alle Welt, und Annerl meinte, es helfe ja doch alles nichts und sie wüßte eigentlich nicht, wozu sie beide auf der Welt wären!

Das war denn doch gar zu betrübend, das Kind, das bisher aufgesessen hatte, fiel jetzt nach hinten hinüber, neigte sehr tiefsinnig das Köpfchen und begann einzuschlafen. Der Mond schien in die Stube, Annerl verhängte das Fenster, kleidete sich aus und nahm das Kleine zu sich in das Bett, sprach den Abendsegen und machte dann über sich und das Kind das Zeichen des Kreuzes – und bald war es in der Hütte so ruhig und stille wie außen, wo die laue Mondnacht über der Gegend lag und mit ihrem silbernen Dämmer alles gleichermaßen verklärte, die Turmspitze der Kirche, das Schieferdach des reichen Gehöftes, wie die Schindeln der letzten armen Hütte, in welcher die Diebin mit ihrem Kinde schlief.

Es war Morgen geworden. Anne stand mit ihrem Kinde an der Schwelle der Hütte und sah die Sonne langsam emporkommen. Und langsam mit der Sonne rückte dort ferne an der Straße, die von rückwärts in das Dorf führte, ein schwarzer, wandelnder Punkt einher, ein Wanderer; lang vor ihm wandelte sein Schatten und als zöge ihn der lange schwarze Streif, wie ein breites Band, hinter sich her, folgte der Inhaber seinem dunklen verzerrten Konterfei – und immer näher kam der Schatten und der Mann dahinter; jetzt sah man schon die Knöpfe des Uniformrockes blitzen, also ein Soldat! Ja, ein gewesener, denn er marschierte nimmer auf zwei eigenen Füßen munter zu, er hatte einen Stelzfuß, den er vor den andern setzte, und so langsam seinen Weg durchmaß.

Als er der Hütte näher kam, da blickte er auf, er schien etwas überrascht, dort eine Gestalt zu sehen, stutzte, und stelzte sodann auf die andere Seite der Straße hinüber und gesenkten Hauptes gegen das Dorf zu.

Das arme Geschöpf an der Schwelle hatte zweifelnd schon lange den Ankömmling ins Auge gefaßt, sie hatte gewartet, bis er aufblicken würde, und als er nahe war und er tat es … er war's, bei Gott, kein anderer! … Da ging er schweigend nach der anderen Seite der Straße.

»Leopold!« schrie sie auf.

Aber der Krüppel machte ein paar rasche unbeholfene Schritte vorwärts, weg von ihr.

So war's!!

Ihre Arme versagten den Dienst; erstarrt setzte sie das Kind neben sich auf den Boden und sah dem Davonstelzenden nach, bis er nur als ein kleiner Punkt den Weg entlang hüpfte. Und als dort, wo die Häuser des Dorfes anfangen sich näher aneinander zu drängen, der Punkt verschwamm und verschwand, da war ihr das Auge naß geworden, wohl von dem scharfen Hinsehen nach einer Richtung und auf einen Gegenstand, ihr Herz war gepreßt bis zum Brechen, – o bräche es!

Es ist so, traurig, daß es so ist, aber wahr und wirklich, und Wahrheit hat ihr Recht, erzählt zu werden. Hübsch steht es wohl in anderen Büchern zu lesen, wie sich Vater, Mutter und Kind wiederfinden, oder recht grausig ist es ausgemalt, das Herz des sich abwendenden Verstockten, und das ist so hergebracht, als könne es gar nicht mehr anders sein, und so entsteht Brauch und Herkommen, wie in den Büchern die Figuren sich zu gehaben, zu suchen, zu finden, zu streiten und zu versöhnen haben, und neben der wirklichen Welt die Welt der Bücher; wenig Leser aber gibt es, die solchenfalls das Buch zuklappen und sagen: »Schön Dank, Herr Autor, für Ihre Welt!« Für gewöhnlich hat die Feder den schwereren Stand, die es gerne versuchen möchte, das Wirkliche zu vertreten gegen das Eingewöhnte; wie man aber auch davon denken möge, werfe nur ja keiner einen Stein gegen den wirklichen Menschen, denn der »wirkliche Mensch« steckt in unser jedem. Man muß den Schlüssel suchen zu dem menschlichen Herzen, und was für dunstige Räume ohne Luft und Licht, für Grüfte halbfauler Erinnerungen, für Ställe angeketteter toller Leidenschaften wir dabei auch erschließen mögen, wir lernen doch verstehen, und Verständnis ist die beste Münze, die wir eintauschen können; sie ist nicht gang und gäbe wie andere auf Zeit und Weile, sie kursiert ewig.

Da stelzt er dahin, der hartherzige Krüppel, er hat keinen Blick, keinen Gruß, für jene beiden Wesen, deren eines er unglücklich gemacht, während er das andere in das Dasein gesetzt, dessen Wert doch immerhin ein fraglicher. Bedenken wir es ein wenig, ehe wir ihn schelten, – wenn wir ihn auch nicht verteidigen können, vielleicht verstehen wir ihn. Er hat sein Teil Erfahrung weg, vor ihm liegt keine sonderlich heitere Zukunft, ein Krüppel, was macht der in einem Bauernanwesen? – Der Stock in seiner Hand, wie leicht verkehrt sich der in einen Bettelstab, – er mag's nicht denken! Langsam geht er vorwärts, all sein Denken richtet sich jetzt darauf, wie geht es deinen Eltern, was werden sie sagen, wird sie der wiedergefundene Sohn erfreuen, oder der Krüppel die ganze Freude zu nichte machen? Und als er die Augen aufschlägt und sieht da ein Geschöpf mit dem Kinde auf dem Arme … da schlägt er schnell die Blicke nieder und stelzt davon, als wäre ungesehen, auch ungeschehen, als könnte er an seiner Jugendtorheit mit vorübergehen, – ein Zug, der an gemeinen Leuten häufiger ist, wie an gebildeten – die Röte brennt ihm bis über die Stirne herauf, die Röte jenes widersinnigen Unmutes gegen Personen, die von uns ein Unrecht litten, die Röte der Scham über die eigene Schwäche.

