Ludwig Anzengruber
Kalendergeschichten
Ludwig Anzengruber

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Der Verschollene

Eine Geschichte

(1878)

In der Handschrift Anzengrubers lautet der ursprüngliche (später durchstrichene) Titel: Geschichten aus zweiter Hand. Nacherzähltes von L. Anzengruber. Daran schloß sich die folgende (nachher gleichfalls getilgte) Vorbemerkung:

»Man hört hie und da manches, das des Aufzeichnens wert ist, und da thut man gut, nichts daran zu künsteln, nichts durch unnützen Aufputz zu verderben, sondern es möglichst so wiederzugeben, wie man es empfangen hat und es einem noch in den Ohren liegt. Titel sind nie welche dazu gesagt worden, so mögen sie auch wegbleiben. Hat der Leser einmal eine Geschichte bis zu ihrem guten oder üblen Ende inne, so mag er sich ebenso wohl ein Bild ausdenken von dem, der sie erzählt hat, als auch ihr einen Namen geben, unter welchem sie ihm noch besser gefällt, und das gibt vielleicht mehr Unterhaltung als Rätselraten und Rebuslösen.«

A. d. H.


Da ist vor Zeiten einmal ein Mann durchs Tirolerland gegangen und nimmer zum Vorschein gekommen. Nur Gott wußte, was aus ihm geworden. Er war von »da draußen«, wie man schon längst in Oesterreich sagte, wenn man Deutschland meinte und nun erst seit kurzem in aller Wahrheit so sagen mag.

Der Verschollene war ziemlich bei Jahren und bei Vermögen. Nach der Herzensmeinung der lieben Angehörigen hätte der alte Herr wohl bleiben können, wo es ihm taugte oder nicht taugte, wenn er nur überhaupt irgendwo geblieben wäre; aber sich dergestalt ins Hochgebirge zu versteigen, daß man auch nicht mit dem kleinsten Stückchen mehr vorfindlich bleibt, das war doch recht leichtsinnig und rücksichtslos gegen die Verwandtschaft. Die kleidete sich freilich sofort in Schwarz und wand Flöre um die Hüte, aber das Gericht meinte, das wäre kein Beweis, daß der Vermißte nimmer am Leben sei, mehr als ein Dutzend saldierter Rechnungen für bezogene Trauerwaren zähle in der Angelegenheit der einzige Totenschein, war der nicht zu beschaffen, so mußte die schöne Erbschaft liegen bleiben, – ich glaube die Gerichtsherren sagten – dreißig Jahr. Ei, du lieber Gott, was war da dem Gram und Herzeleid für ein gar weites Ziel gesteckt! Mittlerweile konnte manch einer, wenn auch nicht übers Hochgebirg, den gleichen Weg nehmen wie der liebe, alte Herr Onkel, oder was er der Sippschaft eben war.

Vorerst hatte man die Geschichte in allen Zeitungen verlauten lassen, und dabei war der Verschollene angegangen worden, falls er noch am Leben sei, seiner tiefbekümmerten Familie tröstlichen Bescheid zukommen zu lassen. Nun, es war doch tröstlicher, daß er beharrlich schwieg. »Der gute Mann ist tot,« sagte die Verwandtschaft. »Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür,« sagte das Gericht, »aber wir brauchen die Gewißheit

Obwohl unter einem jedermann höflichst ersucht wurde, mitzuteilen, was etwa über den Verbleib des alten Herrn Aufklärung schaffen konnte, so hatte sich doch niemand gemeldet. Da that die Familie ein übriges und schrieb einen Preis aus, den der gewinnen sollte, der für bestimmt sagen konnte, welches traurige Schicksal den verehrten Verschollenen betroffen. Man sieht, es war ein ehrlicher Handel. Die Familie verlangte für ihr Geld ein »trauriges Schicksal«, das mochte sich jeder gesagt sein lassen, und einen etwa noch lebenden Onkel ein Haus weiter zu Kauf bieten.

So ein Preis lockt Leute, die sich darauf verstehen. »Pah,« – sagte ein Polizeiagent, und das war einer der geriebensten, – »und wenn er schnurgerade Gott zugelaufen wäre, so muß er dabei den Weg doch mitten durch die Leute genommen haben. Ich will mir die Sache ansehen.«

Damit schnürte er sein Bündel und ging, sich die Sache anzusehen. Er reiste den nämlichen Weg, den der Verschollene gegangen. Da war kein Wirtshaus, keine Keusche, keine Almhütte, wo er nicht eingesprochen hätte, kein Senner, kein Wurzelgraber, kein Geißjung', den er nicht befragt hätte; von der Stelle, wo der alte Herr das Hochgebirge betreten, folgte er Schritt für Schritt dessen Spuren.

Da traf er endlich auf eine elende Keusche, in der hatte der Verschollene zur Nacht geherbergt und am Morgen darauf hat man ihn in eine wilde Schlucht hineingehen sehen. Der Keuschler und sein Weib hatten ihn gesehen, ein Senner wollte ihn noch begrüßt haben und einem Schafjungen war fast so, als möcht' er sich entsinnen, da wär' einer, ganz der Beschreibung nach, hineingegangen. Aber auf dem gleichen Wege hat ihn niemand zurückkehren und am andern Ende keiner herauskommen sehen. In der Schlucht dürfte er also verblieben sein.

Da stand der Agent auf dem schmalen, steinigen Wege, inmitten ungeheurer Felsenwände. Zwischen ein paar Steinblöcken strebten mächtig hohe Tannen empor und deuteten höhnisch gegen Himmel: »Der weiß es!« Ein kleines Wässerchen schoß eilig dahin, gurgelte manchmal an den Steinen, die ihm den Weg verlegten, aber es sagte nichts aus.

Damals soll auch ein schöner Morgen gewesen sein, gerad wie heute. Der Agent ging die Schlucht auf und nieder, er beäugelte jeden Stein, die ließen ihn machen. Er ging stundenlang, denn er machte den Weg von einem zum andern Ende mehreremal, aber er blieb mutterseelenallein und da konnte er wohl merken, daß man schnurgerade Gott zulaufen kann, ohne dabei den Weg durch die Leute zu nehmen. Eben war es just nicht zu gehen, aber um sich zu Tode zu fallen, dazu war's nicht angethan, und gesetzt, es wär' dem alten Mann aus Schwäche ein Unfall zugestoßen, man hätte ihn doch aufgefunden. Es sah ganz danach aus, als wär' er einem bösen Boten begegnet, der ihm den kürzesten Weg nach dem Himmel gewiesen und ihn buchstäblich aus der Welt geschafft hat. Und wenn jetzt so ein riesenstarker Aelpler daherkäme, möchte es für einen jungen kräftigen Menschen nicht gar geheuer sein, geschweige denn für einen alten gebrechlichen. Der Agent fuhr mit der Hand nach der Tasche und fühlte mit einiger Beruhigung, wie der Lauf der Pistole kalt durchschlug, welche er mitführte, um nötigenfalls ein paar Löcher in eine fremde Haut zu schießen, ehe es ihm an die eigene ginge.

