Leonid Andrejew
Die Geschichte von den sieben Gehenkten
Leonid Andrejew

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I

Um ein Uhr mittags, Exzellenz . . .

Mit größtmöglicher Schonung, jede Veranlassung zu schädlicher Aufregung vermeidend, suchte man dem Minister, der sehr korpulent und zu Schlaganfällen geneigt war, Mitteilung von einem Attentat, das auf ihn geplant wurde, zu machen. Der Minister nahm die Nachricht ruhig, sogar mit einem Lächeln auf, und man berichtete näheres: das Attentat war auf den folgenden Tag, wenn der Minister zum Vortrag ausfahren würde, festgesetzt worden. Nach Aussage eines Provokators sollten sich um ein Uhr mittags mehrere Terroristen, die zurzeit von Spionen scharf beobachtet wurden, vor dem Portal des Ministerpalais versammeln und den Minister mit Revolvern und Bomben erwarten. Hier würde man sie auch verhaften.

– Halt, sagte der Minister erstaunt, woher wissen sie, daß ich gerade um ein Uhr mittags zum Vortrage fahren werde, wo ich es selbst erst vorgestern erfahren habe?

Der Chef der Schutzwache zuckte die Achseln.

– Punkt ein Uhr mittags, Exzellenz . . .

Halb betroffen, halb mit Bewunderung für die Polizei, die alles so vorzüglich bewerkstelligt hatte, schüttelte der Minister den Kopf und verzog die dicken, dunkeln Lippen zu einem grämlichen Lächeln. Mit demselben Lächeln, von dem Wunsche beseelt, die Polizei auch in weiterem nicht zu hindern, machte er sich gehorsam bereit und begab sich für die Nacht in ein bekanntes gastliches Palais. Auch seine Frau und beide Kinder wurden aus dem gefährdeten Hause, vor dem sich morgen die Bombenwerfer einfinden sollten, entfernt.

Solange in dem anderen Palais die Lichter brannten, bekannte, liebenswürdige Gesichter ihm zunickten, lächelten und entrüstet taten, befand sich der hohe Würdenträger in einem Gefühle angenehmer Erregung, als hätte man ihm eine große, unerwartete Auszeichnung verliehen, oder würde es sogleich tun. Aber man trennte sich, die Lichter erloschen, und durch die Spiegelscheiben fiel von draußen das elektrische Licht auf Fußboden und Wände, es gehörte nicht zu diesem Hause mit seinen Bildern, Statuen und seiner Stille, kam von der Straße und erweckte, selbst still und unbestimmt, den peinlichen Gedanken an die Nutzlosigkeit der Riegel, Mauern und Schutzwachen. Und hier, bei Nacht, in der Stille und Einsamkeit des fremden Schlafgemaches erfaßte den hohen Beamten unerträgliche Qual.

Er hatte etwas mit den Nieren, und bei jeder stärkeren Aufregung schwollen ihm Gesicht, Hände und Füße, was ihn noch größer, dicker und massiver erscheinen ließ. Jetzt, wo er sich wie ein Berg aufgetriebenen Fleisches über den zusammengepreßten Sprungfedern wölbte, fühlte er mit der Bitterkeit eines kranken Menschen sein geschwollenes, ihm gleichsam fremdes Gesicht und dachte unausgesetzt an das harte Geschick, welches die Menschen ihm bestimmt hatten. Er entsann sich nacheinander aller kürzlich stattgefundenen grauenvollen Ereignisse, wo man auf Leute seines Standes und noch höher gestellte Persönlichkeiten Bomben geworfen hatte. Die Bomben hatten den Körper in Fetzen gerissen, das Gehirn spritzte gegen schmutzige Backsteinwände, die Zähne flogen aus ihrem Gehege. Die Folge dieser Rückerinnerungen war, daß ihm der eigene kranke, ausgestreckte Leib bereits fremd, wie von der Kraft der Explosion getroffen, vorkam. Schon fühlte er deutlich, wie sich die Arme an den Schultern vom Rumpfe lösten, die Zähne ausfielen, das Gehirn in Stücke ging, die Füße erstarben und gehorsam dalagen, die Zehen nach oben, wie bei einem Toten. Er bewegte sich angestrengt, atmete laut und hustete, um ja nicht an eine Leiche zu erinnern, umgab sich mit dem hellen Klingen der Sprungfedern und raschelte mit der Decke; und als Beweis, daß er ganz lebendig, weit davon entfernt zu sterben war, wie jeder andere Mensch, rief er mit seiner Baßstimme laut und abgerissen durch die Stille und Einsamkeit des Schlafzimmers:

– Teufelskerle! – Teufelskerle! – Teufelskerle!