Das hätte doch unterlassen bleiben können! Die Dirn' macht ihm keine Ehr', die abgestrafte Diebin! Und das Kind? Er denkt, das hätte auch nicht werden müssen. Andere hatten es besser getroffen, hatten eitel Freude, und er … ihm schlägt alles verkehrt aus. Wär' er ihr kein bißchen verpflichtet, mehr nicht als Schäkerns halber, hätte sie nur nicht den kleinen Balg auf dem Arme, der mit den großen Augensternen so sonderbar nach ihm sah, einen Augenblick nur, aber so scharf, schärfer als ein Erwachsenes einen ansehen mag, er hätte sie wohl scherzend gegrüßt. Es geht uns jetzt beiden elend, – Diebin und Krüppel! Hm, stehlen oder betteln, es ist beinahe Geschmackssache! – Aber das Kind, das war so ernst … nein, nein, was denn eigentlich bekümmert's ihn? So viel Schuld an ihm, so viel an ihr, er ist als Bettler noch immer etwas Besseres, denn er kommt ja in Ehren zurück, und sie lebt in Schande. Das Dorf soll sagen: »Der Eder-Leopold ist wieder da«, die Eltern: »Unser Poldl ist wieder zurück«, aber niemand: »Der Diebs-Annerl ihr Schatz ist wieder heimgekommen.«

Also vorwärts, – da war das Gatter vorm Elternhause, er drückt die Klinke, die Türe geht auf, ein heiseres Gebell empfängt ihn im Hofraume, das ist ja der »Sultl«, der alte Hund, der schleppt sich daher, fast gleich mühselig wie der Stelzfuß hineinhinkte, aber freundlich will er nimmer sein, der Hund, er knurrt, der Krüppel redet zu ihm, indem er sich müde auf die Bank neben dem Brunnen niederläßt. »Na, Sultl, du altes, dummes Vieh, kennst mich denn nimmet? Na, du siehst auch hübsch aus!«

Der Hund scheint sich zu besinnen, er beschnuppert den fremden Mann, – was das sonderbare ist, der hat ein Bein von Holz, sein Leben hatte der Hund keinen Menschen in seiner weiten Bekanntschaft, der ein hölzernes Bein besaß, aber er kennt den Mann so halb und halb, und weil er aus dessen Mienen keine argen Absichten wittern mochte, so begnügte er sich, einen kurzen Rundsprung zu tun und etwas zu bellen, beiläufig als wollte er sagen: »Sehr erfreut, ich weiß aber wahrhaftig nicht mehr, wo ich Sie in meinem Gedächtnis hintun soll, entschuldigen Sie, aber ich bin eben alt geworden.«

Leopold wollte gerade dem Gedächtnisse seines Freundes nachhelfen, und sich ihm förmlich vorstellen, ihm in den Rücken tätscheln und sagen: »Aber Sultl, dummer Kerl, ich bin's ja, ich, der Leopold,« – da tönte vom Hause her, er saß mit dem Rücken gegen dasselbe, eine scharfe, schneidige Stimme: »Was gibt's denn da? Was wollt Ihr? Es wird nix geteilt!«

Leopold riß es herum, er starrte nach einem Weibe, das an der Schwelle des Hauses stand und jetzt den Hund, der auf sie zukam, leicht mit dem Fuße wegstieß: »Du wirst auch jeden Tag nichtsnutziger, was bellst du denn nicht, wenn sich eins in 'n Hof schleicht?« –

Der Krüppel erhob sich von der Bank am Brunnen, er kannte das Weib gar nicht, es war ihm wildfremd, ihm ward mit einmal, er wußte gar nicht wie; er setzte seinen Stock scharf ein, als er sich darauf stützte und sagte: »Müßt wissen, ich vermeinte nicht Bettelns halber da herein zu kommen, ich bin der Leopold Eder.«

»Jesus,« sagte das Weib und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen, »Jesus, der Eder-Leopold! So seid Ihr der Bub' von den alten Leuten, denen früher das Haus gehört hat? So, so. Hat man doch gemeint, man hätt' Euch im Feldzug erschossen.« Und dabei sah sie an ihm hinunter, als wollte sie sagen, wär's dir auch besser, es hätten da die Leute die rechte Meinung gehabt.

»Jesus,« sagte jetzt auch der Krüppel, denn er verstand den Blick, »was ist da los? Das Haus, seh' ich, ist nimmer unser.«

»Wohl nicht, das haben wir in der Auktion bekommen, denn die alten Leut' waren verschuld't.«

»Heilige Mutter Gottes, und hat's denn die Gemeinde zugelassen, daß man ihnen alles wegnimmt und sie von da austreibt? Wo sind sie denn jetzt?«

Die Bäuerin ward sehr verlegen, sie griff nach ihrer Schürze. »Müßt's halt g'scheit sein, und nit zu arg erschrecken; man hat die alten Leut' gut leiden mögen; solang sie noch etwas gebraucht haben, hat man ihnen das Ihre gelassen, aber dann, wie das nicht mehr war, da war's freilich anders, da hat wollen jeder bezahlt sein, da wurde verauktioniert, und da sind wir, ich und mein Alter, von den drübern Seiten, von Lerchenbrunn – na, werdet's ja auch kennen – herüber gesiedelt.«

»Und wo,« fragte Leopold gedankenlos, »wo sind meine alten Leute jetzt?«

»O du mein lieber Heiland,« sagte die Bäuerin, »ich denk' doch, ich hätt' so geredet, daß Ihr's wohl verstehen müßt. Es war eine arge Zeit damals mit der Cholera.«

Der Krüppel tat ein paar Schritte zurück und setzte sich wieder auf die Brunnenbank, und der Stock, der in seinen Händen zitterte, schrieb unlesbare Charaktere in den Sand, dann kam er mehr und mehr ins Schüttern und Hüpfen, denn der Bursche begann nach und nach laut und lauter aufzuschluchzen.

Der Hund ward ganz ratlos und kroch in seine Hütte und die Bäuerin glättete emsig an ihrer Schürze. Zur selben Zeit öffnete sich die Gittertüre, ein kräftiger Mann trat herein und warf einen Korb vom Rücken.

»Was gibt's?« fragte er die Bäuerin, indem er auf den schluchzenden Soldaten sah.

»Denk dir,« sagte diese, »denk dir, das ist der Eder-Leopold.«

»So, so,« sagte überlaut der Mann, der, wie es schien, mehr Schreien als Reden gewohnt war. »So, so,« damit trat er auf den Soldaten zu und legte die Hand auf die Achsel. »Nun, nun, versteh' schon, daß es Euch hart sein mag, Elternhaus und Eltern nimmer zu finden, begreif's, aber alles hat sein Ziel, und was alte Leute betrifft, so mag man wohl denken, daß sie Gott mittlerweil abrufen kann, da heißt's wohl, wider 'n Tod ist kein Kraut gewachsen, und Gott tröst' sie, einmal müssen ja wir alle daran. Und wenn der Vogel daheim kein Nest mehr find't, so schaut er zu, daß er sich anderswo anbaut. Groß könnt Ihr's zwar nicht treiben, das weiß ich; was überblieben ist von der Kaufsumme, die wir gezahlt haben, wenige Groschen, die sind für Euch beim Kreisgerichte hinterlegt. Waren auch schon anderen vermeint; nun könnt Ihr denen zum Ärger sie wenigstens doch selbst einstreichen. Ist auch was, man verdirbt so Schleichern die Freud' und sagt: ›Hand davon!‹ Pah, ich hatte weniger als Ihr, gar nichts, und bin von Ort zu Ort immer besser gefahren und mehr herausgewachsen; wird mir's heut oder morgen da zu enge, such' ich mich wieder wo anders hinzufinden; freilich hab' ich auch nie Vater, Mutter oder Heimweh gekannt, bin unter fremden Leuten aufgewachsen und fremd geblieben, ist auch gut, man erspart viel Weh von wegen Scheiden und Meiden, aber ich möcht's doch auch probiert haben, hätt' mich gerne darein gefunden, wie es die andern ja auch müssen, wenn ich die Lieb' genossen hätt' von so ein paar alten Leuten. Na, jetzt laßt's gut sein, nehmt was Wasser auf die Hände und wascht Euch die Augen. Da hilft kein Weinen dafür! Dann nehmt etwas Suppe, die geb' ich gern, könnt' sich ja auch treffen, ich brauchte noch selber mal eine!«

Damit hatte er die Brunnenstange ergriffen und gepumpt, während sich der Soldat das Gesicht wusch. Die dreie gingen nun in das Haus und der alte »Sultl« dachte noch immer in seiner Hütte darüber nach, wer wohl der Mann mit dem hölzernen Beine sein mochte, da er solches an keinem seiner zahlreichen Bekannten je wahrgenommen zu haben sich erinnerte!