Nun hatte er sich die Sache angesehen und er gestand sich, die sah recht verdrießlich aus. In der Schlucht war kein Unfall, sondern ein Verbrechen geschehen und der Leichnam verschleppt worden. Das stand bei ihm fest, aber damit zugleich die Erkenntnis, daß nahezu alle Aussicht, den Preis zu verdienen, verschwunden sei. Er war während der Suche wohl darauf gefaßt gewesen, den Vermißten als Opfer eines verbrecherischen Angriffs aufzufinden und er hatte schon zu mehr als einem Ermordeten den Mörder »stellig« gemacht, aber es war dabei immer alles – wie er sagte – unter Leuten vorgegangen; wenngleich der lose Faden zehnmal riß, eine nichtig scheinende Aussage, oft aus dem Munde eines Kindes, knüpfte ihn wieder an, zuletzt wurden die Kreise immer enger, mitten durch liefen alle Fäden nach einem Punkte und da saß dann groß und breit, wie eine Spinne im Netz, frei und offen vor aller Augen der Schuldige, daß man ihm auf den Kopf hin sagen konnte: »Du bist es!« Hier aber war nirgends anzuknüpfen und stünde er selbst vor der Leiche des Ermordeten, diese konnte von niemand agnosziert werden als von dem Mörder, von dem geständigen Mörder, denn hier fand der Verdacht keinen Boden und die Anklage keinen Beweis.

Aergerlich stieg er von den Bergen nieder, nahm den kürzesten Weg nach der breiten Landstraße und gedachte, dahin zu gehen, woher er gekommen; das war aber doch von etwas zu weit her, um es in einem Strich unter die Füße zu nehmen und so mußte er sich wohl dazu verstehen, zeitweise Rast zu halten. Gegen Ende des ersten Tages seiner Wanderschaft erreichte er ein größeres Einkehrwirtshaus und entschloß sich, daselbst zu übernachten. Am frühen Morgen darauf trat er reisefertig in die Gaststube.

»Schon wieder fort?« fragte der Wirt.

»Ja. Bin nicht herumstromenshalber ins Tirolerland gekommen. Was bin ich schuldig?«

»Nit der Red' wert.« Der Wirt nannte einen geringen Betrag und schickte sich an, auf eine Papiernote herauszugeben; er zog die Geldlade aus dem Wandschränke, vor dem er stand.

Sehen ist eine Kunst. Mancher holt gleichsam mit den Augen aus einem Winkel Stück für Stück die Gegenstände hervor und übersieht dabei noch eins und das andere, während einer, der's versteht, alles auf einen Blick weg hat.

»Alle Wetter, Herr Wirt, was habt Ihr da für eine abscheuliche Zwiebel?« sagte der Agent und meinte damit eine Taschenuhr, die in der Lade zwischen verzettelten Papieren hervorstach, in einem tombakenen Gehäuse, plump und groß wie ein Hühnerei.

Der Wirt griff sie heraus. »Ei, der (er gebrauchte einen Kraftausdruck) ärgert mich, so oft ich ihn anseh'. Es ist übers Jahr her, da sind an der Straße die Rekruten vorübergezogen, haben bei mir zugesprochen und eine fette Zeche gemacht und wie's zum Zahlen kommt, muß ich das Ding da mit in Kauf nehmen; um fünf Gulden hab ich sie müssen drein gehen lassen, keine drei krieg ich dafür.«

»Mein' es selbst,« lachte der Agent, »dem Gewicht nach wird sie keiner kaufen; das wär' noch ein Handel, bei dem für Euch was heraussäh'! Aber vielleicht kennt Ihr den, der sie Euch aufgehängt hat und mögt sie ihm nach der Zeit einmal ums Gleiche zurückstellen.«

»Kennt ihn unser Herrgott nicht besser wie ich, so bleibt der beim jüngsten Gericht unaufgerufen.«

»Wär' schad,« dachte der Agent, »da ihn wohl auch kaum eines auf Erden wird aufgreifen können.« Er fragte den Wirt noch eines und das andere. Ob der sich entsinne, an welchem Tage die Rekruten vorüberzogen? Wieviel ihrer wohl gewesen sein mögen? Woher sie gekommen? Wohin sie gegangen? Und schließlich erklärte er, Besonderheit halber die Uhr ankaufen zu wollen, wenn sie um das Geld feil wäre, wofür sie dem Gastgeber aufgehalst wurde, er wende jedoch keinen Groschen mehr daran.

Der Wirt rückte die Rechte mit der Uhr dem Reisenden hin und hielt die hohle Linke ihm entgegen.

Der Handel war geschlossen, der Agent ging seiner Wege und nachdem er noch paar Tagreisen und ebenso viele Nachtlager hinter sich hatte, traf er heim.

Da saß er an seinem Schreibtische, vor sich hatte er die Uhr liegen, der Mantel derselben war geöffnet, innen zeigten sich die Buchstaben J. G. H. eingegraben und außen war in rohen Linien eine Figur angebracht, welche man bei genauerem Zusehen für einen Jäger halten konnte, der in die Luft schoß; dazu würde denn auch der Schlüssel gepaßt haben, der an einem schmalen Lederriemchen vom Bügel herabbaumelte und am oberen Ende einen ausgreifenden Jagdhund darstellte. Dieser Schlüssel aber fehlte, dagegen zeigte der Ring am Bügel eine glattgeriebene Stelle, wo der Lederstreifen ehemals befestigt gewesen war. Kein Zweifel, das war die Uhr des Vermißten!

An die Verwandten desselben richtete nun der Agent ein langes und breites Schreiben über das Ergebnis seiner Nachforschungen. Er meinte, dasselbe »ganz unmaßgeblich« als ein sehr trauriges bezeichnen zu müssen, um so trauriger, da er die Ueberzeugung hegen konnte, nichts versäumt zu haben und daher ein anderer auch mit nichts Besserem zu dienen im stande sein dürfte. Sicher war der Verschollene, Namens Johann Georg Heinecke, in dem bewußten Engpasse getötet und sein Leichnam verschleppt worden und mutmaßlich war der Thäter ein eben zum Militär ausgehobener, der zu seinem Truppenkörper einrückte; der Versuch aber, denselben ausfindig machen zu wollen, wäre ein ganz aussichtsloses Unternehmen.

