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Kurze Geschichten

Andreas Stroinski

Eine Gemeinderatssitzung.

Da die Gemeinderatsmitglieder bis auf eines, das übrigens selten anwesend war, erschienen waren, so eröffnete der Bürgermeister die Verhandlungen. Einige unwesentliche Punkte wurden debattelos erledigt, gutgeheißen oder abgelehnt, je nachdem der Vorsitzende dafür oder dawider gesprochen hatte.

Dann verlas der letztere ein Gesuch um käufliche Ueberlassung des der Gemeinde gehörigen sogenannten Hirzberges. Ein Schießklub aus einer benachbarten Stadt hatte das Gesuch eingereicht, um auf dem Hirzberg einen Schießstand zu errichten. Der Bürgermeister befürwortete das Gesuch sehr warm. Dazu hatte er einen Grund, den er allerdings nicht jedem zu sagen brauchte. Die Gründe aber, die er vorbrachte, waren einleuchtend genug. Der Hirzberg sei ja doch für die Gemeinde völlig wertlos. Auf dem kiesigen Boden wüchsen, wie die Herren ja wüßten, nicht einmal Kiefern, und zudem biete der Schießklub eine recht annehmbare Summe dafür: Fünfhundert Mark. Die Herren würden gewiß einhellig ihre Zustimmung zu dem Verkaufe des unbrauchbaren Grundstückes geben.

Die Gemeindevertreter nickten.

Nur einer verlangte das Wort.

Der Bürgermeister schien die Wortmeldung überhört zu haben. Ein Taschentuch ziehend, machte er sich an seiner Nase zu schaffen und entlockte derselben einige Donnertöne, die aus einer mißtönigen Trompete zu kommen schienen.

Die übrigen Gemeindevertreter lächelten ironisch, blickten einander vielsagend an und höhnisch auf den sprechenwollenden Gemeindevertreter.

Der war ein sozialdemokratischer Arbeiter, der einzige in der Gesellschaft von Ackerern, Kleinbürgern und Spießern, der nicht der »Bürgermeisterpartei«, angehörte.

Der Sozi erklärte sich gegen den Verkauf des Hirzberges. Man solle nie Gemeindeland abtreten; später sei man vielleicht gezwungen, dasjenige, was man vorher sozusagen verschenkte, für schweres Geld wieder zurück zu kaufen. Uebrigens sei auch der Hirzberg nicht wertlos. Die Gemeinde lasse es sich viel losten, den zu den Wegeverbesserungen nötigen Kies von einem Privatunternehmer zu entnehmen. Warum beute man nicht den kieshaltigen Hirzberg aus und mache eine Kiesgrube aus ihm? Ohne Zweifel würde dann die Gemeinde ihren Kies sehr viel billiger haben, und sie könne obendrein beschäftigungslosen Gemeindeangehörigen im Winter nutzbringende Arbeit geben.

Da hättet ihr das Gemeinderatsmitglied, den Rentner Müller sehen sollen! Erregt sprang er auf. Denn er war Sandgrubenbesitzer, Lieferant von Kies und Sand an die Gemeinde.

Ob der da, der Arbeiter nämlich, etwas von einem Grubenbetriebe verstehe? Die Herren könnten versichert sein, daß er aus den Lieferungen nicht den mindesten Nutzen ziehe. Nein, er gebe bares Geld dabei zu! Wenn die Gemeinde beabsichtige, eine Kiesgrube in eigene Regie zu übernehmen, – der Bürgermeister schüttelte den Kopf – so werde sie bald einsehen, wohin das führen werde, zumal wenn sie Löhne zahlen wolle, wie er sie seinen Arbeitern zahlen müsse.

Die Gemeindevertreter außer dem Sozi nickten.

Nun erhob sich der Ochsenwirt. Er sagte: In dem städtischen Schießklub seien alles noble, vornehme Herren, die dürfe man nicht vor den Kopf stoßen.

Und die brächten dem Ochsenwirt viel Geld, hatte der Sozi gerufen.

Der Vorsitzende schellte und gab dem Zwischenrufer einen scharfen Verweis. Dergleichen Zwischenrufe seien unstatthaft, er würde nicht zugeben, daß die Gemeinderatssitzungen auf den Tiefstand sozialdemokratischer Versammlungen herabsinken würden.

In diesem Augenblick öffnete sich die Türe des Sitzungssaales, und das noch fehlende Gemeinderatsmitglied trat ein.

Der Bürgermeister, die Gemeindevertreter erhoben sich beim Anblick des Eintretenden, denn dieser war der Herr von Mayer, ein Rittergutsbesitzer und der kapitalkräftigste Mann der Gemeinde.

Der rote Sozi war natürlich sitzen geblieben; unhöflich, wie diese Leute sind.

Rasch war Herr von Mayer, über den Verhandlungspunkt verständigt. Er erhob sich denn auch und sagte: Er würde es nie dulden, daß der Schießklub den Hirzberg ankaufe. Dieser läge ja in unmittelbarer Nähe seiner Waldungen. Ob die Herren wohl dächten, seine Rehe und Hasen hätten keine Nerven? Die ewige Knallerei würde sie nervös machen und verscheuchen, und aus diesem Grunde lehne er das Kaufgesuch des Schießklubs glatt ab. Und der möge freundlichst einmal aufstehen, der ein so wahnsinniges Projekt zu verteidigen wage!