Eine kleine Weile später verließ Leopold rückwärts durch den Gartenzaun den Elternsitz. Er ging ein Stück Weges über die Felder, dann wandte er sich um, fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und schritt dann etwas schneller aus. Auf einer Wegkrümmung, schräg über den Weideplatz, erreichte er die Straße, weit ober der letzten Hütte des Ortes, – es war heute das zweite Mal, daß er derselben ausgewichen.

*

Wenig Schritte noch, dann war ein kleiner Hügel erreicht, den stieg man hinan und da lag das Dorf, unten vor dem Beschauer, und wenn man sich nach der anderen Seite kehrte, da lag auch eine Art Dorf, nicht größer als ein Garten und so eingezäunt, als wäre es nicht anderes, aber es war ein Dorf, ein Dorf für die Toten, der Ortsfriedhof.

Dort ging der Krüppel hinein, er suchte, suchte lange zwischen Gräbern und Kreuzen. Steine gab es hier nicht, oder doch, dort in der Ecke eine eingesunkene verfallene Pyramide, die Schrift war ganz unleserlich geworden und besagte nicht mehr, ob ein Bauer, in eitler Überhebung, sich unter seinesgleichen dies Denkmal errichtete, oder ob es einem vornehmen Eindringling gesetzt wurde. Holzkreuze standen umher, vermorscht mit vom Regen verwaschenen Blechtafeln, oft ein Arm abgebrochen, daneben im kümmerlichen Graswuchs liegend; eiserne Kreuze prangten mit neuer Vergoldung, jeder Buchstabe der Inschrift deutlich lesbar, wie frischer Schmerz in Herzen und Mienen; aber auch wieder in der Unbill des Wetters verblaßte, wo nur noch Bruchstücke zu dem Vertrauten sprachen von altem, halbvergessenem Leid; einzelne Gräber hatten gar keine Liebeszeichen, da staken nur Hölzchen – wie sie wohl in andern Gärten die Pflanzenart bezeichnen, die in dem einen oder dem andern Beete gedeihen sollte, – hier aber standen die Namen der Begrabenen darauf, da fand er von schwerer Hand gekritzelt, nur leserlich für den, der wußte, was es bezeichnen konnte, zweimal den Namen Eder, – zwei Gräber, die ein nur fußbreiter Raum trennte. Da kniete er nieder zwischen beiden und da hielt sein Herz stille Zwiesprache mit den Toten und der Kopf neigte sich dazu, als hätte er da nichts dabei zu sagen. Dann erhob er sich und ging nach dem Dorfe wieder einen andern Weg, nicht der Straße nach.

Und im Dorfe sprach er da und dort ein, man bedauerte ihn, man ließ ihn erzählen von Gefahren und Schlachten und Leiden, und wie er verwundet in Gefangenschaft geriet, wie er in Feindesland wieder zu Leben und Gesundheit kam, wie es dort aussah, und wie er endlich, ganz hergestellt, erst lange nach Friedensschluß die Heimat aufsuchen konnte.

Man hörte recht aufmerksam zu; einen Totgeglaubten auf einmal wieder lebend zu sehen, das ist schon was, und wenn dann so einer erzählt, wie es zugegangen, daß er eben lebend sei, wo ihn alles für tot nahm, ei, so was gab's nicht alle Tage zu hören. Solange er zu erzählen hatte, da ging es noch an, da rückte man ihm doch ein Glas hin und etwas zum »Anbeißen«, daß er hübsch redselig blieb, aber als alle seine Geschichten bekannt waren, was bekümmerten sich die Leute dann weiter um ihn? Die wenige Arbeit, die er verrichten konnte, wurde ihm karg gelohnt, denn man wußte ja, heute oder morgen, wie es eben sein mochte, fiel ja doch der Krüppel der Gemeinde zur Last, und das brachte man ihm jetzt schon in Anschlag und Abrechnung. Was Burschen waren, die hielten es gern mit ihren heilgebliebenen zweibeinigen Kameraden, was sollte auch der Einbein auf dem Tanzboden? Und dort und da, wer sah gern den Krüppel neben sich? Bei den Dirnen erweckte er eitel Mitleid, und manche, von der er einen gar schönen Willkommen erwartet hatte, nach dem, wie sie ihm früher freundgesinnt war, gab ihm wohl die Hand, aber erwiderte den Druck nicht; jede wollte einen Schatz, der wie andere neben ihr einhergehen konnte, nicht einen, wo sich die Leute umwenden und nachsehen. Des »Stelzfußpoldl« – wie er jetzt hieß – Liebste wollte keine heißen. Und noch eins! Man hätte es dem zweibeinigen »Eder-Leopold« nie vorgeworfen, aber jetzt dem »Stelzfußpoldl« sagte man es nach; er war ja doch der Schatz des »Diebs-Annerl« gewesen, und gab man ihm auch nicht zu verstehen, daß man ihn zu dieser ganz passend fände, so nahm man doch unverhohlen ihre Partei des Kindes wegen.

Was hatte er gehofft und geträumt, als er nach seinem Heimatdorfe ging, und wie ganz anders war es gekommen! Er stand unter gleichmütigen Leuten und fremdtuenden Bekannten allein, und da er kein Heim und keine Eltern mehr fand, so ward der »Vermißte« von niemand vermißt.

Oder doch, vielleicht da draußen in der letzten Hütte, von der Annerl mit ihrem Kind? Und war es nicht auch für die besser, er blieb weg? Und das Kind …? Armes Kind! Eine Diebin zur Mutter, einen lahmen Bettler dazu als Vater …

Er schöpfte tief Atem.

In Gedanken war er so das Dorf hindurch gegangen, es war fast Nacht geworden, er blickte auf, da stand sie vor ihm, die letzte Hütte! Zum erstenmal, eine Woche etwa, seit er zurückgekommen, war er ihr nicht ausgewichen; aber er atmete doch frei auf, als er niemand dort an der Schwelle stehen sah, er trat näher, drinnen hörte er Annerl singen, … das Kind lallte … jetzt stand sie auf, – kam sie, die Türe zu versperren, an der er lauschte …?

Er rannte wieder zurück in das Dorf.

