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Frühlingsversprechen

1.

Der Schmied Wassilij Wassiljewitsch Merkuloff war ein strenger Mann, und wenn er sich an Feiertagen betrank, sang er nicht Lieder wie die anderen, er lachte nicht und spielte nicht auf der Harmonika, er saß in der Schenke und drohte lautlos mit dem schwarzen, verbrannten Finger. Er drohte dem Schenkwirt hinter dem Schanktisch, den Gästen und auch dem Knecht, der Tee und Branntwein brachte. Er kam nach Hause und drohte, da er schon seit langer Zeit allein lebte, der leeren Hütte. Niemand ließ sich mit ihm in Streit und Gezänk ein, weil er von der lächerlichen Drohung leicht zu grausamer, blutiger Prügelei überging; trotz seiner fünfzig Jahre war er sehr kräftig, und seine knochige, schwarze Faust fiel wie ein Hammer auf die Köpfe nieder. Von kräftigem Körperbau, mager, doch muskelstark, hochgewachsen, schritt er stolz einher, die Brust vorgepreßt, die Beine gerade gestellt, ohne die Kniee zu biegen, als messe er die Straße mit einem Zirkel aus.

Wie alle in der Streletzkaja Sloboda lebte er weder gut noch schlecht, und niemand dachte an ihn, und niemand bemerkte sein Leben, weil jeder sein eigenes, schweres und oft qualvolles Leben lebte, um das man sich kümmern und an das man jeden Augenblick denken mußte. Es kamen wenig neue Menschen in die Sloboda, die sich am äußersten Ende der Stadt verlor, und alle ihre Bewohner waren aneinander gewöhnt und merkten nicht, wie die Jugend heranwuchs und die Alten noch älter wurden. Von Zeit zu Zeit starb einer; man begrub ihn, und ein, zwei Tage lang besprach man aufgeregt seinen plötzlichen Tod; dann war wieder alles so, als wäre niemand gestorben, als wäre der Verstorbene noch unter den Lebenden, oder als gäbe es hier gar keine Lebenden, als wären nur Tote hier. Man konnte sich nur halbsatt essen in der Streletzkaja, aber man nahm das ergeben auf und kämpfte träge und gleichgültig um die Existenz, – wie Kranke, die keinen Appetit haben, träg und gleichgültig um einen überschüssigen Teller der geschmacklosen Spitalsuppe kämpfen.

Die Hütte und dis Schmiede Merkuloffs standen am Ende der Sloboda, dort, wo das Ufer des Flusses begann. Das Ufer war von Gräben durchzogen, aus denen man Lehm und Sand holte; der Fluß war seicht, und im Sommer lenkten die Bauern aus dem Nachbardorf ihre rüttelnden, nach Teer riechenden Wagen durch die Furt. Die Schmiede Merkuloffs befand sich in einer Erdhütte; auch sein Wohnhaus glich einer Erdhütte. Die windschiefen Fenster mit ihren vom Alter regenbogenfarbigen Scheiben erreichten die Erde. Neben der Schmiede standen schwarze, rußige Pfeiler zum Beschlagen der Pferde; auch sie waren alt, verbogen, und die tiefen Risse ihrer ganzen Länge nach glichen tiefen Furchen, die ein langes und hartes Leben zog. Ein Pfeiler wackelte schon seit zwei Jahren. Wenn Merkuloff betrunken war und an ihm vorbeiging, drohte er ihm mit dem Finger; aber sonst tat er nichts, um ihn zu befestigen.

Fünf Monate des Jahres lag die Streletzkaja unter Schnee, und dann konzentrierte sich das ganze Leben in diese kleinen schwarzen Hütten, und krampfhaft niedergepreßt pulsierte es dort in Unsauberkeit, Armut und Finsternis. Oben war alles jungfräulich weiß, leblos und dumpf, und unter den niederen Decken der Hütten weinten vom frühen Morgen die Kinder, vergiftet von der fauligen Luft, und die Erwachsenen, zu schwach, sich aus der Umklammerung dieses Lebens hinauszureißen, schimpften und gerieten aneinander. Und allen tat es weh, dieses Leben. Ebenso traurig wie in den anderen Hütten und ebenso finster sah es in der Hütte Merkuloffs aus; alles war hier schief, schwarz und schmutzig, voll jenes hoffnungslosen Schmutzes, der sich in das Holz und in die Gegenstände einfraß und ein Teil ihrer selbst wurde. Eine Ecke war windschief, und das Fenster stand seitwärts, die Decke war schwarz von Ruß, und statt eines Wandschmuckes waren an die Wände farbige Etiketten von Flaschen »Kiewer Kirschenlikör« geklebt.

Im Winter gab es wenig Arbeit, und das einsame Leben Merkuloffs verfloß wie ein schwerer Traum inmitten der windschiefen Wände, unter der niederen, schwarzen Decke. Er schlief soviel er konnte und wenn er keinen Schlaf fand, lag er da, und mit düsterem Staunen und Denken übersah er sein Leben. In blassen Schatten ging die Vergangenheit an ihm vorüber, und so einfach war sie und eigentümlich bis zum Entsetzen.

Er hatte ein Weib, das an der Cholera starb; an ihr Gesicht kann sich Merkuloff nicht erinnern, als hätte sie nie gelebt in Wirklichkeit, als hätte er nur geträumt von ihr. Auch Kinder hatte er: ein Sohn kränkelte lange, quälte alle und starb; ein zweiter ging zum Militär und verscholl. Es blieb ihm nur eine Tochter, Marja. Sie war an einen Trunkenbold verheiratet, einen Schuster in der Streletzkaja, und oft kam sie zu Merkuloff klagen, daß der Mann sie geschlagen habe. Sie war böse und häßlich, ihre dünnen Lippen bebten vor Kummer und Zorn, und ein ganz verschwollenes Auge blickte durch die schmale Lidspalte, wie ein trauriges, linkisches, fremdes Auge. Sie schrie, daß man es auf der ganzen Gasse hörte und beschimpfte ihren Mann; dann begann sie auch den Vater zu schimpfen und nannte ihn einen Trunkenbold. Die Nachbarinnen und die Kinder blickten durch die Türe und die Fenster und lachten. Und das war sein ganzes Leben, und ein anderes gab es nicht und wird es auch nie geben.

