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Johann Peter Hebel

(1760-1826)

Der Barbierjunge von Segringen

Man muß Gott nicht versuchen, aber auch die Menschen nicht. Denn im vorigen Spätjahr kam in dem Wirtshaus zu Segringen ein Fremder von der Armee an, der einen starken Bart hatte und fast wunderlich aussah, also, daß ihm nicht recht zu trauen war. Der sagt zum Wirt, eh' er etwas zu essen oder zu trinken fordert: »Habt Ihr keinen Barbier im Ort, der mich rasieren kann?« Der Wirt sagt ja und holt den Barbier. Zu dem sagt der Fremde: »Ihr sollt mir den Bart abnehmen, aber ich habe eine kitzlige Haut. Wenn Ihr mich nicht ins Gesicht schneidet, so bezahl' ich Euch vier Kronentaler. Wenn Ihr mich aber schneidet, so stech' ich Euch tot. Ihr wäret nicht der erste.« Wie der erschrockene Mann das hörte (denn der fremde


Herr machte ein Gesicht, als wenn es nicht vexiert wäre, und das spitzige, kalte Eisen liegt auf dem Tisch), so springt er fort und schickt den Gesellen. Zu dem sagt der Herr das nämliche. Wie der Gesell das nämliche hört, springt er ebenfalls fort und schickt den Lehrjungen. Der Lehrjunge läßt sich blenden von dem Geld und denkt: Ich wag's. Gerät es und ich schneide ihn nicht, so kann ich mir für vier Kronentaler einen neuen Rock auf die Kirchweih kaufen. Gerät's nicht, so weiß ich, was ich tu, und rasiert den Herrn. Der Herr hält ruhig still, weiß nicht, in welcher entsetzlichen Todesgefahr er ist, und der verwegene Lehrjunge spaziert ihm auch ganz kaltblütig mit dem Messer im Gesicht und um die Nase herum, als wenn's nur um einen Sechser oder im Fall eines Schnittes um ein Stücklein Zunder oder Fließpapier darauf zu tun wäre und nicht um vier Kronentaler und um ein Leben, und bringt ihm glücklich den Bart aus dem Gesicht ohne Schnitt und ohne Blut und dachte doch, als er fertig war: Gottlob! Als aber der Herr aufgestanden war und sich im Spiegel beschaut und abgetrocknet hatte und gibt dem Jungen die vier Kronentaler, sagt er zu ihm: »Aber junger Mensch, wer hat dir den Mut gegeben, mich zu rasieren, so doch dein Herr und der Gesell sind fortgesprungen? Denn wenn du mich geschnitten hättest, so hätt' ich dich erstochen.« Der Lehrjunge aber bedankte sich lächelnd für das schöne Stück Geld und sagte: »Gnädiger Herr, Ihr hättet mich nicht erstochen, sondern wenn Ihr gezuckt hättet und ich hätt' Euch ins Gesicht geschnitten, so wär' ich Euch zuvorgekommen, hätt' Euch augenblicklich die Gurgel abgehauen und wäre auf und davon gesprungen.« Als der fremde Herr das hörte und an die Gefahr dachte, in der er gesessen war, ward er erst blaß vor Schrecken und Todesangst, schenkte dem Burschen noch einen Kronentaler extra und hat seitdem zu keinem Barbier mehr gesagt: »Ich steche dich tot, wenn du mich schneidest.«

Reise nach Frankfurt

Zu ehemaligen Reichszeiten bestand auch ein großes Reichskammergericht zu Wetzlar, welches noch manchem geneigtem Leser in teuerem und wertem Andenken sein kann, wenigstens in teuerem. Viel weltberühmte Rechtsgelehrte, Advokaten und Schreiber saßen dort von Rechts wegen beisammen. Wer daheim einen großen Prozeß verloren hatte, an dem nichts mehr zu sieden und zu braten war, konnte ihn in Wetzlar noch einmal anbrühen lassen – und noch einmal verlieren. Mancher hessische, württembergische und badische Batzen ist dort hingewandelt und hat den Heimweg nimmer gefunden.

Als aber im Jahr 1806 der große Schlag auf das Deutsche Reich geschah, stürzte auch das Reichskammergericht zusammen, und alle Prozesse, die darin lagen, wurden totgeschlagen, maustot, und keiner gab mehr ein Zeichen von sich, ausgenommen im Jahr 1817 in Gera in Sachsenland hat einer wieder gezuckt.

Ein Leinwandweber daselbst liest in der Dresdner Zeitung, daß der Bundestag in Frankfurt sich mit dem Unterhalt der Angehörigen des Reichskammergerichts lebhaft beschäftige. Nämlich, daß der Bundestag für den Unterhalt und die Schadloshaltung der Räte, Advokaten und Schreiber sorgen wollte, welche seit 1806 keinen Sold mehr zogen und nichts mehr zu verdienen hatten, ob sie gleich täglich, wie die andern, Mittag läuten hörten und schöne Schilde sahen an den Wirtshäusern.

Auf dem Speicher des Leinewebers aber fing es auf einmal an, in den Akten zu rauschen, fast wie in den Totenbeinen, von welchen der Prophet Ezechiel schreibt. Der Leineweber glaubte nämlich nichts anders, als das Reichskammergericht habe nur einen neuen Rock angezogen und heiße nun Bundestag, und der Bundestag habe nichts Wichtigeres zu tun, als die alten Prozesse, wenigstens seinen, wieder anzuzetteln.

Also ließ er sich einen guten Paß nach Frankfurt schreiben, und mit Akten schwer beladen, trat er die lange Reise an. Als er aber in Frankfurt angekommen war, war sein erstes, er fragte die Schildwache am Tor, wo der Bundestag sich angesetzt habe in Frankfurt. Die Schildwache erwiderte, sie stehe da so nebendraus und erfahre nicht viel, was im Innern der Stadt geschehe. Ihres Wissens aber, seit sie da stehe, sei kein Bundestag einpassiert. Da fing der Leineweber im Fortgehen an, sich zu betrüben und zu ergrimmen: »O Deutsche«, sagte er in seinem Innern, »wie tief seid ihr gesunken! Ein Deutscher zu sein, noch dazu eine Frankfurter Schildwache, und nichts vom Bundestag wissen!« – »Guter Freund«, sagte er zu einem Vorbeigehenden, »könnt Ihr mir auch nicht sagen, wo der Bundestag sein Wesen hat?« Der Vorübergehende konnte es auch nicht sagen. »O Patriotismus«, fuhr er mit sich selber fort, »wohin bist du verschwunden? Fast müsse man sich schämen, ein Deutscher zu heißen, wenn man nicht unter seinesgleichen wäre.«

»Guter Freund«, redete er einen dritten an. »Wißt auch Ihr nicht, wo hier der Bundestag einquartiert ist?« – »Lieber, guter Mann«, entgegnete der dritte, »hier ist kein Bundestag einquartiert. Hier ist Frankfurt an der Oder. Der Bundestag ist in Frankfurt am Main.« – Der wohlerfahrne Leser weiß nämlich zum voraus schon, daß es zwei Frankfurt gibt, die nicht weniger als 66 Meilen voneinander entfernt sind, und der Leineweber war im unrechten. »Ihr habt übrigens nur noch 66 Meilen nach Frankfurt«, fuhr der dritte fort, »und wenn Ihr daher seid, wo Ihr sagt, so seit Ihr über hier nur 63 Meilen weit umgegangen.« – »Das ist jetzt ein Tun«, sagte der Leineweber. »Hab' ich A gesagt, so will ich auch B sagen. Zwanzigtausend Taler sind Geld, ohnehin bin ich es meinem seligen Großvater schuldig. Hat er den Prozeß angefangen und ist ein armer Mann daran geworden, so ist es meine Schuldigkeit, daß ich ihn fortsetze und wieder reich werde.« – »Ha, ha«, sagte der dritte, »was gilt's, das sind Akten, die Ihr da aufgepackt habt und fast drunter zusammenbrecht?« – »Es sind auch noch ein wenig Lebensmittel dabei«, versetzte der Weber in kleinmütiger Stimme, »aber nimmer viel.« Der geneigte Leser fängt an, einigen Spaß an der Sache zu finden. Von hieran aber bis nach Frankfurt am Main geht die Reise etwas langsam vonstatten. Derselbe darf herzhaft einstweilen noch ein gutes Pfeiflein stopfen, wiewohl er kann zum voraus sehen, wie alles gehen und enden wird. Denn die Chronik will wissen, daß, als einst die Phönizier erforschen wollten, ob der große Weltteil Afrika zu Wasser könne umfahren werden, rechneten sie die erforderliche Zeit der Reise auf ungefähr 2 Jahre, gleichwohl als sie hinter Ägypten in dem Roten Meer sich einschifften, der bibelfeste Leser kennt's von Moses' Zeiten her, nahmen sie nicht sonderlich viel Lebensvorrat mit, aber etwas Ackergeräte. Sahen sie nun, daß die Lebensmittel bald zu Ende gehen wollten, stiegen sie an das Land, säten von Getreide und Gemüsegattungen, was die Jahreszeit mit sich brachte, wiewohl in Afrika ist fast immer Sommer und ein schneller, kräftiger Trieb in allem Wachstum. Alsdann warteten sie die Reifung ab und brachten jedesmal nach wenigen Wochen einen neuen Vorrat in das Schiff und zogen wieder weiter, kamen auch richtig nach zwei Jahren wieder zum Vorschein durch die Meerenge von Gibraltar hinein, die der zeitungskundige Leser ebenfalls noch kennt von General Elliots Zeiten her, dessen Andenken noch bis auf diese Stunde auf Tabakspapieren gefeiert wird. Also auch der Weber auf seiner langen Reise wußte sich zu helfen, wenn Geld und Vorrat zu Ende war. »Kunst bettelt nicht«, sagte er zu sich selbst im stolzen Gefühl, »Kunst geht nach Brot.« Demnach, wenn er mittags oder abends in einem Städtlein oder Flecken eintraf, erkundigte er sich nach einem Zunftgenossen, und »habt Ihr nichts für mich zu weben«, redet er den Meister an, »um Atzung und um einiges Zehrgeld?« Stellte ihn nun der Meister ein, so blieb er einige Tage bei ihm, bis er sich ausgefüttert und wieder einige Batzen verdient hatte, und webte sich solchergestalt glücklich an dem Main hinauf und nach Frankfurt. In Frankfurt pochte ihm das Herz hoch vor Freuden, daß er nun an dem Ziel seiner Reise sei und so nahe an seiner Geldquelle, die er jetzt nur anbohren dürfe, und als er in die Bundeskanzlei kam, gleich in der vordersten Stube, wo die Herrn sitzen, die am schönsten schreiben können, grüßte er sie freundlich und vertraut. »Findet man Euch endlich einmal«, sagte er, »und seid Ihr jetzt hier?« Einer von den Herrn, der Vornehmste von ihnen, nimmt die Feder aus dem Mund und legt sie auf den Tisch. »Wir sind noch niemand aus dem Weg gegangen«, sagte er, »und was habt Ihr hier zu schaffen? Was bringt Ihr Neues, Viereckiges in Eurem Hängekorb? Eine Bundeslade? Es fehlt uns noch eine.« – »Spaß«, erwiderte der Weber, »meinen Prozeß von Anno eintausendsiebenhundertsiebenundsechzig.« – Es ist nunmehr nichts weiter an der Sache zu erzählen. Natürlich nahm sich niemand seines Prozesses an, weil der Bundestag sich mit Prozessen nicht gemein macht, und die lange beschwerliche Reise war umsonst getan. Die Erzählung nimmt daher ein kahles Ende, der Hausfreund fühlt es. Fast sollte er noch was hinzufügen. Statt dessen aber will er hierneben eine Abbildung des Leinewebers stiften, wie er auf der Heimreise einmal ausruht und eine Standrede hält.

»Es ist mir in diesen sechs Wochen vieles klargeworden«, sagt er. »Man muß einem deutschen Mann nicht sogleich Vorwürfe machen, wenn er in Vaterlandssachen ein wenig unwissend und kaltsinnig ist. Denn man ist selber einer. Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge? Lerne zuerst selber und werde warm. Den guten Leuten in Frankfurt an der Oder ist von mir Tort geschehen. In Frankfurt am Main aber mir.

Wenn ihr in der Zeitung etwas leset oder im Plakat oder im Kräuterbuch und versteht es nicht, laßt euch raten, achtbare Zuhörer, und geht um verständige Belehrung aus, ehe ihr etwas unternehmet, besonders wenn es ein Prozeß ist.

Der beste Prozeß ist ein schlechter, und auf dem Lager bessert er sich nicht. Der Habich ist besser als der Hättich. Friede ernährt. Unfrieden zerstört.

Und nun, geliebte Akten, die ich jetzt hier ablege, gehabt euch wohl, und seid dem Mann empfohlen, der euch finden und vielleicht glücklicher mit euch sein wird als ich.«

Indem er aber die Akten absetzen wollte, klopfte ihm von hinten her ein Mann auf die Achsel, der auch desselben Wegs ging. (Man sieht ihn aber kaum auf der Abbildung, nichtsdestoweniger ist's der Gewürzkrämer aus dem nächsten Städlein.) »Guter Freund«, sagte er, »mit wem redet Ihr da so allein?« – »Mit niemand«, erwiderte der Weber, »wenn Ihr mir aber meinen Prozeß abkaufen wollt, mit Euch. Lupft ihn einmal! Was gebt Ihr mir dafür?« Der Mann sagte: »Anderthalb Kreuzer für das Pfund, wenn das Papier daran gut ist. Kommt mit mir.« Also verkaufte er dem Gewürzhändler die Akten für einen Gulden vierundzwanzig Kreuzer, die vollends zum Rest der Reise hinreichten, und kam mit leerem Korb und Beutel wieder in der Heimat an. »An meine Frankfurter Reise« sagte er, »will ich denken. Diesmal in Frankfurt gewesen.«

Merkwürdige Gespenstergeschichte

Vergangenen Herbst fuhr ein fremder Herr durch Schliengen, das ein schöner, braver Ort ist. Den Berg hinauf aber ging er zu Fuß wegen der Rosse und erzählte einem Grenzacher folgende Geschichte, die ihm selber begegnet ist.