Es stand aber keiner auf.

Lange Gesichter machten sie. Nur der Sozi grinste; schadenfroh, wie diese Leute sind.

Und dann waren die andern alle einstimmig der Meinung, daß es einfach Tierquälerei sei, wolle man nicht die einfachste menschliche Rücksicht auf die Nerven der Hasen und Rehe nehmen. Wir leben doch wohl in einem humanen Zeitalter, betonte der Bürgermeister und sah sich zornig um,

Und also wurde das Gesuch des Schießklubs abgelehnt.

*

J. P. Hebel.

Der Zahnarzt.

Zwei Tagediebe, die schon lange in der Welt miteinander herumgezogen, weil sie zum Arbeiten zu träg oder zu ungeschickt waren, kamen doch zuletzt in große Not, weil sie wenig Geld mehr übrig hatten, und nicht geschwind wußten, wo nehmen. Da gerieten sie auf folgenden Einfall, Sie bettelten vor einigen Haustüren Brot zusammen, das sie nicht zur Stillung des Hungers genießen, sondern zum Betrug mißbrauchen wollten. Sie kneteten nämlich und drehten aus demselben lauter kleine Kügelein oder Pillen und bestreuten sie mit Wurmmehl aus altem zerfressenem Holz, damit sie völlig aussahen wie die gelben Arzneipillen. Hierauf kauften sie für ein Paar Batzen einige Bogen rotgefärbtes Papier bei dem Buchbinder (denn eine schöne Farbe muß gewöhnlich bei jedem Betrug mithelfen); das Papier zerschnitten sie alsdann und wickelten die Pillen darein, je sechs bis acht Stücke in ein Päcklein. Nun ging der eine voraus in einen Flecken, wo eben Jahrmarkt war, und in den roten Löwen, wo er viele Gäste anzutreffen hoffte. Er forderte ein Glas Wein, trank aber nicht, sondern saß ganz wehmütig in einem Winkel, hielt die Hand an den Backen, winselte halb laut für sich und kehrte sich unruhig bald so her, bald so hin. Die ehrlichen Landleute und Bürger, die im Wirtshaus waren, bildeten sich wohl ein, daß der arme Mensch ganz entsetzlich Zahnweh haben müsse. Aber, was war zu tun? man bedauerte ihn, man tröstete ihn, daß es schon wieder vergehen werde, trank sein Gläschen fort und machte seine Marktaffären aus. Indessen kam der andere Tagedieb auch nach. Da stellten sich die beiden Schelme, als ob noch keiner den anderen in seinem Leben gesehen hätte. Keiner sah den anderen an, bis der zweite durch das Winseln des ersteren, der im Winkel saß, aufmerksam zu werden schien. »Guter Freund,« sprach er, »Ihr scheint wohl Zahnschmerzen zu haben?« und ging mit großen und langsamen Schritten aus ihn zu. »Ich bin der Doktor Schnauzius Rapunzius von Trafalgar!« fuhr er fort. Denn solche fremde volltönige Namen müssen auch zum Betrug behülflich sein, wie die Farben. »Und wenn Ihr meine Zahnpillen gebrauchen wollt,« fuhr er fort, »so soll es mir eine schlechte Kunst sein, Euch mit einer, höchstens zweien, von Euren Leiden zu befreien.« – »Das wolle Gott,« erwiderte der andere Halunk. Hierauf zog der saubere Doktor Rapunzius eines von seinen roten Päcklein aus der Tasche und verordnete dem Patienten ein Küglein daraus auf den bösen Zahn zu legen und herzhaft darauf zu beißen. Jetzt streckten die Gäste an den anderen Tischen die Köpfe herüber, und einer um den anderen kam herbei, um die Wunderkur mit anzusehen.

Nun könnt ihr euch vorstellen, was geschah. Auf die erste Probe wollte zwar der Patient wenig rühmen, vielmehr tat er einen entsetzlichen Schrei. Das gefiel dem Doktor. Der Schmerz, sagte er, sei jetzt gebrochen und gab ihm geschwind die zweite Pille zu gleichem Gebrauch. Da war nun plötzlich aller Schmerz verschwunden. Der Patient sprang vor Freuden auf, wischte den Angstschweiß von der Stirne weg, obgleich keiner daran war, und tat, als ob er seinem Retter zum Danke etwas Namhaftes in die Hand drückte. – Der Streich war schlau angelegt und tat seine Wirkung. – Denn jeder Anwesende wollte nun auch von diesen vortrefflichen Pillen haben. Der Doktor bot das Päcklein für 24 Kreuzer, und in wenig Minuten waren alle verkauft. Natürlich gingen jetzt die zwei Schelme wieder einer nach dem anderen weiter, lachten, als sie wieder zusammenkamen, über die Einfalt dieser Leute und ließen sich 's wohl sein von ihrem Geld.

*

Freddy Wiegand-Meuring

Der Igel

Eine Fabel.

Es war einmal ein Mädchen, das liebte einen Mann mehr als ihr Leben, Sie schenkte ihm alles, was sie besaß, und als sie endlich nichts mehr besaß, gab sie ihm ihr Herz zu eigen, damit sie niemals einen anderen Menschen als ihn lieben könnte. Und sie heiratete ihn.