Und er lag unter der schwarzen Decke und sann; draußen aber erstarb still und ergeben der kurze Wintertag. In der Hütte wurde es dunkel, und Merkuloff ging auf die Straße hinaus: menschenleer und öde, wie ausgestorben lag sie still unter dem Schnee und erschien wie die Widerspiegelung des leblosen, trüben Himmels. Und zwischen der Straße und diesem tonlos grauen, finsteren Himmel wuchs rasch die wachsame, lautlose Finsternis an. Auf dem Glockenturme Wassilji des Großen läutete man zur Abendmesse, und mit jedem langsamen Glockenschlag schien die Finsternis auf die Erde niederzusinken. Als die Glocke ohne Widerhall verstummte, lag schon die stille, stumme Nacht auf der ganzen Erde. Ein Bauer fuhr in einem Schlitten in der Richtung nach dem Flusse an Merkuloff vorüber. Einen Augenblick lang war das Pferd zu sehen, dann der Bauer mit aufgestülptem Kragen, vornübergebeugt – und alles verschwamm in der dichten Finsternis und der Hufschlag war nicht zu hören, und man empfand, daß es dort, wohin der Bauer fuhr, auch so öde, kahl und armselig sein müsse, wie in der Hütte Merkuloffs, daß dort dieselbe kalte Winternacht herrsche. Die Hände in die Hosentaschen gesteckt, auf ein Bein gestützt und das andere zurückgeworfen, blickte Merkuloff mit finsterer Frage zum Himmel, suchte eine Lichtung und fand keine. Groß und schwarz war der Himmel; in seiner Unbeweglichkeit erinnerte er an einen der schwarzen Pfeiler der Schmiede, die von der Zeit und dem Leben bis aufs Mark zerfressen waren.

Wenn es sich traf, daß Merkuloff Geld hatte, kleidete er sich an und ging in die Stadt, in die Schenke »Schelkowka«. Dort sog er das grelle Lampenlicht ein und den grellen und bunten Lärm der Schenke, hörte dem Orgelspiel zu, und anfangs lächelte er, statt der Vorderzähne, die ihm einst ein Pferd ausschlug, die leeren Höhlen zeigend. Doch bald betrank er sich, weil er für den Branntwein eine Schwäche hatte; dann runzelte er die Stirne und begann unruhig die Augenbrauen zu bewegen, und wenn er dann irgendeinen Blick auffing, drohte er bedeutungsvoll und finster mit dem schwarzen verbrannten Finger. Die Orgel spielte eine Polka, zischend und sich übersprudelnd. Merkuloff schien es, als spiele sie nicht, als speie sie gebrochene, hüpfende Töne einer unnützen Fröhlichkeit aus, und es wurde ihm traurig zumut, und Qual und Unruhe erfüllten ihn. Er drohte den glänzenden Röhren und murmelte streng:

»Ich erlaube es nicht so zu spielen. Mit welchem Rechte? ... Du hast kein Recht so zu spielen. Ich erlaube es nicht.«

Wenn um elf Uhr die Schenke geschlossen wurde, ging Merkuloff, wankend und sich mit den Händen an die Zäune anstemmend, langsam und schwerfällig nach Hause und blieb in tiefem Zweifel und zornerfüllt vor seiner Hütte stehen.

»Meine Hütte!« sagte er und erhob überrascht die Augenbrauen, bemüht, die schwergewordenen Augenlieder zu heben. Den Kopf wiegte er auf dem schlaffen Halse, und sein Blick irrte umher und spähte nach jener Stelle am Himmel, wohin er des Abends stets blickte: schwerfällig erhob er die Hand und mit dem gebogenen Finger, vor Trunkenheit unfähig ihn gerade zu richten, drohte er:

»Ich, erlaube es nicht.«

Und mit finster zusammengepreßten Augenbrauen, den Finger zum Drohen bereit, schlief er ein. Aber der trunkene Schlaf tötete den Willen, und die schweren Qualen eines alten Körpers stellten sich ein. Der Schnaps verbrannte die Eingeweide, und mit eisernen Krallen zerriß er das alte, müdegearbeitete Herz. Merkuloff röchelte und haschte nach Atem; in der Hütte war es ganz dunkel, auf den Wänden raschelten unsichtbare Asseln, und die Geister der Menschen, die hier gelebt, gelitten hatten und hier gestorben waren, machten die Dunkelheit lebendig und fühlbar unruhig.

 

2.

Es begann in der dritten Woche der Großen Fasten, unerwartet und darum desto freudiger begann es. Die Streletzkaja Sloboda erwachte in rauchfarbenem, weichem, warmem Nebel, der nach Brand roch, und wenn der Nebel sich zerstreut hatte, wurde die Luft klar und hell und nirgends waren Schatten. Es war, als löse sich starres Eisen von der Erde, von den Dächern, den Häusern, das bisher gedrückt und gefesselt hatte, und alles begann zu duften: der Schnee, die Häuser, der Dünger. Bei dem Faßbinder buk man Brot, und auf der ganzen Straße lag der angenehme, anheimelnde Duft des warmen Brotes. Die breiten Spuren der Schlitten, in denen goldiger Pferdedünger lag, glänzten wie poliert; aus den Hütten krochen die Kinder hinaus und jauchzten; mit freudigem Gebell jagten die Hunde hinter den schwerfälligen Krähen einher, die sich träge bei den schwarzen Flecken alter Spülichtgruben niederließen. Und leicht und frei atmete alles.