Als der Herr ein halbes Jahr vorher nach Dänemark reiste, kommt er auf den späten Abend in einen Flecken, wo nicht weit davon auf einer Anhöhe ein sauberes Schlößlein stand, und will über Nacht bleiben. Der Wirt sagt, er habe keinen Platz mehr für ihn, es werde morgen einer gerichtet und seien schon drei Scharfrichter bei ihm über Nacht. So erwidert der Herr: »Ich will denn dort in das Schlößlein gehen. Der Baron, oder wem es angehört, wird mich schon hineinlassen und ein leeres Bett für mich haben.« Der Wirt sagt: »Manch schönes Bett, mit seidenen Umhängen, steht aufgeschlagen in den hohen Gemächern; und die Schlüssel hab' ich in Verwahrung. Aber ich will es Euch nicht raten. Der gnädige Herr ist schon vor einem Vierteljahr mit seiner Frau und mit dem Junker auf eine weite Reise gezogen, und seit der Zeit wüten im Schlößlein die Gespenster. Der Schloßvogt und das Gesinde konnten nimmer bleiben; und wer seitdem in das Schlößlein gekommen ist, der geht zum zweitenmal nimmer hinein.« Darüber lächelt der fremde Herr; denn er war ein herzhafter Mann, der nichts auf die Gespenster hielt, und sagt: »Ich will's versuchen.« Trotz aller Widerrede mußte ihm der Wirt den Schlüssel geben; und nachdem er sich mit dem Nötigen zu einem Gespensterbesuch versehen hatte, ging er mit dem Bedienten, den er bei sich hatte, in das Schloß. Im Schloß kleidete er sich nicht aus, wollte auch nicht schlafen, sondern abwarten, was geschieht. Zu dem Ende stellte er zwei brennende Lichter auf den Tisch, legte ein Paar geladene Pistolen daneben, nahm zum Zeitvertreib den Rheinländischen Hausfreund, der in Goldpapier eingebunden an einem roten seidenen Bändelein unter dem Spiegelrahmen hing, und beschaute die schönen Bilder. Lange wollte sich nichts spüren lassen. Aber als die Mitternacht im Kirchturm sich rührte und die Glocke zwölf schlug, eine Gewitterwolke zog über das Schloß weg, und die großen Regentropfen schlugen an die Fenster, da klopfte es dreimal stark an die Tür, und eine fürchterliche Gestalt, mit schwarzen schielenden Augen, mit einer halbellenlangen Nase, fletschenden Zähnen und einem Bocksbart, zottig am ganzen Leib, trat in das Gemach und brummte mit fürchterlicher Stimme: »Ich bin der Großherr Mephistopheles. Willkommen in meinem Palast! Und habt Ihr auch Abschied genommen von Frau und Kind?« Dem fremden Herrn fuhr ein kalter Schauer vom großen Zehen an über den Rücken hinauf bis unter die Schlafkappe, und an den armen Bedienten darf man gar nicht denken. Als aber der Mephistopheles mit fürchterlichen Grimassen und hochgehobenen Knien gegen ihn herkam, als wenn er über lauter Flammen schreiten müßte, dachte der arme Herr: In Gottes Namen, jetzt ist's einmal so, und stand herzhaft auf, hielt dem Ungetüm die Pistole entgegen und sprach: »Halt, oder ich schieß'!« Mit so etwas läßt sonst nicht jedes Gespenst sich schrecken, denn wenn man auch schießen will, so geht's nicht los, oder die Kugel fährt zurück und trifft nicht den Geist, sondern den Schützen. Aber Mephistopheles hob drohend den Zeigefinger in die Höhe, kehrte langsam um und ging mit ebensolchen Schritten, wie er gekommen war, wieder fort. Als aber der Fremde sah, daß dieser Satan Respekt vor dem Pulver hatte, dachte er: Jetzt ist keine Gefahr mehr, nahm in die andere Hand ein Licht und ging dem Gespenst, das langsam einen Gang hinabschritt, ebenso langsam nach, und der Bediente sprang, so schnell er konnte, hinter ihm zum Tempel hinaus und in den Ort, dachte, er wolle lieber bei den Scharfrichtern über Nacht sein als bei den Geistern. – Aber auf dem Gang, auf einmal verschwindet der Geist vor den Augen seines kühnen Verfolgers und war nicht anders, als wär' er in den Boden gesunken. Als aber der Herr noch ein paar Schritte weitergehen wollte, um zu sehen, wo er hingekommen, hörte auf einmal unter seinen Füßen der Boden auf, und er fiel durch ein Loch hinab, aus welchem ihm Feuerglast entgegenkam, und er glaubte selber, jetzt geh' es an einen anderen Ort. Als er aber ungefähr zehn Fuß tief gefallen war, lag er zwar unbeschädigt auf einem Haufen Heu, in einem unterirdischen Gewölb'. Aber sechs kuriose Gesellen standen um ein Feuer herum, und der Mephistopheles war auch da. Allerlei wunderbares Gerät lag umher, und zwei Tische lagen gehäuft voll funkelnder Rößleinstaler, einer schöner als der andere. Da merkte der Fremde, wie er daran war. Denn das war eine heimliche Gesellschaft von Falschmünzern, die alle Fleisch und Bein hatten. Diese benutzten die Abwesenheit des Barons, legten in seinem Schloß ihre verborgenen Münzstöcke an und waren vermutlich von seinen eigenen Leuten dabei, die im Hause Bericht und Gelegenheit wußten; und damit sie ihr heimlich Wesen ungestört und unbeschrien treiben konnten, fingen sie den Gespensterlärm an, und wer in das Haus kam, wurde so in Schrecken gesetzt, daß er zum zweitenmal nimmer kam. Aber jetzt fand der verwegene Reisende erst Ursache, seine Unvorsichtigkeit zu bereuen und daß er den Vorstellungen des Wirts im Dorf kein Gehör gegeben hatte. Denn er wurde durch ein enges Loch hinein in ein anderes finsteres Gewölb' geschoben und hörte wohl, wie sie Kriegsgericht über ihn hielten und sagten: »Es wird das beste sein, wenn wir ihn umbringen.« Aber einer sagte noch: »Wir müssen ihn zuerst verhören, wer er ist und wie er heißt und wo er sich herschreibt.« Als sie aber hörten, daß er ein vornehmer Herr sei und nach Kopenhagen zum König reise, sahen sie einander mit großen Augen an, und nachdem er wieder in dem finsteren Gewölb' war, sagten sie: »Jetzt steht die Sache schlimm. Denn wenn er vermißt wird, und es kommt durch den Wirt heraus, daß er ins Schloß gegangen ist und ist nimmer herausgekommen, so kommen über Nacht die Husaren, heben uns aus, und der Hanf ist dies Jahr wohlgeraten, daß ein Strick zum Henken nicht viel kostet.« Also kündigten sie dem Gefangenen Pardon an, wenn er ihnen einen Eid ablegte, daß er nichts verraten wolle, und drohten, daß sie in Kopenhagen wollten auf ihn achtgeben lassen; und er mußte ihnen auf den Eid hin sagen, wo er wohne. Er sagte: »Neben dem Wilden Mann linker Hand in dem großen Haus mit grünen Läden.« Danach schenkten sie ihm Burgunderwein ein zum Morgentrunk, und er schaute ihnen zu, wie sie Rößleinstaler prägten bis an den Morgen. Als aber der Tag durch die Kellerlöcher hinabschien und auf der Straße die Geißeln knallten, nahm der Fremde Abschied von den nächtlichen Gesellen, bedankte sich für die gute Bewirtung und ging mit frohem Mut wieder in das Wirtshaus, ohne daran zu denken, daß er seine Uhr und seine Tabakspfeife und die Pistolen habe liegen lassen. Der Wirt sagte: »Gottlob, daß ich Euch wiedersehe, ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können. Wie ist es Euch gegangen?« Aber der Reisende dachte: Ein Eid ist ein Eid, und um sein Leben zu retten, muß man den Namen Gottes nicht mißbrauchen, wenn man's nicht halten will. Deswegen sagte er nichts, und weil jetzt das Glöcklein läutete und der arme Sünder hinausgeführt wurde, so lief alles fort. Auch in Kopenhagen hielt er nachher reinen Mund und dachte selber fast nicht mehr daran. Aber nach einigen Wochen kam auf der Post ein Kistlein an ihn, und waren darin ein Paar neue mit Silber eingelegte Pistolen von großem Wert, eine neue goldene Uhr mit kostbaren Diamantsteinen besetzt, eine türkische Tabakspfeife mit einer goldenen Kette daran und eine seidene, mit Gold gestickte Tabaksblase und ein Brieflein drin. In dem Brieflein stand: »Dies schicken wir Euch für den Schrecken, den Ihr bei uns ausgestanden, und zum Dank für Eure Verschwiegenheit. Jetzt ist alles vorbei, und Ihr dürft es erzählen, wem Ihr wollt.« Deswegen hat's der Herr dem Grenzacher erzählt, und das war die nämliche Uhr, die er oben auf dem Berg herauszog, als es in Hertingen Mittag läutete, und schaute, ob die Hertinger Uhr recht geht, und sind ihm hernach im Storchen zu Basel von einem französischen General 75 neue Dublonen darauf geboten worden. Aber er hat sie nicht drum geben.

Herr Charles

Ein Kaufmann in Petersburg, von Geburt ein Franzose, wiegte eben sein wunderschönes Büblein auf dem Knie und machte ein Gesicht dazu, daß er ein wohlhabender und glücklicher Mann sei und sein Glück für einen Segen Gottes halte. Indem trat ein fremder Mann, ein Pole, mit vier kranken, halberfrorenen Kindern in die Stube. »Da bring' ich Euch die Kinder.« Der Kaufmann sah den Polen erstaunt an. »Was soll ich mit diesen Kindern tun? Wem gehörten sie? Wer schickt Euch zu mir?« – »Niemand gehören sie«, sagte der Pole, »einer toten Frau im Schnee, siebzig Stunden herwärts Wilna. Tun könnt Ihr mit ihnen, was Ihr wollt.« Der Kaufmann sagte: »Ihr werdet nicht am rechten Ort sein«, und der Hausfreund glaubt's auch nicht. Allein der Pole erwiderte, ohne sich irremachen zu lassen: »Wenn Ihr der Herr Charles seid, so bin ich am rechten Ort«, und der Hausfreund glaubt's auch. Er war der Herr Charles. Nämlich es hatte eine Französin, eine Witwe, schon lange im Wohlstand und ohne Tadel in Moskau gelebt. Als aber vor fünf Jahren die Franzosen in Moskau waren, benahm sie sich landsmannschaftlicher gegen sie, als den Einwohnern wohlgefiel. Denn das Blut verleugnet sich nicht; und nachdem sie in dem großen Brand ebenfalls ihr Häuslein und ihren Wohlstand verloren und nur ihre fünf Kinder gerettet hatte, mußte sie, weil sie verdächtig sei, nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus dem Land reisen. Sonst hätte sie sich nach Petersburg gewendet, wo sie einen reichen Vetter zu finden hoffte. Der geneigte Leser wird bereits etwas merken. Als sie aber in einer schrecklichen Kälte und Flucht und unter unsäglichen Leiden schon bis nach Wilna gekommen war, krank und aller Bedürfnisse und Bequemlichkeiten für eine so lange Reise entblößt, traf sie in Wilna einen edlen russischen Fürsten und klagte ihm ihre Not. Der edle Fürst schenkte ihr dreihundert Rubel, und als er erfuhr, daß sie in Petersburg einen Vetter habe, stellte er ihr frei, ob sie ihre Reise nach Frankreich fortsetzen oder ob sie mit einem Paß nach Petersburg umkehren wolle. Da schaute sie zweifelnd ihr ältestes Büblein an, weil es das verständigste und das kränkste war. »Wo willst du hin, mein Sohn?« – »Wo du hingehst, Mutter«, sagte der Knabe, und hatte recht. Denn er ging vor der Abreise ins Grab. Also versah sie sich mit dem Notwendigsten und vereinbarte mit einem Polen, daß er sie für fünfhundert Rubel nach Petersburg brächte zum Vetter; denn sie dachte, er wird das Fehlende schon drauflegen. Aber alle Tage kränker auf der langen, beschwerlichen Reise, starb sie am sechsten oder siebenten. – »Wo du hingehst«, hatte der Knabe gesagt; und der arme Pole erbte von ihr die Kinder, und konnten miteinander so viel reden, als ein Pole verstehen mag, wenn ein französisches Kind russisch spricht, oder ein Französlein, wenn man mit ihm reden will auf polnisch. Nicht jeder geneigte Leser hätte an seiner Stelle sein mögen. Er war es selbst nicht gern. »Was anfangen jetzt?« sagte er zu sich selbst. »Umkehren – wo die Kinder lassen? Weiterfahren – wem bringen?« Tue, was du sollst, sagte endlich etwas in seinem Innern zu ihm. Willst du die armen Kinder um das Letzte und Einzige bringen, was sie von ihrer Mutter zu erben haben, um dein Wort, das du ihr gegeben hast? Also kniete er mit den unglücklichen Waisen am Leichnam und betete mit ihnen ein polnisches Vaterunser: »Und führe uns nicht in Versuchung.« Hernach ließ jedes ein Händlein voll Schnee zum Abschied und eine Träne auf die kalte Brust der Mutter fallen, nämlich daß sie ihr gern die letzte Pflicht der Beerdigung antun wollten, wenn sie könnten, und daß sie jetzt verlassene, unglückliche Kinder seien. Hernach fuhr er getrost mit ihnen weiter auf der Straße nach Petersburg, denn es wollte ihm nicht eingehen, daß, der ihm die Kindlein anvertraut hatte, könne ihn steckenlassen, und als die große Stadt vor seinen Augen sich ausdehnte, wie ein Fuhrmann tut, der auch erst vor dem Tor fragt, wo er anhalten soll, erkundigte er sich endlich bei den Kindern, so gut er sich verständlich machen konnte, wo denn der Vetter wohne, und erfuhr von ihnen, so gut er sie verstehen konnte: »Wir wissen's nicht.« – Wie er denn heiße? »Wir wissen's auch nicht.« – Wie denn ihr eigener Geschlechtsname sei? »Charles.« Der geneigte Leser will schon wieder etwas merken, und wenn's der Hausfreund für sich zu tun hätte, so wäre der Herr Charles der Vetter. Die Kinder wären versorgt, und die Erzählung hätte ein Ende. Allein die Wahrheit ist oft sinniger als die Erdichtung. Nein, der Herr Charles ist der Vetter nicht, sondern dieses Namens ein anderer, und bis auf diese Stunde weiß noch niemand, wie der wahre Vetter eigentlich heißt, nicht ob und wo in Petersburg er wohnt. Also fuhr der arme Mann in großer Verlegenheit zwei Tage lang in der Stadt herum und hatte Französlein feil. Aber niemand wollte ihn fragen, wie teuer das Pärlein, und der Herr Charles begehrte sie nicht einmal geschenkt, und war noch nicht willens, eines zu behalten. Als aber ein Wort das andere gab und ihm der Pole schlicht und menschlich ihr Schicksal und seine Not erzählte – eins, dachte er, will ich ihm abnehmen – und es füllte sich immer wärmer in seinem Busen – ich will ihm zwei abnehmen, dachte er; und als sich endlich die Kinder um ihn anschmiegten, meinend, er sei der Herr Vetter, und anfingen, auf französisch zu weinen, denn der geneigte Leser wird auch schon bemerkt haben, daß die französischen Kinder anders weinen, und als der Herr Charles die Landesart erkannte, da rührte Gott sein Herz an, daß ihm ward wie einem Vater, wenn er die eigenen Kinder weinen und klagen sieht, und: »In Gottes Namen«, sagte er, »wenn's so ist, so will ich mich nicht entziehen«, und nahm die Kinder an. »Setzt Euch ein wenig nieder«, sagte er zu dem Polen, »ich will Euch ein Süpplein kochen lassen.«

