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Das Auge.
Von
Professor Brander Matthews

.

I.

Der Telegraphenbote warf nochmals einen Blick auf die Adresse des Umschlags in seiner Hand, und schaute dann zu dem Hause auf, vor dem er stand. Es war ein altmodischer zweistöckiger Backsteinbau, mit einem Dachgeschoß, und stand in einem alten Stadtteil des unteren Neuyork, nicht weit vom East River entfernt. Ueber dem großen Torbogen war auf einem im Lauf der Zeit fast unleserlich gewordenen Schildchen die Inschrift »Namapo Stahl- und Eisenwerke« zu lesen; und über der kleineren Tür in der Front stand in noch unansehnlicheren Buchstaben »Whittier, Wheatcroft & Cie.«.

Durch diese Türe betrat der Bote den langen, schmalen Geschäftsraum. An den Wänden der Längsseite standen Kästen und Gestelle mit Mustern von Stahlschienen, eisernen Balken und Rollen Draht, von der verschiedensten Art und Dicke. Unten, nahe bei der Abschlußwand, waren verschiedene Bureauherren und Buchhalter mit ihrer Arbeit beschäftigt.

Als der Beamte sich ihnen näherte, kam ihm ein rothaariger Bureaujunge entgegen und fragte ihn, in etwas anmaßendem Tone: Was gibt's?

Ein Telegramm für Whittier, Wheatcroft & Cie., erklärte der Bote und ging weiter.

Dort durch! erwiderte der Bureaujunge und wies mit dem Daumen über seine Schulter nach dem äußersten Ende des Kontors, wo ein mit einem Glasdach bedeckter, von den äußeren Geschäftsräumen durch einen Glasverschlag geschiedener Raum sichtbar war.

Der Telegraphenbote stieß die Glastüre zum Privatbureau auf, eine Klingel ertönte über seinem Haupt, und die drei Herren, die sich in dem Raume befanden, blickten auf.

Whittier, Wheatcroft & Cie.? fragte der Bote und streckte seine Hand mit dem gelben Umschlag aus.

Jawohl, antwortete Herr Whittier, ein großer, freundlicher alter Herr, und nahm das Telegramm in Empfang. Unterschreib, Paul, bitte!

Der jüngste der drei Herren, der seinem Vater glich, nahm das Buch des Boten entgegen, warf einen Blick auf die altmodische Standuhr in der Ecke und schrieb den Namen der Firma und die Stunde der Ablieferung in das Buch. Dann sah er dem Beamten nach, als er das Bureau verließ. Doch plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit durch einen lauten Ausruf seines Vaters auf wichtigere Dinge gelenkt.

Ei, ei, ei, sagte der alte Whittier, der immer noch auf das Telegramm blickte, das er eben durchflogen hatte. Sonderbar, wirklich sehr sonderbar!

Was ist sonderbar? fragte der dritte Anwesende, Herr Wheatcroft, ein untersetzter, stämmiger, offenbar leicht erregbarer Mann mit graumeliertem Haar.

Statt ihm Aufschluß zu geben, händigte Whittier seinem Teilhaber den Papierstreifen ein.

Kaum hatte aber Wheatcroft das Telegramm gelesen, da rötete sich sein Gesicht noch mehr, das zuvor schon eine blühende Farbe aufwies.

Allerdings sonderbar! rief er aus. Das kommt mir allerdings auch sonderbar vor, verflixt sonderbar – und zugleich verteufelt unangenehm!

Darf ich sehen, was es so Ungewöhnliches gibt? fragte Paul und langte nach der Depesche.

Selbstverständlich, brummte Wheatcroft; sagen Sie uns, wie Sie sich das erklären!

Der junge Mann las den Bericht vor. Er lautete: »Geschäft abgelehnt. Kann um Viertelscent billiger einkaufen. Carkendale«.

Dann überflog er noch einmal für sich die Worte und meinte schließlich:

Ich muß gestehen, daß mir das gar nicht so rätselhaft vorkommt. Das Geschäft ist uns entgangen, wie ich annehme. Aber ich denke mir, daß das schon öfters passiert ist, oder nicht?

Zweimal schon hat er uns getroffen, dieser Fehlschlag, erwiderte Wheatcroft heftig, nachdem unser Angebot praktisch akzeptiert war und gerade bevor der Vertrag endgültig unterzeichnet werden sollte.

Warten Sie, Wheatcroft, ich will es ihm erklären, unterbrach ihn der ältere Whittier in freundlichem Tone. Sie dürfen von meinem Sohn nicht erwarten, daß er die genauen Einzelheiten dieses Geschäfts so versteht, wie wir Alten. Er ist ja auch erst seit zehn Tagen im Bureau.

Ich erwarte gar nicht, daß er es versteht, brummte Wheatcroft. Wie wäre das möglich? Versteh ich's doch selber nicht!

Mach die Türe dort zu, Paul! sagte Whittier. Ich möchte nicht, daß einer der Herren vom Kontor erfährt, worüber wir reden. Ich will dir die äußeren Umstände dieses Falls erzählen, Paul, und du wirst, wie ich denke, zugeben, daß sie schon merkwürdig sind. Zweimal und nun zum drittenmale haben wir das niederste Angebot für wichtige Aufträge gemacht, und doch hat, gerade bevor unser Kostenvoranschlag in aller Form angenommen wurde, jemand uns durch ein Angebot, das um eine Kleinigkeit niedriger war, als das unsere, ausgestochen und den Auftrag selber erhalten. Das erstemal dachten wir, wir würden den Bau der Barataria-Hauptbrücke über den Kleinen Makinthoshfluß erhalten, aber schließlich wurde die Tuxedo Stahlkompagnie damit beauftragt. Der zweite Fall betraf eine Bestellung von fünfzigtausend Meilen Draht für den Transkontinentalen Telegraphen; wir machten dafür ein ungewöhnlich niedriges Angebot. Wir wollten den Auftrag um jeden Preis erhalten und hätten bei dem Geschäft nicht nur nichts verdient, sondern obendrein noch die Bureauunkosten selber getragen; trotzdem aber gab fünf Minuten, ehe der Vertrag unterzeichnet werden sollte, die Tuxedo-Kompagnie ein Angebot ein, das nur um hundertundfünfundzwanzig Dollars niedriger war, als das unsere. Und jetzt kommt heute dieses Telegramm. Die Lebensversicherungsgesellschaft Methusala ist im Begriff, ein großes Gebäude aufzustellen; wir sind aufgefordert worden, einen Kostenvoranschlag für das Stahlgerüst einzusenden. Wir wollten den Auftrag bekommen, die Zeiten sind schlecht, wie du weißt, wird wenig gebaut und wir müssen doch für unsere Leute Beschäftigung haben. Daher wollten wir dieses Geschäft, wenn irgend möglich, machen. Wir erboten uns, es zum wirklichen Fabrikationspreis zu tun, ohne Gewinn vor allem, und dann ohne jede Entschädigung für Betriebskosten, für Kapitalverzinsung und das Steigen der Preise des Rohmaterials. Der Vizepräsident der Methusala, der Mann, in dessen Hand alle Fäden zusammenlaufen, ist Herr Carkendale. Er sagte mir gestern noch, er finde, daß unser Angebot sehr niedrig sei, und daß wir uns darauf verlassen könnten, den Auftrag zu erhalten. Und jetzt schickt er mir das da!

Wieder griff Whittier nach dem Telegramm.

Aber wenn wir das Geschäft zu den gegenwärtigen Herstellungspreisen übernehmen wollen, bemerkte der junge Mann, und ein anderer unterbietet uns, verliert dieser andere dann kein Geld bei dem Handel?

Das nützt unsere Leute nicht das Geringste, erwiderte Wheatcroft. Ein anderer – der Teufel hole ihn! – wird dadurch in der Lage sein, seine Leute nicht entlassen zu müssen, weil er sie mit dem Geld auszahlen kann, das wir für unsere eigenen Leute gern gehabt hätten. Glauben Sie, daß dieser andere wieder die Tuxedo-Kompagnie ist?

Wie? fragte Whittier. Sie glauben doch nicht etwa –

Jawohl, das glaube ich, unterbrach ihn Wheatcroft hitzig. Das steht fest für mich. Ich bin nicht seit dreißig Jahren umsonst in diesem Geschäft. Ich weiß, wie man sich um einen großen, fetten Abschluß stets bemüht; und ich weiß, daß jeder von uns dem Manne gerne hundert Dollars auszahlen würde, der uns sagen könnte, was unsere Hauptkonkurrenz geboten hat. Es wäre der billigste Ankauf, den wir das ganze Jahr über machen würden.

Na, hören Sie, Wheatcroft! bemerkte der alte Whittier, Sie wissen doch genau, daß wir bis zum heutigen Tage nie etwas Derartiges getan haben, und ich denke, wir beide sind zu alt, um uns noch von einer lockenden Versuchung verleiten zu lassen.

Glauben Sie das nicht! brauste der temperamentvolle kleine Mann auf, ich wäre dieser Versuchung gerne zugänglich. Wenn ich erfahren könnte, was für ein Angebot die Tuxedoleute auf die neuen Stahlschienen der Springfieldgesellschaft machen wollen, würde ich tausend Dollars bezahlen.

Wenn ich Sie recht verstehe, Herr Wheatcroft, fragte Paul Whittier, so vermuten Sie, daß etwas Unfaires vorgekommen ist?

Das ist's, was ich glaube, erklärte Wheatcroft heftig.

Sie wollen sagen, daß die Tuxedoleute auf irgend eine Weise die Bedingungen unseres Voranschlags erfahren haben? fuhr der junge Mann fort.

Das denke ich, lautete die scharfe Antwort.

Ich kann mir's nicht anders erklären. Seit zwei Monaten sind uns alle großen Aufträge unter den Händen weggeglitscht. Wir haben natürlich unseren Anteil an den kleinen Sachen erhalten, aber das macht keinen großen Betrag aus. Die großen Sachen aber, auf die wir es abgesehen hatten, sind uns alle entwischt. Jedesmal haben wir sie verloren, und dabei hatten wir sie schon so gut wie sicher in Händen. Das ist doch kein Zufall, nicht? Natürlich nicht! Dann aber ist nur eine Erklärung denkbar: daß im Bureau etwas faul ist.

Haben Sie einen der Bureauangestellten im Verdacht, Wheatcroft? fragte der ältere Whittier in traurigem Tone.

Ich habe auf niemand im Besonderen Verdacht, gab sein jüngerer Teilhaber zu und fuhr sich kreuz und quer durchs Haar. Und im Allgemeinen traue ich keinem Menschen. Ich habe keine Ahnung, wer es ist, aber jemand ist es sicherlich. Es muß jemand sein – und wenn es jemand ist, werde ich tun, was in meiner Macht steht, um diesen Jemand dem Gerichte auszuliefern.