So lag die Streletzkaja einige Tage in Unentschlossenheit; dann aber ging die Sonne an dem klaren, tiefen Himmel auf, und mit überraschender Schnelligkeit fing wie am Feuer der Schnee zu schmelzen an. In allen Vertiefungen sammelte sich duftendes Schneewasser, und die Weiber gingen nicht mehr zum Flusse: in Gärten und Gemüsebeeten gruben sie tiefe Gruben, auf deren Grund sich zwischen den lockeren, von Schnee durchtränkten Wänden das Wasser ansammelte, durchsichtig und kalt, wie in den Quellen. Immer seltener wurde der Schnee und immer reichlicher das Wasser; warm und freudig leuchtete die Sonne, und die schmelzende Schneedecke glänzte und funkelte in tausend Strahlen. Jeder Tropfen Wasser blitzte wie eine weiße Flamme, und wenn man sich zur Sonne wendete, war es, als wäre die ganze Erde in einem blendenden Glanze entbrannt, und die Augen, dem Lichte entwöhnt, schmerzten. Und auf dem blauen Himmel war es ruhig, klar und feierlich, und wenn Merkuloff, die Augen mit der Hand geschützt, hinaufblickte, war sein von der Hitze der Schmiedeesse glühendes Gesicht bebend gespannt, und unter dem dünnen Schnurrbart verbarg sich vergeblich ein verlegenes Lächeln. Er stand lange auf seinen gerade gestellten Beinen, er schaute und horchte, und mit seinem ganzen Körper fühlte er das tiefe, geheimnisvolle Werden, das in der Natur vor sich ging, Lebendig war die Frühlingsluft, nicht tot, wie die des Winters: jedes Teilchen war getränkt von Sonnenlicht, jedes Teilchen lebte und bewegte sich, und Merkuloff schien es, als betasteten ganz kleine kindliche Fingerchen sein altes, verbranntes Gesicht, als bewegten sie die dünnen Haare an seinem Barte, als teilten sie in ausgelassener Heiterkeit eine Haarsträhne auf seinem Kopfe und schwangen sie. Er glättete mit der rauhen Hand das Haar, und die Strähne erhob sich wieder, und in dem grauen Haar glänzte die Sonne.

Und alles ringsum: der weite, ruhige Himmel, das blendende Zittern der Wassertropfen auf der Erde, die leuchtende Ferne des Flusses und der Wiese, die lebendige, liebkosende Luft, – alles war voll des Frühlingsversprechens. Und Merkuloff vertraute ihm, wie alle Menschen, junge und alte, glückliche und unglückliche, dem Frühling vertrauen. Dem fünfzigsten Frühling sah er entgegen, und so neu und so hoffnungsfreudig erschien er ihm, wie der erste Frühling seines Lebens.

Während der ganzen Großen Fastenzeit arbeitete Merkuloff fleißig, und ein neues Gefühl der Ergebenheit und einer stillen Erwartung erfüllte ihn. Ergeben ertrug er die schwere Arbeit, ergeben den Schmutz, die Qual, die Enge seines Lebens, und seine schwarze Hütte mit ihren windschiefen Ecken betrat er wie ein fremdes Wohnhaus, wo er nicht mehr lange zu bleiben hatte. Und wie etwas Neues und nie zuvor Gesehenes erschienen ihm die schwarze, rußige Decke, das Spinngewebe in den Ecken, die abschüssige Diele mit den verfaulten Brettern; er betrachtete alles mit dem ernsten, tiefen Gleichmut eines fremden Menschen. Andauernd von dem gleichen Gefühl der Ergebenheit beherrscht und im klaren Bewußtsein, daß er eine gewisse Pflicht zu erfüllen hatte, trank Merkuloff während der ganzen Fasten keinen Branntwein, er fluchte nicht und nährte sich von schwarzem Brot und Wasser. Und am Sonntag ging er nicht wie sonst in die Schenke, er saß vielmehr mit aufmerksamem, feierlichem Gesicht auf der Bank neben seinem Hause oder ging mit seinem Storchenschritt über die Streletzkaja und sah den Kindern zu.

Und Kinder gab es genug auf der Streletzkaja, und es war nicht zu begreifen, wo sie sich im Winter verborgen hatten, – so lebendig, laut, so ungestüm waren sie. Wie die Fliegen im Sonnenschein krochen sie umher, sie kletterten und drehten sich im Kreise, es schien sich jedes zu verdreifachen, und wie unaufhörliches Summen war ihr Lachen. Hunde liefen neben ihnen einher; weiße hagere Katzen wärmten sich, und alles das lebte sein lärmendes, bewegtes, heiteres Leben. Auf der Sonnenseite, unter dem Zaune, kam schon Gras hervor, und ein kleiner, runder Junge rollte darauf. Erst schreckte ihn ein Hund, dann ein Spatz, und er weinte lange und laut; aber irgendwoher kam ein leichtes, weißes Federchen geflogen und ließ sich in seiner Nähe nieder, es bewegte sich, neue Kräfte zu neuem Fluge sammelnd. Und der Knabe bemühte sich, das Federchen mit seiner kleinen, schmutzigen Hand zuzudecken und murmelte nachdenklich:

»Täubchen, liebes! Warte!«

Doch das Federchen erhob sich und flog davon, und er erinnerte sich von neuem an den unruhigen, schrecklichen Spatz und fing zu weinen an. Ein Mädchen, wenig größer als er, näherte sich ihm. Sie trug die großen Stiefel ihrer Mutter, neigte sich zu ihm, und den Ellbogen auf das Knie gestützt fragte sie:

»Mischka! Was weinst du?»

»Er beißt.«

»Der Hund beißt?«

»Der Hund beißt und der Vogel beißt.«

Das Mädchen dachte nach und erwiderte verächtlich:

»Narr du!«

Und wieder blieb Mischka allein; er hatte Hunger, und das Haus war so furchtbar weit, und keinen bekannten Menschen gab es in der Nähe – das war alles so entsetzlich, daß er sich erhob, laut aufschluchzte und um rascher fortzukommen auf alle vier niederkauerte und geradeaus fortkroch. Merkuloff hob ihn auf und trug ihn. Mischka beruhigte sich sofort, und sich auf Merkuloffs Händen wiegend, schaute er ernst und zufrieden auf die schreckliche, jetzt so lustige Straße; und den fremden Mann, der ihn gerettet hatte, sah er bis zu seinem Hause auch nicht ein einzigesmal an ...