Allerdings handelte es sich hier um einen jungen kräftigen Menschen, den man wohl derzeit noch bei Leben vermuten konnte und kaum einen Tagmarsch vom Thatorte war eine Spur von ihm aufgetaucht, jedoch nur, um sofort wieder im Sande zu verlaufen. Der Gastwirt kannte keinen der an jenem Tage bei ihm Eingekehrten, das läßt vermuten, daß sie sich viele Tagreisen weit von fernen Dörfern oder auch einzelnen Weilern zusammengefunden, und der eine, um den es sich handelt, konnte einen weiten Weg zurückgelegt haben, ehe er auf sein Opfer traf. Die Rekruten waren wohl unterschiedlichen Waffengattungen zugewiesen und nach verschiedenen Quartieren einberufen worden, da war keinem nachzugehen, den man nicht genau kannte, da liefen alle Spuren dem Kreuz und der Quere nach übereinander. Die That geschah ohne Zeugen, selbst der stumme Ankläger, der in solchen Fällen die menschliche Gemeine laut nach Sühne aufschreien macht, die Leiche des Gemordeten, war beiseite geschafft worden, der Thäter ging aus der Heimat in die Fremde; er verließ den Ort, wo er gegen Nahestehende wie Gleichgültige eine gewisse Vertraulichkeit gewohnt war und wo ihn alles zur Mitteilsamkeit reizte, und geriet nach einer Stadt und unter Menschen, welche beide er nicht kannte und mißtrauisch und verschlossen abwartete, was man wohl ihm zu sagen hätte. Als aber lange danach der alte Herr vermißt und ihm nachgefragt wurde, da war Gras über die Geschichte gewachsen, über ein Jahr hatte der Wirt die Uhr im Schrank liegen, wußte es nicht, daß sie mit der Beschreibung übereinstimmte oder hatte nie davon gelesen noch erfahren.

Auf den Fund der Uhr that sich der Agent am Schlusse seines Schreibens etwas zu gute, denn er hielt sich für berechtigt, dieselbe gewiß als »ein teures Angedenken an den edeln Verblichenen« anzusehen und fragte an, welchem der hochachtbaren Erben er sie einzusenden habe, dafür wurde nur eine geringe Vergütung, etwa das fünf- oder sechsfache des Erstehpreises, gefordert und mit der ergebensten Anhoffnung geschlossen, man werde in Anerkennung gehabter Mühe und Auslagen wohl großmütigst eine entsprechende Entschädigung beifügen.

Die Antwort auf das Schreiben des Agenten lief bald ein. Man anerkannte in ihm einen der gewiegtesten Polizisten, bedauerte lebhaft und wohl auch aufrichtig, daß seine Bemühungen vergeblich gewesen. Nun kam aber etwas, das war nicht ehrlich! Man glaubte aus seinem Schreiben herausgelesen zu haben, daß ihm die bewußte Uhr, vielleicht als ein Zeichen der Erinnerung, wert geworden und obwohl man sich von dem teuern Angedenken an den edeln Verblichenen nur schwer trenne, so wisse man doch keine Art, den Dank für gehabte Mühe und Auslagen beredter auszudrücken, als indem man erwähnte, auch durch ihr Alter sehr merkwürdige Taschenuhr ihm geschenkweise überlasse mit dem tiefgefühlten Wunsche, selbe möge nur glückliche Stunden zeigen. Der Agent warf den »verwünschten Knödel«, wie er sich ausdrückte, in eine Schreibtischlade, beauftragte den Teufel und seine Großmutter mit der nötigen Reparatur, da sich gewiß kein zeitgenössischer Uhrmacher damit befassen möchte, und nannte die hochachtbaren Erben ein schmutziges Gesindel.


Jahre waren darüber vergangen. Der Agent Anton Wüllfert – mag einmal auch sein Name genannt werden – hatte inzwischen manche Gelegenheit wahrgenommen, sich neuerlich als gewiegter Polizist zu erweisen und da sich kein Anlaß fand, ihn zu erinnern, so hatte er den Verdruß fast völlig vergessen, den ihm der selige Johann Georg Heinecke, wie anzunehmen war, freilich ganz ohne Willen und Wissen, bereitete.

Eines Tages ging der alte Spürer und Schnüffler in einem der Vororte der Stadt durch eine abgelegene Gasse. Kinder trieben sich auf dem Fahr- und Gehwege herum, spielten an den Rinnsteinen und saßen auf den Stufen vor den Gewölbthüren. Wüllfert blieb stehen und sah dem Treiben zu. Mit einmal kehrt er sich ab, tritt in einen nahen Obstladen, kauft Kirschen, beteilt damit im Vorüberschreiten manchen kleinen Schreihals und hält vor einem kleinen Mädchen stille, das an der Erde saß und in dem kleinen Händchen einen Gegenstand spielend hin und her schlenkerte. Zwischen den winzigen Fingerchen schwang ein schmales Lederstreifchen und daran hing ein Uhrschlüssel, der oben über dem Ringe einen Jagdhund in vollem Lauf nachbildete.

Er bot der Kleinen die Kirschen, diese griff freudig danach und von dem nahen Hausthore kam eine Frau mit freundlichem Lächeln herzu.

»Wie heißt du denn?« fragte der Agent das Kind.

»Sophie.«

»Und wie noch?« »Kehneder.«

»Kerneder,« verbesserte das Weib, »das R mag ihr halt noch nit von der Zunge.«

»Wie alt is das Mäderl?«

»Zweiundeinhalb' Jahr wird's mit nächstem.«

»Ein nettes Pauxerl. Ja, seit die schönen Kinder, die tausend Wochen zählen, mir kein Gehör mehr schenken, plauder' ich halt mit den ganz kleinen.«

Die Frau lachte und schüttelte den Kopf; so arg werd' es wohl nicht sein, der Herr sei noch ganz riegelsam.

»Aber,« sagte Wüllfert, »wird der Vater nicht greinen, wenn du ihm den Schlüssel von seiner Uhr verschleppst.«

»Ach, das dürft' freilich nicht sein, aber der Schlüssel weiß von keiner Uhr, den hat die Sopherl aus 'm Kehricht aufgelesen.«

»Scheint ein uralt' Ding zu sein. Woher das stammt?«

»Ei, meines Mannes Bruder, der paar Tage bei uns war, hat ihn weggeworfen.«

»So. Also vom Onkel hast du das? Wer ist denn dein Onkel?«

»Fedwebel,« sagte das Kind.

