Leonid Andrejew
Die Geschichte von den sieben Gehenkten
Leonid Andrejew

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Die Mauern fallen

Der Unbekannte, der sich Werner nannte, war ein lebens- und kampfesmüder Mensch. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er das Leben heiß geliebt, Theater, Literatur und Verkehr mit Menschen genossen; mit wunderbarem Gedächtnis und festem Willen ausgestattet, beherrschte er mehrere europäische Sprachen bis zur Vollkommenheit und konnte sich ruhig als Deutscher, Franzose oder Engländer ausgeben. Deutsch sprach er gewöhnlich mit etwas bayrischem Akzent, konnte aber, wenn er wollte, wie ein geborener Berliner sprechen. Er liebte es, sich gut zu kleiden, hatte vorzügliche Manieren und war der einzige aus seinem Kreise, der es wagen durfte, ohne Gefahr, erkannt zu werden, die Bälle der großen Welt zu besuchen.

Schon längst reifte in seiner Seele, von seinen Freunden unbemerkt, eine tiefe Verachtung für die Menschen und eine dumpfe Todesmattigkeit. Eher Mathematiker als Dichter von Natur, kannte er bisher weder Begeisterung noch Ekstase und kam sich zu Zeiten wie ein Wahnsinniger vor, der die Quadratur des Zirkels in Strömen menschlichen Blutes sucht. Der Feind, gegen den er täglich zu kämpfen hatte, konnte ihm keine Achtung abgewinnen; das war ein dichtes Gewebe von Borniertheit, Verrat, Lüge, schmutziger Verleumdung, abscheulicher Betrügereien. Was endgültig die Lebenslust in ihm ausgelöscht hatte, war die Ermordung eines Provokators, die er auf Befehl des Komitees ausgeführt hatte. Er hatte ihn ruhig getötet; als er aber in das leblose, falsche, jetzt stille, immerhin Mitleid erregende Gesicht gesehen – verlor er mit einemmal die Achtung vor sich und seiner Sache. Nicht, daß er Reue empfunden hätte, er hörte einfach auf, sich zu achten, wurde sich selbst uninteressant, gleichgültig, fremd, langweilig. Aus dem Komitee trat er als Mensch von unbeugsamem Willen nicht aus und blieb äußerlich derselbe, nur in den Augen lag etwas Kaltes, Unheimliches.

Er besaß ferner noch eine seltene Eigenschaft. Wie es Menschen gibt, die keine Kopfschmerzen kennen, so kannte er keine Furcht; wenn andere sich fürchteten, so verhielt er sich kritiklos dazu, aber auch ohne Mitgefühl, wie zu einer ziemlich verbreiteten Krankheit, an der er selbst nie gelitten hatte. Seine Kameraden, besonders Waßja Kaschirin, bedauerte er; aber dies war ein kaltes, fast offizielles Bedauern, dessen gewiß auch manche Richter fähig sind.

Werner wußte, daß die Hinrichtung nicht den Tod allein bedeutete, sondern etwas anderes, war aber fest entschlossen, dem Tode ruhig, wie etwas Gleichgültigem entgegenzutreten, bis zum Tode so zu leben, als wäre nichts geschehen und würde nichts geschehen. Dadurch allein konnte er seine tiefe Verachtung für die Todesstrafe ausdrücken und sich die letzte, unantastbare Geistesfreiheit bewahren. Und vor Gericht – selbst seine Kameraden, die seine kalte Unerschrockenheit und seinen Hochmut kannten, hätten es nicht geglaubt – dachte er weder an Leben noch Tod, sondern spielte in Gedanken mit großer Aufmerksamkeit eine schwierige Schachpartie. Er war vorzüglicher Spieler, hatte am ersten Tage seiner Gefangenschaft die Partie begonnen und setzte sie unbeirrt fort. Und das Urteil zum Tode am Galgen verschob keine Figur auf dem unsichtbaren Brett.