Wer macht bei diesen wichtigen Verträgen die Bedingungen? fragte Paul.

Wheatcroft und ich, antwortete der Vater. Die Ausarbeitung im Einzelnen wird den Werken vorgelegt, und die Ingenieure geben ihr Gutachten über die gegenwärtigen Kosten von Arbeit und Material ab. Diese Gutachten werden uns hierher gesandt, und wir fügen den uns richtig erscheinenden Betrag für Auslagen und Zinsen hinzu, und für Mühe und Arbeit, und den Gewinn.

Wer schreibt die Briefe mit den Angeboten – die mit den angegebenen Zahlen meine ich? fragte der junge Whittier weiter.

Ich, erklärte sein Vater; ich habe es immer getan.

Du diktierst sie nicht etwa einem Maschinenschreiber? fuhr Paul fort.

Gewiß nicht, antwortete der Alte; ich schreibe sie mit eigener Hand, und außerdem kopiere ich sie selber; es wird ein besonderes Kopierbuch für derartige Briefe geführt. Dieses Buch wird immer im Kassenschrank dieses Bureaus hier aufbewahrt; ich kann wirklich sagen, daß dieses Kopierbuch nie aus meiner Hand geht, als wenn es in den Schrank wandert. Und zu diesem Schrank hat, wie du weißt, niemand Zutritt außer Wheatcroft und mir.

Und dem Major, verbesserte sein Teilhaber.

Nein, erklärte Whittier, Van Zandt hat hier gegenwärtig nichts zu tun.

Aber früher doch, bestand Wheatcroft.

Das ist ja wahr, in früheren Zeiten, gab Whittier zu, aber seitdem wir die neuen Kassenschränke für das Hauptgeschäftszimmer draußen gekauft haben, braucht unser erster Buchhalter diesen kleineren Schrank nicht mehr zu benützen; daher kam im letzten Monat – es geschah in Ihrer Abwesenheit, Wheatcroft – Van Zandt eines Mittags hier herein und sagte, er wolle lieber nicht die Verantwortung auf sich nehmen, das Schlüsselwort zu kennen, da er ja doch nie etwas an diesem Kassenschrank zu tun habe. Ich versicherte ihn aber unseres vollen Vertrauens zu ihm.

Natürlich! rief der leicht erregbare Wheatcroft aus. Der Major arbeitet jetzt dreißig Jahre bei uns. Ich würde eher mich selber einer Untreue für fähig halten, als ihn!

Wie gesagt, fuhr der alte Whittier fort, teilte ich ihm auch mit, daß wir selbstverständlich volles Vertrauen zu ihm hätten. Aber er drang in mich, und um ihm die Gefälligkeit zu erweisen, vertauschte ich an jenem Nachmittag das alte Kennwort am Schloß des Kassenschrankes mit einem neuen. Sie werden sich erinnern, Wheatcroft, daß ich Ihnen am Tage Ihrer Rückkehr das neue Wort mitgeteilt habe.

Gewiß, ich erinnere mich daran, erwiderte Wheatcroft. Aber ich sehe nicht ein, warum der Alte nicht wissen wollte, wie man den Schrank öffnen muß. Vielleicht fängt er allmählich an, die Last der Jahre zu spüren. Er muß sechzig sein, der Major; und ich habe mir schon mehr als einmal gesagt, er sehe recht gealtert aus.

Ich habe die Veränderung auch bemerkt, schaltete Paul ein, am ersten Tag, wo ich ins Bureau gekommen bin. Es kam mir vor, als sei er seit dem letzten Winter um zehn Jahre älter geworden.

Vielleicht bereitet ihm seine alte Wunde wieder Schmerzen, vermutete Whittier. Was auch der Grund sei, auf sein eigenes Ersuchen hin ist er nunmehr mit dem Schloß nicht bekannt. Niemand kann es öffnen, als Wheatcroft und ich. Die betreffenden Briefe habe ich selber geschrieben, mit eigener Hand kopiert und in die Umschläge gesteckt, die ich selbst adressiert habe. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich sie auch selber auf die Post getan habe, aber es ist gut möglich. So sehen Sie, Wheatcroft, daß Ihre Ansicht, jemand habe sich Kenntnis von unseren Angeboten verschafft, völlig in der Luft steht.

Ich kann mir nichts anderes denken, rief Wheatcroft lebhaft. Ich weiß nicht, wie es geschehen ist, ich bin kein Detektiv – aber irgendwie ist es geschehen. Und wenn das geschehen ist, hat natürlich auch jemand die Hand im Spiel! Von selber geschieht nichts. Und was ich möchte, wäre, diesen jemand dabei zu ertappen. Das ist alles! Ich würde ihm die Hölle schon gehörig einheizen!

Sie möchten ihn gern draußen in den Namapowerken haben, sagte Paul und lächelte über die Heftigkeit des kleinen Herrn, und unter das Stampfwerk stellen, wie?

Jawohl, das würd' ich tun, antwortete Wheatcroft. Ich würds tatsächlich tun! Einen Menschen unter ein Stampfwerk zu stellen, mag ja als grausame Strafe erscheinen, aber ich glaube, das würde dem Kerl jede Lust vertreiben, uns künftig unsere Geschäfte auszuspionieren.

Ich denke, es würde ihn überhaupt von der Gewohnheit heilen, zu leben, meinte der alte Whittier, als die große Standuhr in der Ecke ein Uhr schlug. Aber wir wollen nicht so unmenschlich sein. Lassen Sie uns jetzt zum Mittagessen gehen und den Fall in aller Ruhe besprechen! Ich bin zwar nicht einverstanden mit Ihrem Argwohn, Wheatcroft, aber es mag schon etwas daran wahr sein.

Fünf Minuten später verließen die Herren Whittier und Wheatcroft in Begleitung von des älteren Teilhabers einzigem Sohne durch die Glastüre das Privatgeschäftszimmer und begaben sich gemächlich durch den langen Vorraum auf die Straße.

Sie bemerkten nicht, wie der alte Buchhalter, Major Van Zandt, dessen hohes Schreibpult derart gestellt war, daß er das durch die Glaswand abgeschlossene Privatbureau übersehen konnte, sie fortwährend im Auge behalten hatte, seitdem der Bote mit dem Telegramm angekommen war. Van Zandt konnte das Telegramm zwar nicht lesen; er konnte ihre Bemerkungen nicht hören, aber er konnte jede Bewegung, jede Geste, ja den Ausdruck ihrer Gesichter beobachten. Er blickte von einem der Sprecher zum anderen, beinahe als ob er in der Lage wäre, den Gang der Besprechung zu verfolgen; und als die drei Mitglieder der Firma an seinem Pult vorübergingen, starrte er sie wie in dem erfolglosen Bemühen an, von ihren Gesichtern das Geheimnis des Verlaufs ihrer Unterredung und ihrer Entschlüsse abzulesen.


II.

Nach dem Essen traf es sich, daß der ältere und der jüngere Teilhaber von Whittier, Wheatcroft & Cie. sich beide zu einer Zusammenkunft begeben mußten; daher gingen sie ihres Wegs und ließen Paul allein ins Geschäft zurückkehren.

Als er dem Hause gegenüberstand, an dem das alte, von der Zeit hart mitgenommene Schild der Firma hing, blieb er einen Augenblick stehen und schaute hinüber. In seinen Gefühlen mischte sich Stolz und Anhänglichkeit. Das Gebäude war altmodisch, so altmodisch sogar, daß nur eine seit langem bekannte Firma es wagen durfte, dieses Haus inne zu haben. Paul Whittiers Urgroßvater hatte die Namapowerke gegründet. Hier waren die Kanonen für viele Schiffe der kleinen amerikanischen Flotte gegossen worden, die sich im Jahre 1812 so glänzend bewährt hat. Im Jahre 1848 hatte die Firma Whittier, Wheatcroft & Cie. – der Vater des gegenwärtigen Teilhabers Wheatcroft war von Pauls Großvater in die Firma als Teilhaber aufgenommen worden – von neuem der Regierung der Vereinigten Staaten wertvolle Dienste geleistet. Die vollen vier Jahre hindurch, die dem Schuß auf die Flagge im Jahre 1861 folgten, hatten die Namapowerke Tag und Nacht alle Hände voll zu tun gehabt. Als schließlich Friede geschlossen wurde, und das Volk die nötige Ruhe hatte, sich auszubreiten, war ein großer Teil der Schienen, die der Bau neuer Eisenbahnen erheischte und die den Osten und Westen mit eisernen Bändern aneinanderfesseln sollten, von Whittier, Wheatcroft & Cie. geliefert worden. In den letzten Jahren hatte es, wie Paul wußte, den Anschein, als habe die alte Firma einen Teil ihrer früheren Leistungsfähigkeit eingebüßt. Und da ihr eine junge und kräftige Konkurrenz erstanden war, gelang es ihr nur mit Mühe, sich zu behaupten.

Daß die Namapowerke wieder von neuem die Führung übernehmen sollten, das hatte sich Paul Whittier feierlich vorgenommen; und für diesen Zweck hatte er eine sorgfältige Ausbildung genossen. Er war jetzt fünfundzwanzig Jahr alt, ein großer, hübscher, junger Mann, mit einem kräftigen Schnurrbart über dem festen Munde, lockigem braunem Haar und klaren lebhaften Augen. Er hatte das Obergymnasium absolviert und glänzende Zeugnisse in der Mathematik erhalten; bei seinen Klassenkameraden war er sehr beliebt; sie sahen in ihm das geistige Haupt der Klasse, und im letzten Jahr war er zum Vorstand ihres Photographischen Klubs gewählt worden. Dann hatte er eine technische Hochschule besucht, wo er sich die Metallurgie theoretisch und praktisch aneignete. Nach einer einjährigen Reise durch Europa, wo er alle größeren Stahl- und Eisenwerke besichtigte, die ihm zugänglich waren, kehrte er wieder nach Hause zurück, um auf dem Bureau seines Vaters zu arbeiten.

Nur einen Augenblick blieb er auf dem gegenüber dem alten Gebäude befindlichen Trottoir stehen, um einen Blick hinüberzuwerfen. Dann ließ er seine Zigarette fallen und begab sich über die Straße hinüber. Aber er betrat den langen Geschäftsraum nicht durch die Vordertüre, sondern ging durch den Eingang, der für die Lastwägen bestimmt war und dessen Tor offenstand. Als er das Privatbureau erreichte, das sich an das große Geschäftslokal anschloß, sah er sich darin genau die Türen und Fenster an, um sich zu vergewissern, ob nicht hier die Möglichkeit vorläge, das Bureau auf einem anderen Weg zu betreten, als auf dem gewöhnlich begangenen.

Vom Privatbureau führte keine Türe zur Einfahrt, noch in den Hof. Es war nur eine Türe von der Einfahrt in das große Kontor vorhanden, den Schreibpulten der Angestellten entgegengesetzt, nur wenige Schritte von der Türe, die vom Privatbureau auf die Straße ging.