»Ja, Feldwebel war er,« erklärte die Mutter, »aber jetzt ist er wieder beim Zivile und z'tot froh, daß er einmal seine Zeit beim Militär ausgedient hat. Nein, was so ein Soldat alles durchmacht und zu erzählen weiß, drüber muß man sich nur erstaunen! Wir haben ihn paar Tage bei uns gehabt, bis er in seinen Platz hat einstehen können, er ist gelernter Fleischer und ein gescheiter Kopf; der wär' im stande, einen von Sachen abzureden, die man von Kind auf für wahrhaftig gehalten hat, und so scharf und eindringlich macht er's, daß man ihm kein Wort darauf zu sagen weiß, aber man bleibt halt doch lieber bei der Meinung, die man einmal gewohnt ist. Ja, das muß man ihm lassen, reden versteht er, der Schwager Alois, und ist auch so dem Ansehen nach ein netter Mensch, es wird ihm nit fehlen. Die Kundschaften, die 's Fleisch bei seinem Herrn nehmen, wollen eh' schon bemerkt haben, daß das Töchterl an der Kassa nit unfreundlich nach dem neuen Aufhackknecht schaut.«

»Ja, ja, es gibt mehr als ein Beispiel, daß mancher auf die Weis sein Glück gemacht hat. Wie heißt denn sein Herr?«

»Feilhauer! Wissen S' den Anton Feilhauer? Er hat sein Geschäft...«

»Ei, mein Gott, ich werd' doch 'n alten Feilhauer kennen! Der hat wirklich nur das einzige Kind, nun da kann sich ja schicken, daß man einmal den ›Anton Feilhauer‹ ober der Ladenthür herunter nimmt und den Alois Kerneder' hinaufnagelt.« Er kneipte die Kleine, die eben den letzten Kirschkern ausspuckte, in die Backen. »Hat's geschmeckt?«

»Sag ja und gib dein Handerl.«

»So. Bah! Behüt Gott.«

Den Uhrschlüssel mußte das Kind verstreut haben.

»Aus 'm Zimmerkehricht kommt er und ins Straßenkehricht geht er. Komm, Sopherl, ich geb' dir was anderes zum Spielen, was Schöneres, weißt du!«

Dieselbe Nacht schritt Anton Wüllfert in seinem Zimmer erregt auf und nieder, von seinem Schreibtische her tönte das tickende Geräusch einer Uhr, derselben, die jahrelang nicht einen Zeiger gerührt hatte, entweder zugleich mit dem Herzen des Ermordeten still gestanden, oder an dem des Mörders abgelaufen war.

Ein Deckel schloß über dem Zifferblatte, der Agent rührte im Vorübergehen am Bügel, da klang es in leisen Schlägen zwölfmal. Mitternacht! Wüllfert zog seine Uhr und verglich. »Noch nicht halb,« sagte er. »Willst du die Zeit einbringen? Gemach, es eilt nicht. Messe ihm billig seine Frist zu, viel hat er nicht mehr, jede Stunde bricht ihm ab.«

Dann gedachte er, wie etliche Straßen weit ein Mensch wohl im besten Schlafe liegen mochte, in dessen Träume nichts hineinklang von dem rastlosen Ticken, das hier im Räume webte, von dem heiseren Schlag, keine Mahnung an das hastende Rucken der Zeiger, deren größerer den kleinen mit fortriß von Stunde zu Stunde.

Der Agent fühlte unwillkürlich ein leises Frösteln und begab sich rasch zu Bette.


Gemach, es eilt nicht.

Wüllfert hatte tags darauf eine Unterredung mit seinem Vorgesetzten, erhielt einen längeren Urlaub bewilligt und verschwand aus seiner Wohnung, welche er der Obhut der Hausbesorgerin anvertraute, niemand wußte wohin.


In dem kleinen Gasthause, das allabendlich von etlichen Fleischerknechten besucht wurde, unter welchen sich auch Alois Kerneder befand, stellte sich um diese Zeit ein neuer Gast ein, von dem die alten Angestammten nichts zu sagen mußten, der aber allen, sonderlich dem Wirte, sehr willkommen war. Der neue Tischgenosse nannte sich Tobias Breiting, hatte, seinen Reden nach, längere Zeit als Soldat gedient, dann im Zivile als Amtsdiener Verwendung gefunden und sich seit kurzem mit einer kleinen Pension und etwas Erspartem zur Ruhe gesetzt. Er war ein überaus gut gelaunter alter Mann, konnte keine griesgrämigen Gesichter und keine trockenen Kehlen leiden, lobte sich lustige Gesellschaft und guten Trunk und wußte zur Heiterkeit und zu fleißigem Trinken mit einem ganz eigenen Talent anzuregen. Es verdroß ihn nicht, stets eine Guitarre mitzuschleppen, womit er die Lieder anderer begleitete und zu welcher er noch öfter selbst sang, er kannte alle neuen Gassenhauer, alle Lieder, welche die Volkssänger in den Wirtshäusern »losließen«, alle Couplets, mit welchen die Komiker in den Theatern eben Furore machten, er wußte Tierstimmen täuschend nachzuahmen, ja, er verstand sogar etwas Bauchrednerei und führte, hinter einem Ofenschirm versteckt, ganze Scenen zwischen zwei bis vier Personen auf, und all das bis zum Kranklachen drollig, kurz, wenn es je einen gegeben, so war das ein ausgemachter Tausendsasa.

Bald, das verstand sich von selbst, durfte er keinen Abend wegbleiben. Er zeigte sich in manchem gefällig, was man von ihm verlangte, nur in einem Punkte machte er Schwierigkeiten, wenn er gebeten wurde, etwas zu wiederholen. Doch auch da fand man bald Abhilfe, man merkte, daß der alte Breiting nachgab, wenn ihm Alois Kerneder zuredete; denn der wäre ein Tiroler, meinte der Lustigmacher, und die möge er gut leiden, die seien aufrichtig und geradeaus. Nachdem man einmal das wußte, steckte man sich immer hinter den Tiroler, und der war nicht wenig stolz darauf, daß, nächst dem Alten, ihm die Wirtshausgäste manchen guten und schlechten Spaß zu verdanken hatten; er suchte daher, trotz der Verschiedenheit des Alters, sich näher mit dem pensionierten Amtsdiener zu befreunden und fand ihn, obwohl der sonst wenig Einreden und gar kein Anordnen vertrug, sehr nachgiebig, das mußte benutzt werden! An einem besonders lustigen Abend trank Kerneder mit dem Alten Bruderschaft und hatte von der Zeit ab das beneidete Vorrecht, das Programm der allabendlichen Unterhaltung frei bestimmen zu können.

Er war sich auch der vollen Wichtigkeit dieser Stellung wohl bewußt, denn es kostete ihm nur ein Wort, so gab sich sein unterhaltender Duzbruder gar nimmer mit der Gesellschaft ab; er hatte sich schon gewöhnt, denselben wie etwas ihm Zugehörendes zu betrachten, vielleicht als eine Art Wundertier, das er gezähmt habe und das sich nur auf sein Kommando mit seinen Künsten sehen läßt. Dafür vergalt er aber dem Alten mit voller Vertraulichkeit und weihte denselben in die ganze Geschichte seines Lebens ein, denn ein so vortrefflicher Freund hatte billig Anspruch, ihn ganz genau, wie von Kind auf, zu kennen.