Selbst die Vermutung, daß er die Partie nicht würde beenden können, schreckte ihn nicht; und den Morgen des Tages, der ihm als letzter auf Erden geblieben, begann er damit, daß er einen gestrigen, nicht ganz glücklichen Zug korrigierte. Die Hände in den Knien saß er lange unbeweglich, dann stand er auf und ging in Gedanken auf und nieder. Er hatte einen eigentümlichen Gang; den Oberkörper leicht vorgebeugt, trat er mit den Absätzen fest und sicher auf; sogar auf trockener Erde hinterließen seine Tritte tiefe sichtbare Spuren. Leise, in einem Atemzug pfiff er eine einfache italienische Melodie – das half ihm nachdenken.

Diesmal wollte es nicht gehen. Im unangenehmen Gefühl, einen großen, sogar groben Fehler begangen zu haben, hielt er ein paarmal inne und prüfte die Partie von Anfang an. Er fand keinen falschen Zug, aber das Bewußtsein eines Fehlers verließ ihn nicht, wurde stärker und unangenehmer. Und plötzlich tauchte der unerwartete und kränkende Gedanke auf: Liegt nicht am Ende der Fehler darin, daß ich meine Gedanken durch das Schachspiel von der Hinrichtung ablenken, mich vor jener Todesfurcht bewahren möchte, welcher scheinbar kein Verurteilter entrinnen kann?

– Nein, wozu denn? antwortete er sich kalt und klappte ruhig das unsichtbare Brett zu. Und mit derselben Sammlung, derselben Aufmerksamkeit, mit der er gespielt hatte, suchte er sich wie bei einem strengen Examen Rechenschaft von der Hoffnungslosigkeit und Furchtbarkeit seiner Lage zu geben. Er prüfte, nichts übersehend, seine Zelle, zählte die Stunden bis zur Hinrichtung, machte sich ein ungefähres, ziemlich richtiges Bild von der Hinrichtung und zuckte die Achseln.

– Nun und? sagte er halb fragend, halb antwortend. Ist das alles? Wo bleibt die Furcht?

Die Furcht kam wirklich nicht. Sondern etwas ganz anderes, Gegenteiliges, das Gefühl einer unklaren, aber mächtigen, überwältigenden Freude erwuchs in ihm. Und der Fehler, den er noch immer nicht gefunden hatte, ärgerte und verdroß ihn nicht mehr, sondern erzählte seinerseits laut von etwas Schönem, Unerwartetem, als hätte er einen lieben, guten Freund tot geglaubt, und dieser Freund steht plötzlich lebendig und unversehrt vor ihm und lacht.

Wieder zuckte Werner die Achseln und fühlte seinen Puls; das Herz klopfte schneller, aber fest und gleichmäßig mit besonders hellem Schlag. Er betrachtete noch einmal wie ein Neuling im Gefängnis die Wände, das Gitter, den an die Diele geschraubten Stuhl und dachte:

– Warum ist mir so leicht und frei zumut? Besonders frei. Ich denke an die morgige Hinrichtung – sie ist nicht da. Ich schaue die Wände an und – sie sind nicht da. So frei, als wäre ich nicht im Gefängnis, sondern eben aus einem Kerker entlassen, in dem ich mein Leben lang gesessen; was ist denn das?

Seine Hände begannen zu zittern, eine nie dagewesene Erscheinung bei ihm. Immer heftiger arbeitete das Gehirn. Als zuckten Feuerzungen durch seinen Kopf, als wollte das Feuer nach außen schlagen und weithin die nächtliche, noch dunkle Welt erleuchten. Und es schlug hinaus, und weithin erstrahlte die Welt.

Verschwunden war die dumpfe Müdigkeit, die Werner die letzten zwei Jahre gequält hatte, die kalte, tote, drückende Schlange war mit festen Augen und im Tode geschlossenem Rachen vom Herzen gefallen . . ., angesichts des Todes kehrte die schöne Jugend zurück. Und mehr als die schöne Jugend. Mit jener wunderbaren Geistesklarheit, die dem Menschen in seltenen Momenten beschert wird und ihn zu den höchsten Höhen der Erkenntnis trägt, sah Werner plötzlich Leben und Tod und staunte über die Großartigkeit des nie gesehenen Schauspiels. Als schreite er auf einem hohen Bergrücken, so schmal wie die Schneide eines Messers, und sehe auf der einen Seite Leben, auf der andern Tod, zwei wunderbare, tiefe Meere, die am Horizont zu unbegrenzter, weiter Fläche zusammenfließen.