Der Mann war sehr glücklich und stolz darüber und hob das Herz des Mädchens in einem goldenen Kästchen vorsichtig auf. Er konnte nicht genug den herrlichen Schimmer des jungen Herzens bewundern. Sein Anblick gab ihm Ruhe und Frieden in den schwersten Stunden seines Lebens. Wenn er zu verzweifeln glaubte, genügte ein Blick auf sein Heiligtum, um ihn wieder aus seinem Elend emporzuheben.

Nun geschah es aber, daß er plötzlich all sein Geld verlor und bei einem bösen, harten und ungerechten Herrn in den Dienst treten mußte. Er, der nie ein Unrecht an anderen gelitten hatte, mußte jetzt selbst Unrecht erdulden. Das verbitterte ihn, und in seinem Groll schaute er immer weniger nach dem schönen Herzen, das, ihn so gern getröstet hätte und das, wenn er sich ihm näherte, immer höher und freundlicher zu schlagen begann. Endlich wurde er durch die Niederträchtigkeit seines Herrn fast zur Verzweiflung gebracht. In ihm kochte und brauste der Zorn wie eine wilde Flut und drohte ihn zu ersticken. Nur mit seinen letzten Kräften vermochte er sich noch zu beherrschen. Unerträglich schien ihm der Gedanke, daß er immerfort werde alles dulden müssen, ohne sich jemals an seinem Folterer rächen zu können. Da keimte allmählich in ihm das Bedürfnis, irgend jemandem wehe zu tun, jemand zu foltern, so wie er gefoltert wurde.

Er war allein im Zimmer und ging mit geballten Fäusten auf und ab. Eine Nadel lag auf dem Tische. Ohne etwas dabei zu denken, hub er sie auf und drückte sich die scharfe Spitze in den Finger. O, wenn er seinem Feinde hätte diese Nadel ins zuckende Herz stechen können! – Aber war das nicht ein entsetzlicher Gedanke! Doch er sah keinen Ausweg, so namenlos unglücklich fühlte er sich. –

Da erblickte er eine kleine Schachtel; schnell öffnete er sie. Richtig, darin bewahrte er ja das Herz auf, das ihm einst sein Mädchen geschenkt hatte. Den Goldschrein hatte er längst verkaufen müssen. Früher stärkte und beruhigte ihn das Herz; heute aber übermannte ihn plötzlich wieder seine ganze Wut. Rot schimmerte es vor seinen Augen; eine höllische Begierde, zu verwunden, zu töten, beherrschte ihn – und mit rauhem Lachen stieß er die scharfe Nadel in das weiche Herz. Es war ihm, als würde es einen Augenblick weiß wie Schnee, jedoch er täuschte sich wohl nur, denn gleich darauf war es wieder rot wie bisher, – Augenblicklich war er beruhigt, sein Haß war verschwunden, er fühlte sich frei und erleichtert, fast zufrieden und glücklich, – Als er aber die Nadel sah, die tief in dem roten Herzen steckte, schämte er sich, und wollte sie schnell wieder herausziehen. Das gelang ihm indes nicht, trotz aller Kraft, die er aufbot; die Nadel war im Herzen wie festgewachsen. Da verbarg er das Gesicht in die Hände und schluchzte laut auf. –

Während der folgenden Tage wagte er kaum aufzublicken, immer wieder sah er das rote Herz vor sich, in dem eine seine spitze Nadel steckte. Aber allmählich gewöhnte er sich auch daran, und endlich vergaß er den Vorfall fast ganz.

Es kam ihm schließlich vor, als hätte die Nadel schon seit Jahr und Tag in dem Herzen gesteckt.

Als er eines Tages wieder einmal in großer Wut war, fiel ihm sofort das Herz mit der Nadel wieder ein. Und jetzt besann er sich nicht lange. Den dummen Gedanken, das rote Ding sei ein lebendiges Herz, hatte er sich schon längst aus dem Kopf geschlagen. Auch wußte er kaum noch, woher er das Geschenk erhalten hatte. Einen Augenblick später steckte eine zweite Nadel in dem Herzen. Das leise Schamgefühl, das in ihm aufstieg, erstickte er bald.

Jahre vergingen und die Anzahl der Nadeln vermehrte sich rasch. Es geschah immer öfter, daß der Mann voll Groll und Bitterkeit heimkam.

Allmählich fing er an, ein wahres Vergnügen daran zu finden, das Herz zu durchstechen, und er tat es auch oft, wenn er gar keinen Grund dazu hatte – nur so zum Zeitvertreib.

Schließlich konnte er es gar nicht mehr lassen. Und jedesmal, wenn er das Herz berührte, triefte Blut in seine Hand.

Bald steckten die Nadeln so dicht, daß man nicht mehr unterscheiden konnte, was für ein Ding es sei. Da rief er wütend aus: »Verwünscht! Das ist ja ein Igel!« – Kaum hatte er das gesagt, so wurde das Ding lebendig; es kam auf ihn zu, und er sah, daß es tatsächlich ein Igel war.

Seit diesem Tage hatte der Mann keine Ruhe mehr; der Igel folgte ihm überall. Er lag auf seinem Stuhl, wenn er sich setzen wollte, er stach ihm in die Füße, sobald er stillstand, und wenn er sich abends todmüde und abgehetzt ausruhen wollte, lag an der Stelle des Kopfkissens der Igel, der seine scharfen Nadeln ausreckte und ihn mit seinen kleinen Aeuglein boshaft anblinzelte.