Damit meinte er die Spitzel, Polizisten und Soldaten, die sein Leben schützten und ihn so vorsorglich und rechtzeitig vom Attentat in Kenntnis gesetzt hatten. Während er sich hin und her wälzte, seine Retter lobte und sich zu einem geringschätzigen Lächeln zwang, das seinen Spott über die Terroristen, diese dummen Pechvögel, ausdrücken sollte – glaubte er doch nicht fest an seine Rettung, war nicht ganz sicher, ob man ihm nicht doch noch das Leben nehmen würde. Der Tod, den die Menschen ihm zugedacht hatten, und der ja nur in ihrer Idee existierte, schien hier zu stehen und würde hier stehen, bis man die Attentäter gefangen, der Bomben beraubt und in festes Gewahrsam gebracht hatte. Dort, in diesem Winkel, stand er und rührte sich nicht, durfte es nicht, wie ein gehorsamer Soldat, der auf höheren Befehl Schildwache steht.

– Um ein Uhr mittags, Exzellenz . . . ertönte es in allen Nuancen: bald heiter spöttisch, bald bedauernd, bald eigensinnig und dumm. Als hätte man hundert Grammophone in seinem Schlafzimmer aufgezogen, die mit dem Idioteneifer der Maschine die anbefohlenen Worte herausschrien:

– Um ein Uhr mittags, Exzellenz . . .

Und dieses morgige »ein Uhr mittags«, das sich vor kurzem durch nichts von jeder anderen Tageszeit unterschieden hatte und nur eine langsame Bewegung des Zeigers auf dem Zifferblatt seiner goldenen Uhr bedeutete, war plötzlich ein unheilvolles Faktum geworden, aus dem Zifferblatt gesprungen, lebte für sich weiter, dehnte sich wie ein langer schwarzer Stab in die Länge, das Leben in zwei Hälften teilend. Als existiere vor- und nachher keine andere Stunde, und nur diese eine hätte frech und anmaßend das Recht auf ein gesondertes Dasein.

– Was willst du von mir? fragte der Minister wütend.

Die Grammophone schmetterten:

– Um ein Uhr mittags, Exzellenz . . . Und der schwarze Stab verbeugte sich grinsend. Zähneknirschend richtete sich der Minister im Bett auf und stützte das Gesicht in die Hand. Mit dem Schlaf war es in dieser abscheulichen Nacht endgültig vorbei.

Das Gesicht zwischen den gerungenen, parfümierten Händen, stellte er sich mit erschreckender Deutlichkeit vor, wie er am nächsten Morgen nichtsahnend aufgestanden wäre, nichtsahnend seinen Kaffee getrunken und sich darauf im Vorzimmer angekleidet hätte. Weder er, noch der Portier, der ihm den Pelz hielt, noch der Lakai, der ihm den Kaffee servierte, hätten gewußt, wie witzlos es war, Kaffee zu trinken und den Pelz anzuziehen, wenn doch ein paar Augenblicke nachher dies alles – der Pelz und sein Leib und der Kaffee darin – durch eine Explosion vernichtet wurde. Der Portier öffnet die Glastür, der liebe, brave, freundliche Portier mit den hellblauen Soldatenaugen und den Orden über die ganze Brust, öffnet mit eigener Hand die schreckliche Tür – öffnet sie, weil er nichts ahnt. Alle lächeln, weil sie nichts ahnen. –

– Oho, sagte er plötzlich laut und zog die Hände vom Gesicht. Mit angespanntem Blick vor sich ins Dunkel starrend, streckte er langsam die Hand aus, tastete nach dem Knopf und drehte das Licht auf. Dann erhob er sich und durchwanderte aus dem Teppich ohne Pantoffeln, mit bloßen Füßen, das fremde, ungewohnte Schlafgemach, fand den Knopf der Wandlampe und entzündete auch diese. Jetzt war es hell und behaglich, und nur das verwühlte Bett mit heruntergerutschter Decke redete von eben erst überstandenem Entsetzen.