Der Pole, mit gutem Appetit und leichtem Herzen, aß die Suppe und legte den Löffel weg – er legte den Löffel weg und blieb sitzen – er stand auf und blieb stehen. »Seid so gut«, sagte er endlich, »und fertigt mich jetzt ab, der Weg nach Wilna ist weit. Fünfhundert Rubel hat die Frau mit mir vereinbart.« Da fuhr es doch dem milden Menschen, dem Herrn Charles, über das Gesicht wie der Schatten einer fliegenden Frühlingswolke über die sonnenreiche Flur. »Guter Freund«, sagte er, »Ihr kommt mir ein wenig kurios vor. Ist's nicht genug, daß ich Euch die Kinder abgenommen habe, soll ich Euch auch noch den Fuhrlohn bezahlen?« Denn das kann dem redlichsten und besten Gemüt begegnen, wenn's ein Kaufmann ist, jedem andern aber auch, daß es wider Wissen und Willen zuerst ein wenig handeln und markten muß, sei es auch nur mit sich selbst. Der Pole erwiderte: »Guter Herr, ich will Euch nicht ins Gesicht sagen, wie Ihr mir vorkommt. Ist's nicht genug, daß ich Euch die Kinder bringe? Sollt' ich sie auch noch umsonst geführt haben? Die Zeiten sind bös und der Verdienst ist gering.« – »Eben deswegen«, sagte Herr Charles, »darüber laßt mich klagen. Oder meint Ihr, ich sei so reich, daß ich fremde Kinder aufkaufe, oder so gottlos, daß ich mit ihnen handle? Wollt Ihr sie wieder?« Als aber noch einmal ein Wort das andere gab und der Pole jetzt erst mit Staunen erfuhr, daß der Herr Charles gar nicht der Vetter sei, sondern nur aus Mitleiden die armen Waisen angenommen habe, »wenn's so ist«, sagte er, »ich bin kein reicher Mann, und Eure Landsleute, die Franzosen, haben mich auch nicht dazu gemacht, aber wenn's so ist, so kann ich Euch nichts zumuten. Tut den armen Würmlein Gutes dafür«, sagte der edle Mensch, und es trat ihm eine Träne ins Auge, die wie aus einem überwältigten Herzen kam, wenigstens überwältigte sie dem Herrn Charles das seinige. Monsieur Charles, dachte er, und ein armer polnischer Fuhrmann! – und als der Pole anfing, eines der Kinder nach dem andern zum Abschied zu küssen und sie auf polnisch zur Folgsamkeit und Frömmigkeit ermahnte, »guter Freund«, sagte der Herr Charles, »bleibt noch ein wenig da. Ich bin doch so arm nicht, daß ich Euch nicht Euern wohlverdienten Fuhrlohn bezahlen könnte, so ich doch die Fracht Euch abgenommen habe«, und gab ihm die fünfhundert Rubel. Also sind jetzt die Kindlein versorgt, der Fuhrlohn ist bezahlt, und so der eine oder der andere geneigte Leser vor den Toren der großen Stadt hätte zweifeln mögen, ob der Vetter auch noch zu finden sei, und ob er's tun werde, so hat doch die heilige Vorsehung ihn nicht einmal dazu vonnöten gehabt.

Unverhofftes Wiedersehen

In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge hübsche Braut und sagte zu ihr: »Auf Sankt Luciä wird unsere Liebe von des Priesters Hand gesegnet. Dann sind wir Mann und Weib und bauen uns ein eigenes Nestlein.« – »Und Friede und Liebe soll darin wohnen«, sagte die schöne Braut mit holdem Lächeln, »dann du bist mein einziges und alles, und ohne dich möchte ich lieber im Grab sein als an einem andern Ort.« Als sie aber vor St. Luciä der Pfarrer zum zweitenmal in der Kirche ausgerufen hatte: »So nun jemand Hindernis wüßte anzuzeigen, warum diese Personen nicht möchten ehelich zusammenkommen«, da meldete sich der Tod. Denn als der Jüngling den andern Morgen in seiner schwarzen Bergmannskleidung an ihrem Haus vorbeiging – der Bergmann hat sein Totenkleid immer an –, da klopfte er zwar noch einmal an ihrem Fenster und sagte ihr guten Morgen, aber keinen guten Abend mehr. Er kam nimmer aus dem Bergwerk zurück, und sie säumte vergeblich selbigen Morgen ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zum Hochzeitstag, sondern als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um ihn und vergaß ihn nie. Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte Russisch-Finnland, und die Französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schächten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam eines Jünglings hervor, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war, also daß man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben oder ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit. Als man ihn aber zutage ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Gefreundte und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafenden Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglück wissen, bis die ehemalige Verlobte des Bergmanns kam, der eines Tages auf die Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen heftigen Bewegung des Gemüts erholt hatte, »es ist mein Verlobter«, sagte sie endlich, »um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte und den mich Gott noch einmal sehen läßt vor meinem Ende. Acht Tage vor der Hochzeit ist er auf die Grube gegangen und nimmer gekommen.« Da wurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen, als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hingewelkten kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner jugendlichen Schöne, und wie in ihrer Brust nach 50 Jahren die Flamme der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte; aber er öffnete den Mund nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen; und wie sie ihn endlich von den Bergleuten in ihr Stübchen tragen ließ, als die einzige, die ihm angehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet sei auf dem Kirchhof. Den anderen Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof und ihn die Bergleute holten, legte sie ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um und begleitete ihn in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: »Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitsbett, und laß dir die Zeit nicht lange werden. Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag. – Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten«, sagte sie, als sie fortging und noch einmal umschaute.

Jakob Humbel

Jakob Humbel, eines armen Bauern Sohn von Boneschwyl im Schweizer Kanton Aargau, kann jedem seinesgleichen zu einem lehrreichen und aufmunternden Beispiel dienen, wie ein junger Mensch, dem es Ernst ist, etwas Nützliches zu lernen und etwas Rechtes zu werden, trotz allen Hindernissen am Ende seinen Zweck durch eigenen Fleiß und Gottes Hilfe erreichen kann.

Jakob Humbel wünschte von früher Jugend an ein Tierarzt zu werden, um in diesem Beruf seinen Mitbürgern viel Nutzen leisten zu können. Das war sein Dichten und Trachten Tag und Nacht.

Sein Vater gab ihn daher in seinem sechzehnten Jahr einem sogenannten Viehdoktor von Mummental in die Lehre, der aber kein geschickter Mann war.

Bei diesem lernte er zwei Jahre, bekam alsdann einen braven Lehrbrief und wußte alles, was sein Meister wußte, nämlich Tränklein und Salben kochen, auch Pflaster kneten für den bösen Wind, sonst nichts – und das war nicht viel.

Ich weiß einen, der wäre damit zufrieden gewesen, hätte nun auf seinen Lehrbrief und seines Meisters Wort Salben gekocht, zu Pflaster gestrichen drauf und dran für den bösen Wind, das Geld dafür genommen und selber gemeint, er sei's.

Jakob Humbel nicht also. Er ging zu einem andern Viehdoktor in Oberoltern im Emmental noch einmal in die Lehre, hielt abermal ein Jahr bei ihm aus, bekam abermal einen Lehrbrief und wußte abermal – nichts, weil auch dieser Meister die wichtige Kunst selber nicht verstand, keine Kenntnis hatte von der inneren Beschaffenheit eines Tieres im gesunden und kranken Zustand und von der Natur der Arzneimittel.

Ich weiß einen, der hätt's jetzt bleibenlassen, wär' eben wieder heimgekommen, wie er fortgegangen, und hätt' sich mit andern getröstet, aus denen auch nichts hat werden wollen.

Fast sah es mit unserm armen Jakob Humbel ebenso aus. Mit bösen Windsalben war wenig Geld, noch weniger Kredit und Ehre zu verdienen. Was er verdiente, zog der Vater. Humbel wurde gemeiner Tagelöhner, ging in armseliger Kleidung umher, ohne Geld und ohne Rat, und dennoch hatte er noch immer den Tierarzt – nicht im Kopf, denn das wäre schon recht gewesen, sondern im sehnsuchtsvollen Verlangen. Jetzt verdingte er sich als Hausbedienter bei Herrn Ringier im Klösterli zu Zofingen. Bei diesem Herrn war er drei Jahre, bekam einen guten Lohn und wurde gütig behandelt wie ein Kind.

Ich weiß einen, der hätte die Güte eines solchen Herrn mißbraucht, wäre meisterlos worden, den Lohn hätten bekommen der Wirt und der Spielmann.

Aber Jakob Humbel wußte mit seinem Verdienst etwas Besseres anzufangen. Oft, wann er bei dem Essen aufwartete, hörte er die Herren am Tisch französisch reden. Da kam er auf den Gedanken, diese Sprache auch zu lernen. Vermutlich hoffte er dadurch auf irgendeine Art leichter zu seinem Zweck zu kommen, noch ein geschickter und braver Tierarzt zu werden. Er ging mit seinem zusammengesparten Verdienst nach Nyon in die Schulanstalt des Herrn Snell und lernte soviel, als in neun Monaten zu lernen war. Jetzt war sein Vorrat verzehrt, und ehe er seine Studien fortsetzen konnte, mußte er wieder Geld verdienen.

›Gott wird mich nicht verlassen‹, dachte er. Er ging zu Herrn Landvogt Bucher in Wildenstein als Kammerdiener in Diensten, erwarb sich bei diesem und nachher bei einem andern Herrn wieder etwas Geld und befand sich im Jahre 1798, als die Franzosen in die Schweiz kamen, in seinem Geburtsort zu Boneschwyl und trieb mit seinem erworbenen Geld einen kleinen Kornhandel nach Zürich, der recht gut vonstatten ging und seine Barschaft nach Wunsch vermehrte. Jetzt war er im Begriff, ins Ausland zu gehen und von dem ehrlich erworbenen Geld endlich seine Kunst rechtschaffen zu studieren. Da wurde ein Korps von achtzehntausend Mann helvetischer Hilfstruppen errichtet. Die Gemeinde Boneschwyl mußte acht Mann stellen. Die jungen Burschen müssen spielen: den guten Jakob Humbel trifft das Los, Soldat zu werden.

Ich weiß einen, der hätte gedacht, die Welt ist groß und der Weg ist offen; wär' mit seiner kleinen Barschaft zum Teufel gegangen und hätte seine Mitbürger dafür sorgen lassen, wo sie statt seiner den achten Mann nehmen wollten. Aber Jakob Humbel liebt sein Vaterland und ist ein ehrliches Blut. Er stellte einen Mann, den er zwei Jahre lang auf seine Kosten unterhalten mußte. Das Beste von seinem erworbenen Vermögen, wovon er noch etwas lernen wollte, ging zu seinen unsäglichen Schmerzen drauf, und er dachte: ›Jetzt habe ich hohe Zeit, sonst ist's Matthäi am Letzten.‹ Mit diesen Gedanken nahm er den Rest seiner Habschaft in die Tasche, einen Stecken in die Hand und lief eines Gangs, ohne sich umzusehen, nach Karlsruhe, und als er auf der Mühlberger Straße zwischen den langen Reihen der Pappelbäume die Stadt erblickte, da dachte er: ›Gottlob! Und Gott wird mir helfen.‹

Guter Jakob Humbel, Gott hilft jedem, der sich wie du von Gott will helfen lassen, und du hast es erfahren.

In Karlsruhe ist nämlich eine öffentliche Anstalt zum Unterricht in der Tierarzneikunst. Die Lehrstunden werden unentgeltlich erteilt. Die sehr geschickten Lehrer geben sich Mühe, ihre Lehrjünger gründlich zu unterrichten. Schon mancher brave Tierarzt hat in dieser nützlichen Schule sich zu seinem Beruf vorbereitet und gebildet.

Hier war nun Humbel in seinem rechten Element, an der reichen Quelle, wo er seinen lang gehaltenen Durst nach Wissenschaft befriedigen konnte, lernte ein krankes Tier mit anderen Augen anschauen als in Mummental und Emmental, konnte andere Sachen lernen als Wind machen und bösen Wind vertreiben und war nicht viel im Bierhaus zur »Stadt Berlin« oder im Wirtshaus zur »Stadt Straßburg« oder in Klein-Karlsruhe im »Wilhelm Tell« zu sehen, ob er gleich sein Landsmann war, auch nicht einmal recht am Sonntag auf dem Paradeplatz oder zu Mühlburg im »Rappen«, sondern vom frühen Morgen bis in die späte Nacht beschäftigte er sich zwanzig Monate lang unermüdet und unverdrossen mit seiner Kunst, und wenn er wieder etwas Neues, Schönes und Nützliches gelernt hatte, so machte ihn das am Abend vergnügter als der Zapfenstreich mit der schönsten türkischen Musik; zumal wenn ihm bei derselben sein Kostgänger einfiel bei den helvetischen Hilfstruppen.

Endlich kehrte er als ein ausgelernter Tierarzt mit den schönsten Zeugnissen seiner Lehrer aus Karlsruhe freudig in sein Vaterland zurück, wurde von dem Sanitätsrat in dem Kanton Aargau geprüft, legte zu jedermanns Erstaunen und Freude die weitläufigsten und gründlichsten Kenntnisse an den Tag, erhielt mit wohlverdienten Lobsprüchen und Ehren das Patent auf seine Kunst – und ist nun nach allen ausgestandenen Schwierigkeiten und Mühseligkeiten am schönen Ziel seiner lebenslänglichen Wünsche, einer der geschicktesten und angesehensten Tierärzte in dem ganzen Schweizerlande. Jetzt weiß ich vier, die denken: ›Wenn solcher Mut und Ernst dazu gehört, etwas Braves zu lernen, so ist's kein Wunder, daß aus mir nichts hat werden wollen.‹ Weißt du was? Nimm Gott zu Hilfe und probiere es noch!