Paul betrat das Kontor durch diesen Eingang und fand sich dann dem alten Buchhalter Van Zandt gegenüber, der all seinen Bewegungen mit fragenden Blicken folgte.

Mahlzeit, Herr Major, grüßte Paul mit freundlicher Stimme. Haben Sie noch nicht zu Mittag gespeist?

Ich esse stets um die Mittagszeit, antwortete der Buchhalter mürrisch, und vertiefte sich wieder in seine Bücher.

Während Paul weiterging, drängte sich ihm der Gedanke auf, der Major sei unfreundlich in seinem Benehmen geworden. Der junge Mann erinnerte sich daran, wie liebenswürdig der Alte früher gewesen, und wie höflich er ihn stets behandelt hatte, so oft er, sogar noch als Schüler, Samstags ins Geschäft gekommen war.

Paul hatte immer sein Vergnügen daran gehabt, die Bureaus und den Hof dahinter zu besuchen, und daher manchen freien Tag hier verlebt, und der Major Van Zandt hatte sich stets gefreut ihn zu sehen, und ihm willig seine vielen Fragen beantwortet.

Paul wunderte sich nun über die Veränderung im Betragen des Buchhalters. Wo mochte sie herkommen? Van Zandt war älter geworden, aber er zählte nicht mehr als sechzig Jahre, und das Alter allein braucht einen Menschen noch nicht mürrisch zu machen und ihm seine gute Stimmung zu verderben. Es war ja wohl bekannt, daß häusliche Sorgen das Herz des Majors, der seinen Titel im Bürgerkrieg erhalten hatte, beschwerten. Seine Frau war von exzentrischer Gemütsart gewesen, und es hieß, sie sei ihm durchgegangen. Sein einziger Sohn war ein Tunichtgut gewesen. In der Firma Whittier, Wheatcroft & Cie. war er aus Rücksicht für den Vater zwar angestellt worden, aber er hatte sich so schlecht aufgeführt, daß er nicht auf Nachsicht rechnen konnte. Paul erinnerte sich dämmerhaft, daß der junge Van Zandt sich dann dem Westen zugewendet hatte und in einem Goldgräberlager, im Verlauf eines Streits, den er in der Trunkenheit in irgend einer Spielhölle angezettelt hatte, erschossen worden war.

Als Paul das Privatbureau betrat, stieß er dort auf den Hausmeister, der den Ofen mit Kohlen füllte.

Paul ließ die Glastüre hinter sich einschnappen, um mit dem Mann allein zu sein und bemerkte dann:

Mike, wer schließt abends das Bureau ab?

Ich natürlich, Herr Paul, lautete die prompte Antwort.

Und Sie schließen auch morgens auf? fragte der junge Mann.

Jawohl, antwortete Mike.

Pflegen Sie nachzusehen, ob diese Fenster hier immer innen eingehakt sind? forschte Paul weiter nach.

Gewiß, Herr Paul, erwiderte der Hausmeister.

Gut, bemerkte der Frager und fuhr dann nach einem Augenblick des Zögerns fort: Haben Sie an einem der letzten Tage, als Sie morgens hereinkamen, gefunden, daß eines dieser Fenster nicht verschlossen war?

Wie haben Sie das erfahren? entgegnete Mike überrascht.

Wann war es? fragte Paul weiter, seinen Vorteil ausnützend.

Letzten Montag morgen, Herr Paul, erklärte der Hausmeister, und wie das möglich ist, weiß ich nicht, denn am Samstag abend hatte ich alle Haken an diesen Fenstern eingehängt. Am Montag morgen aber stand eins der Fenster offen, als ich hereinkam, um ein wenig Luft ins Bureau da 'reinzulassen.

Sie schlafen immer hier, nicht wahr? fuhr Paul in seinen Erkundigungen weiter.

Am kommenden Dankfest sind's drei Jahre her, daß ich keine einzige Nacht nicht hier geschlafen habe, erwiderte Mike. Ich bewohne den ganzen Dachstock selber. Es ist eine sehr elegante Wohnung, Herr Paul, die ich hier innehabe.

Wer war am Sonntag da? lautete die nächste Frage.

Sicherlich war gar niemand hier, antwortete der Hausmeister, es sei denn, daß nach dem Abendessen jemand vorsprach, während ich ein wenig spazieren ging. Doch hätte man nicht hereinkommen können, da ich ja immer alles abschließe, und ich war nur für eine Stunde oder höchstens anderthalb Stunden aus.

Ich hoffe. Sie werden nach diesem auffallenden Vorkommnis sehr vorsichtig und achtsam sein, bemerkte Paul.

Jawohl, beteuerte Mike, und ich bin auch immer achtsam.

Der Hausmeister griff nach seinem Kohleneimer und wandte sich dann an Paul.

Wie konnten Sie wissen, daß das Fenster an jenem Morgen nicht geschlossen war? fragte er.

Wie ich das erfuhr? wiederholte der junge Mann fragend. Oh, ein Vögelein hat mir's gesungen.

Als Mike das Bureau verlassen hatte, zog Paul einen Stuhl an den Ofen und zündete eine Zigarre an. Eine halbe Stunde blieb er so sitzen und dachte nach.

Er kam zu dem Schlusse, daß Wheatcroft mit seinem Verdacht recht hatte. Der Firma Whittier, Wheatcroft & Cie. waren wichtige Geschäfte entgangen, weil sie auf Grund von auf heimliche und hinterlistige Weise erhaltenen Mitteilungen von der Konkurrenz unterboten worden war. Paul Whittier war der Ansicht, daß irgend jemand am letzten Sonntag sich während Mikes Spaziergang Eintritt in das Bureau verschafft, und daß dieser Jemand irgendwie den Kassenschrank geöffnet hatte. In diesem Privatschrank wurde nie Geld verwahrt; er war nur zur Aufnahme wichtiger Papiere bestimmt. So enthielt er das Kopierbuch mit den Voranschlägen der Firma, und auf dieses Buch hatte es der Mann abgesehen, der in das Bureau eingebrochen war. Und zwar konnte er nicht durch das Fenster eingestiegen sein, wenn das Fenster eingehakt war. Wie es diesem Mann gelungen war, in das Bureau zu kommen, warum er nicht denselben Weg zur Rückkehr einschlug, den er zum Eintritt benützt hatte – denn sonst hätte er das Fenster wohl wieder verschlossen, bevor er das Bureau verließ – wie es ihm möglich war, den Privatschrank zu öffnen, dessen Schlüsselwort nur den beiden Partnern bekannt war – auf alle diese Fragen wußte Paul Whittier keine Antwort.

Als er zu diesem Schlusse kam, legte sich der Kummer darüber, daß der Dieb – denn ein solcher war der Einbrecher in Wirklichkeit – wahrscheinlich unter den Angestellten des Hauses zu suchen sei, schwer auf sein Gemüt. Es erschien ihm beinahe zur Gewißheit, daß der Mann, der hier eingedrungen war, mit den inneren und äußeren Einrichtungen des Bureaus aufs genaueste vertraut sein mußte. Und wie hätte zu dieser Kenntnis ein anderer kommen können, als ein Angestellter der Firma? Paul kannte die Schreiber im äußeren Bureau genau. Es waren, mit Einschluß des alten Buchhalters, deren fünf, und trotzdem keiner von ihnen so lange als der alte Major im Dienste der Firma stand, war doch auch keiner unter zehn Jahren darin. Paul wußte nicht, auf welchen von ihnen er seinen Verdacht werfen sollte. Es war wirklich kein Grund vorhanden, einen der Angestellten zu verdächtigen. Und doch mußte einer von den fünf Angestellten, die im Hauptgeschäftszimmer jenseits der Glaswand, keine sechs Meter von ihm entfernt saßen, der Schuldige sein. Daran zweifelte Paul keinen Augenblick.

Und so kam es, daß er sich sagte, es sei weniger wichtig, Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen, damit sich die Geschichte nicht wieder ereignen würde, als den Täter zu fassen. Wenn der Dieb erst einmal gefaßt wäre, könnte es für die Firma keine Schwierigkeit mehr bereiten, ungewöhnliche Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. Aber zu allererst mußte der Dieb gefaßt werden. Er war gekommen und hatte sich wieder entfernt, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen. Aber sicherlich hatte er dem Bureau während der letzten paar Wochen wenigstens dreimal einen Besuch abgestattet, da die Firma ja bei drei wichtigen Bewerbungen unterlegen war. Wahrscheinlich war er noch mehr als drei Male hier gewesen. Sicherlich würde er wieder kommen. Früher oder später mußte er in sein Verderben eilen. Es brauchte ihm nur eine Falle gestellt zu werden; mehr war nicht nötig.

Während Paul ruhig im Privatbureau saß, seine Zigarre rauchte und seine geistigen Fähigkeiten aufs höchste anspannte, schlug plötzlich die Uhr in der Ecke drei Uhr.

Rasch kehrte sich Paul nach ihr um, ohne aufzustehen und warf einen Blick darauf. Es war eine alte, acht Tage gehende Uhr, die nicht nur die Zeit angab, sondern auch den Anspruch auf die Fähigkeit erhob, verschiedenerlei astronomische Auskünfte zu geben. Ihr starkes Gehäuse stand frei in der Ecke des Zimmers.

Einen Augenblick nachdem sie geschlagen, starrte Paul darauf, als sehe er den Gegenstand gar nicht, auf den sein Blick gerichtet war. Dann leuchtete es in seinen Augen auf, und ein Lächeln flog über seine Lippen.

Langsam sah er sich in dem Raume um und maß mit dem Auge seine Längenverhältnisse ab, die Entfernung zwischen den Schreibtischen und dem Sicherheitsschrank und der Uhr. Dann blickte er zu dem Glasdach über seinem Haupte auf. Hierauf lächelte er von neuem und saß wieder eine Minute lang still. Schließlich stand er auf und stellte sich mit dem Rücken vor den Ofen. Beinahe gerade ihm gegenüber stand die Uhr in der Ecke.

Er nahm seine eigene Uhr aus der Tasche und verglich ihre Zeit mit der der Standuhr. Augenscheinlich fand er, daß diese letztere vorging, denn er trat vor sie hin und richtete den Minutenzeiger zurück. Es hatte den Anschein, als sei dies ein schwierigeres Beginnen, als er voraussetzte, oder daß er zu unvorsichtig dabei zu Werke ging, denn der Zeiger zerbrach ihm zwischen den Fingern. Eine unwillkürliche Handbewegung, als das dünne Metall zerbrach, ließ die Kette aus ihrem Zylinder gleiten, und polternd stürzte das Gewicht zu Boden.

Die Angestellten im Kontor blickten von ihren Büchern auf, und der rothaarige Bureaujunge erschien prompt auf das Klingelzeichen, wodurch ihn Paul einen Augenblick später hereinrief.

