Claude Anet
Männer – Frauen und . . .
Claude Anet

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Natur und Gesellschaft

Zwischen den Feinden Natur und Gesellschaft sind wir übel daran. Hunderte von Jahren hat die Gesellschaft verwendet, um ihre Macht zu festigen. Durch Gesetze, Vorurteile, Bräuche hält sie uns heute in ihrem Bann, und durch jene ungeschriebenen Bestimmungen, die noch schwerer auf unseren Schultern lasten als alle Paragraphen. Umsponnen von ihren vielen Fäden erstickt der moderne Mensch.

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Dieses geknebelte Wesen fühlt sich wie neu geboren, sobald die Liebe von ihm Besitz ergreift. Jetzt macht der Mensch sich frei, jetzt löst er sich fröhlich wieder von den Fesseln, die ihn hemmten. Die Naturkräfte rütteln ihn auf und führen ihn zu dionysischer Trunkenheit; mit dem ganzen Universum tritt er in Gemeinschaft, er verknüpft es seinem Taumel. Er wird zu einem Gott.

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Doch diese innerliche Befreiung läßt ihn nur noch schmerzlicher sein Sklaventum empfinden. In diesem Augenblick fühlt er sich zwischen Gesellschaft und Natur zerrissen. Wie ein Held nimmt er mit den Gewalten der Welt den Kampf auf, um sich einen Weg zu bahnen.

Und dieser tragische Konflikt, an dem nicht nur das Individuum, sondern die Zukunft der Rasse interessiert ist, wird niemals aufhören, das dramatischeste, zutiefst menschliche Erleben zu sein.

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Besiegt der Held die Gesellschaft, so beginnt ein neues Drama. Erst dann lernt er die Listen der Natur kennen.

Er muß entdecken, daß uns die Liebe von der Natur nicht uneigennützig, bloß als reizvolle Gabe, geschenkt wurde. Nur weil es ihr eigener Vorteil ist, hat sie die Liebe mit höchster Wollust vereinigt. Liebe, für uns ein Abschluß, bedeutet ihr nur ein Mittel zum Zweck. Und die Wollust ist der Köder, den sie gebraucht, um uns in ihre Fallen zu locken. Mit dem Besitz der geliebten Frau verknüpft sie unseren Sinnen den Zauber eines übermenschlichen Glücks. Und in Wahrheit will sie nur eines: daß wir in der Vereinigung Kinder zeugen.

Was uns selbst der Begriff Liebe bedeutet, ist der Natur gleichgültig. Wenig kümmert es sie, ob wir die eigene Frau besitzen oder die Frau eines anderen, ob wir sie durch Gewalt oder durch List nehmen, ob wir sie betrügen oder ihr treu sind; wenig kümmern sie unsere Freuden, unsere Tränen; nur eines will sie, daß wir uns vermehren!

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Und wir wollen gerade das nicht. Hier tragen wir einen Sieg über die Natur davon, hier durchkreuzen wir ihre Listen. Klug und erfahren stehlen wir die Wollust aus der uns bereiteten Falle, ohne uns darin zu verfangen.

Wir nehmen unser Vergnügen, nichts weiter. Wir erfreuen uns der unschätzbaren Vorzüge, mit denen die Liebe von der Natur ausgestattet wurde, doch wir weigern uns, den Preis zu bezahlen, den sie verlangt.

Darin besteht unsere höchstpersönliche Rache und damit sichern wir uns eine unbestrittene Überlegenheit über die Tierwelt.

Denn der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt in dieser kleinen Tatsache, daß der Mensch als einziges Wesen der Schöpfung imstande ist, die natürlichen Folgen der Liebe nach seinem Belieben zu verhindern.

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Maeterlinck hat den Hochzeitsflug der Bienenkönigin geschildert, der bis hoch in die Lüfte führt.

An diesem Hochzeitsflug können wir genau beobachten, mit welchen Mitteln die Natur arbeitet, um die Gattung zu verbessern. Überall ruft sie eine Rivalität zwischen den Männchen hervor. Der Fähigste siegt in diesem notwendigsten, ruhmvollsten aller Sports.

Nur wir haben aus gesellschaftlichen Rücksichten die Feinheit der Natur verdorben. Bei der menschlichen Gattung treten eigene Umstände hinzu und es ist nicht immer das beste Individuum, dem der Sieg zufällt.

Und trotzdem findet die Natur selbst in der Willkür, die wir uns anmaßen, und unbekümmert um die selbstsüchtigen Ziele, die die Gesellschaft verfolgt, Mittel und Wege, wenigstens zum Teil, ihre Rechte zu wahren. Die Physiologen lehren uns, daß sich zwischen den hunderten Spermatozoon, die am Eingang der Gebärmutter abgelagert werden, ein erregender Kampf abspielt, ein leidenschaftliches Wettrennen, dessen Ziel das eine zu befruchtende Ei bildet. Mit Bewegungen, ähnlich den Fischen, verfolgen die Samentierchen ihren Weg. Jenes, das als erstes zum Ei gelangt, bohrt sich siegreich hinein und befruchtet es. Dieses allein, weil es das stärkste ist, triumphiert und pflanzt sich fort. Die anderen, die unbrauchbaren, sterben nach einem vergeblichen Rennen.

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Man kann es nicht oft genug wiederholen, daß im Spiel der Leidenschaften viele Reize nur von dem (falschen) Begriff herrühren, den wir uns von unserer Freiheit machen.