In Nachtwäsche, mit vom unruhigen Liegen wirrem Bart und bösen Augen sah die hohe Persönlichkeit nicht anders aus als jeder andere verärgerte Greis, der an Schlaflosigkeit und Atemnot leidet. Als hätte ihn der Tod, welchen die Menschen für ihn bestimmt hatten, entkleidet und von all dem Prunk und der imposanten Herrlichkeit seiner Umgebung losgerissen. Kaum zu glauben war's, daß er so viel Macht besaß, daß dieser gewöhnliche menschliche Körper im Feuer und Getöse einer gewaltigen Explosion umkommen mußte. Unangekleidet, ohne Kälte zu empfinden, setzte er sich in den ersten besten Lehnstuhl, stützte den wirren Bart in die Hand und starrte in tiefen Gedanken zur reichen Stukkatur der Stubendecke hinaus.

– Aha, das war's! Das also beunruhigte ihn. Darum stand der Tod in der Ecke und rührte sich nicht, durfte sich nicht rühren.

– Esel! sagte er verächtlich und mit Nachdruck.

– Esel! wiederholte er noch lauter und wandte den Kopf zur Tür, damit die, auf welche es sich bezog, es hören konnten. Und zwar bezog es sich auf die, welche er vor kurzem »Teufelskerle« genannt hatte, und die ihm in ihrem Übereifer von dem geplanten Attentat berichtet hatten.

– Nun natürlich, sagte der Minister, und seine Gedanken lenkten plötzlich in ruhigere Bahnen ein. – Jetzt wo sie es mir gesagt haben, weiß ich es und fürchte mich. Sonst hätte ich nichts gewußt und ruhig meinen Kaffee getrunken. Dann natürlich wäre der Tod gekommen – ja aber fürchte ich mich denn vor dem Tode? Meine Nieren sind krank, und sterben muß ich sowieso einmal, aber ich fürchte mich nicht, weil ich nicht weiß, wann es sein wird. Diese Esel! Mir zu sagen: Um ein Uhr mittags, Exzellenz . . . und dabei bilden sie sich ein, ich würde mich freuen. Statt dessen steht der Tod in der Ecke und rührt sich nicht. Rührt sich nicht, weil es mein Gedanke ist. Nicht der Tod ist schrecklich, aber das Vorauswissen des Todes; kein Mensch könnte leben, wenn er ganz genau Tag und Stunde seines Sterbens vorauswüßte. Und diese Esel müssen mich vorbereiten: um ein Uhr mittags, Exzellenz . . .

Ganz leicht und wohlig wurde ihm zumut, als ob er nie, nie sterben würde. Er fühlte sich wieder stark und klug unter dieser Herde Dummköpfe, die sich so witzlos in die Geheimnisse der Zukunft drängten, und mit dem schwerfälligen Sinn eines alten, kranken, vielgeplagten Menschen dachte er an das Glück der Ungewißheit. Keinem Lebewesen, weder Mensch noch Tier, sind Tag und Stunde seines Todes bekannt. Vor kurzem war er krank gewesen, die Ärzte hatten ihn aufgegeben und aufgefordert, seine letzten Bestimmungen zu treffen. Er aber glaubte ihnen nicht und war wirklich am Leben geblieben. In jungen Jahren war er einmal in arge Verlegenheit geraten und hatte beschlossen, seinem Leben ein Ende zu machen; der Revolver lag bereit, Briefe waren geschrieben, die Stunde für den Selbstmord war bestimmt – da, kurz vorher hatte er sich eines anderen besonnen. Im letzten Moment konnte sich noch immer etwas ändern, ein unerwartetes Ereignis konnte eintreten, weshalb niemand voraus weiß, wann er sterben wird.