»Was du ein Narr bist,« sagte er am Morgen darauf, es war Sonntag. »Mußt froh sein, daß du bei einem Bauern über Nacht unterkriechen kannst, könntest aber doch leicht eine Hütte haben. Was frag' ich nach all den Laffen und was sie dazu sagen mögen, wenn es heißt …« Er mochte es selbst noch nicht aussprechen, was sie sagen mochten, wenn er tat, was er sich jetzt vornahm. Alles wußte er ja selbst nicht, was aus diesem Vornehmen werden konnte.

Aber diesen Morgen schritt er die Straße hinaus, gerade der letzten Hütte des Ortes zu, heut führte ihn kein Weg davon ab und kein Zufall hinzu, diesmal war sie sein Ziel und dort angelangt, pochte er mehr trotzig, als Einlaß erbittend an.

Ohne auf ein »Wer ist's« von innen zu warten, trat der Krüppel ein und stand in der kleinen Stube, da lag das Kind auf einem Polster im Winkel auf der Erde, die Mutter kniete dabei und wandte sich um und warf einen verwunderten Blick nach dem Eindringling.

»Guten Morgen,« sagte der.

Er erhielt keine Antwort; ohne übrigens eine solche abzuwarten, trat er etwas näher und sah auf das Kind: »Also das ist's?« Aber sich vorbeugend und ein Tuch über dasselbe breitend entzog ihm Annerl dessen Anblick.

»Nun, nun,« sagte der Bursche, »ich fresse es nicht, werd' es doch ansehen dürfen, ist ja doch so gut mein, wie es dein ist.«

Das Kind schien wenigstens nicht für die Entziehung seines Anblickes eingenommen, denn es begann unter dem Tuche bedenklich zu schreien und zu zappeln.

Annerl entfernte daher das letztere und sagte: »Fällt dir spät ein, es anzuschauen, hast ja im Ort drinnen geredet, als ginge dich's überhaupt nichts an.«

»Ei freilich geht's mich an und keinen andern, das weiß ich ja wohl, aber unter Leuten redet man oft eines oder das andere, wovon man selbst recht gut weiß, daß es nicht so ist.«

»Geh,« sagte die Dirne, »so – hat dir aber wenig geholfen, daß du mich und dein Kind verleugnet hast, deswegen ist dir doch keine freundlicher geworden.«

»Als ob mir's darum gewesen wäre! Aber sie sind allzusammen über einen armen Teufel hoch hinaus, die Lumpenhunde! Hab' mir's auch anders überlegt, will ihnen keine Silbe mehr nach ihrem Schnabel reden und lüg nicht mehr. Such mir meine Ansprache, wo ich eine finde.«

»Und da kommst zu mir?«

»Ja, wohin sollt' ich sonst gehen?«

»Bleib, wo du warst, ist auch mir lieber.«

»Eben, ich mag nicht bleiben, wo ich war; denn wo bin ich auch gewesen?! Hat mir nicht jeder nachgerechnet, wie viel Groschen er mich verdienen ließ, wie oft ich bei ihm auf dem Heuboden oder im Stall nachtlagern durfte? Kein Hund möcht' es länger so mitmachen; ich denk', ich hab' es besser, ich bleib', wo ich jetzt bin!«

»Bei mir?« fragte die Dirne, sich hoch aufrichtend.

»Bei euch,« sagte der Krüppel. »Wirst doch Platz haben für den Vater von deinem Kind?«

»Meinst du,« sagte sie spöttisch. »Schau, für den Vater des Kindes. Darum, weil du es mit der Mutter so gut gemeint hast! Denkst du denn, wie du vor acht Tagen in den Ort gekommen bist, und bist da hinüber die Straße und an der Hütte vorbei, als hauste die Pest darinnen, es wär' nicht wie mit tausend Messern durchs Herz gefahren?! Hab' ich nicht gewartet, daß du endlich doch kommst – acht Tage lang – und jetzt, weil dir's üb'rall schlecht ergangen, schlecht, wie du's verdienst, jetzt vermeinst du, es müßte mir eine Ehr' sein? Aufgegeben hast du mich die Jahre über, wie ich dich die Tage her aufgegeben hab', und ich will nichts mehr von dir wissen! Wär' dir jetzt die Hütte gut genug? Wär' dies auf einmal dein Kind? War es ja doch meines allein und hast es doch meines allein sein lassen. Was denn willst jetzt? Meinst du, ich soll meinen geringen Verdienst mit dir teilen, und das wär' nur dein Kind, damit du ihm wegfressen kannst, was ich, seine Mutter, mir vom Maul abdarb' für den armen Wurm? Daraus wird nichts!«

»Du meinst, du schimpfst mich aus dem Haus? Das laß dir vergehen, Annerl; tu, was du willst, hier bleib' ich.« – Seinen Entschluß zu bekräftigen, setzte sich der Bursche auf einen Stuhl und stemmte die Ellbogen auf den Tisch und sah trotzig seitwärts vor sich hin.

Annerl warf ein Tuch über, nahm das Kind auf den Arm und schickte sich an, die Hütte zu verlassen.

»Wohin willst denn?«

»Fort.«

»Wohin?«

»Auf's Amtshaus.«

»Was dort – was suchst du dort?« Und er stand auf und vertrat ihr den Weg.

»Ausweisen laß' ich dich aus meiner Hütte.«

»Ausweisen,« sagte er und biß die Zähne übereinander und faßte sie am Arme.

Ihr tat es weh, wie er sie anfaßte, sie aber klemmte die Lippen ein und sagte darauf: »Laß los.«

»Ausweisen lassen, du mich?« wiederholte er. Er trat von ihr zurück, trat zur Türe, drehte den Schlüssel um und steckte ihn zu sich. »Das verbiet' ich dir. Versuch's jetzt!«

»Fort laß mich, sag' ich dir. Meinst du, ich hätte nichts zu tun? In die Arbeit muß ich, laß mich fort.«

»In die Arbeit? So? Du weißt dich noch schlecht im Lügen aus. Es ist doch Sonntag, heut arbeitest du so wenig wie ein anderer.«

Sie sagte nichts, schritt zurück, legte das Kind wieder auf seinen Polster und setzte sich mit finsterer Miene auf einen Stuhl inmitten der Stube, ihr Tuch, das sie etwas zurückgeschlagen hatte, hing rechts und links hinunter und fegte mit den Fransen den Stubenboden, auf den sie vor sich hinstarrte.

Leopold schritt durch die Stube.

Die beiden schwiegen lange, dann begann die Dirne: »Also du willst dich aufdringen, willst hier bleiben, bei mir und dem Kind?«

Der Bursche stand mit gespreizten Beinen vor ihr still und sah ihr trotzig in das abgewandte Gesicht. »Gewiß,« sagte er.

»Nun gut, ich brauch' dich auch gar nicht ausweisen zu lassen, die Hütte ist mein, und wenn eines darinnen zu viel ist, so weiß ich, wer hinaus muß. Die Leute werden sich ja ins Mittel legen, vorab der Herr Pfarrer und der Bürgermeister werden dir schon sagen, daß du ohne Ärgernis nicht bleiben kannst, außer …«

»Außer?« fragte er.