Mittlerweile hatten die Gäste im kleinen Wirtshause dreißig frohe Abende verbracht; von diesen vermag aber bekanntlich keiner für sich allein zu stehen und muß sich an den dazu gehörenden Tag anlehnen, womit also nur gesagt ist, daß ein Monat vergangen war, was man freilich billiger mit einer Zeile richten könnte, aber man will es doch auch schön machen und das muß man uns Erzählern zu gute halten, sonst werden wir ungehalten und legen die Feder weg.

Da kam nun ein Abend, an dem wollte es nicht heiter werden. Man war wohl gewöhnt, immer einem das große Wort zu lassen, und das war der alte Breiting; aber diesmal war es ein anderer, den man auch allein reden und machen ließ, obwohl man nichts Besonderes erwartete und ihn lieber draußen gesehen hätte, was man jedoch aus billiger Scheu ihm beileibe nicht merken ließ. Der Eindringling war ein bekannter Polizeidiener, und da man nur nach solchen Leuten ruft, wenn es nicht recht geheuer ist, so machen sie oft die ehrlichsten Leute bange, denen es auch neben den ungerufenen nicht recht geheuer werden will.

Wußte er's, oder wußte er's nicht, jedenfalls war er gegen, die Gesellschaft ebenso rücksichtsvoll, wie diese gegen ihn und ließ sich nichts merken und that vielleicht darum nur um so gesprächiger. Anfangs sprach er vom Wetter, von der Mode, wie lästerlich sich jetzt die Frauenzimmer trügen, denn die Frauenzimmer haben sich, wenn man die Männer reden hört, allerorten und allerzeiten lästerlich getragen, einmal, weil die Kleider zu wenig verhüllten, das andere Mal, weil sie die schöne Gestalt, so Gott dem Weibe verliehen, ganz den Blicken entzögen, kurz, sie mögen's machen, wie sie wollen, sie thun nie recht. Dann rückte er mit etwas Stadtklatsch heraus; als aber nichts recht verfangen wollte und er vermutlich nichts anderes mehr wußte, gab er sich, als was er war, und begann von Verbrechen und Verbrechern zu erzählen, was er besser gleich anfangs hätte thun sollen, denn das fanden die Leute doch Aufhorchens wert.

»Meine Herren,« sagte er, »heute hat sich ein seltener Fall ereignet, ein Mörder hat sich selbst gestellt.« »Selbst gestellt?« wie aus einem Munde.

»Selbst gestellt! Ich war bei der Protokollaufnahme, habe auch als Zeuge unterfertigt, es ist der Mühe wert, die Geschichte anzuhören, denn da sieht man wieder einmal deutlich, daß der alte Gott noch lebt und den Leuten das Gewissen weckt.«

Er rückte seinen Stuhl näher an den Tisch. Kurz vorher hätten ganz bestimmt die beiden Nachbarn rechts und links ihre Sessel ein wenig zur Seite gezogen, aber jetzt schoben alle dieselben herzu.

»Selbst gestellt, wie ich sage, meine Herren. Es war heute gegen Mittag, kommt ein langer, hagerer Mensch mit bleichem Gesicht, eingefallenen Wangen und scheuem Wesen auf das Amt, fragt nach dem Herrn Kommissär; wir weisen ihn zu dem; es vergeht keine Viertelstunde, wird an der Klingel im Zimmer gerissen, wir laufen hinzu, müssen einen von den anderen Herren als Schriftführer hineinberufen und nun ist's losgegangen. Frag' um Frage, Antwort auf Antwort, alles haarklein. Der Kerl hatte, erbschaftshalber, seine leibliche Tante vergiftet und hat das mit Geschick und Glück vollbracht, so daß es seiner Zeit nicht aufgekommen ist; drei Jahre ist's her mit dem heutigen Tag. Wie das nun zugegangen ist, daß es dem Mörder das Geständnis herausgezwungen hat, da spielt sichtbar eine höhere Fügung hinein. Ich will das jetzt erzählen, wie er es selbst zu Protokoll gegeben hat und welch außerordentliche Dinge dabei auch zur Sprache kommen, ich habe nichts dazu gethan und nichts weggelassen, das versichere ich den Herren.

»Der Mensch hatte seiner Tante das Gift nach und nach beigebracht. Sie kränkelte erst eine Weile, er holte den verrufensten Arzt ins Haus, und als sie starb, bestätigte dieser ohne weiteres, daß er sie zu Tode gedoktert habe, das geschah ihm mit den meisten seiner Patienten und er hatte somit guten Grund, es auch hier zu glauben. Die achtundvierzig Stunden über, als die Leiche im Hause lag, war dem sauberen Neffen gar nicht wohl, er fieberte etwas, aber als sie zu Grabe gebracht war, da atmete er auf und dachte, nun wär' alles gut. Er trat das Erbe an, war ein nettes Stück Geld und ein kleines Häuschen, darin blieb er wohnen, nur daß ihn nichts an die Verstorbene erinnere, stellte er alle Zimmergeräte um und ließ nichts an dem Flecke, wo es gestanden; doch um sich recht einzugewöhnen, fand er's für nötig, sich ein wenig Mut zu machen, und dazu nahm er von Zeit ab manch guten Schluck, was sich denn auch bewährte, und so saß er unangefochten auf dem ungerechten Gut, bis der Jahrestag des Mordes herankam. Er verließ an selbem Tage die Wohnung mit frühem Morgen, blieb gut vierundzwanzig Stunden weg und kehrte erst mit nächstem Frührot heim, und wie er in sein Zimmer tritt, dasselbe, wo die Verstorbene aufgebahrt wurde, da wird's ihm finster vor den Augen, die Wände sind schwarz ausgeschlagen, die Fenster verhangen und inmitten der Stube steht der Sarg und darin liegt leibhaftig die selige Tante; man kann sich wohl denken, daß er da hinter sich faßte und nach der Thürklinke griff, aber langsam hebt sich die Tante im Sarge empor, setzt sich auf, reckt den Arm und droht ihm mit dem Finger; da ist er an der Thür zusammengebrochen und gelegen, er weiß selbst nicht wie lange. Wie er wieder zu sich selbst kommt, scheint die Sonne ins Zimmer und ist alles gewesen, so wie er's sonst immer gefunden. Nun denkt er, was weiter? Du hast dich eine ganze Nacht über herumgetrieben und viel getrunken, warst nicht recht bei dir.«

»Das denk' ich auch,« sagte Alois Kerneder über den Tisch.