Nach ein paar Tagen hielt der Mann es nicht mehr aus. Er band den Igel in ein Tuch und ging zu seiner Frau, die er seit langem völlig gemieden hatte. Er warf das stachelige Ding auf den Tisch und sagte: »Da hast du dein schönes Herz zurück, ich will es nicht mehr!«

Es war ihm jetzt wieder eingefallen, woher der Igel stammte. Sie aber antwortete, ohne einen Blick darauf zu werfen: »Was redest du? Ich habe ja kein Herz mehr. Einst habe ich es dir geschenkt, das ist schon sehr lange her ... aber es gehört dir in alle Ewigkeit!« ... Darauf schrie er wütend:

»Es ist ja gar kein Herz mehr, du hast es verzaubert!«

Da lachte seine Frau laut auf: »Was redest du für Unsinn! Das sollte mein Herz sein? Es ist ja ein Igel! –« Obgleich der Mann beteuerte, es sei wirklich ihr Herz, zuckte die Frau gleichgültig die Achseln und sagte: »Du wirst es wohl besser wissen. Aber nun bitte entferne dich, das Tier ist mir unangenehm.« Und damit ließ sie ihn stehen. –

Seitdem verließ ihn der Igel keinen Augenblick.

Nach ein paar Jahren ward der Mann irrsinnig. In Lumpen gekleidet, eilte er durch die Gassen und floh vor seinem Verfolger. –

Er wird jetzt wohl längst gestorben sein, seine Leiche hat man nie gefunden. Doch von Zeit zu Zeit behaupten die Leute, sie hatten den Mann mit dem Igel gesehen.

*

Eisblumen.

»Steck' doch die Lampe an, Mutter,« bat die junge Frau, welche eifrig an einer Nähmaschine hantierte.

Die bebrillte Alte stand nun ihrem Stuhl in der Nähe des Ofens auf, legte den Strickstrumpf beiseite und zündete die Lampe an. Dann öffnete sie das Fenster und ließ den aus Sackleinwand gefertigten Wettervorhang herunter. Ein kalter Luftzug strömte herein.

»Mach' bloß zu, Mutter!« Die junge Frau schüttelte sich.

Die Alte hatte das Fenster geschlossen und fuhr prüfend mit dem Zeigefinger über die Scheiben: »Sie kommen schon wieder!«

»Wer? Ach so: die Eisblumen! Nu ja! Je kälter es ist, desto besser blüh'n sie. Und ich glaube, in unserm Ofen ist keine Spur von Glut mehr.«

Die Alte schüttelte bekümmert den Kopf. Dann trat sie zu einem Bett, in welchem trotz der frühen Abendstunde bereits zwei Kinder ruhten: »Die haben's am besten! Die schlafen schon.«

Die junge Frau sah kurz auf: »Ja. Die frieren nicht.«

Die Alte seufzte, warf sich ein Tuch um und nahm ihren Strickstrumpf wieder zur Hand. Monoton klapperten die Nadeln.

Die Nähmaschine ratterte eintönig.

Draußen ging die Dämmerung in tiefes Dunkel über. Ein kalter Wind blies und spielte mit dem Wetterrouleau, das hin und wieder flatschend gegen das Fenster schlug.

In den Scheibenecken keimten die Eisblumen auf. Sichtbar reckten die Strahlen sich aus; Sternchen um Sternchen schoß heran ...

»Vater bleibt so lange,« sagte die junge Frau plötzlich.

Die alte Frau nickte: »Er rennt sich noch die Hacken ab. Und es hat doch keinen Zweck. Es nützt ja alles, alles nichts.«

»Soll er etwa hier zu Hause hocken?« Die junge Frau richtete sich energisch auf, »Am Ende bringen sie ihm Arbeit in die Wohnung, was? Mit Kopfhängen und so kommen wir nicht weiter. Es muß eben jeder auf'm Posten sein!« Mit einem kräftigen Fußtritt setzte sie die Nähmaschine wieder in Bewegung: »'mal muß sich doch 'was finden!«

»Darauf warten wir schon acht Wochen.«

»Red' bloß nicht so, Mutter! sonst –!« Die junge Frau sah mit zuckenden Lippen hinüber: »Wenn wir erst 'n Mut verlieren, können wir uns gleich begraben lassen!«

Die Alte nahm eine ihr entfallene Masche auf und wiegte den grauen Kopf hin und her: »Um jede Stelle streiten sich zwanzig Mann.«

»Und einer kriegt sie!« Die junge Frau stieß es trotzig heraus, »Das ist eben wie's große Los.« Und mit mühsamem Galgenhumor fügte sie hinzu: »Warum soll'n wir nicht auch mal 's große Los gewinnen?«

Die Alte lachte kurz: »Nu ja!«

Die Tochter fuhr fort: »Morgen ist Liefertag. Und übermorgen Weihnachten. Die paar Mark, die ich kriege, sind schon weg. Verschiedene warten schon d'rauf. Ach, Kinder, was werden wir für'n Fest haben! Eisblumen statt 'nem Tannenbaum!« Sie lachte grollend auf, »Wenn bloß die verdammte Kälte nicht wäre! Die Feuerung ist einem ja nötiger fast wie's liebe Brot! Der Ofen frißt uns noch auf!« Sie wandte den Blick ärgerlich zum Fenster: »Nu kuck' bloß 'mal, wie das schon wieder hochkriecht. Ich mag gar nicht hinsehen!«

Lautlos, wie drohende Polypen, streckten die Eisblumen ihre Fäden und schwellenden Adern aus. Zur Hälfte schon waren die Scheiben dick bedeckt – und immer höher wuchs es in seltsamen, phantastischen Blüten ...