»Du nimmst mich zum Weib.«

Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»O, tu nicht so stolz,« lachte sie auf, »du hast es nicht not! Fürchtest du dich, daß ich etwa gleich mit beiden Händen zugriffe? Fürcht dich nit, ich möcht' dich ja doch nicht. Müßt' ich denn nicht den Leuten sagen, die mir zu dir rieten: Ihr Narren, wenn ich den Krüppel nehme, gebt ihr mir denn auch was dazu, ihn zu erhalten? Besser also, ich bleib' wie ich bin. Selbst wenn du wolltest, nach dem, wie ich dich nun kenne, wär' ja doch kein Segen dabei; das sag' ich dir, damit du weißt, wie du daran bist, wenn dir einmal das Elend bis an den Hals geht und du selbst daran denkst. Daß du jetzt nicht wollen wirst, das weiß ich, so gut wie ich weiß, was du willst! Verschüchtern willst du mich, herumlungern da bei mir, dich auffüttern lassen; denn wenn du auch nur wenig find'st, besser ist es doch wie nichts, dabei die Gelegenheit erpassen, ob du mich nicht zum Dank dafür noch tiefer ins Elend bringen könntest, als ohnehin schon geschehen ist; alles das möchtest du, frei und unverpflicht't, und wenn dir's wo anders um einen Groschen besser würde, so liefest du wieder davon! Wie damal, so heut kommst du, wenn es was zu holen gibt, damal meine Ehr', heut Unterstand und Kost. Aber nochmal, daraus wird nichts und wenn dir's noch tausendmal ärger erginge, es geschieht dir recht!«

Mit glührotem Gesichte begann der Bursche: »So, so, weil ich jetzt ohne Dach und Fach bin, soll auf einmal vergessen sein, wie wir miteinander standen? Weil dir's taugt, schließt du mich von der Hütte aus? Hättest es damal getan, ich hätt' mich nicht an dir verunehrt, daß sich jetzt alle Leute von mir wenden, – du – du bist schuld an allem meinem Elend!«

»Schuld wär' ich an allem deinem Elend? Verunehrt hättest dich an mir? Lump, lügnerischer Lump, hast du ein Herz, das zu fragen?! Hab' ich denn vorerst nach dir verlangt, war ich nicht damals schon verachtet, hast du nicht damit groß getan, daß du dennoch bei mir einsprachst, und gesagt: ich könne dafür nicht weniger tun …?«

»Du wolltest mich sicher haben und hart ist dir's nicht angekommen.«

»Pfui!« sie spuckte nach ihm.

»Anspeiest du mich,« schrie er und schlug nach ihr, sie wehrte sich und kreischte auf, das Kind weinte und schrie dazu. – Draußen ging keine menschliche Seele vorüber, denn zur selben Stunde war Gottesdienst in der Dorfkirche.

Die Nachmittagssonne sah aus den Fenstern der letzten Hütte, rückwärts nach dem Kartoffelfelde zu, ein Weibergesicht mit rotgeweinten Augen herausschauen; mitten in der Stube starrten aus einem trotzigen bleichen Männerantlitz zwei matte Augen vor sich hin auf den Boden, das Kind auf seinem Polster in der Ecke war ruhig und still; um zwölf Uhr hatte ihm Annerl seinen Brei gekocht, sich aus der Tischlade ein Stück Schwarzbrot genommen, und mit dem kleinen Geschöpfe Mittag gehalten; das kleine Wesen war ganz verschüchtert und bei schlechtem Appetite, sie sprach ihm leise zu, bis es einschlief. Der Krüppel war nüchtern geblieben.

Sie hatten die Stunden über bisher kein Wort zu einander gesprochen. Jetzt ertönte ein kurzes Geläute, Annerl trat vom Fenster zurück.

»Jetzt gib den Schlüssel heraus.«

»Wozu?«

»Ich will in den Segen gehen, versündige dich nicht mehr, als schon geschehen ist, und halte mich nicht auf.«

»Gewiß gehst du in die Kirche?«

Sie verzog bitter den Mund: »Du weißt ja, daß das Amtshaus heut nachmittag zu ist.«

Er gab den Schlüssel.

Sie wollte das Kind nehmen.

»Laß das da.«

Sie sah ihn ungewiß an.

»Laß es da, es soll ihm nichts geschehen, ich werde es schon hüten.«

Sie zog das Tuch an sich und wandte sich zum Gehen.

»Wie heißt es denn?«

»Poldl.«

Damit ging sie.

*

Der Krüppel war allein mit dem Kinde. Draußen war Sonntagsruhe, das Licht lag über allem, als wäre es ein ruhiger, tiefer See und die Erde der Grund, der Wind bewegte nur leise Blätter und Gras, daß sie in den Lichtwellen spiegelten und glänzten, das Lüftchen strich durch das offene Fenster, und Stäubchen tanzten in den langen Lichtstreifen, die in die Stube fielen. Leopold hatte seinen Stuhl in den Winkel gerückt, wo der Kleine lag und sah auf ihn herab, lange, aber das Kind schlief fort; der Invalide schlug Feuer, brannte seine Pfeife an und rauchte in kurzen, ruhigen Zügen, der Rauch kräuselte nach den tanzenden Stäubchen und wirbelte mit ihnen, ehe er zerstob; diesen Ringeln sah er eine Weile zu. Da surrte eine große, blaue Fliege zum Fenster herein und setzte sich auf das Brett, da saß sie einen Augenblick und schien darüber bedacht, wem sie wohl lästig fallen möchte; der Krüppel wollte sie hinausjagen und schlug nach ihr, aber die Fliege war behende und ihre Rache erfinderisch, sie flog ihm unter der Hand weg, hinab auf die rotgeschlafenen Bäckchen des Kindes, wo sie sich aber, vor Übermut oder nachträglichen Schreckkrämpfen, auf dem Kopfe wie ein Kreisel drehte, was das Kind unter Geschrei erwachen machte.

»Nun, nun,« sagte der Soldat, »sei nur ruhig, das vergeht gleich.«

Er hob das Kind vom Boden in die Höhe und suchte es zu beschwichtigen, aber es gelang ihm durchaus nicht, das Kind schrie nach der Mutter und wollte von dem fremden Manne nichts wissen. Leopold bot alle Überredung auf, er erboste sich und schrie, das machte das Übel nur ärger, nun sah er ein, daß das ganz vergeblich sei, daß er hübsch bei Vernunft bleiben müsse, da das Kind ja noch keine habe, und in stiller Verlegenheit schleppte er dasselbe zu dem Tische, setzte es auf denselben und sich davor und sang ihm Lieder vor; das hatte Erfolg.