Bob, sagte der junge Mann zu dem kleinen Diener und griff zu seinem Hut und Ueberzieher, ich habe eben die Uhr da beschädigt. Ich weiß ein Geschäft, das die Spezialität hat, solche Uhren zu reparieren. Ich werde den Inhaber benachrichtigen, sofort jemand zu diesem Zweck herzuschicken. Gieb sie dem Manne ab, der im Verlauf des heutigen Nachmittags vorsprechen wird; er wird sich mit meiner Karte ausweisen. Verstanden?

Jawohl, antwortete der Junge. Wenn er Ihre Karte nicht vorweist, kriegt er die Uhr nicht.

Das wollte ich sagen, erwiderte Paul und verließ das Bureau.

Im Hauptbureau begegnete er Wheatcroft, der eben zur Türe hereinkam.

Paul, rief dieser ungestüm aus, ich habe nachgedacht über jenen – jenen – na, Sie wissen, was ich meine. Und ich bin zu dem Schlusse gelangt, daß wir am besten sofort einen Detektiv zur Aufklärung dieses Vorfalls anstellen!

Gewiß, meinte Paul, das ist ein guter Gedanke. Ich bin nämlich selber zu diesem Schlusse gelangt. Ich –

Dann unterbrach er sich. Er hatte sich langsam umgewandt, um mit dem Partner seines Vaters zu sprechen. In diesem Augenblick bemerkte er, daß keine drei Meter von ihnen der Major Van Zandt stand, und es entging ihm nicht, daß das Gesicht des alten Buchhalters auffallend blaß war.


III.

Während der nächsten Woche bot das Bureau von Whittier, Wheatcroft & Cie. wieder den gewöhnlichen, behaglichen und ruhigen Anblick. Die laufende Arbeit wurde auf die gewohnte Weise erledigt, der Hausmeister schloß jeden Morgen das Bureau auf, und der Junge langte wenige Minuten darauf im Geschäft an; um neun Uhr erschienen die Schreiber und Buchhalter, und ein wenig später konnte man im Privatbureau die Teilhaber sehen, wie sie die Korrespondenz durchlasen.

Die beiden Whittiers, Vater und Sohn, hatten mit Wheatcroft eine Beratung gehabt über die empfehlenswerteste Methode, um für die Zukunft einem Verrat der Geschäftsgeheimnisse ihrer Firma zuvorzukommen. Dem älteren Teilhaber war es gelungen, seinem jüngeren Partner die Nutzlosigkeit der Verwendung von Detektiven beizubringen.

Lassen wir das noch, sagte er, wenigstens vorläufig. Unsere Angestellten haben uns all die Jahre hindurch treue Dienste geleistet, und ich möchte ihnen nicht die Erniedrigung bereiten, sie bewachen oder beobachten – so nennt man's doch, nicht wahr? – zu lassen, von irgend einem jener windigen Spürhunde, der imstande wäre oder doch versuchen würde, die unschuldigsten Handlungen in Schuldbeweise umzustempeln, um uns seine Gewandtheit zu zeigen.

Aber es kann doch nicht auf diese Weise weitergehen, rief Wheatcroft aus. Wenn wir uns bei jedem Wettbewerb, um den sich's verlohnt, ausbeißen lassen wollen, können wir ebensogut gleich das Geschäft aufstecken.

Das ist ja natürlich richtig, gab Whittier zu; aber wir sind noch nicht sicher, daß wir auf unehrenhaftem Wege unterboten worden sind.

Die Tuxedokompagnie hat uns im Verlauf der letzten zwei Monate drei Abschlüsse weggeschnappt, rief der jüngere Partner, das ist doch sicher oder nicht?

Drei Abschlüsse sind uns entgangen, freilich, gab Whittier in beschwichtigendem Tone zu, und die Tuxedoleute haben das Geschäft gemacht. Aber trotz allem und allem ist es doch möglich, daß es sich auch nur um einen Zufall handelt.

Für uns ist das ein hübsch wertvoller Zufall, meinte Wheatcroft sarkastisch.

Aber wenn es auch einen großen Verlust für uns bedeutet, erwiderte der ältere Teilhaber liebenswürdig und legte Wheatcroft die Hand auf den Arm, so ist das noch lange kein ausreichender Grund, den Kopf zu verlieren. Es ist kein Grund dafür vorhanden, daß wir von unserem alten Geschäftsgrundsatz abweichen sollten, jedermann anständig zu behandeln. Wenn irgend einer unserer Angestellten uns verrät, dann werden wir, wenn wir ihm genügend von dem Seil geben, ihn früher oder später damit aufhängen.

Und bevor er sich auf diese Weise hängt, rief Wheatcroft, werden wir vielleicht selber gezwungen sein, uns aufzuknüpfen.

Na, hören Sie doch, Wheatcroft, meinte der ältere Teilhaber, ich denke, wir werden diesen kleinen Verlust schon noch ein Weilchen überstehen können. Was wir aber nicht aushalten könnten, wäre, unsere Selbstachtung durch irgend eine Handlung zu verlieren, die wir nicht wieder gut machen könnten. Möglicherweise werden wir Detektive anstellen müssen, aber ich glaube nicht, daß die Zeit dafür schon gekommen ist.

Gut, wie Sie meinen, erklärte der jüngere Teilhaber in einem Tone, dem man wohl anhörte, daß der Sprecher nur ungerne nachgab. Ich bestehe nicht darauf. Ich bin zwar immer noch der Ueberzeugung, daß es das Beste wäre, keine Zeit mehr zu verlieren – aber ich gebe nach. Doch eins möchte ich Ihnen noch prophezeien: die Stahlschienen für die Springfieldbahn, die werden wir verlieren – voilà tout!

Paul Whittier hatte sich an dieser Besprechung nicht beteiligt. Er war mit seinem Vater einverstanden und sah, daß es nicht nötig war, noch weitere Beweise anzuführen, um Wheatcroft zu überzeugen.

Nunmehr blickte er auf und fragte, wann sie die Absicht hätten, ihre Bedingungen für die Schienen einzugeben. Sein Vater erklärte ihm, daß sie dazu noch die Einzelberechnungen der Ingenieure an den Namapowerken nötig hätten, und daß sie wahrscheinlich vor dem kommenden Samstag nicht über diesen Bericht und die genaue Festsetzung der Preise in dem Vertrage ratschlagen könnten.

Und wenn wir den Vertrag nicht mit Gewißheit verlieren wollen, beharrte Wheatcroft, denke ich, würden wir am besten das Schlüsselwort an diesem Kassenschrank umändern.

Darf ich bemerken, fiel Paul ein, daß es mich weiser dünkt, das Schloß so zu belassen, wie es jetzt ist? Was wir im Sinne haben, ist nicht so sehr, diesen Vertrag mit der Springfieldgesellschaft zu einem günstigen Abschluß zu bringen, als ausfindig zu machen, ob sich wirklich jemand Zutritt zu dem Kopierbuch zu verschaffen weiß. Daher dürfen wir es diesem Unbekannten nicht erschweren, zu dem Buch zu gelangen.

Oh, ganz gut, stimmte Wheatcroft bei, ohne ganz die Ironie in seiner Stimme unterdrücken zu können, ganz wie Sie meinen! Aber das möchte ich Ihnen jetzt nicht verbergen, daß ich der Ansicht bin, Sie schieben das Unvermeidliche nur hinaus.

Damit wurde der Gegenstand fallen gelassen. Während mehrerer Tage vermieden es die drei Männer, die stundenlang im Bureau der Namapo Stahl- und Eisenwerke beisammen saßen, die Frage wieder zu berühren, trotzdem sie in ihren Gedanken den breitesten Platz einnahm.

Es war Mittwoch, als die große Standuhr, die Paul Whittier beschädigt hatte, von dem Reparaturgeschäft zurückgesandt wurde. Paul war selber den Leuten behilflich, sie wieder an ihren alten Platz zu stellen, in die Ecke, die dem Kassenschrank diagonal entgegengesetzt war.

Am Donnerstag morgen kam Paul ausnahmsweise später als gewöhnlich ins Geschäft, und dies war vielleicht auch der Grund, daß ihn dringende Geschäfte, die er nicht alle hatte erledigen können, an diesem Abend länger als die anderen im Bureau zurückhielten. Die Angestellten waren schon alle fort, sogar der Major Van Zandt, der immer als letzter das Kontor verließ. Der Hausmeister war bereits zweimal hereingekommen, ehe der Sohn des älteren Teilhabers bereit war, sich nach Hause zu begeben. Da und dort brannte in dem langen, schmalen, verlassenen Geschäftsraum noch eine Flamme, als Paul durch denselben von seinem Bureau zur Straße ging. Draußen hatte sich bereits das trübe Dämmerlicht eines Neuyorker Novemberabends auf die Stadt gelagert.

Soll ich Ihnen nicht das Paket tragen, Herr Paul? fragte der Hausmeister, der ihn zur Türe begleitete.

Danke, Mike, ist nicht nötig, antwortete der junge Mann. Es ist nicht schwer. Außerdem brauche ich es nicht weit zu tragen.

Am nächsten Morgen betrat Paul als erster der drei das Bureau. Die Angestellten standen bereits vor ihren Pulten, aber weder der ältere, noch der jüngere Teilhaber war bis jetzt angelangt. Der Hausmeister stand zufällig in der großen Einfahrt, als Paul Whittier im Begriff war, das Geschäft zu betreten.

Der junge Mann bemerkte den Hausmeister, und ein mutwilliges Lächeln irrte um seine Mundwinkel.

Mike, sagte er und blieb auf dem Türtritt stehen, glauben Sie wirklich, es sei notwendig, daß Sie morgens rauchen, wenn Sie unser Bureau auskehren?

Ich habe heute morgen meine Pfeife noch gar nicht in den Mund genommen, antwortete der Portier, höchlich erstaunt.

Aber gestern morgen? fuhr Paul fort.

Gestern morgen? wiederholte Mike, nicht im geringsten verwirrt.

Gestern morgen, zehn Minuten vor acht Uhr, waren Sie im Privatbureau und rauchten Ihre Pfeife!

Wie konnten Sie mich denn sehen, Herr Paul? rief Mike in heller Verwunderung. Sie sind doch gestern so spät gekommen, nicht?

Paul lächelte freundlich.

Ein Vögelein hat mir's gesungen, sagte er.

Wenn ich das Vögelein in der Hand hätte, würd' ich ihm den Hals abdrehen, wenn es solche Geschichten erzählt.

Mir ist es ja gleichgültig, ob Sie rauchen, Mike, fuhr der junge Mann fort, das ist Ihre Sache. Aber es wäre mir schon lieber, wenn Sie Ihre Pfeife weglegen wollten, solange Sie das Privatkontor aufräumen.

Jawohl, Herr Paul, ich werde es in Zukunft bleiben lassen, versprach der Hausmeister.