Im Korridor läutete die Glocke. Die Alte öffnete.

Ein junger Bursche trat herein, auf dem Rücken einen Kasten mit Braunkohlen. Er grüßte kurz und lud seine Last am Ofen ab.

»Nanu, wer hat'n die bestellt?« Verwundert fragte es die junge Frau,

Der Bursche schichtete die Kohlen auf: »Ihr Mann. Bezahlt sind se schon. Und Se soll'n es heute 'mal ornt'lich warm machen. Morjen kommt mehr. N'abend,« Er schwang den leeren Kasten aus den Rücken und ging.

»Das begreif' ich nicht,« rief erstaunt die Frau,

»Bezahlt sind sie sogar?« Die Alte schüttelte den Kopf. Dann machte sie sich ans Einheizen.

Die beiden Frauen ergingen sich in allerlei Vermutungen, woher die Mittel des Mannes stammen könnten, »Vielleicht hat er bei 'ner Gelegenheitsarbeit heute 'n paar Mark verdient,« sagte die Alte.

Im Ofen brannte das Feuer. Die Alte griff zu ihrem Strickstrumpf. Beide Frauen verharrten schweigend. Eifriger als zuvor arbeitete die Nähmaschine.

Noch immer stiegen die Eisblumen empor. Ihre letzten Ausläufer stießen schon an die Querleisten des Fensters. Und noch immer wuchsen sie ...

Plötzlich wurde die Flurtür geschlossen; schnelle Schritte näherten sich der Stube.

Gespannt sahen die Frauen nach der Tür.

Der Mann trat herein, ein großes Brot unterm Arm. Fröhlich grüßte er. Er legte das Brot auf den Tisch und beförderte aus seinen Taschen mehrere kleine Packete heraus: »So, Kinder! Da habt Ihr 'was zu essen!« Er schmunzelte die erstaunten Frauen an, ging zum Bett, strich sich den bereiften Bart und küßte die Kinder: »Nu braucht Ihr nicht mehr mit den Hühnern in die Klappe zu gehen! Von jetzt an wird die Stube jeden Tag hübsch warm gemacht!«

Die Kinder erwachten und jubelten dem Vater zu.

Die Alte rückte an ihrer Brille hin und her als sähe sie nicht richtig: »Na, nu sage 'mal, Emil –?«

Er legte der Alten die Hände auf die Schultern, sah ihr gerade ins Gesicht und lachte: »Ich habs große Los gewonnen, Mutter!«

»Arbeit?« Die Hoffnung erleuchtete das fragende Gesicht der jungen Frau.

»Ja Lene!« Er umarmte sie. »Hab' heute schon geschafft, Vorschuß genommen. Nu wird alles wieder besser! Und 'nen kleinen Tannenbaum für die Kinder schaffen wir auch noch ran!« ...

Der Ofen verbreitete einen warmen Hauch im Zimmer. Von den Scheiben begann es zu tropfen. Langsam, ganz allmählich krochen die drohenden Eisblumen in sich zusammen. –

*

W. W. Jakobs

Kapitän Bosselmanns Extratour.

Humoreske

Naß und schwarz lag die Nacht über der alten nordischen Seestadt, die Straße längs der sogenannten »Vorsetzen« war öde und verlassen, der Schein der spärlich vorhandenen Laternen glitzerte auf den nassen Steinen, und die Schiffe drüben auf dem Flusse lagen in Finsternis.

»Fein Wedder,« sagte Kapitän Bosselmann, als er aus der Tür der Wirtschaft »Zum silbernen Dorsch« trat und mit unsicheren Fingern den schweren Rock zuknöpfte. Dann verfehlte er die Stufe und stolperte mit unfreiwilliger Geschwindigkeit eine ganze Strecke auf den weiten Platz hinaus. Als er das Gleichgewicht wieder erlangt hatte, schlug er den Rockkragen hoch, schob die Hände in die Taschen und schritt rüstig durch den Regen. Ein Gang von fünf Minuten, bei dem er nicht immer geraden Kurs zu steuern vermochte, brachte ihn zur »steinernen Treppe«. Hier wich er mit geschickter Wendung nach Steuerbord der Ecke der Mauerbrüstung aus und tappte dann vorsichtig die Stufen hinunter, die zum Wasser führten.

»Wohin?« fragte eine neben ihm auftauchende Schattengestalt.

»An Bord, min Engel; Schoner »Maria Christina«, liggt in de bütelste Reeg,« antwortete der Kapitän, in die an den unteren Stufen liegende Jolle steigend und sich schwerfällig im Achterteil derselben niedersetzend. »Dunnerlüchtung, worum hebbt Ji keen betere Duchten in Jug verdammten Kahn?«

»De Duchten sünd good 'nog,« entgegnete der Jullenführer ruhig; »versöken Se s' man, dor sitt sik dat beter up, as up de Pütz dor.«

Jetzt erst merkte der Schiffer, daß er sich auf einen Eimer gesetzt hatte,

»Verdammi!« grollte er, »worum liggen de Duchten nich so, dat man ehr sehen kann?«

Um lange und fruchtlose Auseinandersetzungen zu vermeiden, begnügte der andere sich damit, seinen Fährlohn zu verlangen, »damit der Ballast besser verteilt würde«. Der Fahrgast aber ignorierte dies, und so stieß er brummend ab und rojte mit kräftigen Reemenschlägen über die finstere, unruhige Flut dahin, nach Art seiner Zunft aufrecht und nach vorn schauend im Boote stehend.