»No gehn wir halten trinken
Und hupfen und springen
Und lachen und singen
Bis in die Fruah,
Du mein lustiger Bua!«

Dann kam der Jodler, er schlug Schnippchen dazu mit den Fingern und schwenkte die Pfeife, er hatte keine Ahnung davon, daß das wieder etwas zur Folge haben könnte, was die halberreichte Eintracht zu stören drohte. Das Kind hatte den Gesang sehr dankbar aufgenommen, aber wie er ihm die Pfeife vor dem Gesichte vorüberschwenkte, war das ein Gegenstand, der es ganz von der Aufmerksamkeit auf das Singen ablenkte, es griff hastig danach und faßte sie mit beiden Händchen an dem Rohre. Leopold wehrte sich um seine Pfeife, es war ihm bange, die könnte dem Kinde entfallen, aber das zog mit einer Kraft daran, die er ihm gar nicht zugetraut, und er mußte, da er sie ungeschickt nur zwischen zwei Fingern hielt, lachend loslassen; das Kind zog die Pfeife an sich, aber der Kopf war brennend heiß, streifte es sich damit an den nackten Beinchen oder griff es mit der Hand danach, so verbrannte es sich, also mußte ihm Leopold das kaum errungene Gut abnehmen; darüber brach es in furchtbares Geschrei und Geweine aus.

»Nun, das wäre etwas gewesen,« sagte er, »du hätt'st dich ja arg verbrannt, hätt'st noch mehr geweint, und viel' Tag' lang die Fleck' auf der Haut.« Er warf dem Kinde den Tabaksbeutel hin, und da auch der ihm neu war, so legte es sich auf die Tischplatte hintenüber und spielte damit.

Er sah dem Kinde zu. »Wär' ich nicht gewesen,« sagte er, »du hättest dich gewiß verbrannt, um und um wollt ihr gehütet sein.«

Er dachte lange nach.

Die Pfeife war ausgeraucht, aber dem Kinde den Tabak wegzunehmen, um sich eine frische zu stopfen, getraute er sich nicht, so saß er, die Pfeifenspitze zwischen den Zähnen, und rauchte kalt. Besorgt sah er, wie die Schnüre des Beutels aufgingen und einzelne Tabaksstäubchen bereits auf das Kind herabfielen, das auf dem Rücken lag und die Blase in seinen kleinen Händchen gerade über dem Gesichte schwang und schüttelte, … wenn ihm der Tabak in die Augen fiel …?!

Herzlich froh war er, als er draußen Leute gehen sah, ein Zeichen, daß der »Segen« aus war, und als Annerl eintrat und das Kind aufjauchzend, als es derselben ansichtig wurde, den Tabaksbeutel auf die Erde fallen ließ.

Der Krüppel erzählte sein ganzes Leidwesen und seine Verlegenheit mit dem Kinde.

Annerl hörte ihm zu und sagte dann: »Ich hab' mir's gedacht, und hab' mich nach Haus geeilt.« Man sah, das Lachen war ihr nahe, sie lachte aber nicht.

»Annerl,« sagte der Bursche, »ich möchte gerne, du könntest das von vorhin vergessen, ich weiß es ohnehin nimmer, was du zu mir gesagt hast, weil mir's so siedig heiß zu Kopf stieg; ich bin halt jetzt so viel ein verlassener Mensch, und da tät' ich dich schön bitten, du möcht'st mir nix nachtrag'n.«

»Nachtrag'n werd' ich dir nichts,« sagte sie, »ich bin ja doch nur ein schwaches Weibsbild, was könnt' ich dir auch anhaben?«

»Ich mein's auch nicht so, ich mein', weil du aus der Kirche kommst, möcht'st versöhnlicher sein und mich nicht so hart anschau'n.«

Die Dirne zuckte mit den Achseln.

»Ich weiß, was du sagen willst,« fuhr er fort. »Du meinst, es wär' schlecht von mir gewesen, das von vornhin, nun ja, dasselb' war es auch. Und so – so möcht' ich, es wär' kein' Red' mehr drüber.«

»Ich red' ja nichts.«

»Freilich nicht, freilich, weil dir um jedes Wort an mich leid wär', aber mußt halt eins ins andere nehmen. Wir haben all' zwei das Rauhe herausgekehrt, und das Kind ist dabei gewesen, ich möcht' mich jetzt völlig schämen vor ihm, ich werd' mich hüten und scheuen für künftighin mit jeder Red' vor dem Kleinen.«

»Für künftighin? Du will'st also drauf ankommen lassen …?!«

»Hör mich an, Annerl, laß mich ausreden, was ich zu sagen hab'. Das Kind disputiert kein Doktor mehr aus der Welt, ich hoff', auch unser Herrgott wird's nicht davon nehmen, denn es ist ein rechter Lehrmeister, so klein und hilflos wie's ist, wenn's auch weiter nichts lehrt, als daß die Großen gescheiter sein sollen; hätt' ich ihm die heiße Pfeife g'lassen, es hätt' sich unfein verbrannt.«

»Hast du's auch notwendig gehabt, daß d' ihm eine brennende Pfeife zeigst?«

Hier zuckte ein wirkliches Lächeln über die Mundwinkel der jungen Mutter.

»Nein, das wohl gewiß nicht, aber sag selbst, ist eine brennende Pfeife alles, was man auf der Welt vor einem Kind verstecken und wovor man es verwarnen muß? Siehst, das hab' ich mir bedacht, und so möcht' ich mich halt derhalben ausreden. Du hast vorhin gefragt, ob ich's drauf ankommen laß', ich weiß, hast g'meint, daß man mich aus deiner Hütten austreibt so oder so? Nun tät' ich dir gern sagen, daß ich gar nicht herein will, wenn es dir nicht recht ist, aber, daß ich's wohl drauf ankommen lassen möcht', daß die Leut' sich ins Mittel legen täten, und dir zureden, daß, was einmal schon ist, auch schicklich sein mag vor Gott und der Welt, denn wer kann's verhüten, daß das Kind einmal mir nachfragt, und ich möchte nicht, es heißet, es lieget die Schuld an mir und ich hätt' seine Mutter kein gut' Wort wert gehalten, – du wirst's auch nicht wollen, daß es anhören müßt', du habest seinen Vater ausgejagt, nur weil es ihm elend ergangen ist. Für dich bring' ich nicht viel ins Haus, aber fürs Kind doch, es ist ein Bub', und ich hab' in der Welt mein Teil erlebt, daß ich's schon führen und vermahnen kann zur Ehrlichkeit und zum Rechtschaffensein. Paar Groschen liegen auch beim Kreisgericht, viel wird's nicht sein, doch so viel, daß man was auf die Hütten wenden kann, damit die wieder eine neue Einquartierung aushält, und da – wenn es dir recht wär' – so weißt du jetzt alles.«

Annerl lüpfte das Kind ein paarmal in die Höhe und schwieg.

»Daß ich euch nichts wegfressen werd', das geb' ich dir, wenn du willst, schriftlich, arbeiten will ich schon, wo sich's nur trifft, und eher hungern, als von dem Euern nehmen, ich möcht' mir solch' Lumperei nicht nachsagen lassen. Herkommen bin ich wie ein Wilder, das ist wahr, aber daran waren die Leut' schuld, die eins im Elend wie ein scheues Tier noch mehr verhetzen; das tut kein gut; in Wütigkeit zerstoßt sich eins nur selber den Kopf und die lachten noch dazu. Ich hab' mir's feiner ausgedacht, wir zwei haben's einmal in der Leut' Augen verscherzt, sie vermeinen, wir könnten gar nimmer anders und in uns sei kein Fleckel mehr gesund und heil; wir bessern an uns nur wenig mehr auf, aber da ist ein drittes und ich möcht' gern, daß der Poldl da, wenn er 'mal zur Größ' und Vernunft kommt, ihnen aufweist, daß wir doch ganz andere Leut' g'wesen sind, als sie uns nachgesagt haben, und daß er von uns nichts Übles g'sehn und erfahr'n hat. So mein' halt ich, nun sag, was du meinst!«

»Halt das Kind ein wenig,« sie gab ihm dasselbe auf den Arm, stand auf und ging an das Fenster.