In der Karwoche besuchte Merkuloff täglich den Gottesdienst, blieb vom Anfang bis zum Ende, kaufte dünne Wachskerzchen, die sich in seinen Händen verbogen, und das Gefühl der Ergebenheit und der bebenden Erwartung wuchs in seiner Seele. Früh am Morgen, wenn die Schatten der Häuser noch die ganze Straßenbreite deckten, ging er in die Kirche. Das dünne, nächtliche Eis knisterte, und als er an den schläfrigen Häusern vorbeiging, wuchsen neben ihm die Gestalten von Menschen auf, die sich in der Morgenkälte krümmten. Wie Merkuloff trugen sie die Sünden und den Kummer ihres Lebens in die Kirche. Und viele waren es, und ärmlich und schmutzig waren ihre Gewänder und grob und finster ihre Gesichter. Sie gingen rasch und lautlos, als fürchteten sie auch nur einen Tropfen aus dem tiefen Kelch ihres dunkeln Lebens zu verschütten. Und betäubt von dem disharmonischen Stampfen ihrer Füße, vom Fieber des unaufhaltsamen Treibens der Massen erfaßt, schritt Merkuloff auf seinen geraden Kranichbeinen immer rascher. Und je mehr er sich der Kirche näherte, desto rascher und unruhiger wurden seine Schritte. Schielend blickte Merkuloff zur Seite, ob ihm niemand zuvorkomme, und geräuschvoll trat er in die Vorhalle ein, erschrak über das laute Echo der Schritte auf dem Steinboden, und ängstlich öffnete er dann die schwere, lautlose Türe.

Und hinter der Türe empfingen ihn kalte, feierliche Stille, unterdrückte Seufzer und das näselnde, unverständliche Lesen des Küsters, dreifach verstärkt durch den Widerhall und unterbrochen durch ebenso unverständliche, lange Pausen. Das Knarren seiner Stiefel machte ihn verlegen, und Merkuloff stellte sich auf einen Platz inmitten der Kirche, schlug ein Kreuz, wenn alle ein Kreuz schlugen, er fiel auf die Kniee, wenn alle niederknieten, und aus der Gleichartigkeit der Bewegungen schöpfte er ruhige Kraft und Sicherheit.

Am Freitag vor der Beichte ging Merkuloff zu seiner Tochter Marja Wassiljewna und zu ihrem Manne, dem Trunkenbold Taraschka, um von ihnen Verzeihung zu erbitten. Taraschka ging nicht zur Beichte; er vollendete eilig ein paar Stiefel, wobei der gezogene Pechdraht zischte, und dem Schwiegervater gegenüber verhielt er sich aufmerksam und erwiderte seine tiefe Verbeugung mit einer ebenso tiefen und sagte:

»Gewiß, Väterchen! Alle sind wir Schweine; selbstverständlich. Was sonst!«

Marja Wassiljewna zog ihre dummen Lippen ein, und zur Seite schielend antwortete sie unwillig dem sich verneigenden Vater:

»Gott wird verzeihen. Verzeihen auch Sie uns, wenn wir etwas verschuldet haben.«

Sie war erbost und unglücklich, und fluchen, nicht verzeihen hätte sie mögen. Bitter und kränkend empfand sie es, den Vater ansehen zu müssen: Es kränkte sie, daß er so sauber gewaschen und gekämmt war, während sie nicht Zeit gefunden hatte das Gesicht zu waschen, daß ihn ein angenehmes Gefühl erfüllte, das ihr ganz unbekannt war und daß man ihm morgen gratulieren würde; es machte sie erbost, daß er sie um Verzeihung bat, wo er sie doch für nichtswürdiger hielt als sich selbst, ja für nichtswürdiger als den Trunkenbold Taraschka.

Und zornig schrie sie den Vater an!

»Geh nur, geh! Du siehst, daß wir Arbeit haben.«

Des Nachts schlief Merkuloff nicht und ging einigemal auf die Straße hinaus. Auf der Streletzkaja war auch kein einziges Licht zu sehen, und auf dem umnebelten Himmel standen nur wenige Sterne; wie dunkle, sich verbergende Schatten standen die niederen, stummen Häuser da, wie erdrückt von der Last des Lebens. Und alles, was Merkuloff sah: der dunkle Himmel mit den seltenen, gleichmäßig leuchtenden Sternen, die sich verbergenden Häuser mit den wachsam schlafenden Menschen, die scharfe Luft der Frühlingsnacht, alles war voll des unklaren Frühlingsversprechens. Und er wartete bebend und voll Demut.

 

3.

An gewöhnlichen Tagen, an Feier- und Wochentagen sind die Eingänge zum Glockenturm gesperrt, und man läßt niemanden hinein; aber zu Ostern stehen sie offen, und es kann jedermann hineingehen und läuten, so lange er will, – von Mittag bis zur Abendmesse.

Auf dem weißen Glockenturm Wassilji des Großen, zu dessen Pfarre die Streletzkaja gehörte, trieb sich an diesen Tagen viel müßiges, geputztes Volk herum; die einen kamen, um die Stadt von der Höhe zu sehen; sie standen bei dem wackeligen hölzernen Geländer und aßen heimlich Sonnenblumenkörner, daß der Wächter nicht schimpfe; andere läuteten zum Zeitvertreib, ermüdeten aber bald und gaben den Strang weiter; – nur für Merkuloff war das Feiertagsläuten weder eine Unterhaltung noch ein Spiel, sondern eine sehr ernste, wichtige Aufgabe, der man sich mit ganzer Seele hingeben mußte. Er zog wie alle anderen ein feiertägliches, heiteres Gewand an, ein rotes Hemd, neue glänzende Stiefel; aber sein Gesicht mit dem dünnen Bärtchen und dem zahnlosen Munde blieb streng und ernst, wie es sich für die Großen Fasten ziemt.

Er begriff nicht, wie man auf den Glockenturm lachen konnte, und finster blickte er die grinsenden Männer an; und die übermütigen Jungen, die über das Geländer gebeugt hinunterspuckten und auf den Stiegen wie Affen herumkletterten, jagte er vom Glockenturme hinunter, und oftmals zog er sie gar bei den Ohren.