Die Strömung lief stark, man kam daher nur langsam vorwärts.

»As ick noch jung wer,« bemerkte Kapitän Bosselmann im Tone beißenden Vorwurfs, »dünn harr ick de Joll' in düsse Tid all tweimal hin un torügg rojt.«

»As Se noch jung wern,« entgegnete der Bootsführer, »dünn gew dat noch gor keen Jollen, dunn paddelten de Lüd as Wille Männer up Boomstämm int Water rümmer.«

»Holl den Snut,« versetzte der Schiffer nach längerem Nachdenken.

Der andre, von Natur nichts weniger als redselig, spuckte in die Hände und rojte gleichmäßig und angestrengt weiter, bis eine Reihe dunkler massiger Gegenstände, überragt von einem Wirrsal von Masten, Raaen und Takelwerk, vor ihnen sichtbar wurde.

»Weck is nu Ehr lütt Kahn?« fragte er, indem er sich abmühte, in der reißenden Flutströmung die Jolle auf einem Fleck festzuhalten.

»Maria Christina,« sagte der Fahrgast.

»Süh, dat's nett,« versetzte der Jollenführer. »Also de »Maria Christina«. Nu fitten Se rein still, Kaptein; ick roj achter all de Schepen rümmer und Se lüchten mit'n Rietsticken un lesen all de Nams. Dat ward noch 'ne nüdliche Abendunnerhollung.«

»Dor is se,« rief der Schiffer, dem der Kopf so brummte, daß er den Sarkasmus in des Fährmanns Rede nicht herausfühlte. »Dor liggt dat lütte, nüdliche Fohrtüg. Stöddee, Stetig, dem englischen »steady« nachgebildet. Mann!«

Er erhob sich, streckte den Arm aus, und als das Boot unsanft gegen die Schiffswand anstieß, faßte er eine Leine, die über die Reeling herab hing, und kramte aus seiner Hosentasche Geld hervor.

»Stöddee, ohl Mann!« sagte der Jollenführer nun seinerseits liebevoll. Er hatte aus Versehen Zwei Markstücke an Stelle von zwei Zwanzigpfennigstücken erhalten. »So, nu sacht rup in de Rüsten. Se sünd nick mehr ganz so slank und flink, as dunntomalen, wo Ehr lew Fru mit Se so anführt ward.«

Der Schiffer hielt im Klettern inne und angelte mit dem rechten Fuß nach dem Kopfe des boshaften Jollenführers. Da er denselben aber nicht fand, schwang er das Bein über die Reeling und landete auf dem Deck des Schoners gerade in dem Augenblick, als die Jolle, schnell dahintreibend, in der Finsternis verschwand.

Er blickte um sich; kein lebendes Wesen zeigte sich an Deck.

»Alle Mann intörnt,« Eingeschlafen. murmelte er. »Noch good anderthalw Stunn, ehr dat Dag ward; ick törn ok in.« '

Langsam schritt er achteraus, schob den Deckel der Kampanjeluk zurück, stieg in die kleine übelriechende Kajüte hinunter und tastete hier in der dicken Finsternis nach Streichhölzern. Sein Bemühen war vergeblich; fluchend fühlte er sich endlich in die Kammer hinein und streckte sich wie er ging und stand in die Koje.

Als er nach einiger Zeit wieder erwachte, war es noch immer Nacht; er kletterte vorsichtig aus seiner Lagerstatt heraus und stand dann eine Weile und kratzte sich den Kopf, der ihm zu ungeheuren Dimensionen angeschwollen zu sein schien.

»Nu ward dat aber Tid, dat wie utgahn,« murrte er endlich vor sich hin; dann dirigierte er sich tappend und tastend zu einer anderen Tür, die zum Boudoir des Steuermannes führte. Er schob sie auf und steckte den Kopf hinein. »Stüermann!« rief er.

Keine Antwort. In der Meinung, den Gesuchten bereits an Deck zu finden, stapfte er die enge Treppe hinauf. Das Deck war noch so öde und verlassen, wie er es vorhin gefunden. Er trat an die Reeling und schaute ins Wasser, um zu sehen, wie es mit der Strömung stände. Die Ebbe mußte demnächst einsetzen. Auf einigen Schiffen in der Nähe ertönte bereits das »Klick-Klack« des Ankerspills, ein Zeichen dafür, daß sie sich anschickten, unter Segel zu gehen. Ein Ewer glitt geräuschlos vorüber; der Schein seiner roten Laterne schien das Wasser mit Blut zu übergießen.

Bei diesen Merkmalen erwachenden Lebens und beginnender Tätigkeit regte sich in dem Busen des Kapitäns der »Maria Christina«, angesichts der Verödung auf seinem eigenen, nassen Deck, eine gerechte Empörung. Er begab sich nach vorn und beugte sich in die Logiskappe hinein.