Einer Edelfrau schlaflose Nacht

Es ist nichts lehrreicher als die Aufmerksamkeit, wie in dem menschlichen Leben alles zusammenhängt, wenn man es zu entdecken vermag, z.B. Zahnschmerzen und das Glück eines Ehepaars, und wie selbst das, was unrecht und verboten ist, wiedergutgemacht werden kann, wenn's an den rechten Mann oder an die rechte Frau kommt, und wie in dem großen, unaufhörlichen Wechsel der Dinge alles einzelne wieder verschwimmt, daß man ihm nimmer nachkommt, und doch getan bleibt und nicht verlorengeht, es sei gut oder bös. Gleich als wenn man ein Glas Wasser in den Rhein ausgießt, kein Sterblicher ist imstand, es wieder herauszuschöpfen, sondern es ist jetzt dem Rhein vermählt und augenblicklich verschwemmt in der großen Flut. Ja, wenn die Sonne Wasser aufzieht, wie man zu sagen pflegt, sind ein Paar Tröpflein davon vielleicht auch dabei, und fallen irgendwo, in Bayern oder Lothringen, wieder aus einer Wasserwolke vom Himmel herab und erquicken ein Blümlein.

Eine Dienstmagd, jung und brav, auch hübsch, und ein Knecht gleicher Qualität dienten miteinander auf einem Edelhof und hätten nicht so gerne Kaffee getrunken oder alle Tage Braten gegessen als vielmehr einander geheiratet. Allein sie waren Leibeigne, insoweit, daß sie verpflichtet waren, eine gewisse Zeit Hofdienste zu tun, und die Edelfrau auf dem Hofe wollte sie nicht früher aus dem Dienst entlassen, weil sie so brav waren in ihrer Aufführung und so fleißig und treu in ihren Geschäften. Deswegen saßen sie oft beisammen und weinten, oder sie weinte, und er nagte an einem Holzsplitter. Ein andermal, wie die menschliche Laune wechselt, sprachen sie sich Mut ein, daß es ja nur noch um zwei Jährlein zu tun sei, und freuten sich schon im voraus ihres zukünftigen Glücks, »wenn du mein Weib bist« – sagte er – »und ich dein Mann«, und einmal vergaßen sie sogar die Zukunft und meinten, es sei jetzt. Nach Verlauf aber eines Jahres hat die Frau auf dem Edelhof in der Nacht desperates Zahnweh, nicht gerade deswegen. Sie steht aus dem Bette auf und wirft sich auf einen Stuhl, sie läuft aus einer Stube in die andere, aus der andern in die dritte. In der dritten setzt sie sich gegenüber einem Fensterlein, das in die Küche geht, mit einem weißen Vorhang davor, und das Zahnweh wird ihr nun bald vergehen. Sie sitzt jetzt am rechten Ort dazu. Denn auf einmal sieht sie hell werden hinter dem weißen Vorhang, sie hört etwas sich bewegen, sie hört etwas flüstern und knistern, sie schiebt leise das Vorhänglein weg, und in der Küche stehen der Knecht und die Magd an einem Feuerlein nachts um 12 Uhr und legen Späne an das Feuer, und auf dem Feuer steht ein Pfännlein. – Bereits gibt das Zahnweh ein wenig nach. – »O ihr gottloses Lumpenpack«, sagte sie inwendig für sich. »So ist denn keinem Menschen mehr zu trauen. Habt ihr nicht alle Tage euer ordentliches Essen? Ist es euch nicht gut genug? Müßt ihr mich noch in der Nacht bestehlen und Leckerbissen kochen?« Nach einiger Zeit stellt das Weibsbild das Pfännlein von dem Feuer, als ob sie jetzt die Leckerbissen verzehren wollten, der Knecht aber geht zur Türe hinaus. – »Wie der Tag anbricht, laß ich beide in das Gefängnis werfen«, so fuhr die Edelfrau fort, »und jage sie weg, ohne ehrlichen Abschied. Am Ende wird mir die Dirne auch noch schwanger von dem Burschen in meinem eigenen Haus. So weit soll's mir nicht kommen.« Indem kommt der Knecht zurück und bringt ein vierteljähriges Kind auf dem Arm und gibt's der Mutter auf den Schoß. Da hörte plötzlich das Zahnweh der Edelfrau auf wie weggeflogen. Die Mutter gibt dem Kindlein aus der Pfanne den Brei, sie legt es an die mütterliche Brust, und der Schein des abnehmenden Feuers ging zur rechten Zeit über ihr Angesicht, als sie mit nassen Blicken ihr Kindlein noch einmal beschaute und dem Vater zurückgab und etwas zu ihm sagte. Denn da ward das Herz der Edelfrau wunderbar bewegt und kam auf andere Gedanken. Denn es war ihr, als ob die Mutter mit den nassen Blicken gesagt hätte: »Gott wird des armen Würmleins sich auch erbarmen«, und als ob sie dazu bestimmt wäre. Ja es fuhr ihr mit Grausen durch die Seele, was für ein Unglück in ihrem Hause hätte geschehen können, wenn nicht Gott das Herz der Eltern vor einem schweren Verbrechen bewahrt hätte.

Am frühen Morgen aber ließ sie beide Eltern vor sich bescheiden. Beide sahen einander an. »Was gilt's«, sagte sie, »wir bekommen unsere Freiheit.« – »Oder auch nicht«, sagte er. Die Edelfrau aber, als sie hereingetreten waren, redete sie ernsthaft und gebieterisch an: »Wo habt ihr euer Kind?« Da glaubten beide in den Boden zu versinken vor Schrecken und Scham und schauten einander verstohlenerweise an, gleichsam ob das andere noch da sei. »Wo ihr euer Kind habt«, wiederholte die Edelfrau. – »Weil wir denn doch eins haben«, stotterte endlich der Vater, »in der Holzkammer hinter einem Stapel.« Als es aber der Bursche holen mußte, bracht' er es, wie es war, in einem alten Felleisen. Es war reinlich gehalten und gewickelt auf einem Bettlein von Heu und weinte, als ob es schon wüßte, wie man es machen muß. Da erbarmte sich das Herz der Edelfrau noch mehr, und als die treue Magd und Mutter reuevoll und mit Tränen bat, sie und ihr unschuldiges Kind nicht unglücklich zu machen, konnte die Edelfrau ihre Rührung nicht mehr verbergen: »Nein, ich will euch nicht unglücklich machen«, sagte sie. »Ich will euch die Härte vergelten, die ich an euch begangen habe. Ich will euch den Kummer versüßen, den ihr getragen habt. Ich will eure Sünde wiedergutmachen. Ich will euch die Barmherzigkeit vergelten, die ihr an euerm Kinde getan habt.« Meint man nicht, man höre den lieben Herrgott reden in den Propheten oder in den Psalmen? Ein Gemüt, das zum Guten bewegt ist und sich der Elenden annimmt und die Gefallenen aufrichtet, ein solches Gemüt zieht nämlich das Ebenbild Gottes an und fällt deswegen auch in seine Sprache. »Ihr könnt euch am Sonntag in der Stille zusammengeben lassen«, sagte die Edelfrau. »Ich will euch ein angenehmes Heiratsgut stiften. Ich will aus eurem Kinde etwas werden lassen. Ist's ein Büblein?«

Also wurden sie am nächsten Sonntag auf Geheiß der Edelfrau zusammengegeben und lebten seitdem in Liebe und Frieden ehelich beisammen. Das Büblein aber kann jetzt schon Haselnüsse aufbeißen und lernt fleißig und hat runde, rote Backen. – Was aber weiter daraus werden soll, weiß der, der den Himmel mit der Spanne mißt und den Staub der Erde mit einem Dreiling.

Unglück der Stadt Leiden

Diese Stadt heißt schon seit urdenklichen Zeiten Leiden und hat noch nie gewußt, warum, bis am 12. Januar des Jahres 1807. Sie liegt am Rhein in dem Königreich Holland und hatte vor diesem Tag elftausend Häuser, welche von vierzigtausend Menschen bewohnt waren, und war nach Amsterdam wohl die größte Stadt im ganzen Königreich. Man stand an diesem Morgen noch auf wie alle Tage; der eine betete sein ›Das walt Gott‹, der andere ließ es sein, und niemand dachte daran, wie es am Abend aussehen wird, obgleich ein Schiff mit siebzig Fässern voll Pulver in der Stadt war. Man aß zu Mittag und ließ sich's schmecken wie alle Tage, obgleich das Schiff noch immer da war. Aber als nachmittags der Zeiger auf dem großen Turm auf halb fünf stand – fleißige Leute saßen daheim und arbeiteten, fromme Mütter wiegten ihre Kleinen, Kaufleute gingen ihren Geschäften nach, Kinder waren beisammen in der Abendschule, müßige Leute hatten Langeweile und saßen im Wirtshaus beim Kartenspiel und Weinkrug, ein Bekümmerter sorgte für den andern Morgen, was er essen, was er trinken, womit er sich kleiden werde, und ein Dieb steckte vielleicht gerade einen falschen Schlüssel in eine fremde Tür –, und plötzlich geschah ein Knall. Das Schiff mit seinen siebzig Fässern Pulver bekam Feuer, sprang in die Luft, und in einem Augenblick (ihr könnt's nicht so geschwind lesen, als es geschah), in einem Augenblick waren ganze lange Gassen voll Häuser mit allem, was darin wohnte und lebte, zerschmettert und in einen Steinhaufen zusammengestürzt oder entsetzlich beschädigt. Viele hundert Menschen wurden lebendig und tot unter diesen Trümmern begraben oder schwer verwundet. Drei Schulhäuser gingen mit allen Kindern, die darin waren, zugrunde; Menschen und Tiere, welche in der Nähe des Unglücks auf der Straße waren, wurden von der Gewalt des Pulvers in die Luft geschleudert und kamen in einem kläglichen Zustand wieder auf die Erde. Zum Unglück brach auch noch eine Feuersbrunst aus, die bald an allen Orten wütete, und konnte fast nimmer gelöscht werden, weil viele Vorratshäuser voll Öl und Tran mit ergriffen wurden. Achthundert der schönsten Häuser stürzten ein oder mußten niedergerissen werden. Da sah man denn auch, wie es am Abend leicht anders werden kann, als es am frühen Morgen war, nicht nur mit einem schwachen Menschen, sondern auch mit einer großen volkreichen Stadt. Der König von Holland setzte sogleich ein namhaftes Geschenk auf jeden Menschen, der noch lebendig gerettet werden konnte. Auch die Toten, die aus dem Schutt hervorgegraben wurden, wurden auf das Rathaus gebracht, damit sie von den Ihrigen zu einem ehrlichen Begräbnis konnten abgeholt werden. Viele Hilfe wurde geleistet. Obgleich Krieg zwischen England und Holland ist, so kamen doch von London ganze Schiffe voll Hilfsmittel und großen Geldsummen für die Unglücklichen, und das ist schön – denn der Krieg soll nie ins Herz der Menschen kommen. Es ist schlimm genug, wenn er außen vor allen Toren und vor allen Seehäfen donnert.

Kaiser Napoleon und die Obstfrau in Brienne

Der große Kaiser Napoleon brachte seine Jugend als Zögling in der Kriegsschule zu Brienne zu, und wie? Das lehrten in der Folge seine Kriege, die er führte, und seine Taten. Da er gerne Obst aß, wie die Jugend pflegt, so bekam eine Obsthändlerin daselbst manchen schönen Batzen von ihm zu lösen. Hatte er je einmal kein Geld, so borgte sie. Bekam er Geld, so bezahlte er. Aber als er die Schule verließ, um nun als kenntnisreicher Soldat auszuüben, was er dort gelernt hatte, war er ihr doch einige Taler schuldig. Und als sie das letztemal ihm einen Teller voll saftiger Pfirsiche oder süßer Trauben brachte: »Fräulein«, sagte er, »jetzt muß ich fort und kann Euch nicht bezahlen. Aber Ihr sollt nicht vergessen sein.« Aber die Obstfrau sagte: »O reisen Sie wegen dessen ruhig ab, edler junger Herr. Gott erhalte Sie gesund und mache aus Ihnen einen glücklichen Mann.« – Allein auf einer solchen Laufbahn, wie diejenige war, welche der junge Krieger jetzt betrat, kann doch auch der beste Kopf so etwas vergessen, bis zuletzt das erkenntliche Gemüt ihn wieder daran erinnert. Napoleon wird in kurzer Zeit General und erobert Italien. Napoleon geht nach Ägypten, wo einst die Kinder Israel das Zieglerhandwerk trieben, und liefert ein Treffen bei Nazareth, wo vor 1800 Jahren die hochgelobte Jungfrau wohnte. Napoleon kehrt mitten durch ein Meer voll feindlicher Schiffe nach Frankreich und Paris zurück und wird Erster Konsul. Napoleon stellt in seinem unglücklich gewordenen Vaterland die Ruhe und Ordnung wieder her und wird französischer Kaiser, und noch hatte die gute Obstfrau in Brienne nichts als sein Wort: »Ihr sollt nicht vergessen sein!« Aber ein Wort noch immer so gut – als bares Geld und besser. Denn als der Kaiser in Brienne einmal erwartet wurde, er war aber in der Stille schon dort und mag wohl sehr gerührt gewesen sein, wenn er da an die vorige Zeit gedachte und an die jetzige, und wie ihn Gott in so kurzer Zeit und durch so viele Gefahren unversehrt bis auf den neuen Kaiserthron geführt hatte, da blieb er auf der Gasse plötzlich stille stehen, legte den Finger an die Stirn, wie einer, der sich auf etwas besinnt, nannte bald darauf den Namen der Obstfrau, erkundigte sich nach ihrer Wohnung, so ziemlich baufällig war, und trat mit einem einzigen treuen Begleiter zu ihr hinein. Eine enge Türe führte ihn in ein kleines, aber reinliches Zimmer, wo die Frau mit zwei Kindern am Kamin kniete und ein sparsames Abendessen bereitete.