– Um ein Uhr mittags, Exzellenz . . . hatten ihm diese beflissenen Esel gesagt. Obschon sie es nur getan, weil dem Tode vorgebeugt war, so erfüllte ihn der bloße Gedanke an eine mögliche Stunde mit Entsetzen. Sehr wahrscheinlich würden sie ihn doch noch einmal umbringen, jedenfalls aber nicht morgen – morgen nicht – er konnte ruhig schlafen, wie ein Gefeiter. Esel! Sie wußten nicht, welch großes Gesetz sie von der Stelle gerückt, welchen Vorhang sie mit ihrem idiotisch beflissenen »um ein Uhr mittags, Exzellenz« gelüftet hatten.

– Nein, nicht um ein Uhr mittags, ganz ungewiß, wann. Ganz ungewiß, wann, wie?

– Nichts, antwortete die Stille.

– Nein, du sagtest da etwas.

– Unsinn! Ich sage: morgen um ein Uhr mittags.

Und mit jähem, stechendem Schmerz im Herzen begriff er, daß Schlaf und Gemütsruhe nicht eher zu ihm zurückkehren würden, als bis diese verfluchte schwarze, aus dem Zifferblatt gesprungene Stunde vorüber war. Nur der Schatten dessen, was kein Mensch wissen darf, stand dort in der Ecke und war genügend, dem Menschen das Licht zu rauben, ihn mit dem undurchdringlichen Dunkel des Entsetzens zu umgeben. Die einmal geweckte Todesfurcht überlief den ganzen Körper, setzte sich in den Knochen fest und streckte ihr blasses Gesicht aus jeder Pore.

Jetzt fürchtete er sich schon nicht mehr vor seinen Mördern – die waren verschwunden, vergessen, vermischten sich mit der Unzahl feindlicher Gesichter und Erscheinungen, die ihn sein Leben lang umgaben, – sondern vor etwas anderem, Plötzlichem, Unvermeidlichem, einem Schlaganfalle, Herzschlag . . . irgendeine dumme, feine Aorta hielt plötzlich nicht mehr dem Andrange des Blutes stand und platzte wie ein zu straff gezogener Handschuh an dicken Fingern.

Sein kurzer, fetter Hals beängstigte ihn, der Anblick der gedrungenen Finger wurde ihm unerträglich. So kurz waren sie, so voll von dieser todbringenden Flüssigkeit . . . Wenn er sich vorher im Dunkel bewegen mußte, um nicht tot zu erscheinen, so war es ihm jetzt unmöglich, die Hand auszustrecken, nach einer Zigarette zu greifen oder zu klingeln. Seine Nerven strafften sich. Jeder Nerv glich einem verbogenen, sich bäumenden Draht mit kleinem Kopf an der Spitze, dessen blöde Augen vor Entsetzen herausquollen, während der stumme, krampfhaft aufgerissene Mund nach Luft schnappte. – Luft! – Luft! –

Und plötzlich schrillte in der Dunkelheit irgendwo an der Decke zwischen Staub und Spinngewebe die elektrische Klingel. Das kleine Zünglein schlug hastig gegen die Metallschale, schwieg eine Weile und erbebte von neuem in namenlosem Entsetzen. Seine Exzellenz schellte vom Schlafzimmer.

Die Leute liefen zusammen. Hier und da flammten einzelne Lämpchen am Kronleuchter und an der Wand auf – zu wenig, um Helligkeit zu geben, genügend, um die Schatten zu wecken. Überall tauchten sie auf, hoben sich aus den Winkeln, huschten über die Decke, klammerten sich an jede Erhöhung und lehnten sich gegen die Wände. Unbegreiflich war es, wo sich vorher all diese zahllosen, verkrüppelten, schweigenden Schatten – die sprachlosen Seelen sprachloser Dinge – aufgehalten hatten.

Jemand redete laut mit tiefer, vibrierender Stimme. Dann telephonierte man dem Arzt: der Minister fühle sich unwohl. Auch die Gemahlin seiner Exzellenz wurde herberufen.


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