Er kam als erster auf den Glockenturm, wenn in der Kirche noch das Hochamt zelebriert wurde und es noch verboten war zu läuten. Wie er durch die niedere, gewölbte Tür des Glockenturmes trat und mit einemmal in die Dunkelheit und in die trockene Kälte der steinernen Gänge geriet, fühlte er sich losgelöst von allem, was sein Leben ausmachte, und bereit, etwas Großes, Freudiges, Geheimnisvolles, das man in Worten nicht zu sagen vermochte, zu empfangen. Auf den gewundenen gebrochenen Stiegen herrschte jene tiefe Stille, die sich in Jahrhunderten ansammelt; und aus den finsteren Ecken mit ihrem Spinngewebe, aus den ausgehöhlten Ziegelsteinen, den schwarzen (rätselhaften), geheimnisvollen Öffnungen blickte es ihm düster und grau, ernst und sinnend entgegen. 5o bange machte es, das Knarren der eigenen Schritte zu hören, und Merkuloff schritt vorsichtig und ehrfurchtsvoll vorwärts, und auf den Absätzen ruhte er respektvoll aus, obwohl er keine Müdigkeit empfand. Als er hinaufgekommen war, blickte er sich gemessen um wie in der Kirche, trocknete mit dem Taschentuch die Stirne, und angsterfüllt, in Erwartung der bevorstehenden unermeßlichen Seligkeit, betrachtete er verlegen die große, ruhige Glocke; – die kleinen Glocken betrachtete er nicht. Und hier, auf der Höhe, herrschte Stille, die lebendige Stille der zarten Frühlingsluft und der im grellen Blau des Himmels dahinschwebenden weißen Wolken. Auf dem Rande des Plateaus hinter dem Geländer, wo weißer Vogelunrat die eisernen Dachblätter deckte, gingen die Tauben herum und girrten, und ihr zärtliches, liebevolles Girren war lauter und deutlicher als alle jene zerstreuten, aufdringlichen Klänge, die die Erde erzeugte und die zu schwach waren sich zum Himmel zu erheben.

Die Mittagmesse war zu Ende. Wie Ameisen, die sich auf den Hinterbeinchen aufmachen, zerstreuten sich die Streletzer, und als eine lärmende, lustige Menge liefen sie mit ihren Holzschuhen wie auf Klaviertasten klopfend hinauf, die ängstlichen Tauben mit ihrem Geschrei verjagend, und einer griff schon nach dem Strang der großen Glocke. Als letzter hinter den Streletzern ging der Glöckner Semjon. Er ging ruhig, ohne sich aufzuregen, wie ein Mensch, der an dergleichen gewöhnt ist. Auch er trug ein rotes Hemd, roch leicht nach Branntwein wie die anderen Streletzer, und sein rotes Gesicht mit dem grellroten Bart lächelte breit und wohlwollend. Er zwinkerte mit den Augen zu Merkuloff und sagte:

»Nun, Gevatter, wollen wir läuten?«

»Läuten Sie,« erwiderte Merkuloff unzufrieden und ging, die Lippen beißend, zur Seite: es wurde ihm trocken im Halse vor Erregung, und im Rücken stach es ihn. Einige Streletzer hatten sich schon die Hände wundgerieben, und die braunen Handflächen aneinanderreibend gingen sie weg. Auch Semjon ging. Merkuloff stieß entschlossen einen Streletzer zur Seite und griff nach dem Strange. Er fürchtete seine Erregung zu offenbaren, aber seine Hände bebten, und unaufhaltsam bewegten sich die Lippen, und die große, stille Glocke sah ihn mit ihrem riesigen Schlund sinnend an und wartete ruhig. Und er begann die schwere, eiserne Zunge bedächtig zu schwingen. Er drückte mit ernster, geschmeidiger Langsamkeit daran, näherte sich immer mehr dem glänzenden Rande der Glocke und berührte ihn fast, und schon lief ein leises Beben über den kupfernen Körper. Und dann erklang ein Glockenschlag – der erste, schüchterne, abgerissene Schlag, unentschlossen und schwach, mit eigenartigem Flehen um Grade und Vergebung. Und nach ihm ließ ein zweiter, mächtig tönender Schlag den Raum erzittern, und mit bebenden Tönen durchdrang er das steinerne Glockengewölbe: er war noch nicht erstorben, als der nächste neue ihm fließend folgte. Und so Schlag auf Schlag, weit und frei, wie in Eisen gepanzerte Riesen, die lange untätig im Hinterhalt lagen und jetzt zum Kampf geführt wurden und wie eine eiserne Phalanx aus den Feind einstürmen. Doch Merkuloff verzog unzufrieden dis Stirne: In den mächtigen, weiten Klängen hörte er die Stimme des kalten, grausamen Kupfers, und er fand in ihnen nicht, was sein unstillbar dürstendes Herz so lange erwartet hatte. Und immer fester zog er den nachgiebigen Strang.

Die Streletzer hatten die Stränge der übrigen Glocken erfaßt und erhoben ein vielstimmiges lautes Läuten, das ihren roten, blauen und gelben Hemden glich, und der wachsame Semjon erkannte sie von weitem. Er ging mit dem Kirchendiener um die Streleßkaja herum, war etwas betrunken und sehr heiter, und ironisch wiegte er den Kopf, während er auf das unharmonische, schier trunkene Läuten hinhorchte.

»Hör nur, was die da herausbekommen. Als verheirateten sie einen Kater mit einer Katze,« sagte er zu dem Psalmenleser, der von dem raschen Gang und den vielfachen Bewirtungen ganz rot im Gesichte war.

Merkuloff hörte diese wilde Disharmonie nicht, die Semjon von weitem erkannt hatte, und er empfand sie nicht. Er ergab sich völlig dem Kampfe mit dem kupfernen Ungetüm, und immer wütender hämmerte er auf die schwarzen Saiten, und es schien ihm, daß lautes Wehklagen, ein menschliches Schluchzen in der Stimme des seelenlosen Kupfers erklänge und erschauernd in die blaue, glänzende Ferne schwebe. Merkuloff hörte dieses Aufschluchzen, und stürmisches Frohlocken erfüllte seine Seele.

»Aha!« brummte er zwischen zusammengepreßten Zähnen. »Aha!«

Und wieder erscholl das sinnlos traurige Wehklagen, voll von Leid, wie das Meer von Wasser, entsetzlich und feurig wie die Wahrheit – ein neues menschliches Wehklagen schwebte in die blaue, milde Ferne. Wie ein Entsetzen vor der Allmacht des Menschen, der ihren seelenlosen Körper zu menschlicher Sprache zwang, erbebte die gigantische Glocke, und gehorsam weinte sie über das fremde menschliche Schicksal und trug sein machtvolles Flehen und seine Drohungen zum Himmel empor. Ohne zu wissen weshalb, wurden die fröhlichen Streletzer ernst, warfen die Stränge ihrer leichtsinnig klingelnden Glocken weg, und finster und unzufrieden über die ihnen unbegreifliche Traurigkeit horchten sie auf das ungestüme Dröhnen der Glocke und schauten auf den sich wie toll gebärdenden Schmied. Sein Gesicht war wie von Blut übergossen, die erregte zitternde Luft hob die schütteren Haare auf seinem Kopfe, und in den starken Händen des Hämmerers bewegte sich die schwere eiserne Zunge wie ein Federchen.