»Kann ich hier etwas zur Erfrischung haben?« So fragte der Kaiser. – »Ei ja!« erwiderte die Frau. »Die Melonen sind reif«, und holte eine. Während die zwei fremden Herren die Melone verzehrten und die Frau noch ein paar Reiser an das Feuer legte: »Kennt Ihr denn den Kaiser auch, der heute hier sein soll?« fragte der eine. »Er ist noch nicht da«, antwortete die Frau, »er kommt erst. Warum soll ich ihn nicht kennen? Manchen Teller und manches Körbchen voll Obst hat er mir abgekauft, als er noch hier in der Schule war.« – »Hat er denn auch alles ordentlich bezahlt?« – »Ja freilich, er hat alles ordentlich bezahlt.« Da sagte zu ihr der fremde Herr: »Frau, Ihr geht nicht mit der Wahrheit um, oder Ihr müßt ein schlechtes Gedächtnis haben. Fürs erste, so kennt ihr den Kaiser nicht. Denn ich bin's. Fürs andere hab' ich Euch nicht so ordentlich bezahlt, als Ihr sagt, sondern ich bin Euch zwei Taler schuldig oder etwas«; und in diesem Augenblick zählte der Begleiter auf den Tisch eintausendundzweihundert Franken, Kapital und Zins. Die Frau, als sie den Kaiser erkannte und die Goldstücke auf dem Tisch klingeln hörte, fiel ihm zu Füßen und war vor Freude und Schrecken und Dankbarkeit ganz außer sich, wie man ihr auf nebenstehender Abbildung wohl ansehen kann; und die Kinder schauen auch einander an und wissen nicht, was sie sagen sollen. Der Kaiser aber befahl nachher, das Haus niederzureißen und der Frau ein anderes an den nämlichen Platz zu bauen. »In diesem Hause«, sagte er, »will ich wohnen, sooft ich nach Brienne komme, und es soll meinen Namen führen.« Der Frau aber versprach er, er wolle für ihre Kinder sorgen.

Wirklich hat er auch die Tochter derselben bereits ehrenvoll versorgt, und der Sohn wird auf kaiserliche Kosten in der nämlichen Schule erzogen, aus welcher der große Held selber ausgegangen ist.

Ein gutes Rezept

In Wien der Kaiser Joseph war ein weiser und wohltätiger Monarch, wie jedermann weiß; aber nicht alle Leute wissen, wie er einmal der Doktor gewesen ist und eine arme Frau kuriert hat. Eine arme kranke Frau sagte zu ihrem Büblein: »Kind, hol mir einen Doktor, sonst kann ich's nimmer aushalten vor Schmerzen.« Das Büblein lief zum ersten Doktor und zum zweiten; aber keiner wollte kommen, denn in Wien kostet ein Gang zu einem Patienten einen Gulden, und der arme Knabe hatte nichts als Tränen, die wohl im Himmel für gute Münzen gelten, aber nicht bei allen Leuten auf der Erde. Als er aber zum dritten Doktor auf dem Weg war oder heim, fuhr langsam der Kaiser in einer offenen Kutsche an ihm vorbei. Der Knabe hielt ihn wohl für einen reichen Herrn, ob er gleich nicht wußte, daß es der Kaiser ist, und dachte: ›Ich will's probieren.‹ – »Gnädiger Herr«, sagte er, »wollet Ihr mir nicht einen Gulden schenken? Seid so barmherzig!« Der Kaiser dachte: ›Der faßt's kurz und denkt, wenn ich den Gulden auf einmal bekomme, so brauch' ich nicht sechzigmal um den Kreuzer zu betteln.‹ »Tut's ein Käsperlein oder zwei Vierundzwanziger nicht auch?« fragt ihn der Kaiser. Das Büblein sagte: »Nein«, und offenbarte ihm, wozu das Geld benötigt sei. Also gab ihm der Kaiser den Gulden und ließ sich genau von ihm beschreiben, wie seine Mutter heißt und wo sie wohnt; und während das Büblein zum dritten Doktor springt, und die kranke Frau betet daheim, der liebe Gott wolle sie doch nicht verlassen, fährt der Kaiser zu ihrer Wohnung und verhüllt sich ein wenig in seinen Mantel, also daß man ihn nicht recht erkennen konnte, wer ihn nicht expreß darum ansah. Als er aber zu der kranken Frau in ihr Stüblein kam und sah recht leer und betrübt darin aus, meint sie, es ist der Doktor, und erzählt ihm ihren Umstand, und wie sie noch so arm dabei sei und sich nicht pflegen könne. Der Kaiser sagte: »Ich will Euch dann jetzt ein Rezept verschreiben«, und sie sagte ihm, wo des Bübleins Schreibzeug ist. Also schrieb er das Rezept und belehrte die Frau, in welcher Apotheke sie es schicken müsse, wenn das Kind heimkommt, und legte es auf den Tisch. Als er aber kaum eine Minute fort war, kam der rechte Doktor auch. Die Frau verwunderte sich nicht wenig, als sie hörte, er sei auch der Doktor, und entschuldigte sich, es sei schon so einer dagewesen und hab' ihr etwas verordnet, und sie habe nur auf ihr Büblein gewartet. Als aber der Doktor das Rezept in die Hand nahm und sehen wollte, wer bei ihr gewesen sei und was für einen Trank oder Pillelein er ihr verordnet hat, erstaunte er auch nicht wenig und sagte zur ihr: »Frau«, sagte er, »Ihr seid einem guten Arzt in die Hände gefallen, denn er hat Euch fünfundzwanzig Dublonen verordnet, beim Zahlamt zu erheben, und untendran steht: Joseph, wenn Ihr ihn kennt. Ein solches Magenpflaster und Herzsalbe und Augensalbe hätt' ich Euch nicht verschreiben können.« Da tat die Frau einen Blick gegen den Himmel und konnte nichts sagen vor Dankbarkeit und Rührung; und das Geld wurde hernach richtig und ohne Anstand von dem Zahlamt ausbezahlt, und der Doktor verordnete ihr eine Mixtur; und durch die gute Arznei und durch die gute Pflege, die sie sich jetzt verschaffen konnte, stand sie in wenigen Tagen wieder auf gesunden Beinen. Also hat der Doktor die kranke Frau kuriert und der Kaiser die arme, und sie lebt noch und hat sich nachgehends wieder verheiratet.

Der Husar in Neiße

Als vor achtzehn Jahren die Preußen mit den Franzosen Krieg führten und durch die Provinz Champagne zogen, dachten sie auch nicht daran, daß sich das Blättlein wenden könnte und daß der Franzos noch im Jahr 1806 nach Preußen kommen und den ungebetenen Besuch wettmachen werde. Denn nicht jeder führte sich auf, wie es einem braven Soldaten in Feindesland wohl ansteht. Unter andern drang damals ein brauner preußischer Husar, der ein böser Mensch war, in das Haus eines friedlichen Mannes ein, nahm ihm all sein bares Geld, so viel war, und viel Geldeswert, zuletzt auch noch das schöne Bett mit nagelneuem Überzug, und mißhandelte Mann und Frau. Ein Knabe von acht Jahren bat ihn kniend, er möchte doch seinen Eltern nur das Bett wiedergeben. Der Husar stößt ihn unbarmherzig von sich. Die Tochter läuft ihm nach, hält ihn am Dolman fest und fleht um Barmherzigkeit. Er nimmt sie und wirft sie in den Sodbrunnen, so im Hof steht, und rettet seinen Raub. Nach Jahr und Tagen bekommt er seinen Abschied, setzt sich in der Stadt Neiße in Schlesien, denkt nimmer daran, was er einmal verübt hat, und meint, es sei schon lange Gras darüber gewachsen. Allein, was geschieht im Jahr 1806? Die Franzosen rücken in Neiße ein; ein junger Sergeant wird abends einquartiert bei einer braven Frau, die ihm wohl aufwartet. Der Sergeant ist auch brav, führt sich ordentlich auf und scheint guter Dinge zu sein. Den andern Morgen kommt der Sergeant nicht zum Frühstück. Die Frau denkt: Er wird noch schlafen, und stellt ihm den Kaffee ins Ofenrohr. Als er noch immer nicht kommen wollte, ging sie endlich in das Stüblein hinauf, macht leise die Türe auf und will sehen, ob ihm etwas fehlt.

Da saß der junge Mann wach und aufgerichtet im Bett, hatte die Hände ineinandergelegt und seufzte, als wenn ihm ein groß Unglück begegnet wäre oder als wenn er das Heimweh hätte oder so etwas, und sah nicht, daß jemand in der Stube ist. Die Frau aber ging leise auf ihn zu und fragte ihn: »Was ist Euch begegnet, Herr Sergeant, und warum seid Ihr so traurig?« Da sah sie der Mann mit einem Blick voll Tränen an und sagte, die Überzüge dieses Bettes, in dem er heute nacht geschlafen habe, haben vor achtzehn Jahren seinen Eltern in der Champagne angehört, die in der Plünderung alles verloren haben und zu armen Leuten geworden seien, und jetzt denke er an alles, und sein Herz sei voll Tränen. Denn es war der Sohn des geplünderten Mannes in der Champagne und kannte die Überzüge noch und die roten Namensbuchstaben, womit sie die Mutter gezeichnet hatte, waren ja auch noch daran. Da erschrak die gute Frau und sagte, daß sie dieses Bettzeug von einem braunen Husaren gekauft habe, der noch hier in Neiße lebe, und sie könne nichts dafür. Da stand der Franzose auf und ließ sich in das Haus des Husaren führen und kannte ihn wieder.

»Denkt Ihr noch daran«, sagte er zu dem Husaren, »wie Ihr vor achtzehn Jahren einem unschuldigen Mann in der Champagne Hab und Gut und zuletzt auch noch das Bett aus dem Hause getragen habt, und habt keine Barmherzigkeit gehabt, als Euch ein achtjähriger Knabe um Schonung anflehte, und an meine Schwester?« Anfänglich wollte der alte Sünder sich entschuldigen, es gehe bekanntlich im Kriege nicht alles, wie es soll, und was der eine liegen lasse, hole doch ein anderer, und lieber nimmt man's selbst. Als er aber merkte, daß der Sergeant, der nämliche sei, dessen Eltern er geplündert und mißhandelt hatte, und als er ihn an seine Schwester erinnerte, versagte ihm vor Gewissensangst und Schrecken die Stimme, und er fiel vor dem Franzosen auf die zitternden Knie nieder und konnte nichts mehr herausbringen als: »Pardon!«, dachte aber: Es wird nicht viel helfen. Der geneigte Leser denkt vielleicht auch: Jetzt wird der Franzos den Husaren zusammenhauen, und freut sich schon darauf. Allein das könnte mit der Wahrheit nicht bestehen. Denn wenn das Herz bewegt ist und vor Schmerz fast brechen will, mag der Mensch keine Rache nehmen. Da ist ihm die Rache zu klein und verächtlich, sondern er denkt: Wir sind in Gottes Hand, und will nicht Böses mit Bösem vergelten. So dachte der Franzose auch und sagte: »Daß du mich mißhandelt hast, das verzeihe ich dir. Daß du meine Eltern mißhandelt und zu armen Leuten gemacht hast, das werden dir meine Eltern verzeihen. Daß du meine Schwester in den Brunnen geworfen hast und ist nimmer davongekommen, das verzeihe dir Gott!« – Mit diesen Worten ging er fort, ohne dem Husaren das geringste zuleide zu tun, und es ward ihm in seinem Herzen wieder wohl. Dem Husaren aber war es nachher zumut, als wenn er vor dem Jüngsten Gericht gestanden wäre und hätte keinen guten Bescheid bekommen. Denn er hatte von dieser Zeit an keine ruhige Stunde mehr und soll nach einem Vierteljahr gestorben sein.

Merke: Man muß in der Fremde nichts tun, worüber man sich daheim nicht darf finden lassen.

Merke: Es gibt Untaten, über welche kein Gras wächst.

Andreas Hofer

Als im letzten Krieg die Franzosen und Österreicher in der Nachbarschaft von Tirol alle Händevoll miteinander zu tun hatten, dachten die Tiroler: Im trüben ist gut fischen. Sie wollten nimmer bayrisch sein. Viel Köpfe, viele Sinne, manchmal gar keiner. Sie wußten zuletzt selber nimmer recht, was sie wollten. Unterdessen läuteten in allen Tälern die Sturmglocken. Von allen Bergen herab kamen die Schützen mit ihren Stutzen. Jung und alt, Mann und Weib griff zu den Waffen. Die Bayern und Franzosen hatten harten Stand; besonders in den engen Pässen, wenn Felsenstücke wie Sauerkrautstauden und Schweinställe so groß auf sie herabflogen. Bald glücklich, bald unglücklich in ihren Gefechten, nahmen die Rebellen bald Innsbruck ein, die Hauptstadt in Tirol; bald mußten sie sie wieder verlassen; bekamen sie wieder und konnten sie doch nicht behalten. Ungeheure Grausamkeiten wurden verübt, nicht nur an den bayerischen Beamten und Untertanen, nein, auch an den eigenen Landsleuten; Vogel, friß oder stirb. Wer nicht mitmachen wollte, war des Lebens nicht sicher. Der Jäger Henny könnte davon erzählen, wenn er noch lebte. Endlich, als manches schöne Dorf und Städtlein in der Asche lag, mancher wohlhabende Mann war ein Bettler, mancher Leichtsinnige und Rasende verlor das Leben; jedes Dorf, fast jedes Haus hatte seine Leichen, seine Wunden und seinen Jammer, da dachten sie zuletzt, es sei doch besser, bayerisch sein, als sie im Anfang gemeint hatten, und unterwarfen sich wieder. Unversucht schmeckt nicht. Nur einige Tollköpfe wollten lieber zuerst ein wenig erschossen oder gehenkt sein; zum Beispiel der Andreas Hofer.