Und ich würde auch Bob nicht zum Rauchen ermutigen, setzte Paul hinzu.

Ich ihn ermutigen? fragte Mike.

Jawohl, erklärte Paul, gestern morgen ließen sie ihn seine Zigarette an Ihrer Pfeife anzünden, stimmt das nicht?

Haben Sie denn durch das Fenster hereingeschaut, Herr Paul? fragte der Hausmeister ärgerlich. Sie haben mich gesehen, so wahr ich Sie je gesehen habe.

Nein, gab der junge Mann zur Antwort, ich könnte nicht sagen, daß ich Sie selbst gesehen habe. Ein Vögelein hat mir's gesungen.

Damit ließ er den verdutzten Hausmeister stehen und betrat das Kontor. Gerade an der Türe stand der Bureaujunge, der rasch eine noch nicht angebrannte Zigarette zu verstecken suchte, als er den Sohn des älteren Partners erblickte.

Als Paul des rothaarigen Jungen ansichtig ward, lächelte er von neuem schadenfroh vor sich hin.

Bob, begann er, wenn du rausbringen willst, wer länger auf dem Kopf stehen kann, du oder der Stiefelputzer Danny, glaubst du nicht, daß es dazu noch bessere Plätze gäbe, als das Privatbureau?

Der Bureaujunge stand ebenso verdattert vor Erstaunen da, wie der Hausmeister, nur war er jünger und sein Geist rascher.

Wann habe ich denn den Danny ins Bureau hereingelassen? fragte er trotzig.

Gestern morgen, antwortete Paul immer noch lächelnd, ein paar Minuten vor halb neun Uhr.

Gestern morgen? wiederholte Bob, als falle es ihm schwer, sich all die Ereignisse des vorhergehenden Tages ins Gedächtnis zurückzurufen. Kann sein, daß Danny für einen Augenblick hereingekommen ist.

Er hat mit dir auf dem ganzen Weg zum Privatbureau Bockspringen gespielt, fuhr Paul fort, während ihn Bob in wachsender Verwunderung anstarrte.

Wie können Sie das erfahren haben? fragte der Junge freimütig. Haben Sie durch das Fenster geschaut?

Um zu wissen, daß du und Danny auf dem Kopf in der Ecke des Bureaus gestanden seid, mit den Absätzen gegen den Kassenschrank, von dem ihr die Farbe abgekratzt habt? Das nächstemal würde ich's im Hofe versuchen, wenn ich an eurer Stelle wäre. Ein derartiger Sport ist viel fideler unter freiem Himmel.

Mit diesem Schlußknalleffekt verfolgte Paul den Weg zu seinem eigenen Platz. Der Bureaujunge starrte ihm mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde nach.

Später am Tage vertrauten sich Bob und Mike ihre Erlebnisse wechselseitig an. Keiner von beiden wußte eine Erklärung dafür zu finden.

In der Schule, erklärte Bob, glaubten wir, die Lehrerin habe Augen hinten am Kopfe. Sie hat mich jedesmal ertappt, wenn ich was hinter ihrem Rücken anstellte. Aber der Herr Paul ist ihr noch über: denn er sieht, was ich treibe, wenn er auch gar nicht hier ist.

Der Herr Paul, stimmte Mike bei, war gestern morgen gewiß nicht da; darauf wollt' ich einen Eid schwören. Und wenn er nicht hier war, wie hat er sehen können, daß ich dir Feuer aus meiner Pfeife gab? Das soll mir einer erklären! Er sagt, ein Vögelein hab's ihm gesungen – aber das ist doch nicht möglich, denk' ich. Es gibt aber Uhren, in denen sitzen Vögel, die rauskommen und die Tageszeit singen: Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck! Und wenn die große Uhr, die er letzte Woche hat bringen lassen, so eine wäre mit einem Vogel, der die Zeit so ansagen könnte, ich glaub', ich würd' das Ding heute noch in Stücke schlagen – mein Seel'! ich würd's tun!

Es ist kein Vogel, sagte Bob. Darauf können Sie Ihren Kopf wetten. Kein Vogel kann ihm was verraten, nicht mehr, als daß Sie ihm Salz auf den Schwanz streuen können. Ich weiß, was der Herr Paul tut – wenigstens weiß ich, wie er es macht. Hellsehen kann er! Ich hab' einmal einen Mann auf dem Theater gesehen und der –

Aber vielleicht ist es nicht notwendig, hier die Erinnerungen des Jungen von dem Taschenspielerstückchen eines schlauen Zauberkünstlers aufzuzeichnen.

Etwa eine halbe Stunde nach der Ankunft Pauls erschien Wheatcroft im Kontor. Der jüngere Teilhaber blieb zögernd einen Augenblick in der Türe stehen, dann trat er ein.

Paul sah ihn beobachtend an, und das gleiche boshafte Lächeln zuckte über das Gesicht des jungen Mannes.

Sie brauchen sich heute nicht aufzuregen, Herr Wheatcroft, sagte er. Heute morgen wartet kein bezauberndes Weib auf Sie!

Der Kuckuck hol das Weib! rief Wheatcroft ärgerlich. Es war mir nicht möglich, sie loszuwerden.

Aber schließlich haben Sie doch für das Buch subskribiert, versicherte Paul, und als sie wegging, sah sie ganz glücklich aus.

Ich glaube, ich habe mich bereit erklärt, ihr ein Exemplar von dem Buch abzunehmen, das sie mir zeigte, gab Wheatcroft ein wenig kleinmütig zu. Dann schaute er plötzlich auf. Wie, zum Teufel? rief er aus, das war gestern morgen –

Wenn wir den Unterschied in der Zeit der verschiedenen Uhren in Anschlag bringen, erwiderte Paul rasch, war es gestern morgen etwa um zehn Minuten vor zehn Uhr.

Wie kommen Sie aber dann dazu, etwas davon zu wissen? Das möchte ich gerne erfahren! meinte der jüngere Partner. Sie kamen ja erst gegen elf Uhr ins Geschäft.

Ich hatte ein Auge auf Sie! antwortete Paul und wiederum flog das Lächeln über sein Gesicht.

Aber ich glaubte doch, Sie seien den ganzen Morgen bei einem kranken Freund gewesen, fuhr Wheatcroft fort.

Das war ich auch, erwiderte Paul. Und wenn Sie nicht glauben, daß ich ein Auge auf Sie habe, so ist alles, was ich sagen kann, nur, daß es mir ein Vögelein gesungen hat.

Unsinn! Humbug! rief Wheatcroft aus. Ihr Vögelein hat zwei Beine, nicht?

Vögel haben das gewöhnlich, entgegnete Paul lachend.

Ich meine zwei Beine, die in Hosen stecken, erklärte der jüngere Teilhaber und fuhr sich mit einer ungestümen Handbewegung durch sein angegrautes Haar.

Sehen Sie jetzt, wie angenehm es ist, bewacht zu werden? bemerkte Paul. Und da sein Vater eben das Kontor betrat, ging er auf ein anderes Thema über.

An diesem Samstagnachmittag wurden Whittier und Wheatcroft einig über die Höhe des Preises für den Voranschlag, den die Springfieldbahngesellschaft für die Stahlschienen verlangt hatte. Während der alte Whittier den Brief an die Gesellschaft mit eigener Hand abfaßte, bugsierte sein Sohn den jüngeren Teilhaber in das äußere Bureau, wo alle Angestellten mit Einschluß des alten Buchhalters an der Arbeit waren. Dann leitete Paul die Unterhaltung mit Wheatcroft in der Weise, daß jeder der fünf Angestellten, der auf das scheinbar sorglose Gespräch lauschen wollte, erfahren konnte, daß die Firma eben ihre Bedingungen für einen neuen wichtigen Abschluß aufgestellt hatte. Weiterhin ließ Paul noch die Andeutung fallen, daß sein Vater und er wahrscheinlich an diesem Samstag abend aufs Land fahren und bis Montag morgen wegbleiben würden.

Gerade bevor das Kontor an diesem Abend abgeschlossen wurde, zog Paul Whittier rasch noch die Standuhr auf, die in der Ecke gegenüber dem Kassenschrank stand.


IV.

Die beiden Whittiers verbrachten den folgenden Sonntag auf dem Land. Aber Paul entschuldigte sich bei den Freunden, die er mit seinem Vater aufgesucht hatte, und kehrte mit einem Nachtzug in die Stadt zurück. Dies ermöglichte ihm, Montag morgens sehr früh im Kontor der Namapowerke zu erscheinen.

Es war so früh am Morgen, daß noch keiner der Angestellten im Geschäft war, als der Sohn des älteren Teilhabers, seine Reisetasche in der Hand, die Türe aufschloß und den langen Geschäftsraum betrat, in dessen Hintergrund der Hausmeister noch damit beschäftigt war, aufzuräumen.

Sie sind's, Herr Paul? fragte Mike erstaunt, als er aus dem Privatbureau herauskam, um zu sehen, wer der frühe Besucher sei. Was hat Sie denn so früh, noch vor Frühstückszeit, aus dem Bett getrieben?

Ich stehe immer vor dem Frühstück auf, antwortete Paul. Sie nicht?

Wenn ich nicht mein Leben verdienen müßte, weiß ich nicht, ob ich aufstehen würde, erwiderte der Hausmeister.

Paul betrat das Bureau, gefolgt von Mike, der sich immer noch fragte, warum der junge Mann um diese Stunde schon da sei.

Nach einem raschen Blick über das ganze Kontor, stellte Paul seine Handtasche auf den Tisch und wandte sich dann plötzlich mit einer Frage an den Hausmeister.

Wann – sagte er – kommt Bob morgens ins Geschäft?

Mike warf einen Blick auf die Standuhr in der Ecke und sagte dann:

Ich denke in zehn Minuten wird er da sein oder vielleicht auch in zwanzig. Es ist heute Montag, und der Junge ist vielleicht müde, weil er gestern nicht gearbeitet hat.

Zehn Minuten, wiederholte Paul langsam. Er überlegte einen Augenblick, dann fuhr er fort: Dann müssen Sie ausgehen, um mir etwas zu besorgen, Mike.

Gewiß, Herr Paul, wohin Sie wünschen, entgegnete der Hausmeister.

Sie sollten zum –, begann Paul, gehen Sie doch einmal rasch zum –. Dann zögerte er, als sei er noch nicht ganz im klaren darüber, was der Hausmeister tun solle. Gehen Sie bitte zur Ausgabestelle der »Gotham Zeitung« und holen Sie mir zwei Nummern der gestrigen Ausgabe. Verstehen Sie?

Vielleicht ist der Schalter so früh noch nicht geöffnet, antwortete Mike.

Tut nichts, erwiderte Paul und beeilte sich, seinen Wunsch genauer auszudrücken. Ich meine das so, daß Sie jetzt hingehen sollen und nachsehen, ob Sie die Zeitungen bekommen können. Wenn natürlich der Schalter noch nicht geöffnet ist, müssen Sie später noch einmal hin.