Immer qualvoller, immer schmerzlicher wurde das menschliche Wehklagen der bezwungenen Glocke. Merkuloff läutete mit den Händen, mit dem Herzen, das sich krampfhaft zusammenzog in seiner Brust; er läutete mit all der Sehnsucht und allem Kummer der siechen menschlichen Seele, die einsam und von allen vergessen lebt. Er läutete mit seinem ganzen Leben und über sein ganzes, dunkles Leben – und immer wütender, immer fordernder schlug er das Eisen auf die kupfernen Wände. Als wollte er jemanden erwecken, der sich weit, in unbekannter, blauer Ferne befindet, jemanden, der fest schläft und nicht hört, wie die Erde weint und schluchzt.

»Melde dich, du Unbekannter!« dröhnte die zitternde Glocke. »Melde dich, du Mächtiger, du Erbarmungsvoller! Blicke herab auf unsere herrliche Erde. Traurig ist sie wie eine Witwe, und ihre beleidigten und hungrigen Kinder weinen. Täglich geht die Sonne über die Erde auf, und freudig macht sie ihre Runde; doch ihr ganzes großes Licht vermag jene tiefe Dunkelheit nicht zu zerstreuen, die das leidende menschliche Herz erfüllt. Verloren ist die ganze Wahrheit des Lebens, und in der Lüge ersticken die unglücklichen Kinder der herrlichen Erde. Melde dich, du Unbekannter! Melde dich, du Mächtiger und Erbarmungsreicher!«

Die Hände des Schmiedes kannten die Müdigkeit nicht. Immer lauter und lauter hämmerte er auf die schwarzen Wände, und stürmisch schluchzte das klingende Kupfer:

»Melde dich!«

Die Streletzer sind nachdenklich geworden und schauen einander nicht an. Einer schlug die Rockschöße zurück, um den Tabak herauszunehmen, und blieb so stehen; sein Mund ist offen vor Staunen, die Augen folgen mit Angst und Hoffnung der schwerfällig flatternden eisernen Zunge, und das schmale Blättchen Zeitungspapier, das für die Zigarette bestimmt war, schwankte im Winde. Ein anderer stützte sich, die Hand auf die Brust gelegt, an das eiserne Geländer, blickt hinunter, sieht aber gar nichts: weder die flachen Dächer, die auf der Erde zu liegen scheinen, noch den in der Sonne glänzenden Fluß ... Er hört etwas Bekanntes in dem Schluchzen der Glocke, etwas Bekanntes und Trauriges. So weinte einst die Mutter; so hat er selbst geweint, und auch jetzt ist's ihm zum Weinen.

»Melde dich doch! Melde dich!«

Am Ende der Streletzkaja horcht Semjon auf das Glockenläuten. Er neigt den Kopf zur Seite und wiegt ihn mißbilligend. Dann holt er Vater Andrej ein und sagt:

»Väterchen, he, Väterchen! Die Glocke hat also doch einen Sprung. Längst schon sagte ich es Ihnen, und Sie wollten es nicht glauben. Nun, hören Sie doch selbst!«

Und mit geneigten Köpfen horchten sie, und die Frühlingssonne schien ihnen gerade in die Augen, und auf der Brust Vater Andrejs entzündete sie das goldene Kreuz.

 

4.

Merkuloff liebte es nicht, zu Boden zu blicken. Und während der ganzen heiligen Woche trug er den Kopf ein wenig zurückgeworfen und sah über die Köpfe hinweg. Und die ganze Woche war er nüchtern. Er läutete täglich von Mittag bis zur Abendmesse auf dem Glockenturme Wassilji des Großen, und nach der Abendmesse saß er neben dem Türmer Semjon, oder er ging auf zehn Werst ins Feld hinaus. Und erst nachts kehrte er zurück.

Am dritten Tage, kurz vor der Abendmesse, kam Semjon auf den Glockenturm. Der ermüdete Merkuloff ruhte aus. Der bucklige Schneider Snigir läutete jetzt mühsam und ohne jegliches Verständnis und rief schwankende, klirrende Töne aus der Glocke hervor.

»Laß mal!« sagte Semjon.

Der Schneider ließ verlegen lächelnd den Strang los und trat zur Seite, die Hände am Rücken unter dem Buckel zusammengelegt.

»Jetzt horch einmal, Gevatter,« wendete sich Semjon zu Merkuloff. »Ich will dir zeigen, wie man läuten muß.«

»Nun gut, so zeige!« sagte Merkuloff hochmütig.

Semjon nahm die Stränge der kleinen Glocken zwischen die Finger, stellte den Fuß auf das Brett, das die mittlere Glocke in Bewegung setzte, und befahl dem Buckligen:

»Zieh an, seltener aber ordentlich! Denk an dein Gewissen!«

Der schwächliche Schneider mühte sich noch mit der unnachgiebigen Zunge ab, vor Anstrengung lächelnd und erbleichend, als unter den Händen Semjons dis zarten, weichen Glöcklein zu sprechen begannen. Es war, als lachten Kinder, als liefen sie hastig, kreisten und stoben auseinander, und mit ihnen lachte auch die warme Luft, der alte Glockenturm lächelte hell, und ein ungewolltes Lächeln glitt über das trockene Antlitz Merkuloffs. Die harmonischen Töne atmeten Freude, klar wie der Himmel, und einem Erwachsenen gleich, der mit tiefem Tonfall in die klingenden hellen Stimmen kleiner Rinder verwirrend einfällt, fiel mit weichem Bariton die mittlere Glocke ein.

»Ja! ja! ja!«

Wie lustig, ach, wie lustig erklang es von den Kindern her.

»Ja! ja! ja!« stimmte gutmütig die Glocke ein.