Andreas Hofer, Sandwirt in Passeier und Viehhändler, hatte bis über sein 40. Jahr, bis der Aufstand ausbrach, schon manch Schöpplein Wein ausgeschenkt, manch Stücklein Kreide an bösen Schulden verschrieben, und schätzen konnte er ein Stück Vieh wie keiner. Aber im Aufstand brachte er es zum Kommandanten, nicht bloß von einem Städtlein oder Tal, nein, von der ganzen gefürsteten Grafschaft Tirol, und nahm sein Quartier nicht nur in einem Pfarrhof oder etwa in einem Amtshaus, sondern in dem großen Fürstlichen Residenzschloß zu Innsbruck. An fünfzigtausend Mann Landsturm stand in kurzer Zeit unter seinem Befehl. Wer keine Flinte hatte, präsentierte das Gewehr mit der Heugabel. Was verordnet und ausgefertigt wurde, stand Andreas Hofer darunter, das galt. Sein geheimer Kriegsminister war ein geistlicher Herr, Pater Joachim genannt, sein Adjutant war der Kronenwirt von Bludenz, sein Schreiber ein entlaufener Student. Unter seiner Regierung wurden für dreißigtausend Gulden eigene Zwanzigkreuzerstücke für Tirol geprägt, der Hausfreund hat auch einen Hutvoll davon. Ja, er legte eine eigene Stückgießerei an, aber wie? Die Kanonen wurden aus Holz gebohrt und mit starken eisernen Ringen umlegt. Item es tat gut, nur nicht dem, den's traf. In Innsbruck ließ er sich gut auftragen. Selber essen macht fett. Er sagte: Ich bin lang genug Wirt gewesen. Jetzt will ich auch einmal Gast sein. Bei dem allem änderte er seine Kleidertracht nie. Er ging einher wie ein gemeiner Tiroler und trug einen Bart, so lang das Haar wachsen mochte. Nur im roten Gürtel trug er ein Paar Terzerolen und auf dem grünen Hut eine hohe Reiherfeder, und neben seinen schweren Regierungsgeschäften trieb er den Viehhandel fort wie vorher. Jetzt schickte er einen Adjutanten mit Befehlen an die Armee ab, jetzt kam ein Metzger: »Wie teuer die vier Stiere, die Ihr bei Eurem Schwager eingestellt habt.« Sonst war er kein ganz roher Mann: viel Unglück hat er verhütet, wo er wehren konnte. Einem gefangenen Offizier sagte er: »Morgen werdet Ihr erschossen.« Den andern Tag sagte er: »Ich habe gehört, daß Ihr ein braver Mann seid, ich will Euch einen Paß geben, daß Ihr heim könnt.« Aber größer war das Unglück, das er durch seine Hartnäckigkeit gegen alle Einladungen zum Frieden und durch seine Treulosigkeit verursachte. Jetzt schrieb er an das Bayerische Kommando. »Wir wollen uns unterwerfen und bitten um Gnad. Andere Hofer Oberkommedant in Diroll gewöster.« Zugleich schrieb er an den Adjutant Kronenwirt: »Wehrt Euch, solang Ihr könnt. Trifft's nicht, so gilt's nicht.« Als sich aber endlich das verblendete Volk der angebotenen Gnade seines großmütigen Königs unterwarf und alle, welche sich nachher mit den Waffen des Aufruhrs noch blicken ließen, gehenkt wurden, mancher Baum trug solch ein Früchtlein, da war Andreas Hofer nicht daheim zu finden und an keinem Baum; und es hieß, er sei ein wenig spazierengegangen über die Grenzen. Den Willen dazu mag er gehabt haben in seiner armen hölzernen Hirtenhütte auf einem hohen Berg im hintersten Passeiertal, wo er mit seinem Schreiber verborgen lag und mit 6 Fuß hohem Schnee verschanzt war. Sein Haus und sein Vermögen waren von den wütenden Bauern geplündert. Dürftige Nahrung verschaffte ihm von Zeit zu Zeit seine Frau, die jetzt selber mit ihren fünf Kindern von fremden Wohltaten lebt. Da sah es anderst aus als in der Burg zu Innsbruck. Schlimmeres Quartier wartete auf ihn. Einer von seinen guten Freunden verriet für Geld seinen Aufenthalt. Ein französisches Kommando umringte seine Hütte und nahm ihn gefangen. Man fand bei ihm vier geladene Kugelbüchsen, viel Geld, wenig Nahrung. Er selbst war von Mangel, Kummer und Angst abgezehrt. Auf der Abbildung ist alles zu sehen. So wurde er von einer starken militärischen Begleitung unter Trommelschlag durch das Land nach Italien nach Mantua ins Gefängnis gebracht und daselbst erschossen. In solchen Wassern fangt man solche Fische.

Vorgetan und nachbedacht hat manchen in groß Leid gebracht.

Lange Kriegsfuhr

Dies ist die Geschichte, die dem Hausfreund vor einem Jahr ein unsichtbarer Freund geschenkt hat, und der Freund sagt, er kenne die Abkömmlinge des Wirts und die Sache sei ganz gewiß.

Im Dreißigjährigen Krieg, der Schwed' zog durch ein namhaftes Dorf im Wiesenkreis und in dem Dorf durchs Wirtshaus, und im Durchziehen durch den Hof blieb der Knecht des Wirts mit einem Wagen und vier Pferden an der Kolonne hängen. Denn er mußte Tornister führen und Offizierskisten und Weibsleute. Der Meister sagte: »Komm bald wieder heim, Jobbi!« Der Jobbi dachte: an mir soll's nicht fehlen. Die Meisterin weinte und lamentierte, aber ein schwedischer Korporal sagte: »Man wird Roß nicht fressen. Tatar frißt Roß.« Indessen ging die erste Tagsstation nur bis nach Freiburg, die zweite nur bis nach Kippenheim, die dritte nur bis nach Ortenberg, die vierte nur bis nach Hornberg, die fünfte nur bis nach Villingen im Schwarzwald. Dem armen Jobbi so hoch droben bei den Wolken war schon das Leben feil, und die Pferde hätten auch gern ins Gras gebissen, aber noch lieber in den Haber. Und unter allen vieren beklagte der Jobbi am meisten sein Lieblingsroß, den Jockli, daß er schon in seinen besten Jahren ein Kriegsheld werden mußte. Aber das half alles nichts. Wo man hinkam, waren keine Fuhren zu haben, so mußte der Jobbi und der Jockli mit, ungefragt und ungebeten bis weit hinein ins Schwabenland und hinter sich und für sich, und aus so viel Tagen wurden so viel Monate und mehr, bis er einmal zwischen einem Montag und Dienstag Gelegenheit fand, eine Spazierfahrt für sich zu machen ins Freie. Die österreichischen Vorposten riefen ihn an: »Wer da?« – »Gut Freund.« – »Wer ist gut Freund?« – »Der Jobbi von da und da.« – »Bassa mallergi«, sagte der Korporal, »bist du Jobbi von da und da?« Der Korporal hatte auch schon einen Schluck Branntwein oder vierundzwanzig bei seinem Meister getrunken und kannte den Jobbi, und der Vorpostenhauptmann war auch schon auf dem Jockli nach Waldshut geritten und kannt den Jockli. Also sagte der Hauptmann: »Willst du einen Paß nach Haus, oder willst du bei uns bleiben und Geld genug verdienen?« Da dachte der Jobbi: Aufgegeben hat mich der Meister schon lang und ein anderes Viergespann gekauft. Fängt mich unterwegs der Schwed', so geht's zu bösen Häusern oder gar zu bösen Bäumen, und der Mund stand ihm voll Wasser, wenn er sah, wie die österreichischen Dukaten flogen und auf den Boden fielen, und niemand bückte sich danach. Denn der österreichische Krieg hat Geld. Also blieb der Jobbi bei der Armee, fuhr hin und her, bis nach Preßburg hinein im Ungerland und wieder zurück, handelte auch ein wenig und gewann Hüte voll Geld. Der Wagen zerbrach; er kaufte sich einen neuen. Ein Pferd fiel nach dem andern, die Beute hatte andere. Nur der Jockli hielt aus bergauf und -ab, durch dick und dünn. Gleichwohl dachte der alte Knabe oft an den Meister und an die Meisterin daheim, und wie er auch wieder einmal zurück wolle, wenn's sauber sei im Reich. Und der Meister und die Meisterin daheim dachten auch manchmal an den Jobbi selig, und wie es ihm möge ergangen sein bei den Schweden. Eines Tags, als schon alle Kanonen vom Rhein bis an die Donau und bis an die Ostsee versaust hatten, die Meisterin schnitt die Suppe ein zum Mittagsessen, und der Wirt richtete den Zeiger an der Wanduhr, denn es schlug auf der Kirche, da seufzte die Frau und sagte nichts. Der Meister fragt: »Was fehlt dir?« – »He, nichts«, sagte sie, »ich hab' an den Jobbi gedacht, Gott hab ihn selig, und an das schöne Gespann, heut jährt sich's wieder.« – »Es wird sich noch vielmal jähren«, sagte der Mann. »Gottlob, daß wieder Ruhe im Lande ist.« Indem tritt der Hausknecht herein und sagt: »Meister, da draußen haltet ein ungebärdiger Gesell, ein Ungar mit schneeweißem Bart und vier Rossen, der aussieht wie ein Marketender, und hat auch so ein Branntweinfäßlein auf dem Wagen. Kommt mir der Sapperment frech in den Stall und sagt: ›An diesem Platz bin ich der Meister‹ drauf jagt er Eure Pferde in den Hof hinaus und bindet die seinigen an. Ist noch Krieg oder ist's Frieden?« Indem der Meister hinaus will, kommt der Ungar hinein und sagt: »Gemach!« – Der Wirt fragt: »Woher des Landes? Solche Gäste haben wir auch schon gehabt.« – »Eine Halbe will ich«, sagte der Ungar, »von Eurem Besten und zwei Gläser.« – »Das ist nicht von Euerm Besten«, sagte er nachher. »Von dem Krenzacher will ich, im hintern Keller, oder von dem Laufemer hinter der Brotbahre, wo die Katz darauf sitzt.« Der Wirt sagt: »Woher wißt Ihr, was ich für Wein im Keller habe?« Der Ungar sagt: »Von Euerm alten Knecht, dem Jobbi«, und wollte sich noch lange verstellen. Als er aber seinen Namen hörte, wiewohl er ihn selber aussprach, konnte er nimmer an sich halten, sondern ergriff die Hand des Meisters, und die Tränen rannen ihm aus den Augen in den weißen Bart, wie der köstliche Balsam, der herabfließt in den Bart Arons, der herabfließt in sein Kleid und Lust und Freude erregt. »Ich bin ja der alte Jobbi«, sagte der vermeinte Ungar, »wo einmal bei Euch –« Aber der Wirt und die Wirtin unterbrachen ihn mit einem lauten Freudengeschrei; »und den Jockli hab' ich auch wieder mitbracht«, sagte der Jobbi, »die andern sind neu.« Jetzt ging's an ein Bewillkommen und an ein Fragen; der Wirt rief die Kinder zusammen, der Jobbi sei wieder da, und die Mutter brachte die Kleinen eins an der Hand, eins auf dem Arm; aber sie fürchteten sich und schrien vor dem fremden Bart; und der Herr Schulmeister kam im Vorbeigehen auch hinein. Als aber der Meister ein Glas zum Willkommen mit ihm getrunken hatte und wollte ihm das zweite einschenken, sagte der Jobbi: »Das Fäßlein! Wir müssen zuerst das Fäßlein abladen.« Drauf brachte der Wirt, der Jobbi und der Hausknecht ein Fäßlein; aber nicht mit Branntwein, nein, voll kaiserlicher Taler und Chremnitzer Dukaten ab dem Wagen herein, so schwer sie tragen konnten. »Dies ist Euer Geld«, sagte der Jobbi, »das ich Euch ehrlich verdient habe. Ich verlange nichts als für die sechs Jahre meinen Lohn und für den Jockli den Ruhestand.« Der Meister sagte: »Du sollst keinen Lohn von mir bekommen, sondern du sollst das Kind im Hause sein, und zwar das älteste.« Aber der Jobbi sagte: »Ihr habt unterdessen, wie ich sehe, Kinder genug bekommen. Laßt mich, wie ich bin«, und ging mit einem Mund voll Brot hinaus, um nach den Pferden zu sehen und seine alten Geschäfte zu verrichten wie vorher, als wenn er nie weggewesen wäre.

Also blieb er bis an sein Ende im Dienste seines Meisters und vermachte ihm, weil er keinen Erben hatte, noch sein Vermögen von 520 Pfund Basler Währung, tut 416 Gulden rheinisch. Der Meister aber rührte das Geld nicht an, sondern stiftete es für die Armen.

Merke: Der Hausfreund kann letzteres nicht für gewiß sagen. Aber er denkt so: War der Jobbi ein guter Knecht, so war der Meister ein guter Mensch. Fromme Herrschaft zieht frommes Gesinde. Grobheit, Fluchen und Geiz ist der falsche Weg zu gutem Gesind, hinten herum. Ist also der Wirt ein so räsonnabler Mann gewesen, hat er auch das Geld den Armen geschenkt. Zwei Tage nach dem Jobbi starb auch der Jockli. Merke: Die Kleidertracht auf der Abbildung ist nicht, wie man sie jetzt trägt, sondern wie sie im Dreißigjährigen Krieg getragen wurde, und der Mann mit dem freundlichen, frohen Gesicht neben der Wirtin ist ohne Zweifel der Herr Schulmeister. Sieht er nicht aus fast wie ein Weihbischof?