Wie er erwartet hatte, schnarchte dort unten noch alles im Chor; sechs Seeleute schlummerten noch sanft und süß, unbekümmert um die Empfindungen ihres Schiffers, um die Strömung draußen und um die gänzlich ungenießbare Stickluft in ihrem engen, unventilierten Loche.

»Törn ut! Törn ut dor!« brüllte der Schiffer. »An Deck mit jug, ji fules Rackertüg!«

Das Geschnarch verstummte.

»Jawoll!« antwortete eine verschlafene Stimme. »Wat is los?«

»Wat los is?« wiederholte Kapitän Bosselmann entrüstet. »Weet ji nich, dat wie hüt morgen in See gohn?«

»Hüt morgen?« ließ sich eine andere Stimme voll Erstaunen vernehmen. »Ich dacht, wi güngen erst Mittewochen in See.«

Der Schiffer verbiß die Antwort, um sich seinen Untergebenen gegenüber nicht zu vergessen; er lehnte sich schnaubend über die Reeling und vertraute seine Gedanken den schweigenden Fluten. In unglaublich kurzer Zeit kamen die Seeleute aus dem Logis an Deck herauf gepoltert, und zwei Minuten später erscholl der Doppelschlag der Pallen auch ihres Unkerspills in die Ferne hinaus.

Kapitän Bosselmann stellte sich ans Ruder. Ein schläfriger Matrose brachte die Seitenlaternen außerhalb der Reeling an, der kleine Schoner löste sich mit Hülfe von Bootshaken und Fendern aus der Reihe der übrigen Fahrzeuge und trieb langsam mit der Ebbströmung flußabwärts. Den Befehlen des Schiffers gemäß liefen die Matrosen die Wanten hinan und bald breitete sich Segel um Segel dem sanften Morgenwinde entgegen.

»He, du dor!« rief der Schiffer einen jungen Menschen an, der mit dem Aufschießen der Brassen und Fallen beschäftigt war.

»Jawoll, Kaptein,« antwortete der Matrose, herzukommend.

»Wonem is de Stüermann?«

»De Stüermann? Het de verlicht'n gelen Bort un 'ne rode Näs?«

»Ganz recht.«

»Den heww ick gestern vörmiddag sehn, as wi anmustern deden, Hernachens aber nich wedder,« berichtete der Matrose.

»Woveel nige Lud sünd dor vorn int Logis?« forschte der Schiffer weiter.

»Ick glöw, wi sünd alltohopen nige Lud,« war die Antwort.

»So. Un de Stüermann is nich an Bord. He supt to veel. He kann dat nicht laten. He is all mal dessentwegen torüggblewen. Wenn een dat Drinken nicht verdrägen kann, denn so schall he dat nahlaten, dat mark di, min Jung.«

»He het seggt, dat wi erst Mittewochen utlopen schüllen.«

»He ward sin Bantje (seinen Posten) verleern,« entgegnete der Schiffer. »So'n Stüermann kann sik vergolden laten!«

Der Matrose kehrte zu seiner Arbeit zurück, und der Kapitän fuhr fort, in düsterem Schweigen sein Fahrzeug zu steuern.

Langsam, ganz langsam graute der Tag. Die verschiedenen Gegenstände und Schiffsteile, anstatt noch länger ein dunkles, verschwimmendes Chaos zu bilden, lösten sich von einander, jedes Ding nahm seine besondere Gestalt an und zeigte sich deutlich, wenn auch naß, in dem kalten, grauen Lichte des anbrechenden Morgens. Allein, je heller es wurde, desto verwunderter starrte der Schiffer um sich, desto häufiger rieb er sich die Augen; bald schaute er von dem Schoner nach den flachen Ufern hinüber, bald ließ er die Blicke ängstlich und betroffen über das Deck schweifen.

»Heda!« rief er endlich einem von der Mannschaft zu. »Kommt Ji mal her!«

Der Mann trabte heran.

»Ich weet nich,« begann der Schiffer, »ick heww wat in min Ogen. Dat passeert ja woll ens mal. Nu seggt mi doch um Gottes willen, staht de Swinkoben dor vür de Kombüs, are staht de Swinkoben achter de Kombüs?«

»Achter de Kombüs,« antwortete der Mann und sah den Kapitän verwundert an.

»So, also achter de Kombüs,« wiederholte dieser sinnend. »Denn heww ick ganz recht sehn. Hm. Mein Sohn!« wendete er sich beinahe feierlich an den Matrosen, »gestern stand der Schweinekoben vor der Kombüse!«

Der Seemann vernahm diese erstaunliche Mitteilung mit Seelenruhe. Und sagte nur, gleichsam dem Schiffer zu Gefallen:

»Wo kann't angohn!«

»Nu seggt mi mal,« fuhr der Schiffer fort, »woans sünd de Waterfaten (Wasserfässer) malt?«

»Grön,« sagte der Mann.

»Nich witt?« fragte der Schiffer, sich schwer auf das Rad lehnend.

»Witt-grön,« antwortete der Matrose, der einer von denen war, die ihren Vorgesetzten gern zu Munde reden.

Kapitän Bosselmann unterdrückte einen Fluch. Einige der Mannschaft, die dieses Zwiegespräch mit angehört hatten, waren näher getreten und stierten ihren sonderbaren Kapitän offenen Mundes an.