»War falsch gedacht,« entgegnete der Polizeidiener. »Nächsten Tag hielt er sich nüchtern, that nur ein paar Gänge zu etlichen Bekannten und kehrte mit einbrechender Nacht heim. Der Mond scheint hell ins Zimmer, unser Patron nimmt nichts Sonderliches wahr; wie er aber auf das Bett zuschreitet, das im Mondlicht milchweiß daliegt, und streift die Decke von den Polstern herab, da liegt das fahle Totengesicht der Tante vor ihm, er aber macht schleunig ›Kehrt euch‹ und wischt durch die Thüre, verbringt wieder eine Nacht außer dem Hause, denkt, es hat mir eben von gestern noch im Sinn gelegen und das Mondlicht hat mich genarrt.«

»Er war nicht dumm,« warf Kerneder ein.

»War's auch nicht, aber unserm Herrgott war er doch nicht gescheit genug. Das war so ein Deuterchen: ›Du, geh in dich, was es dich auch kostet, mach lieber freiwillig Ordnung, eh' es grüber kommt!‹ Und 's ist gröber gekommen. Das Jahr darauf hat er die verstorbene Tante öfter zu Gesicht gekriegt, als ihm lieb war. Er hat das so erzählt, plötzlich in lustigster Gesellschaft hätt' ihn eine Unruh' befallen, eine Furcht nach Hause zu gehen und regelmäßig, so oft ihm das widerfahren, sei auch das Gespenst zur Stelle gewesen: entweder saß es an einem Nähtischchen beim Fenster und richtete sich langsam bei seinem Eintreten empor, oder es lag im Bette und gehabte sich wie die Sterbende beim Verscheiden, zum öfteren sah er es wieder aufgebahrt, und je näher der zweite Jahrestag des Mordes kam, je häufiger wurden die Erscheinungen. Da dachte er's mit einemmal los zu werden, schnürte sein Bündel und machte sich auf und davon. Das Häuschen mit allem da h'rum und darin ließ er durch einen Mäkler verkaufen, reiste etliche Monate landein landaus durch die Welt und zog zuletzt hierher nach der Stadt. Nun hielt er es schon für gewonnen. In der völlig neuen Umgebung erinnerte ihn nichts an die Ermordete, das Gespenst hatte sich nimmer blicken lassen, seit er von dem Thatorte weg war, und so sah er ohne Beängstigung dem dritten Jahrestag entgegen, ja er versuchte es, je näher der herankam, desto übermütiger zu werden, trat oft vor seinen Geldschrank hin und sagte in der Stille: ›Das hab' ich nun einmal und das kannst du mir nicht nehmen,‹ – dazu schlug er ein Schnippchen – ›mach dir also keine Ungelegenheiten‹ –

»So trieb er's, bis nur mehr eine Woche auf den dritten Jahrestag fehlte, das war vom heutigen gerechnet, gerade vor acht Tagen. In letzter Zeit hatte er schmutzige Geldgeschäfte unternommen, welche man gemeiniglich durch Vermittler betreiben läßt, so daß die armen Schuldner zwischen Geldgeber und Agenten eingeklemmt und um so gründlicher ausgepreßt werden. Selbe Nacht vor einer Woche nun kommt er nach Hause, besinnt sich, er habe einem Vermittler auf den morgenden Tag Geld zugesagt, geht zu dem Schrank, schlägt dort wieder sein Schnippchen und lacht eines vor sich hin, nimmt eine Tausendguldennote heraus, geht zu seinem Schreibtisch und denkt sie in ein Couvert einzusiegeln; da ist es ihm, als knarrte die Thüre in ihren Angeln, obwohl er sie gut verschlossen wußte, leise kam es an ihn heran, eine magere eisig kalte Hand greift nach der seinen, in der er sofort alle Kraft verliert, und diese gespenstische Hand rückt die seine mit dem Geldbrief in das Licht, halt sie dort fest, bis das Papier verflackert und die Asche auf den Sekretär langsam herniederfällt. Erst als ihm das Licht die Finger sengt, fährt er mit einem Schrei zurück und sieht sich allein, aber daß er nicht geträumt hat, das beweist ihm das Häufchen Asche auf dem Tisch. Das Grauen, das ihn befällt, kann er nicht verwinden, er kriecht unter seine Bettdecke, zieht sie über den Kopf und liegt schlaflos bis zum Morgen. Wie die Sonne in das Zimmer scheint, wagt er sich aus den Federn. Behutsam, als fürchte er jemand aufzustören, öffnet er den Geldschrank, nimmt eine gleiche Note wie gestern, legt sie auf den Schreibtisch, brennt eine Kerze an und beginnt zu siegeln, da knarrt wieder die Thüre, leise mit trippelnden Schritten hört er's an sich herankommen, der kalte Schweiß bricht ihm aus, rasch will er den Brief aus der Hand fallen lassen, da tönt ein kurzes heiseres Lachen hinter seinem Rücken, seine Finger werden steif, kneifen wie eine Zange in das Papier und werden damit ins Licht gerückt; bis auf das letzte Stümpfchen, dessen Brand ihm die Nägel vergilbt, hält er es aus, dann öffnet er die Hand und sinkt in den Stuhl zurück und unter der Thüre, die sich zu schließen scheint, sieht er die verstorbene Tante, sie macht ihm einen Knicks, so tief, wie man wohl aus Spott thut, dabei verzieht sie aber keine Miene, ihr Gesicht sieht nach ihm her, leichenfahl, mit gebrochenen Augen und geöffnetem Munde.

»Von Stund' ab war es aus. Er versuchte es, unter die Leute zu gehen, aber es war ihm immer, als ginge das Gespenst hinter ihm her. Wenn er, um ein Gespräch anzuknüpfen, auf jemand zutrat, so sah er die Erscheinung diesem zur Seite stehen oder über dessen Rücken gucken, er merkte, daß seine Verstörtheit auffiel und schloß sich in seine Stube ein.