Jawohl, Herr Paul, ich gehe sofort, bemerkte Mike. Damit griff er nach seiner Mütze, die auf einem Stuhl lag, und verschwand.

Paul folgte dem Hausmeister durch das Kontor. Als Mike auf der Straße war, schloß der junge Mann die Glastüre ab und kehrte eilig in das Privatbureau zurück. Hier drehte er den Schlüssel an der Türe um und ließ alle Vorhänge herunter, damit niemand von außen sehen konnte, was er im Inneren des Raumes tat.

Was er auch beabsichtigt hatte, er entledigte sich rasch seiner Aufgabe. Noch war keine Minute vergangen, seitdem er die Tür zum Kontor abgeschlossen hatte, da drehte er von neuem den Schlüssel um und betrat mit der Tasche in der Hand wieder das Hauptkontor. Dann schlenderte er zur Türe, die auf die Straße ging, und erreichte sie gerade zur rechten Zeit, als der Bureaujunge, eine Zigarette paffend, um die Ecke erschien. Rasch schloß er sie wieder auf.

Als Bob, immer noch kräftige Rauchwolken ausstoßend, die Tür aufklinken wollte, um das Kontor zu betreten, blickte er auf und entdeckte, daß Paul vor ihm stand und ihn beobachtete. Der Junge riß die Zigarette aus dem Mund und ließ sie schleunigst fallen; dann kam er herein. Seine Augen verrieten die Ueberraschung, die ihm der Sohn des älteren Geschäftsteilhabers durch sein frühes Erscheinen im Geschäft bereitet hatte.

Paul grüßte den Jungen freundlich, aber Bob drückte sich, sobald es ihm möglich war. Seit dem Tage, wo ihm der junge Mann erzählt hatte, was im Bureau vorgegangen war, als der Bureaujunge allein darin gewesen, hatte dieser eine Scheu vor dem jungen Herrn; die Geschichte kam ihm ein wenig geheimnisvoll, um nicht zu sagen unheimlich vor.

Paul hielt es für das beste, die Rückkehr des Hausmeisters abzuwarten; daher blieb er etwa fünf Minuten im Türbogen stehen, eine Zigarre im Mund; die Reisetasche stellte er vor sich auf den Boden hin.

Als Mike mit den zwei Exemplaren der Sonntagsausgabe des verlangten Blattes erschien, gab ihm Paul das Geld dafür und noch ein kleines Trinkgeld. Dann griff er wieder zu seiner Tasche.

Wenn mein Vater ins Geschäft kommt, Mike, sagte er, so sagen Sie ihm, daß ich diesen Morgen wahrscheinlich ein wenig später zurückkehren werde.

Gehen Sie denn jetzt wieder weg, Herr Paul? fragte der Hausmeister. Was hat es Ihnen dann genützt, vor dem Frühstück aufzustehen und so früh am Morgen ins Geschäft zu kommen?

Paul lachte ein wenig.

Ich hatte schon meine Gründe dafür, sagte er kurz. Und mit diesen Worten ging er seines Wegs, die Tasche in der einen und die zwei umfangreichen, auffallenden Zeitungen in der anderen.

Mike blickte ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war; dann betrat er wieder das Kontor, wo ihn Bob mit der eiligen Frage empfing, warum denn der Sohn des Alten heute mit der Sonne aufgestanden sei.

Wenn ich der Alte wär' oder der Sohn vom Alten, erklärte Bob, würde ich nicht aufstehen, bevor ich tüchtig ausgeschlafen hätte. Ich würde, wenn ich Lust dazu hätte, mir das Frühstück ins Bett bringen lassen, und mein Mittag- und mein Nachtessen. Und ich würde nichts arbeiten und würde jeden Abend ins Theater gehen, am Samstag sogar zweimal!

Weiß nicht, warum der Herr Paul ins Geschäft gekommen ist, erklärte Mike. Er hat nur zwei von den Sonntagsblättern haben wollen mit Bildern drin. Warum er zwei braucht, weiß ich nicht. In einem einzigen ist schon so viel zu lesen, daß mir's für die Sonntage eines ganzen Monats ausreichen würde.

Hätte Mike sehen können, wie der junge Mann die zwei Exemplare der »Gotham Zeitung« in den ersten besten Müllwagen warf, dem er begegnete, sobald er aus dem Gesichtskreis des Hausmeisters verschwunden war, so würde er sich noch viel tiefer im unklaren darüber befunden haben, warum Paul Whittier an diesem Montag morgen so früh ins Geschäftsviertel gekommen war.

Paul war nicht das einzige Mitglied der Firma Whittier, Wheatcroft & Cie., das an diesem Morgen früh im Kontor anlangte. Wheatcroft war in der Regel pünktlich im Geschäft und pflegte sich mit dem Schlag halb zehn Uhr an sein Pult zu setzen. An diesem Montag morgen aber betrat er das Kontor schon ein paar Minuten vor neun Uhr.

Als er durch das Kontor wandelte, schweifte sein Auge suchend über die Pulte der Angestellten, als suche es jemand.

An der Tür zum Privatbureau stieß er auf Bob.

Ist der Major noch nicht da? fragte er kurz.

Nein, antwortete der Junge. Er kommt nie vor neun Uhr.

Hm, brummte der jüngere Teilhaber. Sobald er erscheint, sag' ihm, ich möchte ihn sofort sprechen – sofort, verstanden?

Ich bin nicht taub und stumm und blind, gab Bob zur Antwort. Ich werde ihn in das Privatkontor lotsen, sobald er am Horizont auftaucht.

Aber sonderbarerweise verspätete sich der alte Buchhalter an diesem Morgen. Gewöhnlich war er ein Vorbild an Pünktlichkeit. Doch heute schlug die Uhr neun und halb und zehn, bevor er endlich im Kontor erschien.

Ehe er noch seinen Rock gewechselt hatte, stand Bob schon neben ihm.

Der Herr Wheatcroft wünscht Sie in aller Eile zu sehen, sagte der Junge.

Der Major Van Zandt erbleichte plötzlich und hielt sich mit der Hand am Geländer fest.

Herr Wheatcroft wünscht mich zu sprechen? fragte er in schwachem Tone.

Das will ich meinen, antwortete der Junge, und zwar hat er's mächtig eilig. Er ist heute morgen schon in aller Frühe erschienen, um Sie zu sehen, und wartet bald zwei Stund' auf Sie. Und ich denk' mir, daß er jetzt nahezu bei der Raserei angelangt ist.

Als der alte Buchhalter, blaß im Gesicht, mit unsicheren Schritten das Privatbureau betrat, fuhr Wheatcroft in seinem Drehstuhle nach ihm herum.

So, Sie sind's? rief er. Endlich!

Es tut mir leid, daß ich mich heute verspätet habe, Herr Wheatcroft, begann Van Zandt.

Das tut nichts! bemerkte der Geschäftsherr. Wenigstens möchte ich Sie wegen einer anderen Sache sprechen.

Einer anderen Sache? wiederholte der alte Mann mit schwacher Stimme.

Jawohl, erwiderte Wheatcroft. Schließen Sie bitte die Tür ab, damit der rothaarige Spitzbube dort draußen nicht hören kann, was ich Ihnen zu sagen habe! Und jetzt nehmen Sie Platz! Jawohl; es handelt sich um etwas anderes, worüber ich mit Ihnen sprechen muß, und ich möchte, daß Sie mir gegenüber offen von der Leber weg reden!

Was auch Wheatcroft dem Major Van Zandt zu sagen hatte, es mußte vor den Augen der Angestellten jenseits des Glasverschlags geschehen. Und die Unterhaltung dauerte eine gute Weile; für jeden, der die zwei Männer im Privatbureau beobachten wollte, war es offensichtlich, daß Wheatcroft irgend eine Erklärung von dem alten Manne, der ihm gegenüber saß, zu erlangen suchte, und daß der Major den Bemühungen seines Arbeitgebers einen möglichst großen Widerstand entgegensetzte. Offenbar war das von ihnen behandelte Thema von so großer Wichtigkeit, daß Wheatcroft seine ganze Willenskraft daransetzte, seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren; und nicht ein einzigesmal ließ er seine Stimme in leidenschaftliche Töne sich erheben, wie es sonst seine Gewohnheit war.

Der Major Van Zandt war immer noch mit Wheatcroft im Privatkontor eingeschlossen, als Whittier anlangte. Der ältere Teilhaber blieb nahe bei der Tür, die auf die Straße ging, bei einem Schreiber stehen, mit dem er ein Gespräch begann; beinahe augenblicklich holte ihn auch sein Sohn ein.

Na, Paul, begann der Vater, bin ich jetzt trotz allem doch noch als erster hier angelangt – trotzdem du schon heute nacht abgefahren bist?

Nein, erwiderte der Sohn, ich war heute morgen der erste im Geschäft, – glücklicherweise!

Glücklicherweise? fragte der Vater. Ich nehme an, das soll bedeuten, du habest dein Vorhaben ausführen können – was du auch im Sinn gehabt haben magst. Du hast mir ja nicht gesagt, worum es sich handelt.

Ich bin bereit, es dir jetzt mitzuteilen, Vater, sagte Paul; ich habe mein Ziel ja erreicht.

Miteinander begaben sie sich durch das lange Kontor zum Privatbureau.

Als der alte Buchhalter sie kommen sah, stand er auf, als wolle er das Zimmer verlassen.

Bleiben Sie nur sitzen, Major! rief Wheatcroft in ernstem, aber nicht unfreundlichem Tone; lassen Sie sich bitte nicht stören! – Dann wandte er sich dem alten Whittier zu.

Ich muß Ihnen beiden etwas mitteilen, sagte er, und es wäre mir lieb, wenn der Major während dieser Unterhaltung anwesend wäre. Paul, darf ich Sie ersuchen, nachzusehen, ob die Türe so zu ist, daß man uns nicht belauschen kann?

Gewiß, antwortete Paul, und beeilte sich, die Türe außerdem abzuschließen.

Na, Wheatcroft, fragte der alte Whittier, was haben denn Sie für Geheimnisse heute?

Der jüngere Geschäftsteilhaber drehte sich in seinem Stuhle herum und faßte Whittier ins Auge.

Mein Geheimnis? rief er aus. Es ist dasselbe, das uns alle in Erstaunen gesetzt hat. Ich hab's herausgebracht.

Wie meinen Sie das? fragte der ältere Partner.

Ich meine das so, daß jemand den Kassenschrank dort in der Ecke geöffnet, unser Privatkopierbuch durchgelesen und ausfindig gemacht hat, wie hoch die Summe war, die wir für wichtige Abschlüsse gemacht hatten. Ich meine, daß dieser Mensch diese Erkundigung von uns gestohlen und an unsere Konkurrenz verkauft hat, und daß sie sich kein Gewissen daraus machte, Gestohlenes zu kaufen!