Das heimliche Gericht

In der großen Stadt, wo unter mehr als zwanzigtausend Dächern so viel Leid und so viel Freude wohnt und wo neben allen Tugenden alle Laster feilhaben, schlug zu seiner Zeit auch ein leichtfertiges und verdorbenes Herz, und zwar unter dem seidenen Kamisol eines vornehmen jungen Mannes, eines Barons. Das Schuldenmachen verstand er trotz einem und das Schuldigbleiben noch viel besser. Schön von Angesicht und Wuchs, lieblich in seinem Tun und Wesen, glatt und einschmeichelnd in seinen Reden, verschwenderisch mit dem eigenen reichen Geld und dem geborgten, hatte er alle Mittel in den Händen, die arme, schwache Unschuld zu verführen, und sparte keines. Manche Träne klagte ihn an. Manche Ehe und Familie hat er um ihre Ehre und um ihren Frieden gebracht und lachte dazu. Ja, er war so frech und nannte die Namen tugendhafter Personen, als wenn sie ihm zu Willen gelebt hätten, und war doch nicht dem also. Aber wie lang geht der Krug zum Brunnen? Das Sprichwort gibt Auskunft. Als er einmal auf gleiche Weise eine sehr vornehme Frau in der ganzen Stadt in ein unehrbares Gerede gebracht hatte – die Frau war edel und stolz –, »das soll er nicht umsonst getan haben«, sagte sie mit ernsthaftem Angesicht. Spät eines Abends, als er in seinem Kaleschlein ganz allein in eine lustige Nachtgesellschaft fahren sollte – man kannte seine Wege –, da umringte ihn auf einmal ein Trupp von bewaffneten Reitern, und man gab ihm mit Zeichen zu verstehen, daß er ihnen folgen solle, wenn er nicht wolle niedergestochen sein auf der Stelle. Der junge Leichtsinn dachte: Das sind ein paar von meinen lustigen Kameraden, die wollen mir einen Spaß bereiten, und läßt willig einen von ihnen setzen und das Leitseil in die Hand nehmen, läßt sich auch willig von ihm die Augen verbinden. Ich merke schon, dachte er, ich soll nicht wissen, wo sie mich hinführen. Aber wenn sie mir die Binde wieder abnehmen, bin ich in einem Saal voll brennender Wachskerzen und duftender Blumen, voll auserlesener Frauen und Jungfrauen, und eine nach der andern fällt in meine Arme. Weit gefehlt. Vor der Stadt nahm man ihm die Binde wieder ab, aber er erkannte nicht mehr, wo er war. Stumm und ernst ritten die andern Bewaffneten nebenher. Endlich ging's auf einer Zugbrücke über einen tiefen Graben, es ging zwischen hohen, dicken Mauern durch ein enges Tor über einen öden Schloßhof nach einer alten, festen Burg mit kleinen Fenstern und hohen Türmen und Zinnen. Es ging durch einen hohen Turm eine schmale Wendeltreppe hinauf bis vor eine starke, eiserne Tür und durch die Türe hinein in ein ödes Gefängnis. Wie wurde da dem armen Schacher zumute! Ein tannener Tisch, ein Stuhl, ein dürftiges Lager und ein düsteres Lämplein waren sein ganzes Gerät, ein Totenkopf auf dem Tisch seine einzige Gesellschaft. Niemand redete mit ihm oder antwortete ihm ein Wort oder eine Silbe. Nur die Schlösser und Riegel rasselten ihm fürchterlich ins Ohr, als man die Zugbrücken hinter ihm aufzog und Tore und Türen siebenfach verschloß. Nur ein vermummter Mann, wenn er ihm einen Krug voll Wasser und ein Laiblein schwarz Brot brachte, sprach zu ihm: »Geh in dich.« Nur die Fledermäuse zischten, und die Eulen wehklagten vor dem hohen, schmalen Fensterlein, und die Ratten und Mäuse besuchten ihn nicht, sondern das Laiblein. Da fuhr es ihm auf einmal wie ein langer, scharfer Messerstich durch das Herz, dieser lustige Spaß könne auf gut deutsch heißen furchtbarer Ernst. Gut getroffen. Den anderen Tag holten ihn seine bewaffneten Begleiter wieder ab und führten ihn schweigend die schmale Treppe hinab, über den feuchten Hof, eine andere Treppe hinauf durch lange Gänge in eine große Halle zum Verhör, und statt der lieblichen Frauen und Jungfrauen erblickte er zwölf Männer in langen schwarzen Mänteln, sitzend in einem halben Kreis, und der oberste von ihnen nannte ihn mit Namen und Geschlecht und sagte: »Ihr seid vor diesem heimlichen Gericht angeklagt auf Leben und auf Tod als ein gefährlicher Verführer der Jugend und der Unschuld, als boshafter Verleumder der weiblichen Ehre und Tugend. Verantwortet Euch oder nicht, Ihr seid gerichtet.« Dagegen machte der angstvolle Mensch zwar vielerlei Einwendungen: er wolle wissen, vor wem er stehe; niemand habe über seinen Lebenswandel zu richten; er habe getan, was viele andere auch; das sei nicht dem also und eines; Leichtsinn der Jugend sei kein Verbrechen zum Tode. Allein der Richter sagte: »Wißt ihr, wo Ihr steht, und wer über Euer Leben zu sprechen hat? Das heimliche Gericht, das im Namen der ewigen Gerechtigkeit versammelt ist und schon andern Leuten, als ihr seid, das Urteil gesprochen hat von Rechts wegen«, und ließ ihm sein langes Sündenregister vorlesen und sagte: »Eure Taten richten Eure Worte«, und mit diesem Worten wurde er in sein Gefängnis zurückgeführt und bis zur Nacht seiner Besinnung, seinem Gewissen und seiner Reue überlassen. Aber in der Nacht wurde er wieder vor das nämliche Gericht gebracht, und da mußte er an der Türe niederknien, und der Richter sprach: »Der Stab ist gebrochen über Euer Leben und Eure Sünden«, und kündete ihm an, daß er eine Stunde nach Mitternacht durch des Henkers Beil enthauptet und vom Leben zum Tod sollte gebracht werden. Da war es ihm, als ob der Himmel voll Gewitter über ihn herabfallen und die Erde unter ihm versinken wollte; aber alles Flehen, alle Tränen und Verwünschungen seiner angstvollen Seele gingen an taube Ohren und an kalte Herzen. Er wurde über den Hof, wo er seitwärts im Fackelschein schon sein Totengerüst erblickte, in eine schwach beleuchtete Kapelle geführt, beichtete dort einem Priester und empfing von ihm die Vorbereitung zum Tode und das letzte Sakrament, und neben der Türe stand sein Sarg. Als aber die Glocke ein Uhr in die schauerliche Nacht schlug, da wurde der Sarg erhoben und an das Totengerüst getragen, und er mußte hinter seinem Sarg her und daran vorbeigehen und hörte kaum mehr die Worte und den Segen des betenden Priesters, und seine einsinkenden Knie brachten ihn kaum auf das Blutgerüst. Aber als er mit verbundenen Augen und entblößtem Hals den Kopf auf den Block gelegt hatte und den Todesstreich erwartete, rief eine barmherzige Stimme: »Gnade!« Der geneigte Leser atmet wieder. Aber der arme Sünder war so weit hinweg, daß er das Wort Gnade von dem Todesstreich nicht mehr unterscheiden konnte, sondern er glaubte, dieses Wort habe seinen Kopf vom Leibe getrennt und es sei jetzt seine Schuldigkeit, tot zu sein. Denn er fiel in eine so schwere und tiefe Ohnmacht, daß er in der ersten Stunde nicht wußte, was mit ihm vorging.

Als er aber nach einer Stunde wieder zu sich kam und die Augen aufschlug – es muß einem sonderlich zu Gemüte sein, wenn das letzte, dessen man sich besinnen kann, so viel ist, man sei vor einer Stunde geköpft worden, und weiß selber nicht anders, als man sei tot und lebt doch –, als aber, wie gesagt, unser Malefikant die Augen aufschlug, erstaunte er noch mehr, denn er befand sich jetzt in einem gar artigen Stüblein auf einem weichen, guten Bett. Zwei Ärzte saßen neben ihm und fragten ihn, wie ihm sei. Man ließ ihn zur Ader, man gab ihm mit Vorsicht stärkende Mittel, er sank in einen süßen, erquickenden Schlaf, und als er nach einigen Stunden aufwachte, war er völlig wiederhergestellt und fühlte keine andere Schwachheit mehr als einen leeren Magen. Man führte ihn zu einer wohlbereiteten, schmackhaften Mahlzeit, und ein paar vermummte Bediente warteten ihm auf, wie er es nach seinem Stand und nach seiner Herkunft gewohnt war. Nach der Mahlzeit kam der Gerichtsschreiber und las ihm sein zweites Urteil vor, gab's ihm auch schriftlich mit: »Der geheime Gerichtshof läßt Euch zum letztenmal Begnadigung widerfahren und hofft, er werde an Eurem künftigen Lebenswandel keine Ursache mehr finden, Euch vor seine Schranken zu laden. Siehe zu! Sündige hinfort nicht mehr, auf daß dir nicht etwas Ärgeres widerfahre.« Als es endlich wieder Nacht geworden war, fuhr sein Kaleschlein wieder vor. Die nämlichen Begleiter führten ihn auf die nämliche Art, auf dem nämlichen Weg in die Stadt zurück, auf welchem sie ihn geholt hatten, und als sie ihm früh um zwei Uhr die Binde von den Augen nahmen, befand er sich auf dem nämlichen Platz, von welchem er die dritte Nacht vorher war weggeführt worden wie zu seiner Zeit der Scharfrichter von Landau.

Solche Buße mußte der ausschweifende junge Mann für seine Sünden ausstehen. Aber wie hat der sich gebessert? Von Stund' an lebte er so, daß in wenig Jahren sein eigenes Vermögen wieder in gutem Stande war und nach und nach alle seine Schulden bezahlt werden konnten. Keine Unschuld war mehr durch seine Gelüste, keine weibliche Ehre durch seine Verleumdung in Gefahr. Alle Sonntag ging er in die Messe, nicht mehr um schöne Mägdlein auszusuchen, sondern seine Sünden zu versöhnen und schöne Gesinnungen in sein Herz zu pflanzen.

Franziska

In einem unscheinbaren Dörfchen am Rhein saß eines Abends, als es schon dunkeln wollte, ein armer, junger Mann, ein Weber, noch an dem Webstuhl und dachte während der Arbeit unter anderem an den König Hiskias, dann an Vater und Mutter, deren Lebensfaden auch schon von der Spule abgelaufen war, dann an den Großvater selig, dem er einst auch noch auf den Knien gesessen und an das Grab gefolgt war, und war so vertieft in seinen Gedanken und in seiner Arbeit, daß er gar nichts davon merkte, wie eine schöne Kutsche mit vier stattlichen Schimmeln vor sein Häuslein fuhr und anhielt. Als sich aber etwas an der Türklinke bewegte, und ein holdes, jugendliches Wesen trat herein von weiblichem Ansehen mit wallenden, schönen Haarlocken und in einem langen, himmelblauen Gewand, und das freundliche Wesen fragte ihn mit mildem Ton und Blick: »Kennst du mich, Heinrich?«, da war es, als ob er aus einem tiefen Schlaf aufführe, und er war so erschrocken, daß er nichts reden konnte. Denn er meinte, es sei ihm ein Engel erschienen, und es war auch so etwas von der Art, nämlich seine Schwester Franziska, aber die lebte noch. Einst hatten sie manches Körblein voll Holz barfuß miteinander aufgelesen, manches Binsenkörbchen voll Erdbeeren am Sonntag miteinander gepflückt und in die Stadt getragen und auf dem Heimweg ein Stücklein Brot miteinander gegessen, und jedes aß weniger davon, damit das andere genug bekäme. Als aber nach des Vaters Tod die Armut und das Handwerk die Brüder aus der elterlichen Hütte in die Fremde geführt hatte, blieb Franziska allein bei der alten, gebrechlichen Mutter zurück und pflegte sie, also daß sie dieselbe von dem kärglichen Verdienst ernährte, den sie in einer Spinnfabrik erwarb und in den langen, schlaflosen Nächten mit ihr wachte und aus einem alten, zerrissenen Buch von Holland erzählte, von den schönen Häusern, von den großen Schiffen, von der grausamen Seeschlacht bei der Doggerbank, und sie ertrug das Alter und die Wunderlichkeit der kranken Frau mit kindlicher Geduld. Einmal aber, früh um zwei Uhr, sagte die Mutter: »Bete mit mir, meine Tochter! Diese Nacht hat für mich keinen Morgen mehr auf dieser Welt.« Da betete und schluchzte und küßte das arme Kind die sterbende Mutter, und die Mutter sagte: »Gott segne dich und sei . . .« und nahm die letzte Hälfte ihres Muttersegens »und sei dein Vergelter!« mit sich in die Ewigkeit. Als aber die Mutter begraben und Franziska in das leere Haus zurückgekommen war und betete und weinte und dachte, was jetzt aus ihr werden solle, sagte etwas in ihrem Inneren zu ihr: Geh nach Holland! Und ihr Haupt und ihr Blick richteten sich langsam und sinnend empor, und die letzte Träne für diesmal blieb ihr in dem blauen Auge stehen. Als sie von Dorf zu Stadt und von Stadt zu Dorf betend und bettelnd und Gott vertrauend nach Holland gekommen war und so viel gesammelt hatte, daß sie sich ein sauberes Kleidlein kaufen konnte in Rotterdam, als sie einsam und verlassen durch die wimmelnden Straßen wandelte, sagte wieder etwas in ihrem Inneren zu ihr: Geh in selbiges Haus dort mit den vergoldeten Gittern am Fenster! Als sie aber durch den Hausgang an der marmornen Treppe vorbei in den Hof gekommen war, denn sie hoffte, zuerst jemand anzutreffen, ehe sie an einer Stubentür anpochte, da stand eine betagte, freundliche Frau von vornehnemem Ansehen in dem Hof und fütterte das Geflügel, die Hühner, die Tauben und die Pfauen.

»Was willst du hier, mein Kind?« Franziska faßte ein Herz zu der vornehmen, freundlichen Frau und erzählte ihr ihre ganze Geschichte. »Ich bin auch ein armes Hühnlein, das Eures Brotes bedarf«, sagte Franziska und bat sie um Dienst. Die Frau aber gewann Zutrauen zu der Bescheidenheit und Unschuld und zu dem nassen Auge des Mädchens und sagte: »Sei zufrieden, mein Kind! Gott wird dir den Segen deiner Mutter nicht schuldig bleiben. Ich will dir Dienst geben und für dich sorgen, wenn du brav bist.« Denn die Frau dachte: Wer kann wissen, ob nicht der liebe Gott mich bestimmt hat, ihre Vergelterin zu sein. Und sie war eines reichen Rotterdamer Kaufmanns Witwe, von Geburt aber eine Engländerin. Also wurde Franziska zuerst Hausmagd, und als sie für gut und treu befunden ward, wurde sie Stubenmagd, und ihre Gebieterin gewann sie lieb, und als sie immer feiner und verständiger ward, wurde sie Kammerjungfer. Aber jetzt ist sie noch nicht alles, was sie wird. Im Frühling, als die Rosen blühten, kam aus Genua ein Vetter der vornehmen Frau, ein junger Engländer, zu ihr auf Besuch nach Rotterdam. Er besuchte sie fast alle Jahre um diese Zeit, und als sie über dieses und jenes redeten und der Vetter erzählte, wie es aussah, als die Franzosen vor Genua in dem engen Paß in der Bocchetta standen und die Österreicher davor, trat heiter und lächelnd, mit allen Reizen der. Jugend und Unschuld geschmückt, Franziska in das Zimmer, um etwas aufzuräumen oder zurechtzulegen, und dem jungen Engländer, als er sie erblickte, ward es sonderlich um das Herz, und die Franzosen und Österreicher verschwanden ihm aus den Sinnen. »Tante«, sagte er zu seiner Base, »Ihr habt ein bildschönes Mädchen zur Kammerjungfer. Es ist schade, daß sie nicht mehr ist als das.« Die Tante sagte: »Sie ist eine arme Waise aus Deutschland. Sie ist nicht nur schön, sondern auch verständig, und nicht nur verständig, sondern auch fromm und tugendhaft und ist mir lieb geworden als mein Kind.« Der Vetter dachte: Das lautet nicht schlecht. Den andern oder dritten Morgen aber, als er mit der Tante in dem Garten spazierte, »Wie gefällt dir dieser Rosenstock?« fragte die Tante; der Vetter sagte: »Sie ist schön, sehr schön.« Die Tante sagte: »Vetter, du redest irr. Wer ist schön? Ich frage ja nach dem Rosenstock.« Der Vetter erwiderte: »Die Rose« – »oder vielmehr die Franziska?« fragte die Tante. »Ich hab's schon gemerkt«, sagte sie. Der Vetter gestand ihr seine Liebe zu dem Mädchen und daß er es heiraten möchte. Die Tante sagte: »Vetter, du bleibst noch drei Wochen bei mir. Wenn es dir alsdann noch so ist, so habe ich nichts dagegen. Das Mädchen ist eines braven Mannes wert.« Nach drei Wochen aber sagte er: »Es ist mir nimmer wie vor drei Wochen. Es ist noch viel ärger, und ohne das Mägdlein weiß ich nicht, wie ich leben soll.« Also geschah die Verlobung. Aber es gehörte viel Zureden dazu, die Demut der frommen Magd zu ihrer Einwilligung zu bewegen.