»Eine fieberhafte Angst trieb ihn an, die Probe zu machen, ob er das Gespenst denn jedesmal herbeirufe, so oft er den Geldschrank öffne, und es erschien jedesmal und dann war er genötigt, Geld zu verbrennen, um es wieder los zu werden, denn darauf verschwand es, anfangs schnell, dann immer langsamer und langsamer, so daß er in Verzweiflung Note um Note aufgriff, sie in das Licht hielt und Schritt für Schritt die fürchterliche Erscheinung mit gutem Papiergeld ausräucherte, bis sie weg war und er sich über den Schaden, den er angerichtet, wie rasend in die Haare fuhr. Aber er konnte es nicht lassen, nachzusehen, wie sein Reichtum von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde zusammenschmolz. Schrankthüre und Zimmerthüre klappten zugleich auf, der Spuk war wieder da und ohne Besinnen griff er wieder zu, äscherte ganze Hände voll guten Geldes ein und sah mit himmelschreiendem Entsetzen den Augenblick herankommen, wo er nichts mehr im Schrank haben werde, um die gräßliche Gestalt wegzubannen und diese bei ihm verbleiben würde. Und das geschah am Morgen vor dem dritten Jahrestag, als gestern; stumm verblieb das fürchterliche Ding, das nicht lebend und nicht tot war, tagüber auf seiner Stube und als die Nacht herankam und es sich in den starren Zügen des Totengesichtes zu regen begann, als wollte es aufblicken und zu reden anheben, da stürmte er hinaus und rannte im Düster und Dunkel fort, aber immer rückte das Gespenst hinter ihm her, mit gleichen Füßen über den Boden gleitend, als zöge er es nach. Zwei Meilen von der Stadt brach er zusammen und ein paar Schritte vor ihm stand der Spuk still, ruhig auf einem Flecke ausharrend bis zum Frührot, da raffte sich der Mensch auf, schleppte sich nach der Stadt zurück und stellte sich selbst auf dem Amte. Nun, meine Herren, was sagen Sie zu der Geschichte?«

Man sagte verschiedenes. Einige behaupteten, sie sei gar erschrecklich und sie würden wohl heute nacht davon träumen, andere meinten, sie sei ein rechter Fingerzeig und eine Warntafel für gottlose Gemüter; dahin aber einigten sich alle, daß es unterdem sehr spät geworden und Zeit zum Nachhausegehen wäre.

Unter der Thüre fragte Alois Kerneder den Polizeidiener, ob auch ein Arzt dabei gewesen.

Der Polizeidiener fragte seinerseits, was ein solcher dabei hätte thun sollen.

»Den Menschen untersuchen,« antwortete Kerneder, »denn es steht zehn gegen eins zu wetten, daß der krank ist, vielleicht nie im Leben einen Hund, geschweig' eine Tante, vergeben hat, das Ganze sich nur einbildet und die Herren vom Amte nach kurzer Freude den Verdruß erleben, statt einem Mörder einen Narren gefangen zu haben.«

»Das wird sich ja zeigen.«

Man trennte sich.

»Tobi,« sagte der Fleischerknecht zu Breiting, »wir gehen zusammen; ich denk', heut brauchst mich ohnehin.« Damit nahm er den Alten unter dem Arm. Der Spaßmacher schien wirklich nicht ganz fest auf den Beinen.

Als die Schritte der anderen verhallt waren, sagte Kerneder: »Heut abend waren die Ganshäut' wohlfeil. Was sagst du dazu, Tobi? Mit solchem Zeugs macht man Hasenköpfe fürchten, nicht Kerle, wie wir sind.«

»Uns nicht, wie wir sind,« sagte schwerfällig der Alte.

»Ich will dir noch eins sagen, Tobi. Wenn der Narr die ganze Mordgeschichte nicht bloß im Fieber geträumt hat, wenn er wirklich seiner Tante den Garaus machte und hinterher zum Kreuze kroch, dann ist er der erbärmlichste Feigling und es geschieht ihm ganz recht; was einer nicht zu tragen vermag, das soll er sich nicht aufladen.«

Breiting blieb stehen, zog seinen Arm aus dem seines Führers und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf dem mittleren Rockknopf: »Loisl, das kann keiner tragen!«

Kerneder lachte auf, es war nur ein kurz abgestoßener Laut. »Warum nit?«

»Das wär' ein übermenschlicher Kerl, der das zu tragen vermöcht'! Allen Respekt! Aber so, wie heut erzählt worden ist, schnappt wohl jeder über. Das ist eine Fügung.«

»Tobi, sei kein alter Esel! Du lebst doch schon lang genug auf der Welt, daß du wissen könntest, es spielt keine Fügung ins Leben hinein. Thu und treib, was du magst, es spielt keine Fügung hinein, sag' ich dir, von keiner Seite, und wär' ich an des Narren Stelle gewesen, nicht zur Polizei, in die Apotheke wär' ich gegangen, Blutegel hätt' ich mir setzen lassen und Latwergen eingenommen, das führt die Gespenster säuberlich ab und zieht sie aus dem Blut, wo sie allein sitzen. Das wüßt' ich, hätt' ich's auch nie in einem Buche gelesen. Ich hätt' mich nicht einschüchtern lassen.«

»Woher solltest auch du solche Anfechtungen haben? Was weißt du davon zu reden? Solange du Soldat warst, Loisl, sind Friedenszeiten gewesen, sonst hätt' sich wohl im Feld eine Gelegenheit schicken können, einen oder ihrer mehr auf das Korn zu nehmen. Es ist das gruslich genug, doch da heißt's, was du nicht willst, daß dir geschieht, das füge den andern zu und das ist Pflicht, aber wo es Verbrechen wird, wo ich herfall' über einen, der mir wehrlos und unbereit über 'n Weg läuft, das ist doch ganz etwas anderes.«

»Pah, es treibt sich wohl mancher in der Welt herum, der seinen Mann auf dem Gewissen hat und den es nicht mehr beschwert, als hätt' er eine Fliege erschlagen.«

»Das ist ein dummes Reden von dir, Loisl. Wir können uns nicht hineindenken, wie so einem zu Mut ist.«

Wieder klang jenes kurze Lachen. Kerneder legte seine Hand schwer auf die Schulter Breitings. »Alter, du hast keine Ahnung, wie gut ich mich da hineindenken kann.«

»Paperlapap, zwischen Hineindenken und Hineindenken ist ein gewaltiger Unterschied. Vorher macht man sich Gedanken und hintennach kommen ganz andere von selbst, und dann merkt man, daß das vorherige nicht das rechte Denken gewesen ist. Ah, red, so ein' wie du sagst, den gibt es nit, kann's nit geben.«

»Hannsnarr, wer sagt dir das?«

»Den müßt man mir erst aufweisen, eh' ich's glaub'.«

»Aufweisen müßt' man dir 'n?«

»Das müßt' ein schmiedeiserner Mensch sein.«

»Nun, dann bin ich so ein schmiedeiserner Mensch!« sagte der Fleischerknecht, sich aufreckend, so lang er war.