»Lüd,« nahm der letztere endlich wieder das Wort, indem er unruhig Und nervös an den Speichen herumgriff, »Lüd, ick kann un will kein Nams nich nennen – weet ok keen Nams nich – aber dor sünd weck dorbi west un hebben de Kramstücken an Deck von düssen Schoner anners malt un ganz un gar ut de Reeg bröcht, so dat een ganz verbiestern un verbasen kann. Wat schall dat bedüden?«

Keiner antwortete. Das zunehmende Morgenlicht brachte die Gegenstände an Deck immer deutlicher zu Gesicht, und des Schiffers Antlitz wurde bleicher und bleicher.

»Junge, Junge,« murmelte er, »ick bün jo woll rein verrückt worn! Is dat Schipp hier de »Maria Christina«, ore bin ick in'n Droom?«

»De »Maria Christina« is dat nich,« versetzte einer der Matrosen, »wenigsten war se dat nich, as ick an Bord kam.«

»De »Maria Christina« is dat nich?« schrie der Schiffer. »Wat vör'n Schipp is dat denn?«

»De »Anna Karolina«,« antworteten die Matrosen im Chor.

»Lüd,« sagte der Schiffer nach einer langen Pause mit matter Stimme, »Lüd –«, er fuhr mit der Hand an seine Kehle, als hindere ihn da etwas am Sprechen, »Lud – hol mi de Dübel, ick bün mit en falschen Schoner ünner Seils gohn! Ick bün jo woll behext west!«

»Wokein ward nu sin Bantje verleern?« höhnte einer aus der Gruppe der Matrosen. »Wokein kann sik nu vergolden laten?«

»Mul hollen!« donnerte Kapitän Bosselmann, sich gewaltsam aufraffend. »Denn helpt dat nu nich. Wi möten wedder torügg. Klar bi Fallen und Geitauen!«

Kichernd und kopfschüttelnd begaben die Matrosen sich auf ihre Posten; die »Anna Karolina« barg ihre Segel, ließ den Anker fallen und wartete geduldig auf den Eintritt der Flut.

 

Die Kirchenuhren hatten die Mittagsstunde verkündet; es regnete schon längst nicht mehr. In einer Jolle, mitten auf dem Strome, standen zwei Männer, ein untersetzter stämmiger Kapitän und sein gelbbärtiger, rotnasiger Steuermann; sie starrten sich gegenseitig wie sprachlos vor Erstaunen an.

»Uns' Schoner is weg!« rief der erstere, als er endlich Worte fand.

»Jo, weg is he, soveel seh ick nu ok woll,« bestätigte der Steuermann, seine Blicke flußabwärts schweifen lassend. »Kann dat woll angohn, dat ne nige Mannschaft mit em utneiht is?«

Der Schiffer knirschte eine schier endlose Reihe von Flüchen hervor. Der Jollenführer aber rojte das Boot näher an die Reihe der Schiffe heran.

»Schoner ahoy!« preiete er das nächste derselben an. »Wo is de »Anna Karolina« afblewen?«

»De is hüt morgen Klock halbig twee nach See to gohn,« lautete die Antwort.

»Ick bring hier nämlich den Kaptein un den Stüermann von ehr,« erklärte der Jollenführer, mit dem Kopf auf das ratlose Paar deutend.

»Gott schall mi bewohrn!« sagte der Mann an Bord des Schoners. »Denn het de Kock jo woll dat Kommando öwernahmen. Wi schullen hüt morgen ok utgahn, uns' Ohl is aber noch nich an Bord kamen.«

Die erstaunliche Kunde flog von Schiff zu Schiff, und bald wurden die beiden verwirrten Männer in der Jolle von allen Seiten mit den verschiedenartigsten Ratschlägen, Bemerkungen und Witzen überschüttet. Da plötzlich, gerade als der Schiffer den Fährmann anwies, wieder an Land zu fahren, stieß der Steuermann einen lauten Ruf aus.

»Kiek dor!« gröhlte der Gelbbärtige.

Der Kapitän drehte den Kopf nach der angegebenen Richtung. Ein kleiner Schoner kam mit der Flut flußaufwärts daher, ganz langsam, als sei er verlegen und schäme sich. Er hielt auf die Lücke in der Reihe ab, und bald erhob sich ein allgemeines Gelächter und Hurrageschrei. Es war die »Anna Karolina«, die sich wieder an ihren alten Platz zu legen im Begriff war.

Ehe dies aber noch geschehen konnte, hatten sich ihr Schiffer und ihr Steuermann bereits an Bord geschwungen, wo Kapitän Bosselmann ihnen entgegentrat, sekundiert wiederum von seinem Steuermann, denn er war schon vorher von der »Maria Christina« zum Beistand seines Schiffers herbeigeeilt. Es stellte sich heraus, daß er, soweit Bart und Nase in Betracht kamen, dem Steuermann der »Anna Karolina« tatsächlich nicht unähnlich war, was Kapitän Bosselmann bei seiner Verteidigung denn auch wiederholt betonte, zum Mißbehagen beider Steuerleute.

Wer weiß, wohin die Auseinandersetzungen noch geführt hätten, wenn Kapitän Bosselmann nicht auf den glücklichen Einfall gekommen wäre, ein gemeinschaftliches Mittagsmahl und einen guten Trunk im »Silbernen Dorsch« vorzuschlagen; die Kosten wollte er bestreiten. Da klärten die Gesichter sich auf, der Jollenführer brachte die vier Herren an Land, und so kam unseres Schiffers Extratour zu einem guten und fröhlichen Ende.


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