Das haben wir alle geargwöhnt, wie Sie wissen, bemerkte der ältere Whittier; haben Sie irgend etwas Neues entdeckt?

Das will ich meinen, erwiderte Wheatcroft. Ich hab diesen Mann selber entdeckt! voilà tout!

Sie auch? rief Paul aus.

Wer ist es? fragte der ältere Teilhaber.

Einen Augenblick, wenn ich bitten darf, bat Wheatcroft. Nur nicht so aufgeregt! Ich werde es Ihnen erzählen. Gestern nachmittag – ich weiß nicht, was mich dazu veranlaßte – trieb mich ein unbestimmtes Gefühl ins Geschäft. Ich wollte mich vergewissern, ob irgend etwas hier vorginge. Ich wußte, daß wir dieses Angebot Samstag gemacht hatten, und fragte mich, ob nicht vielleicht jemand den Sonntag dazu benützen würde, zum Kopierbuch zu gelangen. So kam ich etwa um vier Uhr hierher und sah, wie sich ein Mann aus der Vordertüre des Kontors hinausstahl. Ich folgte ihm so rasch und leise ich es vermochte; ich wollte keinen Lärm schlagen, ehe ich Genaueres wußte. Der Mann bemerkte mich nicht. Er stieg die Treppe zur Station der Hochbahn hinan. An der Biegung gelang mir's, sein Gesicht zu sehen.

Haben Sie ihn erkannt? fragte Whittier.

Jawohl, lautete die Antwort. Aber er sah mich nicht. Tränen rollten ihm über die Wangen, vielleicht war dies der Grund dafür. Heute morgen rief ich ihn herein, und schließlich hat er die ganze Geschichte eingestanden.

Wer – wer ist es? fragte Whittier, indem er es vermied, den alten Buchhalter anzusehen, der dreißig Jahre lang und darüber in der Firma angestellt gewesen war.

Es ist der Major Van Zandt! erklärte Wheatcroft.

Einen Augenblick herrschte Schweigen; dann erklang Paul Whittiers Stimme.

Ich glaube, sagte er, es liegt da ein Mißverständnis vor.

Ein Mißverständnis? rief Wheatcroft aus. Welche Art von Mißverständnis?

Ein Mißverständnis, was den Schuldigen anlangt, antwortete Paul.

Sie wollen sagen, der Major sei nicht der Schuldige? fragte Wheatcroft.

Jawohl, das meine ich, entgegnete Paul.

Aber er hat ja ein Geständnis abgelegt, versetzte Wheatcroft.

Da kann ich nicht helfen, lautete die Entgegnung. Er ist nicht der Mann, der gestern diesen Schrank um halb vier Uhr aufgemacht und das Kopierbuch herausgenommen hat.

Der alte Buchhalter sah den jungen Mann in schüchterner Verwunderung an.

Ich hab es eingestanden, sagte er mit erbarmungswürdiger Stimme. Ich hab's eingestanden.

Ich weiß alles, Herr Major, sagte Paul nicht unfreundlich. Aber ich weiß nicht, warum Sie das tun, denn Sie sind es ja gar nicht gewesen.

Und wenn der Mann, der sich als der Schuldige bekennt, nicht der Täter ist, wer ist es dann?

Ich weiß nicht, wer es ist – trotzdem ich meine Verdachtsgründe habe, erwiderte Paul; aber ich habe im Augenblick der Tat eine Photographie von ihm aufgenommen.


V.

Als Paul Whittier erklärte, er besitze eine Photographie von dem Manne, der die Namapo Stahl- und Eisenwerke geschädigt hatte, eine Photographie, die ihn zeige, wie er gerade den Kassenschrank öffne, starrten sich Whittier und Wheatcroft überrascht an. Der Major Van Zandt sah den jungen Mann an, wobei Furcht und Scham auf seinem Gesicht kämpften.

Ohne seinen Triumph lange auszugenießen, fuhr Paul mit der Hand in die Tasche und zog zwei viereckige, bläuliche Papiere heraus.

Da, sagte er und händigte eines der beiden seinem Vater ein, das ist eine Kopie auf Lichtpauspapier: der Mann wurde in diesem Bureau aufgenommen, als er gerade damit beschäftigt war, den Schrank in der Ecke aufzuschließen. Er hat die Hand, wie du siehst, gerade auf dem Schloß liegen, aber offenbar hat ihn eben in diesem Augenblick etwas gestört: er wirft einen hastigen Blick über die Schulter zurück. In diesem Augenblick aber wurde die Aufnahme gemacht, und so ist es geglückt, ein genaues Abbild seines Gesichtes zu erhalten.

Whittier hatte die Photographie angesehen; nunmehr übergab er sie dem ungeduldigen jüngeren Teilhaber.

Sie sehen, Wheatcroft, fuhr Paul fort, daß, trotzdem das Gesicht auf der Photographie eine gewisse Familienähnlichkeit mit Major Van Zandt aufweist, es doch nicht das des Majors wiedergibt. Der Mann, der gestern hier gewesen ist, war ein junger Mensch, jung genug, um des Majors Sohn sein zu können.

Der alte Buchhalter blickte den Sprecher an.

Herr Paul, begann er, Sie werden nicht so grausam sein, den – dann unterbrach er sich plötzlich.

Ich gestehe, daß ich von all dem nichts verstehe! erklärte Wheatcroft aufbrausend.

Ich muß leider gestehen, daß ich es verstehe, bemerkte Whittier und warf einen mitleidigen Blick auf den Major.

Und hier, fuhr Paul fort und übergab seinem Vater ein zweites blaues Blatt, das da ist eine Photographie, die zehn Minuten nach der ersten, um drei Uhr zwanzig, aufgenommen wurde. Auf dieser Photographie ist der Schrank geöffnet, der junge Mann steht davor und hat das Privatkopierbuch in der Hand. Da er sein Haupt darüber beugt, wurde das Gesicht nicht so gut getroffen. Aber darüber kann kein Zweifel herrschen, daß er mit dem Mann auf der anderen Aufnahme identisch ist. Das sehen Sie doch, nicht wahr, Herr Wheatcroft?

Ich sehe das, natürlich, erwiderte Wheatcroft etwas störrisch. Was ich nicht einsehe, ist, warum der Major eine Schuld eingesteht, die ihm gar nicht zur Last fallen soll!

Ich glaube den Grund dafür zu kennen, bemerkte Whittier mit freundlicher Stimme.

Es sind doch nicht etwa gestern zwei Männer an unseren Büchern gewesen? fragte Wheatcroft, der Major und auch der Bursche, der photographiert worden ist?

Whittier schaute den Buchhalter einen Augenblick an.

Major, sagte er mit vor Mitleid bebender Stimme, Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß Sie es gewesen sind, der unsere Geheimnisse an die Konkurrenz verkauft hat? Sie können es gestehen und versichern, Sie seien es selbst gewesen, so lange Sie wollen; ich werde es nicht glauben. Ich kenne Sie zu gut dafür. Es ist schon zu lange her, daß ich Sie kenne, als daß ich glauben könnte, Sie haben sich gegen Ihre Ehrlichkeit verfehlt, selbst wenn Sie sich selber verdächtigen. Der wahre Schuldige, der Mann auf der Photographie hier, ist Ihr Sohn – nicht wahr? Es nützt nichts, die Wahrheit jetzt noch länger verbergen zu wollen, und es hat auch keinen Zweck, das zu versuchen, weil wir um Ihretwillen, Major, mild gegen ihn verfahren wollen.

Wieder herrschte einen Augenblick Schweigen im Raume. Nur der Pendelschlag der Standuhr war zu vernehmen. Dann sagte plötzlich der jüngere Geschäftsteilhaber:

Der Sohn des Majors? Der ist doch längst tot, nicht? Er ist vor zwei oder drei Jahren in einer Spielhölle bei einem Streit erschossen worden, irgendwo im Westen. Wenigstens habe ich das damals gehört.

Das ließ ich auch zu jener Zeit jedermann wissen, begann der Buchhalter, als er sich endlich entschloß, das Schweigen zu brechen. Aber tatsächlich war es nicht der Fall. Der Junge wurde durch Schüsse verwundet, aber nicht getötet. Ich hoffte, es würde ihm als Warnung dienen, und er würde ein neues Leben beginnen. Freunde von mir verschafften ihm einen Platz in Mexiko, aber er hatte kein Glück; daher schrieb er mir und ließ seinen Platz fahren. Da bot ihm ein alter Kamerad von mir eine andere Stelle an, in Denver, und eine Weile nahm er sich zusammen und arbeitete fleißig. Dann aber ließ er sich von neuem gehen, und so wurde er entlassen. Sechs Monate lang wußte ich nicht, was aus ihm geworden sei. Seither habe ich herausgebracht, daß er viele Wochen lang als Tramp herumzog und den Weg von Colorado nach Neuyork großenteils zu Fuß zurückgelegt hat. Als er nunmehr in der Stadt erschien, war er erschöpft, heruntergekommen, krank. Ich hatte wohl die Absicht, ihn abzuschieben, aber ich brachte es nicht über mich. Ich nahm ihn auf, verschaffte ihm bessere Kleider und wies ihn an, sich nach einem Platz umzusehen, ich wußte ja, daß ihn nur angestrengte Arbeit auf anständigen Wegen halten würde. Er fand aber keine Anstellung; vielleicht sah er sich gar nicht darnach um. Mit einem Male entdeckte ich, daß er Geld hatte. Er wollte mir nicht verraten, wie er es verdient hatte. Ich wußte, daß dies nicht auf ehrliche Weise geschehen war. Daher beobachtete ich ihn. Ich war immer hinter ihm her, so oft mir's möglich war, und schließlich entdeckte ich, daß er Sie an die Tuxedokompagnie verkauft hat.

Aber wie konnte er dann den Kassenschrank öffnen? rief Wheatcroft. Sie kannten ja die neue Zusammensetzung des Schlosses nicht.

Ich habe sie ihm jedenfalls nicht verraten, erwiderte der alte Buchhalter mit Würde. Und ich brauchte sie ihm nicht zu verraten. Er kann beinahe alle Schlösser öffnen, ohne die Kombination zu kennen. Wie er es macht, weiß ich nicht; das ist sein Geheimnis. Er legt das Ohr ans Schloß, wenn er den Schlüssel hineinsteckt; daraus scheint er die Zusammensetzung zu erkennen: in zehn Minuten ist der Schrank geöffnet.

Aber wie konnte er in das Kontor gelangen? forschte Whittier weiter.

Er wußte, daß ich einen Schlüssel dazu hatte, erwiderte der alte Buchhalter; diesen hat er mir entwendet. Sonntag nachmittags pflegte er zu warten, bis Mike ausging. Dann schloß er das Kontor auf, schlüpfte hinein und öffnete den Schrank. Vor vierzehn Tagen kam Mike unerwartet früh zurück. So hatte er gerade noch Zeit, durch eines der Fenster im Bureau auf den Hof Zu entkommen.