»O, hoho, aus Rechthaberei wirst mir noch aufbinden wollen, du hättest einen umgebracht!«

»So sicher, wie du mich da vor dir stehen siehst, hab' ich's auch gethan und frag' nichts danach.«

»Hab' ich's nit gesagt?« Der Alte schüttelte sich vor Lachen, und als er nach und nach wieder zu Atem kam, sagte er: »Du hast wohl gemeint, ich würd' gleich vor Schreck zur Seit' springen, daß d' mich brav auslachen könnt'st? Nein, mein Lieber. Den will ich auf 'm Kraut fressen, den du umgebracht hast.«

»Wenn ich ihn zur Stell' hätt', die Red' sollt' dich reuen.«

»Wie hat er denn geheißen, der nämliche?«

»Seinen Namen hab' ich ihm nicht abgefragt.«

»Wo hat man ihn denn seiner Zeit aufgefunden?«

»Den findet kein Mensch auf.«

»Das denk' ich selbst!« Der alte Spaßmacher brüllte vor Lachen.

Kerneder packte ihn mit einem harten Griff am Oberarm. »Du Hund, du, wofür hältst du mich? Meinst du, ich flunkere?« Er gab ihn wieder frei und fuhr halblaut fort: »Ich sag', was wahr ist. Wie ich als Rekrut hab' einrücken müssen, da bin ich bergüber herab der Straße zugewandert. Fuchsteufelswild war ich, daß ich von Haus und Eltern fort gemußt hab', obendrein war ich damal just kein Sparmeister und meine Leute sind so arm gewesen, daß sie mir nur ein paar Groschen haben mitgeben können; die waren am ersten Tage verthan und noch einen hatte ich zu gehen, bis ich auf die Straße traf, und dann konnte ich, solang der Weg lief, neben übervollen Burschen hertrotten, und mich hänseln und necken lassen. Das lag mir im Sinn, als ich am nächsten Morgen in eine Schlucht einbog. Schon von weitem sah ich ein kleines Männlein auf mich herzukommen, dachte mir, den gehst du an, der schenkt dir wohl ein paar Gulden. So wär' mir's lieb gewesen und darum bildete ich mir ein, so würde es auch geschehen. Als der aber herankam und ich ihn anredete, da näselte er was, das ich nicht verstand – es war ein Ausländer – und wollte an mir vorbei. Ich vertrat ihm den Weg und da griff er ein paar Kreuzer hervor; mir schoß das Blut ins Gesicht, ich hatte wohl bemerkt, wie er dabei ängstlich nach allen Seiten umsah und dann nach mir her, das entschied alles, was werden sollte. Eine heillose Wut überkam mich. Sollte ich wie ein Bettler abziehen, weil der mir gegenüber ein Knauser war? Zu Mord und Totschlag war ich ja ausgehoben worden, und da steht ein Kerl, der für Leib und Leben fürchtet und das selbst nicht höher anschlägt als ein paar Kreuzer. Thu' ich ihm danach, bleibt mir allemal ein Ueberschuß! So griff ich ihn und erwürgte ihn mit seinem eigenen Halstuch, leerte seine Taschen und zog den Leichnam über einen kleinen Bach, der dort floß. Im Frühjahr ist der wildes Wasser und wäscht am Fuß der Felswände förmliche Gruben aus, in eine solche zwängte ich den Körper; in der Nähe lehnte an einem Felsblocke, darauf Tannen standen, eine mächtige Steintafel, vielleicht unlängst heruntergebrochen, die stand so, daß ich mich nur anzustemmen brauchte, um sie fallen zu machen, sie schwang über, schlug Steingebröckel an den Kanten herunter, schloß die Höhle dicht zu und als sie lag, rieselte das Wasser darüber weg; wie sie jetzt eingekeilt liegt, bringen sie keine fünf Mann in die Höhe. Dann ging ich meiner Wege. Das ist die Geschichte, wahrscheinlicher als die närrische von vorhin. Du magst sie nun glauben oder es bleiben lassen.«

»Glaub' sie schon,« sagte langsam der Alte.

»Nun, dann glaub auch, daß ich nichts danach frage, vielleicht weil ich Fleischer und an Blut gewöhnt bin, ob von Rind oder Mensch, das gilt gleich. Ich erinnere mich, daß ich ein paarmal davon geträumt habe, wie denn alles, was man erlebt, einem im Traum vorkommen kann, worauf aber wach kein vernünftiger Mensch etwas gibt. Freilich muß man sich sicher wissen. Wärst du ein so schlechter Bruder, wie du ein guter bist, und wolltest jetzt schnurstracks aufs Polizeiamt rennen, ich hielt dich nicht mit dem kleinen Finger; da ließe sich nichts erweisen, nicht, wie der geheißen hat, noch wo er liegt ....«

Breiting richtete sich auf, er schien einen halben Kopf höher als sonst. »Seinen Namen kann ich dir sagen und an der Stelle war ich, eh' ich noch an dich hab' denken können, jetzt, weiß ich mir auch den Mann aufzufinden.« Er zog eine Uhr hervor, deren Schlüssel an einem Lederriemchen baumelte, er ließ sie schlagen, es war drei Uhr morgens. »Kerneder, kennst du die? Die hast du damals dem Wirt an der Landstraße an Zahlungsstatt überlassen und den Schlüssel hast du vor nicht ganz sechs Wochen hier bei deiner Schwägerin verstreut.«

Der Fleischerknecht war völlig nüchtern geworden. Er stand starr, dann schrie er auf: »Höllenhund, elender, wer bist denn du?«

»Der Polizeiagent Anton Wüllfert, von dem du vielleicht schon gehört hast und der dich jetzt, mit oder ohne Fügung, das gilt auch gleich, in Haft nimmt. Alois Kerneder, du bist mein Gefangener!«

Bei diesen Worten traten aus dem Schatten der nächsten Häuser einige Männer hervor und auf die beiden zu. Der Fleischerknecht machte einen raschen Seitensprung, lief ein paar Schritte; einen Augenblick sah man in seiner Hand ein Messer blinken, dann taumelte er und fiel denen, die ihn haschten, schwer in die Arme. Mit einem sicheren, kräftigen Stoß hatte er sich ins Herz getroffen.

Anton Wüllfert that es sehr leid, daß der »schöne Fall« nunmehr nicht zur Verhandlung kommen könne, aber er tröstete sich damit, daß er jetzt in der Lage sei, mit den hochachtbaren Erben des seligen Johann Georg Heinecke eine erfolgreichere Korrespondenz anzuknüpfen.

Darin wird er wohl recht behalten haben und in anderm behält er's auch, ob die Sühne für eine geschehene That mit oder ohne Fügung sich einstellt, das gilt gleich, am wohlsten wird immer dem zu Mute sein, der weder eine Fügung noch einen Zufall zu fürchten braucht, der sich weder mit Blut noch mit fremdem Eigen, weder mit Gewaltthat noch mit Gemeinheit besudelt und dem man dereinstens auf dem Sterbebette über der stillen Brust die reinerhaltenen Hände faltet.


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