– Was ist das? Welch göttlicher Anblick! dachte er langsam und stand unwillkürlich wie in Gegenwart eines höheren Wesens auf. Und Wände, Raum und Zeit mit erleuchtetem Blick durchdringend, schaute er weit, weit in die Tiefe seines Lebens, von dem er für immer schied.

Und ganz neu sah er dieses Leben vor sich. Er suchte nicht mehr wie vorhin, das Geschehene in Worte zu kleiden. Es gab ja auch gar keine Worte dafür in dieser armseligen, noch so dürftigen menschlichen Sprache. Das Niedrige, Schmutzige und Böse, das in ihm die Verachtung für die Menschen geweckt und sogar Abscheu beim Anblick eines Menschengesichtes erregt hatte, war vollständig verschwunden. So verschwinden für einen Menschen, der mit dem Luftballon aufsteigt, Schmutz und Unrat der engen Gassen des zurückbleibenden Städtchens, und die Häßlichkeit wird zur Schönheit.

Werner war an den Tisch getreten und stützte die Hand auf. Stolz und gebieterisch von Natur, hatte er noch nie eine so stolze, freie und gebieterische Haltung eingenommen, noch nie den Kopf so gehalten, noch nie so geblickt . . . denn noch nie war er so frei und mächtig gewesen wie hier im Gefängnis, ein paar Stunden vor der Hinrichtung und dem Tode.

Und neu und herrlich erschienen die Menschen seinem erleuchteten Blick. Über die Zeit erhaben, erkannte er deutlich, wie jung doch noch die Menschheit war, gestern ein wildes Tier im Walde heulend; und das, was er so abschreckend, scheußlich, unverzeihlich in den Menschen gefunden – wurde ihm plötzlich so lieb – so lieb, wie dem Erwachsenen des Kindes Unvermögen, zu gehen, sein unzusammenhängendes Gestammel, das Genialität verrät, seine komischen Anstrengungen und ruckweisen Bewegungen.

– Ihr Lieben! lächelte Werner und hatte plötzlich das Imponierende seiner Haltung verloren, war wieder Arrestant geworden, der es eng und unbehaglich hinter Schloß und Riegel findet, und von dem ewigen, neugierigen Auge in der Türöffnung gelangweilt ist. Und merkwürdig: Ebenso plötzlich hatte er vergessen, was er eben erst so deutlich und erhaben gesehen, und noch merkwürdiger: Er versuchte nicht einmal, daran zu denken. In lässiger Haltung, ohne die gewohnte Strammheit betrachtete er mit fremdem, Werner unähnlichem sanftem Lächeln Wände und Gitterstäbe.

Und noch etwas Neues passierte Werner, was ihm noch nie geschehen: Er begann zu weinen.

– Liebe Kameraden . . ., flüsterte er und weinte heftig, . . . liebe Kameraden . . .

Auf welch heimlichem Wege war er vom Gefühl der Überlegenheit und unbegrenzten Freiheit zu diesem Ausbruch zärtlich leidenschaftlichen Mitleids gelangt? Er wußte es nicht und dachte nicht darüber nach. Beweinte er seine lieben Kameraden oder bargen seine Tränen noch etwas Höheres, Inbrünstigeres? Auch das wußte sein plötzlich auferstandenes, neu ergrünendes Herz nicht. Er weinte und flüsterte:

– Liebe Kameraden . . . meine lieben, lieben Kameraden . . .

In diesem bitterlich weinenden, unter Tränen lächelnden Menschen hätte niemand den stolzen, kalten, müden und unerschrockenen Werner wiedererkannt. Weder die Richter, noch die Kameraden, noch er selbst.


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