Und es war so schön, so hell, so herzerfrischend, daß Merkuloff sich voll Entzücken auf die Schenkel schlug, und sein Gesicht, das an Lachen nicht gewöhnt war, verwandelte sich in ein Knäuel von Runzeln, in deren Mitte die schwarzen unruhigen Augen völlig verschwanden. Semjon warf ihm einen schiefen, forschenden Blick zu, und mit einem strengen und seltsam kalten Gesicht schleuderte er eine so grelle Garbe herausfordernder, singender Klänge in die Luft, daß ein Zittern den Buckel des schwächlichen Schneiders überlief und unten auf dem Platze zwei Vorübergehende stehen blieben, die ihre Köpfe nach oben richteten. Und die große Glocke, die nicht mehr gezwungen war, die wilden, wehklagenden Töne hervorzustoßen, ruhte friedlich in den dichten und gleichmäßigen Schlägen aus, die feierlich in die leuchtende, blaue Ferne schwommen. Und also sprachen die heiteren Glocken:

»Sieh, die herrliche Erde; freudig ist sie, wie die junge Mutter; und es frohlockt unter der Sonne, was sie geschaffen. Unsere Stimmen schweben in der Luft über das weite Feld, und die Lerche am Himmel und die leuchtenden Bächlein auf der Erde antworten. Horcht! Ihr hört ihre kristallenen Klänge; über die Grenzsteine, über Schluchten laufen sie, sie bohren schwarze Gänge unter den Schnee, und in einer Kaskade stürzen sie in den Fluß. Hier die einen – klein und kurz ist ihr Leben; von dem Hügelchen bis zur ersten Grube; zart und ängstlich klingt sie, und viel reine Freude liegt in ihrem Lallen. Dort die anderen, über Schluchten jagen sie dahin, tief und stürmisch; sie lösen den gelben Lehm vom Boden, unterwühlen den schwarzen Schnee und tragen seine Trümmer in die Freiheit des Flusses. Tollkühn und mächtig schallen ihre Stimmen, und das laute Lied der befreiten Erde rufen sie einander zu: Sieh, die herrliche Erde, freudig ist sie, wie die junge Mutter, und es frohlockt unter der Sonne, was sie geschaffen. Hörst du, wie das grüne Gras wächst und die Frühlingsknospen sprießen? Das ist die Wahrheit des Lebens.«

Semjon schloß. Der Bucklige hatte fast den Atem verloren, er preßte die knochigen, langen Finger an seine mißgestaltete Brust und lächelte; unten hatten sich Leute angesammelt, die die Köpfe nach oben reckten. Siegesbewußt den roten Bart emporhaltend, wendete sich der Glöckner an Merkuloff. Der stand auf seinen langen, gerade gestreckten Beinen neben den Glocken in der Haltung unbeugsamen und stolzen Protestierens und sah über den Kopf Semjons hinweg.

» So läuten wir,« sagte Semjon, »gelt, Gevatter.«

Merkuloff kaute mit dem zahnlosen Munde, warf einen Blick auf die Glocken, die Balken, an denen sie hingen, maß den Buckligen vom Kopf bis zu Füßen und erwiderte:

»Selbstverständlich sind Sie ein Meister, Semjon Sawetjitsch; aber das Richtige ist es doch nicht.«

»Natürlich, du kannst es,« antwortete Semjon mit ironischem Lächeln. »Wie ein Weib mit einem Stock auf ein Ofenrohr schlägt.«

Nach der Abendmesse ging Merkuloff nicht nach Hause, sondern er blieb beim Glöckner. Semjon trank Branntwein, den ihm Merkuloff aus irgendeinem unbegreiflichen Pflichtgefühl täglich kaufte, dann trank er lange Tee und als die Sonne schon untergegangen war, lud er den schweigsamen Gast ein, auf der Bank neben ihm Platz zu nehmen. Der Gipfel des weißen Glockenturmes brannte noch im Golde der untergehenden Frühlingssonne; durchsichtige Schatten lagen schon unten, und von den steinernen Wänden wehte bereits die Kälte der Nacht. Beide schwiegen; sie rauchten und verfolgten aufmerksam die Rauchwolken des Tabaks. Der blaue, duftende Rauch bewegte sich, schwebte langsam und zerfloß und ließ die Frische und den Duft der Frühlingsluft nur noch schärfer hervortreten. Semjon schwieg nicht gern lange. Es wurde ihm immer langweilig; und er begann ein Wort nach dem anderen von seinem Dienste in der Kirche, von den Wachskerzen etwas Uninteressantes zu erzählen, dann über den Charakter des Stifters der Kirche, über den Kaufmann Awdunoff. Von den Glocken und ihrem Läuten sprach er nichts. Merkuloff, der den geheimnisvollen, lautlosen Glockenturm hinter seinem Rücken fühlte, verzog die Stirne und wartete ungeduldig auf den Augenblick, wo Semjon über die Gegenwart sprechen würde, über die zu sprechen notwendig und interessant war. Und nicht imstande zu warten, unterbrach er den Glöckner:

»Gut läuten Sie, Semjon Sawetitsch.«

Wenn Merkuloff mit ihm über alltägliche Dinge sprach, die zum gewöhnlichen Leben gehören, nannte er ihn »Semjon« und »du«; wenn aber das Gespräch auf die Glocken und das Läuten kam, sagte er »Sie« mit dem Vaternamen.

»Ich läute gut,« stimmte Semjon mit ihm überein, »aber es ist auch eine Kunst!«

»Nicht jedem ist's gegeben.«

»Gewiß, nicht jedem,« bestätigte der Glöckner. »Man muß ein gutes Gehör haben, um es zu verstehen. Sonst wird ein spaßiges Katergeheul daraus.«

Merkuloff schwieg eine Weile.

»5ie werden verzeihen,« bemerkte er dann, »aber das Richtige fehlt Ihnen.«

»Was? Klang?«

»Ja, Klang.«

Semjon lächelte; er dachte wenig darüber nach, wie er läute. Aber von den Einwohnern hat er es erfahren, daß er gut und lustig läute; wußte er doch selbst, daß sich sein Herz freute, wenn er den Strang erfaßt.

»Vater Andrej sagt: ›Wenn du, Semjon,‹ sagt er, ›läutest, tanzen die Gläser auf meinem Tische.‹«

»Und die Seele?« fragte Merkuloff.