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Wir sollen dem Menschen für das, was er aus der Liebe gemacht hat, dankbar sein. Die Natur hat uns die Liebe formlos als physiologischen und ausschließlich tierischen Akt gegeben. Und wie haben wir diese grobe Sinnlichkeit verfeinert! Wie haben wir sie gepflegt und entwickelt! Wir haben sie zu einem Reichtum, zu einer so umfassenden Vielfältigkeit geführt, daß schließlich die ganze Zivilisation, die Künste, das Denken aus ihr hervorgingen, und daß die wertvollsten Errungenschaften mit dieser Liebe, die der gesellige Mensch geschaffen hat, verknüpft sind.

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Welche Beziehungen hat die Gesellschaft zur Liebe?

Die Antwort ist einfach: Die Gesellschaft verwendet gegen die Liebe ihre Polizisten. Sie vergißt, was sie der Liebe schuldet, Moral und Religion verbünden sich gegen diesen einfachen, natürlichen, wunderbaren Vorgang: die normale Vereinigung zweier Wesen verschiedenen Geschlechts.

Man begreift nicht, daß die Gesellschaft sich mit ihren Polizisten einmengt, um ein Geschehen zu verhindern, ohne das es weder eine Gesellschaft, noch Polizisten gäbe.

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Man stelle sich doch vor, was aus einer Gesellschaft ohne Liebe würde: Verknöcherung der Herzen, Triumph einer schalen Ideologie, schamlose Verherrlichung nur berechnender Gemeinheit, ungebrochene Herrschaft der Eitelkeit; Selbstsucht als Herrin der Welt!

Wenn immerhin so viele eigennützige Wesen der Menschheit verbunden bleiben, liegt die Ursache nur darin, daß sie, und wäre es auch nur für einen Augenblick, imstande waren, ein Gefühl höher zu stellen als ihre Selbstsucht. Diese so vorsichtigen Wesen haben etwas gewagt, sie, die unaufhörlich furchtsam zittern, hatten einen Augenblick, in dem sie Mut zeigten. Während dieses Augenblickes wurden sie zu Menschen.

Die Gesellschaft hat nicht unrecht, wenn sie in der Liebe ihren Feind sieht, denn die Liebe übersetzt leichtfüßig die kleinen Hindernisse, die von der Gesellschaft mit so viel Mühe zwischen die Menschen gelegt wurden und respektiert nicht einmal das, was ihr am heiligsten ist: das Geld.

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Die Gesellschaft sagt: »Männer mögen lieben wo sie wollen, doch bei den Frauen ist es wünschenswert, daß sie in ihren Kreisen bleiben.«

Indes, man liebt, wo man kann.

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Ein Mißverständnis, so alt wie die Welt selbst, führte dazu, daß die Liebe in der Ehe ein Plätzchen beanspruchte. Die Gesellschaft ist bemüht, sie von da zu verdrängen. Um dies zu erreichen, hat sie die Mitgift erfunden.

Sie erklärt, daß die Ehe an dem Felsen einer dauernden Zuneigung verankert sein solle. Nur beständige Interessen und beiderseits gleichartige soziale Vorteile sollen miteinander verbunden werden. – Die Liebe aber baut auf Sand. Es ist ihr gleichgültig, welche Werkzeuge verwendet werden. Ja, es scheint ihr ein boshaftes Vergnügen zu bereiten, Jene aneinanderzufesseln, die gesellschaftlich zu feindlichen Kasten gehören. Und die Liebe hält nicht lange an. »Heute liebe ich, gestern liebte ich nicht, werde ich morgen lieben?«

Die Liebe ist gewalttätig, flüchtig und stört den Frieden. Sie ist zu verwerfen.

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Man kann nicht einfach sagen, die Gesellschaft habe unrecht. Was für Liebesdramen hat diese alte Dame gesehen, und wie genau kennt sie ihre gefährlichen Tollheiten! Die einzigen Beziehungen, die sie anerkennt und die sich im Ehekontrakt festlegen lassen, sind die vermögensrechtlichen . . .

Doch es handelt sich um die Rasse. Will man sie verbessern?

Bei den Haustieren trifft die Gesellschaft eine kluge Auswahl und sie weiß sehr gut, daß es keine brauchbaren Pferde mehr gäbe, wenn auch bei ihren Ehen nach Ehepakten, Mitgift und Karriere gefragt würde.

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»Aber ich habe doch eine unsterbliche Seele«, seufzt klagend Frau Soundso.

»Ist es Ihre Seele, verehrte gnädige Frau, mit der Sie Kinder zeugen?«

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In einer Gesellschaft, die stark genug wäre, um einzig und allein die Vernunftehe durchzusetzen, müßte die Rolle des Liebhabers mit einem Schlage eine ungeahnte Bedeutung gewinnen.

Die Gesellschaft würde ihn anerkennen. Sie würde einsehen, daß nichts übrig bleibt, als die Liebe, die sich selten irrt, schalten zu lassen, um die besten Produkte zu bekommen. Und da den Gatten verboten sein wird, ihre vornehmste Sorge der Entwicklung der Rasse zu schenken, wird es eben der Geliebte sein – er, der schön und erfrischend wie ein Gewitterregen nach einem schwülen Sommertag ist – der für die Fortpflanzung zu sorgen haben wird.

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Es wird zum unentbehrlichen Mitglied der Gesellschaft werden. Er wird der Messias sein, auf den jede Ehe hoffen wird. Auch den Stolz seiner Rolle wird er haben, sich nicht mehr in Kästen verstecken; Bewunderung und Dankbarkeit werden seine Persönlichkeit umstrahlen. Kein Mensch wird der Gemeinschaft wertvollere Dienste leisten als dieser wechselnde Gast.

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Die Frau wird sich in der Wahl ihres Liebhabers nur von dem tiefen, geheimnisvollen Instinkt der Rasse leiten lassen. Nur der befehlenden Stimme der Liebe wird sie gehorchen.

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Es könnte sein, daß sie niemals liebt.

Dann braucht sie keine Kinder in die Welt zu setzen.

 


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