Der Bursche saß lange mit dem Kinde, dann stand auch er auf und trat zu ihr hin, sie sah mit weit offenen starren Augen hinaus in das Abendrot, das über der Gegend lag.

»Du sagst gar nichts.«

Da zuckte es über den zusammengepreßten Mund, die Augen schlossen sich, laut aufschluchzend verhüllte sie sich das Gesicht mit beiden Händen und über den ganzen Körper lief ein zitternder Krampf.

»Annerl – – ich werd' – – ich werd' morgen wiederkommen, dich fragen. Hörst du, sag nur, ob ich kommen darf.«

Das Weib wandte sich nicht und nickte nur gegen die Scheibe, an der sie lehnte.

»So komm' ich morgen, Annerl, jetzt muß ich gehen, nun behüt dich Gott, gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

»Aber du, den Poldl muß ich dir wohl dalassen, den kann ich nicht mit mir nehmen, den möcht's im Heu zu viel stechen, er ist ja sein Federpolster g'wohnt.« Er setzte das Kind neben sie auf das Fensterbrett, und als ihr voller Arm den Kleinen umfing, da kräuselte es leicht wie ein glückliches Lächeln um ihre Lippen, dann aber weinte sie stille fort, die Stirne an die Scheibe gedrückt, bis sich ein kleines weiches Pätschchen an ihre Wange legte; da fuhr sie rasch in die Höhe, trocknete sich die Tränen, lüpfte das Kind am Arme wie eine Feder, und begann ernst und gemessen in der heute vernachlässigten Stube herumzuschaffen, wobei ihr alles, was sie mit der einen freien Hand anfaßte, so leicht und gering vorkam.

Leopold hatte die Hütte verlassen, leise, wie einer, der einen Schlafenden aufzustören scheut, und schritt jetzt gegen das Dorf zu; er stolzte darauf los, daß ihn mancher, an dem er so vorüberhastete, von der Seite ansah; offenbar dachte er gar nicht an seinen Stelzfuß und glaubte, auf zwei gesunden Beinen einherzulaufen. Heute bat er, ohne Bitternis zu empfinden, einen Bauer um Unterstand für diese Nacht, und als der große »Poldl« im Heu lag, da dachte er lange an die letzte Hütte und was wohl der kleine »Poldl« dort mache.

Der aber befand sich in einer sehr traurigen Zwangslage, er sollte nicht eher einschlafen dürfen, als bis er ein ihm neues Wort aussprechen gelernt, »Vater« sollte er sagen. Ein Vorteil für ihn war, daß es im ländlichen Idiome weicher »Voda« lautet, und ein anderer, daß Mütter keinen strengen Maßstab an die Leistungen ihrer Kinder legen.

»Voda,« sagte die Mutter.

»Doda,« sagte das Kind.

Und beide waren es zufrieden. Jetzt löschte die Mutter die Kerze; da sprang das Mondlicht mutwillig zum Fenster herein, dann kam der Schlaf und winkte leise den Traum herbei, und diese drei freundlichen Gäste blieben, bis der Morgen graute.

*

Seither mögen wohl sechs Wochen ins Land gegangen sein, was inzwischen geschehen, beschäftigte, solange es neu war, ganz Poitzendorf. Erst sah man Tag für Tag nach Feierabend den Krüppel nach der letzten Hütte wandern, die er immer wieder vor Schlafenszeit verließ, dann waren Leopold und Annerl beim Pfarrer und beim Bürgermeister gewesen, dann hörte man sie eines Sonntags das erste Mal in der Kirche als Brautleute verlesen, oder, wie es im Volksmunde hieß, »von der Kanzel werfen«, man wußte des Verwunderns kein Ende und des Prophezeiens über den guten oder schlechten Ausgang solchen »Fürnehmens«. Acht Tage darauf beim zweiten sogenannten »Verkünden« fand man, daß es ja doch nur die beiden allein angehe, und das dritte Mal hörte schon keines mehr hin.

Dann konnte man eines schönen Tages von den wenigen Besuchern, welche der Frühgottesdienst zur Erntezeit hatte, hören, daß heut der »Stelzfußpoldl« mit der »Diebs-Annerl« in aller Stille Hochzeit gehalten.

Ganz früh waren die Brautleute schon ins Dorf gegangen, denn Leopold fürchtete sich gewaltig, daß sich die Leute zudrängen würden, um zu sehen, wie der »Eder-Leopold« Hochzeit mache, ganz anders, als er selbst gedacht hatte … ach, halt ja, ganz anders!

Das war die letzte Regung von früher. Als er sah, wie niemand beifiel, seinetwegen zeitiger aufzustehen, als er auch in der Kirche nur alte Mütterchen und sieche Greise fand, die bei der Trauung nur in den Stühlen sitzen blieben, weil sich's doch nicht schicken tät', unter so was »Heiligem« davon zu gehen, da blickte er nach seinem Stelzfuße hinunter und sagte sich, daß er ja nunmehr nicht der »Eder-Leopold«, sondern der arme verachtete »Stelzfußpoldl« sei. – Die Zeit über, da sie in der Kirche bleiben mußten, hatten sie den kleinen Poldl seiner ehemaligen Pflegemutter, der Grundlhofliese, zur Bewahrung übergeben, auf dem Rückwege holten sie ihn bei derselben ab; ein Glückwunsch von dieser alten Frau, und hie und da das Zunicken einer freundlichen Dirne, die gerade auf einem Felde in der Nähe arbeitete, das waren die wenigen Zeichen der Beachtung, welche sie in ihrem neuen Stande fanden.

Ein paar Tage darauf holte Leopold sein Erbe, die »paar Groschen« aus der Kreisstadt. Ein neues Schindeldach, ein neuer Anwurf, welcher der bedenklichen Nacktheit der Mauer ein Ziel setzte, war alles, was die Inwohner des Dorfes erinnerte, daß da draußen in der letzten Hütte wieder ihrer drei geworden waren.

So verging wieder eine kleine Weile, Leopold reute es nicht, Annerl geheiratet zu haben. Beide befanden sich wohl dabei, in Arbeit und Sorge einträchtig die Not abzuwehren, und sie blieben auch deren Meister; was den Mann verdroß, war, daß die Leute im Orte nach wie vor den Übelnamen »Diebs-Annerl« beibehielten, obwohl sie nun sein Weib war, und er dachte, es könne ihr niemand etwas Schlimmes nachsagen.