Jawohl, das stimmt, bemerkte Paul, als der Major innehielt, Mike hat mir gesagt, daß er ein Fenster offen fand.

Ich habe zugehört, als Sie ihn darum befragten, erklärte der Major Van Zandt, und ich wußte, daß er früher oder später ertappt werden würde, wenn Sie Argwohn schöpften. Daher beschwor ich ihn. Sie nicht länger zu schädigen. Ich bot ihm Geld, wenn er die Stadt verlassen wollte. Aber er weigerte sich, es anzunehmen; er sagte, er könne es jetzt selber verdienen, und ich solle meines behalten, bis er es einmal nötig habe. Gestern nachmittag ist er mir entwischt. Sobald ich sah, daß er weggegangen war, kam ich geradenwegs hierher. Die Vordertür war offen; ich ging leise hinein und kam gerade dazu, als er den Kassenschrank da wieder abschloß. Ich nahm ihn ins Gebet, aber er weigerte sich, mich anzuhören. Ich gab mir alle Mühe, ihn zu überreden, seine unsauberen Manipulationen aufzugeben. Da hat er mich geschlagen. Daraufhin verließ ich ihn, und eilte hinaus. Ich habe auf dem Heimweg niemand bemerkt. Jedenfalls hat mich da Herr Wheatcroft gesehen. Die ganze Nacht ist er nicht nach Hause zurückgekehrt. Ich hab ihn seitdem nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo er ist. Aber er ist doch mein Sohn, trotz allem und allem mein einziger Sohn. Darum konnte ich ihn nicht der Polizei anzeigen. Und als mich Herr Wheatcroft beschuldigt hat, nahm ich die Tat auf mich. Ich habe gedacht, Sie würden mit mir milder verfahren, als mit meinem Sohn.

Armer Freund! rief Whittier mitleidig aus und hielt dem Major die Hand hin, die dieser ergriff und einen Augenblick dankbar in der seinen behielt.

Jetzt, wo wir wissen, wer unsere Geschäftsgeheimnisse an die Tuxedoleute verkauft hat, werden wir uns auch zu schützen wissen, erklärte Wheatcroft. Und trotzdem Sie versucht haben, mich dazu zu bringen, Sie, Major, für den Schuldigen zu halten, bin ich entschlossen, Ihren Sohn laufen zu lassen.

Ich glaube, ich kann ihm einen Platz verschaffen, wo er nicht mehr in Versuchung kommen wird, da er dort andauernd hart arbeiten muß, bemerkte Paul.

Der alte Buchhalter sah auf, als wolle er dem jungen Manne danken, aber es war ihm, als säße ihm ein Pfropf in der Kehle, der ihn am Sprechen hinderte.

Plötzlich platzten Wheatcroft die Worte heraus: Das ist ja alles in Ordnung, aber was ich immer noch nicht verstehe, ist die Art und Weise, wie Paul zu diesen Photographien gekommen ist.

Whittier blickte auf seinen Sohn und lächelte.

Die Geschichte ist ein wenig dunkel, Paul, sagte er, und ich gestehe, daß ich auch gerne wissen möchte, wie du das angestellt hast.

Haben Sie sich selber versteckt? fragte Wheatcroft.

Nein, antwortete Paul. Sehen Sie sich bitte in diesem Zimmer um: Sie müssen doch zugeben, daß hier kein einziger dunkler Winkel zu sehen ist, worin sich jemand verbergen könnte.

Wo war aber dann der Photograph versteckt? fragte Wheatcroft mit wachsender Neugierde.

In der Standuhr, erwiderte Paul.

In der Uhr? wiederholte Wheatcroft, höchlich erstaunt. Na, in dem Gehäuse ist nicht einmal Platz für ein Gerippe, geschweige denn für einen lebenden Menschen.

Paul hatte seine Freude an der Verwunderung des Geschäftsteilhabers.

Ich habe ja nicht gesagt, daß ein Mann darin war, oder ein Gerippe, erklärte er. Ich sagte nur, daß der Photograph in der Uhr steckte – und vielleicht hätte ich noch beifügen sollen, daß die Uhr selber den Photographen gespielt hat.

Wheatcroft machte eine ärgerliche Handbewegung.

Hören Sie mal, rief er, wenn Sie uns auf diese lächerliche Weise am Narrenseil herumführen wollen, so kann ich Sie freilich nicht daran verhindern. Aber ich möchte Sie doch darauf aufmerksam machen, daß Ihr Vater und ich auf eine etwas würdigere Behandlung Anspruch erheben dürfen.

Ich führe Sie nicht im geringsten am Narrenseil herum; die Uhr hat die Photographien automatisch ausgenommen. Ich will Ihnen zeigen, wie das geschah, erwiderte Paul, stand auf und begab sich in die Ecke, wo die Uhr stand.

Dort zog er einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete das Gehäus der Uhr und deutete auf einen kleinen Photographenapparat, der so aufgestellt war, daß seine Linse genau hinter dem runden Fenster in der Tür der Uhrgehäuses sich befand. Im Hintergrund wurde eine kleine elektrische Batterie sichtbar und darüber ein Elektromagnet.

Jetzt geht mir ein Licht auf, wie du das bewerkstelligt hast, bemerkte der alte Whittier. Ich verstehe nichts vom Photographieren, Paul; ich bitte dich daher, mirs genauer zu erklären. Aber so kurz und einfach als möglich.

Die Sache ist auch ganz einfach, sagte sein Sohn. Eines Tags, als ich mir überlegte, wie wir am besten den Mann ertappen könnten, der uns hinter unsere Bücher geht, hörte ich Zufällig diese Uhr schlagen, und irgendwie erinnerte ich mich an unseren photographischen Klub auf der Schule. Dort hatte einmal einer angeregt, daß es ganz lustig wäre, einen Apparat mit einem Uhrwerk in Verbindung zu setzen und in Zwischenräumen von wenigen Minuten einen ganzen Tag hindurch Aufnahmen zu machen. Dann fiel es mir auf, daß die Uhr dem Schrank gerade gegenüberstand und für diesen Zweck nicht besser ausgestellt sein könnte. Ich dachte meinen Plan aus, ging zur Uhr, unter dem Vorgeben, sie gehe nicht richtig und brach den langen Zeiger ab. Einen Mann, den ich kannte, ließ ich zum Reparieren der Uhr herkommen; er ist Elektrotechniker und ein gewiegter Photograph. Wir beide zusammen haben diesen Apparat da ausgeheckt. Der Apparat ist für Momentaufnahmen eingerichtet und mit hundertundfünfzig Filmplatten geladen; diese elektrische Leitung hier steht mit dem Uhrwerk in Verbindung, und zwar so, daß der Apparat von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr alle zehn Minuten eine Aufnahme macht. Der Elektromagnet hat den Zweck, nach jeder Aufnahme die Filmspule zu drehen, so daß der Apparat zur nächsten Aufnahme bereit ist.

Donnerwetter! rief Wheatcroft, ich verstehe nicht viel von dem Zeugs, aber ich denke mir, daß die Uhr auf den Knopf drückte, und daß die Elektrizität »knipste«.

Stimmt ganz genau, erwiderte der junge Mann. Natürlich war ich nicht ganz sicher, wie der Apparat funktionieren würde. Daher dachte ich, ich wolle ihn einmal an einem Wochentag versuchen, wenn wir alle hier wären. Er funktionierte tadellos, und ich habe nebenbei ein paar interessante Entdeckungen gemacht. So fand ich, daß Mike hier im Bureau seine Pfeife rauchte und daß Bob im Kontor Bockspringen spielte und da in der Ecke auf dem Kopf stand, mit den Füßen gegen den Sicherheitsschrank.

Der verflixte Schlingel! rief Wheatcroft aus.

Paul lächelte, als er von neuem sprach.

Ich fand auch, sagte er, daß Herr Wheatcroft von einer hübschen Buchhändlerin belästigt wurde und ihr zwei Bücher abgekauft hat, die er gar nicht besitzen wollte.

Wheatcroft sah einen Augenblick lang etwas verdutzt drein.

So so, brummte er und fuhr sich mit der Hand ungeduldig durchs Haar, so haben Sie das erfahren?

Jawohl, so hab ich's erfahren, erwiderte Paul. Ich sagte Ihnen, ich habe ein Auge auf Sie. Es war nur das Auge der photographischen Kammer. Und am Sonntag ist es hier für uns auf dem Posten gestanden und hat alle zehn Minuten ins Bureau geblickt. Von sechs Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags hat es neunzigmal Ausguck gehalten, und jedesmal war die Szene die gleiche: die leere Ecke da, mit dem Sicherheitsschrank, der erst im Schatten und schließlich im vollen Lichte stand, das aus dem Glasdach über uns hereinfällt. Aber bald nach drei Uhr kam ein Mann ins Kontor und machte sich daran, den Schrank zu öffnen. Zehn Minuten nach drei nahm der Apparat, von der Uhr geleitet, die Szene auf: das Auge blinzelte, und es war geschehen. Zwanzig Minuten nach drei Uhr wurde die zweite wichtige Platte belichtet. Vor halb drei Uhr war der Mann wieder weg, und das Auge spähte alle zehn Minuten bis sieben Uhr abends umsonst hinaus. Heute morgen kam ich früh ins Geschäft, um die Negativrollen zu holen. Eine nach der anderen habe ich entwickelt und war ganz enttäuscht, als ich bereits an die hundert Aufnahmen zählte, die mir nichts verrieten. Aber die zwei- und dreiundneunzigste hat mich für all meine Mühe reich entschädigt.

Whittier warf seinem Sohn einen Blick väterlichen Stolzes zu.

Das hast du sehr genial gemacht, Paul, wirklich ganz genial, sagte er. Hättest du diesen Apparat nicht hier gehabt, so wäre mir's schwierig geworden, zu beweisen, daß der Major unschuldig ist – insbesondere weil er sich selber als den Schuldigen bezeichnet hat.

Wheatcroft stand auf, um der Unterhaltung ein Ende zu machen.

Ich bin froh, daß wir trotz allem nunmehr die Wahrheit erfahren haben, versicherte er mit Emphase. Und dann, als wolle er den alten Buchhalter von dem peinlichen Zwang der Szene befreien, fügte er hinzu, indem er über seinen eigenen Witz lachte: Diese Uhr da hatte die ganze Zeit über die Hände vor dem Gesicht – aber sie hat die Augen offen gehalten für diese Geschichte.

Vergessen Sie nicht, daß sie nur ein Auge hatte! sagte Whittier und stimmte in das Gelächter ein, sie hatte nur ein Auge für ihre Pflicht.

Du kennst doch das alte Sprichwort, Vater, setzte Paul, ebenfalls lachend hinzu, unter den Blinden ist der Einäugige König.

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