»Was ist mit der Seele?«

»Nun, sagen wir zum Beispiel: Ich habe eine Tochter, Marja, Marja Wassiljewna. Nun stößt sie ihr Mann mit dem Fuß in den Bauch und sie abortiert. Wie ist das dann? Soll man das nun so lassen?«

Doch Semjon hatte keine Lust das langweilige Gespräch über Marja fortzusetzen; er begann leise zu pfeifen, hob den roten Bart nach oben und betrachtete mit suchenden Augen den Himmel, wo der Tag noch nicht erstorben war und wo bald die silbernen Sterne aufflackern mußten. Auch Merkuloff verstummte und saß lange zornig die Lippen beißend da. Dann hellte sich sein Gesicht auf, und er sagte:

»Schön ist's bei Morgengrauen zu läuten, wenn noch alle schlafen. Dreinschlagen, – daß alle aus den Betten aufspringen.«

Semjon hielt im Pfeifen inne, betrachtete ruhig den Himmel und fragte gleichgültig:

»Und du, hast du schon gehört, wie man zur Morgenmesse einläutet?«

»Nein.«

»Eben, das ist's; und niemand hört es.«

Merkuloff wollte etwas erwidern, sah aber Semjon an, seinen gleichgültig nach oben gerichteten Bart und sagte finster:

»Leb wohl!«

Als Merkuloff am Schlagbaum vorüber auf die Straße kam, begann es schon zu dunkeln, und die Sterne, die Anfang hell und groß, wie silberne Fünfkopekenstücke aussahen, waren jetzt scharf und grell und schienen auf die Erde zu blicken. Nachdem Merkuloff etwa zwei Werst gegangen war, setzte er sich auf einen runden Meilenstein und verfiel in schweres Sinnen. – Er sann ohne Gedanken, ohne Worte, mit jenem tiefen, seltsamen Sinnen, das den Menschen wie der Schlaf lähmt. Er seufzte schwer und merkte nicht, wie er seufzte; er griff nach dem Tabak, drehte sich Zigaretten, rauchte und merkte es nicht. Ein Karren fuhr mit schläfrigem Gerassel an ihm vorüber, kleine Bäche, die von der eiligen Tagesarbeit im Kühlen ausruhten, plätscherten träge auf dem unsichtbaren Felde zu beiden Seiten der Straße; – er sah den Karren nicht, er hörte die Bächlein nicht. Und als er aufstand und sich erstaunt umblickte, weil er nicht wußte, wozu er hergekommen sei, ging in seiner Seele eine rätselhafte und komplizierte Veränderung vor sich, und im Herzen wurde es ihm so leicht und so froh.

»Narr, Semjon, wenn er auch Sawetitsch heißt!« dachte er lächelnd und schritt auf seinen Beinen, die sich nicht bogen, munter der Stadt zu. Er erinnerte sich daran, wie heute die große, ruhige Glocke in seinen Händen geschluchzt und er mit seinen leidenschaftlichen, rufenden Schlägen die blaue Ferne in Flocken zerrissen hatte, und so froh war es ihm zumute, daß er nicht an sich hielt und mit einsamem trockenen Lachen auflachte, das eigenartig erklang inmitten der Nacht und des Feldes.

Und alles, was früher geschehen war, verlor sich irgendwohin; es ist nicht mehr und man braucht nicht mehr daran zu denken. Und so hell wurde es in seinem Kopfe, wie zu Ostern in der Kirche, wenn jeder eine brennende Wachskerze in Händen hält.

»Narr du, Semjon,« wiederholte er laut und lachte von neuem.

Am Samstag läutete Merkuloff zum letztenmal. Und als ihm Semjon fast gewaltsam den Strang abnahm, war er blaß vor Aufregung und Müdigkeit, und seine Hände zitterten.

»Warte, warte doch,« bat er verwirrt den Glöckner und berührte seine Schulter vorsichtig mit zwei Fingern. »Ich muß noch ... noch einmal ... es muß sein.«

Der Glöckner stieß ihn lautlos und mißbilligend zurück, und Merkuloff verabschiedete sich mit gierigen Augen von der Glocke und ging. Und am Sonntag morgens erwachte er freudig und munter und konnte lange nicht verstehen daß er keine Veranlassung habe, irgendwohin zu gehen. Wie ein Mensch, der lange herumgereist und viele Abenteuer erlebt, betrachtete er mit Wohlwollen und Neugier seine schiefen Wände und die schwarze Decke und fand in ihnen nicht, was er erwartet hatte. Dann ging er in die Schmiede, berührte mit dem Finger die kalte Asche der Esse, spuckte hinein und beobachtete mit Interesse, wie sich der Speichel in der weichen Asche zu einer Kugel ballte, Dann ging er weiter und berührte die Pfeiler, von denen einer wackelte. So schlenderte er den ganzen Tag aus der Hütte in die Schmiede und aus der Schmiede in die Hütte. Dann ging er in seinem verdorrten Gärtchen lange umher, wo die kahlen, vertrockneten Himbeersträucher standen. Dann auf die Streletzkaja, um zuzuschauen, wie sich zwei Gruppen trunkener Streletzer um eine Harmonika rauften.

Und als er sich nach zwei Stunden aus Langeweile niederlegte, erweckte ihn Frauenwinseln, und vor seinen erschrockenen Augen sah er das blutige, entsetzliche Gesicht Marjas. Sie rang nach Atem, zerriß völlig das von ihrem Manne halbzerrissene Kleid und drehte sich sinnlos in der Hütte, immer wieder an die Ecken anstoßend. Es war kein Schreien mehr, was sie ausstieß, es war ein wildes Winseln, in dem man nur schwer die Worte verstehen konnte:

»O, er hat mich totgeschlagen.«

Merkuloff drehte sich mit ihr im Kreise, er konnte sie aber nicht erfassen. Ihr Kopf war zerschlagen, sie begriff nichts, und in wildem Entsetzen kratzte sie mit den Nägeln und heulte; das linke Auge war von einem Stiefelabsatz ausgeschlagen. –

Gegen Abend war Merkuloff betrunken. Er hatte mit seinem Schwiegersohn Taraschka gerauft, und beide hatte man auf die Wachstube geführt. Dort warf man sie auf den schmutzigen Asphaltboden, und aneinandergelehnt schliefen sie ihren trunkenen Todesschlaf wie Kameraden, und im Schlaf knirschten sie mit den Zähnen und hauchten einander den heißen Atem und den Geruch destillierten Branntweins ins Gesicht.


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