Der Pfarrer des Ortes war ein sehr alter Herr, der aber noch immer rüstig seiner Wege ging, und wenn er gerade müde wurde, so sprach er da oder dort bei einem Bauer, der ein Beichtkind seines Sprengels war, ein, und war überall seiner Leutseligkeit halber gerne gesehen. Nun begab es sich eines Abends, daß den alten Seelsorger in der Nähe der letzten Hütte eine Müdigkeit befiel und er trat dort ein. Leopold war sehr erfreut, daß sich der Geistliche nicht scheute, bei so armen, verachteten Leuten, wie sie waren, gleichsam auf Besuch einzutreten.

Mittlerweile zogen schwarze, schwere Wolken über den Wetterwinkel herauf, der Pfarrer hatte schon eine Weile über besorgt und betrübt aufgeschaut, aber Leopold schrieb es der Furcht des alten Herrn zu, vom Wetter überrascht und bei ihnen gleichsam »eingeregnet« zu werden. Der Geistliche erhob sich, sagte, er dürfe wohl fortmachen, sonst sei das Wetter schneller wie er, obwohl er noch gut zu Fuße sei, aber die Wolken treibe der Wind, und mit dem halte er wohl nimmer Schritt. Er legte die Hand auf den Kopf des kleinen Poldl und ließ sie etwas länger da liegen, als es sonst seine Art bei anderen Kindern war, welchen er nur scherzend über den Scheitel fuhr, er blickte weg, als ihm Annerl hastig den Ärmel küßte, und schritt kopfschüttelnd vor Leopold, der ihn begleitete, hinaus. Er sah nach dem grauen Himmel, dann auf den Krüppel, der mit der Mütze in den Händen an seiner Seite stand.

»Eder,« hob er an und legte die Rechte, wie mitleidig, mit einem sanften Druck auf den Arm des Angeredeten, »Eder …« Er hustete verlegen.

»Jesus,« sagte der, »Hochwürden, ich merk', Ihr wollt nicht recht mit der Sprache heraus. Was habt's zu sagen?«

»Hm, scheint mir gar, es ist mir entfallen,« sagte der alte Herr, »aber ich werd' mich gleich besinnen, wenn ich mit einer frischen Prise nachhelfe,« dabei spitzte er die Finger der rechten Hand, welche er zuwartend von sich hielt, und fuhr mit der Linken in die Rocktasche – er brachte sie leer wieder zum Vorschein, – »aber meine silberne Dose ist weg.«

Damit war er auch weg.

Der Krüppel sah ihm stier wie ein Wahnsinniger nach, dann stürzte er in die Hütte und warf sich wie verzweifelt auf einen Stuhl.

Annerl, welche sich am Herde zu schaffen machte, wandte sich nach ihm:

»Was hast denn?«

»Annerl,« schrie er und schlug wie ein hilflos Ertrinkender die Arme von sich, »Annerl, um Jesu Christi willen, hast du des Pfarrers Dose?«

Das Weib wandte ihm den Rücken und rührte in dem brodelnden Topfe. – Draußen grollte der Donner und schwere Tropfen fielen.

Da regte es sich unter dem Bette, der kleine Poldl kroch hervor.

»Voda schau!«

Er schob mit beiden Händchen einen Knäuel bunter, alter Lappen vor sich her, ein Zug unkindlicher Pfiffigkeit lag in seinem Gesichte, als er plötzlich den zerknitterten Wust auseinander faltete und eine silberne Dose hervorschimmern ließ.

Der Mann fuhr vom Stuhle in die Höhe.

Über der Gegend lag aber jetzt das Gewitter. Blitz um Blitz leuchtete auf, der Donner krachte und grollte unaufhörlich und ein rasender Wind peitschte den Regen. Da raffte der Krüppel sein Kind vom Boden, preßte es an sich und stürzte mit ihm hinaus in das Unwetter.

»Poldl!« schrie das Weib und war hinter ihm her.

Wie gehetzt rannte der Mann mit dem Kinde dahin, immer hinter ihm, jetzt nur ein paar Schritte, dann wieder häuserweit ab, lief jammernd und schreiend das Weib, aber der Sturm verwehte, der Donner überdröhnte ihre Stimme, und immer vorwärts ging es im rauschenden, wildanprallenden Regen fort und fort … zum Dorfe hinaus … dem Weideplatze zu … an den Büschen vorüber …

Jetzt, jetzt mußte sie ihn erreichen, er wankte, in dem aufgeweichten Boden sank sein Stelzfuß ein und behinderte ihn im Laufen, jetzt war sie nahe, ganz nahe, sie konnte ihm das Kind entreißen … Da machte der Krüppel einen unbeholfenen Satz, er taumelte an das alte verfallene Gemäuer … »Laß uns, laß uns,« schrie er, »was willst denn du?«

»Mein Kind!« kreischte das Weib, auf ihn zustürzend.

Damit warf er das Kind über sich in das hohe Gras, das auf der ehemaligen Richtstätte wucherte.

»Hol's, von wohin du's noch bringst!«

*

Das Weib kletterte an den zerbröckelten Steinen hinan, die ihr, naß und schlüpfrig, wie sie waren, das Ansteigen erschwerten; blutig geschunden an Armen und Beinen, aber mit dem Kinde, kehrte sie zurück. Mit gesenktem Haupte trat sie zu ihrem Manne, sie sagte kein Wort, sie schob ihren freien Arm unter den seinen, um ihn zu leiten, und er ließ sich wie willenlos davonführen.

Tags darauf ward der Pfarrer durch einen Nachbar Leopolds in die letzte Hütte gebeten. Er kam und fand Annerl fiebernd im Bette, den Vater und den Knaben aber wohl. Er kam öfter, denn Annerl lag lange und schwer darnieder, er tröstete daher abwechselnd, je nachdem der Tag für die Kranke war, einmal diese, einmal ihre bangen Pfleger; endlich aber fand er Annerl genesen und außer Bette, und da er hier als Seelenarzt, wie der Doktor, wegen eines Rückfalles außer Sorge war, so griff er in der Freude darüber nach seiner silbernen Dose und nahm andächtig eine Prise.

Das junge Weib war rot geworden, bat aber schnell, auch einmal schnupfen zu dürfen, und nahm sehr ernst ein paar Körnchen Tabak.

»Ob du niesest, Bäuerin, oder nicht niesest,« sagte der Pfarrer, »so sag' ich: Helf Gott!«

»Und ich sag': Vergelt's Gott!«

*

Es ist schwer, einen sogenannten Ruf- oder Spitznamen los zu werden, er bleibt einem meistens lebenslang anhängen, ja oft sagen sogar noch Grabsteine auf dem Dorfkirchhofe: Hier ruht der Bauer N. N., »genannt« so und so. Nur manchmal verliert sich ein Name, um einem bezeichnenderen Platz zu machen, oder er erlischt, wenn er eben gar nimmer zutrifft, und so erlosch die Jahre über der Name »Diebs-Annerl«. Man kannte nunmehr nur die »Stelzfußpoldin«, denn es ging ein gar rechtschaffen erzogener Junge im Orte herum, den alle Welt gern leiden mochte, und da hütete man die Zunge. Wer hätte es auch übers Herz gebracht und von seiner Mutter als »Diebs-Annerl« geredet?!


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