Jetzt blieb sie noch ein Jahr bei ihrer bisherigen Gebieterin, aber nicht mehr als Kammermädchen, sondern als Freundin und Verwandte in dem reichen Haus mit vergoldetem Fenstergitter, und noch in dieser Zeit lernte sie die englische Sprache, die französische, das Klavierspielen: »Wenn wir in höchsten Nöten sein« usw., »Der Herr, der aller Enden« usw., »Auf dich, mein lieber Gott, ich traue« usw. – und was sonst noch ein Kammermädchen nicht zu wissen braucht, aber eine vornehme Frau, das lernte sie alles. Nach einem Jahr kam der Bräutigam, noch ein paar Wochen vorher, und die Trauung geschah in dem Haus der Tante. Als aber von der Abreise des neuen Ehepaars die Rede war, schaute die junge Frau ihren Gemahl bittend an, daß sie noch einmal in ihrer armen Heimat einkehren und das Grab ihrer Mutter besuchen und ihr danken möchte und daß sie ihre Geschwister und Freunde noch einmal sehen möchte. Also kehrte sie jenes Tages bei ihrem armen Bruder, dem Weber, ein, und als er ihr auf ihre Frage: »Kennst du mich, Heinrich?« keine Antwort gab, sagte sie: »Ich bin Franziska, deine Schwester.« Da ließ er vor Bestürzung das Schifflein aus den Händen fallen, und seine Schwester umarmte ihn. Aber er konnte sich anfänglich nicht recht freuen, weil sie so vornehm geworden war, und scheute sich vor dem fremden Herrn, ihrem Gemahl, daß sich in seiner Gegenwart die Armut und der Reichtum so geschwisterlich umarmen und du zueinander sagen sollen, bis er sah, daß sie mit dem Gewand der Armut nicht die Demut ausgezogen und nur ihren Stand geändert hatte, nicht ihr Herz. Nach einigen Tagen aber, als sie alle ihre Verwandten und Bekannten besucht hatte, reiste sie mit ihrem Gemahl nach Genua, und beide leben vermutlich noch in England, wo ihr Gemahl nach einiger Zeit die reichen Güter eines Verwandten erbte.

Der Hausfreund will aufrichtig gestehen, was ihn selber an dieser Geschichte am meisten rührt. Am meisten rührt ihn, daß der liebe Gott dabei war, als die sterbende Mutter ihre Tochter segnete, und daß er eine vornehme Kaufmannsfrau in Rotterdam in Holland und einen braven, reichen Engländer am welschen Meer bestellt hat, den Segen einer armen, sterbenden Witwe an ihrem frommen Kind gültig zu machen.

Weg hat er aller Wege,
an Mitteln fehlt's ihm nicht.

Die drei Diebe

Der geneigte Leser wird ermahnt, nicht alles für wahr zu halten, was in dieser Erzählung vorkommt. Doch ist sie in einem schönen Buch beschrieben und zu Vers gebracht.

Der Zundelheiner und der Zundelfrieder trieben von Jugend auf das Handwerk ihres Vaters, der bereits am Auerbacher Galgen mit des Seilers Tochter kopuliert war, nämlich mit dem Strick; und ein Schulkamerad, der rote Dieter, hielt's auch mit und war der Jüngste. Doch mordeten sie nicht und griffen keine Menschen an, sondern visitierten nur bei Nacht in den Hühnerställen und, wenn's Gelegenheit gab, in den Küchen, Kellern und Speichern, allenfalls auch in den Geldtrögen, und auf den Märkten kauften sie immer am wohlfeilsten ein. Wenn's aber nichts zu stehlen gab, so übten sie sich untereinander mit allerlei Aufgaben und Wagstücken, um im Handwerk weiterzukommen. Einmal im Wald sieht der Heiner auf einem hohen Baum einen Vogel auf dem Nest sitzen, denkt, er hat Eier, und fragt die anderen: »Wer ist imstand' und holt dem Vogel dort oben die Eier aus dem Nest, ohne daß es der Vogel merkt?« Der Frieder, wie eine Katze, klettert hinauf, naht sich leise dem Nest, bohrt langsam ein Löchlein unten hinein, läßt ein Eilein nach dem anderen in die Hand fallen, flickt das Nest wieder zu mit Moos und bringt die Eier. – »Aber wer dem Vogel die Eier wieder unterlegen kann«, sagte jetzt der Frieder, »ohne daß es der Vogel merkt!« Da kletterte der Heiner den Baum hinan, aber der Frieder kletterte ihn nach, und während der Heiner dem Vogel langsam die Eier unterschob, ohne daß es der Vogel merkte, zog der Frieder dem Heiner langsam die Hosen ab, ohne daß es der Heiner merkte. Da gab es ein groß Gelächter, und die beiden anderen sagten: »Der Frieder ist der Meister.« Der rote Dieter aber sagte: »Ich sehe schon, mit euch kann ich's nicht zugleich tun, und wenn's einmal zu bösen Häusern geht und die Unrechte kommt über uns, so ist's mir nimmer Angst für euch, aber für mich.« Also ging er fort, wurde wieder ehrlich und lebte mit seiner Frau arbeitsam und häuslich. Im Spätjahr, als die zwei anderen noch nicht lang auf dem Roßmarkt ein Rößlein gestohlen hatten, besuchten sie einmal den Dieter und fragten ihn, wie es ihm gehe; denn sie hatten gehört, daß er ein Schwein geschlachtet, und wollten ein wenig achtgeben, wo es liegt. Es hing in der Kammer an der Wand. Als sie fort waren, sagte der Dieter: »Frau, ich will das Säulein in die Küche tragen und die Mulde draufdecken, sonst ist es morgen nimmer unser.« In der Nacht kommen die Diebe, brechen, so leise sie können, die Mauer durch, aber die Beute war nicht mehr da. Der Dieter merkt etwas, steht auf, geht um das Haus und sieht nach. Unterdessen schleicht der Heiner um das andere Eck herum ins Haus bis zum Bett, wo die Frau lag, nimmt ihres Mannes Stimme an und sagt: »Frau, die Sau ist nimmer in der Kammer.« Die Frau sagt: »Schwätz nicht so einfältig! Hast du sie nicht selber in die Küche unter die Mulde getragen?« – »Ja so«, sagte der Heiner, »drum bin ich halb im Schlaf« und ging, holte das Schwein und trug es unbeschrien fort, wußte in der finsteren Nacht nicht, wo der Bruder ist, dachte, er wird schon kommen an den bestellten Platz im Wald. Und als der Dieter wieder ins Haus kam und nach dem Säulein greifen will, »Frau«, rief er, »jetzt haben's die Galgenstricke doch geholt.« Allein, so geschwind gab er nicht gewonnen, sondern setzte den Dieben nach, und als er den Heiner einholte (er war schon weit vom Hause weg) und als er merkte, daß er allein sei, nahm er schnell die Stimme des Frieders an und sagte: »Bruder, laß jetzt mich das Säulein tragen, du wirst müde sein.« Der Heiner meint, es sei der Bruder und gibt ihm das Schwein, sagt, er wolle vorausgehen in den Wald und ein Feuer machen. Der Dieter aber kehrte hinter ihm um, sagte für sich selber: »Hab' ich dich wieder, du liebes Säulein!« und trug es heim. Unterdessen irrte der Frieder in der Nacht herum, bis er im Wald das Feuer sah, und kam und fragte den Bruder: »Hast du die Sau, Heiner?« Der Heiner sagte: »Hast du sie denn nicht, Frieder?« Da schauten sie einander mit großen Augen an und hätten kein so prasselndes Feuer von buchenen Spänen gebraucht zum Nachtkochen. Aber desto schöner prasselte jetzt das Feuer daheim in Dieters Küche. Denn das Schwein wurde sogleich nach der Heimkunft verhauen und Kesselfleisch über das Feuer getan. Denn der Dieter sagte: »Frau, ich bin hungrig, und was wir nicht beizeiten essen, holen die Schelme doch.« Als er sich aber in einen Winkel legte und ein wenig schlummerte, und die Frau kehrte mit der eisernen Gabel das Fleisch herum und schaute einmal nach der Seite, weil der Mann im Schlaf so seufzte, kam eine zugespitzte Stange langsam durch das Kamin herab, spießte das beste Stück im Kessel an und zog's herauf; und als der Mann im Schlaf immer ängstlicher winselte und die Frau immer emsiger nach ihm sah, kam die Stange zum zweitenmal und zum drittenmal; und als die Frau den Dieter weckte: »Mann, jetzt wollen wir anrichten«, da war der Kessel leer, und wär' ebenfalls kein so großes Feuer nötig gewesen zum Nachtkochen. Als sie aber beide schon im Begriff waren, hungrig ins Bett zu gehen, und dachten: »Will der Henker das Säulein holen, so können wir's ja doch nicht heben«, da kamen die Diebe vom Dach herab, durch das Loch der Mauer in die Kammer, und aus der Kammer in die Stube, und brachten wieder, was sie gemaust hatten. Jetzt ging ein fröhliches Leben an. Man aß und trank, man scherzte und lachte, als ob man gemerkt hätte, es sei das letzte Mal, und war guter Dinge, bis der Mond im letzten Viertel über das Häuslein wegging und zum zweitenmal im Dorf die Hähne krähten und von weitem der Hund des Metzgers bellte. Denn die Strickreiter waren auf der Spur, und als die Frau des roten Dieters sagte: »Jetzt ist's einmal Zeit ins Bett«, kamen die Strickreiter von wegen des gestohlenen Rößleins und holten den Zundelheiner und den Zundelfrieder in den Turm und in das Zuchthaus.

Der Heiner und der Brassenheimer Müller

Eines Tages saß der Heiner ganz betrübt in einem Wirtshaus und dachte daran, wie ihn zuerst der rote Dieter und danach sein eigener Bruder verlassen haben und wie er jetzt allein ist. »Nein«, dachte er, »es ist bald keinem Menschen mehr zu trauen, und wenn man meint, es sei einer noch so ehrlich, so ist er ein Spitzbube.« Unterdessen kommen mehrere Gäste in das Wirtshaus und trinken Neuen, und »wißt ihr auch«, sagt einer, »daß der Zundelheiner im Land ist, und wird morgen im ganzen Amt ein Treibjagen auf ihn angestellt, und der Amtmann und die Schreiber stehen auf dem Anstand?« Als das der Heiner hörte, wurde es ihm grün und gelb vor den Augen, denn er dachte, es kenne ihn einer; und jetzt sei er verraten. Ein anderer aber sagte: »Es ist wieder einmal ein blinder Lärm. Sitzen nicht der Heiner und sein Bruder zu Wollenstein im Zuchthaus?« Drüber kommt auf einem wohlgenährten Schimmel der Brassenheimer Müller mit roten Pausbacken und kleinen freundlichen Augen dahergeritten. Und als er in die Stube kam und tut den Kameraden, die beim Neuen sitzen, Bescheid und hört, daß sie von dem Zundelheiner sprechen, sagt er: »Ich hab' schon so viel von dem Zundelheiner erzählen gehört. Ich möcht' ihn doch auch einmal sehen.« Da sagte ein anderer: »Nehmt Euch in acht, daß Ihr ihn nicht zu früh zu sehen bekommt. Es geht die Rede, er sei wieder im Land.« Aber der Müller mit seinen Pausbacken sagte: »Pah! Ich komm' noch bei guter Tageszeit durch den Fridstädter Wald, dann bin ich auf der Landstraße, und wenn's fehlen will, geb' ich dem Schimmel die Sporen.« Als das der Heiner hörte, fragte er die Wirtin: »Was bin ich schuldig?« und geht fort in den Fridstädter Wald. Unterwegs begegnet ihm auf der Bettelfuhr' ein lahmer Mensch. »Gebt mir für ein Käsperlein Eure Krücke«, sagte er zu dem lahmen Soldaten. »Ich habe das linke Bein übertreten, daß ich laut schreien möchte, wenn ich drauf treten muß. Im nächsten Dorf, wo Ihr abgeladen werdet, macht Euch der Wagner eine neue.« Also gab ihm der Bettler die Krücke. Bald darauf gehen zwei betrunkene Soldaten an ihm vorbei und singen das Reiterlied. Wie er in den Fridstädter Wald kommt, hängt er die Krücke an einen hohen Ast, setzt sich ungefähr sechs Schritte davon weg an die Straße und zieht das linke Bein zusammen, als wenn er lahm wäre. Drüber kommt auf stattlichem Schimmel der Müller dahertrottiert und macht ein Gesicht, als wenn er sagen wollte: »Bin ich nicht der reiche Müller und bin ich nicht der schöne Müller, und bin ich nicht der witzige Müller?« Als aber der witzige Müller zu dem Heiner kam, sagt der Heiner mit kläglicher Stimme: »Wolltet Ihr nicht ein Werk der Barmherzigkeit tun an einem armen lahmen Mann? Zwei betrunkene Soldaten, sie werden Euch wohl begegnet sein, haben mir all mein Almosengeld abgenommen und mir aus Bosheit, daß es so wenig war, die Krücke auf jenen Baum geschleudert, und sie ist an den Ästen hängengeblieben, daß ich nun nimmer weiter kann. Wollt Ihr nicht so gut sein und sie mit Eurer Peitsche herabzwicken?« Der Müller sagte: »Ja, sie sind mir begegnet an der Waldspitze. Sie haben gesungen: ›So herzig, wie mein Liesel, ist halt nichts auf der Welt.‹« Weil aber der Müller auf einem schmalen Steg über einen Graben zu dem Baum mußte, so stieg er von dem Roß ab, um die Krücke herabzuzwicken. Als er aber an dem Baum war und schaut hinauf, schwingt sich der Heiner schnell wie ein Adler auf den stattlichen Schimmel, gibt ihm mit dem Absatz die Sporen und reitet davon. »Laßt Euch das Gehen nicht verdrießen«, rief er dem Müller zurück, »und wenn Ihr heimkommt, so richtet Eurer Frau einen Gruß aus von dem Zundelheiner!« Als er aber eine Viertelstunde nach Betzeit nach Brassenheim und an die Mühle kam und alle Räder klapperten, daß ihn niemand hörte, stieg er vor der Mühle ab, band dem Müller den Schimmel wieder an der Haustür an und setzte seinen Weg zu Fuß fort.


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