Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.
Emmerson berichtet

Sir Gregory las voll Interesse das Geständnis Bill Scarfes. »Um wieviel bringt uns das nun in der Angelegenheit weiter?« fragte er, indem er mit den Fingern auf dem Papier trommelte.

»Es zeigt uns den Zusammenhang zwischen dem Mord an Camden Hale und dem Plutarch-Raub,« erklärte Kay, »es besteht kein Zweifel daran, daß derselbe Mann beide Verbrechen ausführte. Noch mehr, wir haben eine wichtige Beschreibung des Täters. Das heißt, wenn wir uns auf Scarfes Bekenntnis verlassen können.«

Sir Gregory nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht, aber nach deiner Beschreibung hat Scarfe wenig Phantasie, und ich glaube nicht, daß er sich in so kurzer Zeit so viele Einzelheiten ausgedacht hat.«

»Ich glaube auch, daß wir uns auf seine Beschreibung verlassen können,« antwortete Kay. »Scarfe hatte große Angst, und ich nehme an, er hat die Wahrheit gesagt. Wie er gesteht, hat er den Mann mehrere Male gesehen. Der ›Würger‹ – wie er sich selbst nennt – erscheint immer geheimnisvoll, und sein Gesicht ist jedesmal mit einer schwarzen Maske verdeckt, die in langen Fransen bis zum Kinn hängt. Er will sich scheinbar mit einem Kranz von Legenden umgeben; wenn er seine Anhänger an seine übermenschliche Kraft glauben macht, wird er sie noch enger an sich knüpfen.«

Wieder nickte Sir Gregory. »Es ist ziemlich sicher, daß er ein gebildeter Mensch ist, und ich würde nicht überrascht sein, wenn wir herausfänden, daß er sogar zur guten Gesellschaft gehört.«

Kay warf ihm einen Blick zu. »Denkst du dabei an eine bestimmte Person?« fragte er offen.

»Ja – ja,« antwortete Sir Gregory zögernd.

»Ich glaube, ich weiß, an wen du denkst, aber wenn du dich nach der Angabe richtest, daß der Verbrecher schwarze Augen und Haare hat, kannst du halb London verhaften, ohne einen Schritt weiterzukommen.«

»Ich freue mich, daß du so denkst,« seufzte der andere erleichtert, »wir können auf Grund einer bloßen Vermutung nicht handeln. Scarfe wird doch beobachtet, nicht wahr?«

»Von dem Augenblick an, als er das Gericht verließ,« berichtete Kay prompt, »er wurde bis zum ›grauen Bock‹ verfolgt. Emmerson hat ihn übrigens heute morgen dort besucht.«

»Emmerson!« rief Sir Gregory voll Überraschung.

Kay nickte. »Es sieht so aus, als ob er die Verbindung zwischen den beiden Fällen entdeckt hat. Er hat das Bekenntnis Scarfes natürlich noch nicht gesehen, wenn – – –«

Er zögerte, als ob er abgeneigt wäre, eine direkte Anschuldigung zu erheben.

»Ich glaube nicht, daß es irgendein ›wenn‹ gibt,« sagte Sir Gregory milde, so mild, daß Kay schnell aufblickte und in die halb lächelnden, halb scharfen Augen des anderen sah.

»Aber,« wandte er ein, »du sagtest doch vor einigen Minuten gerade das Gegenteil.«

Sir Gregory schüttelte seinen Kopf.

»Ich fürchte, daß ich mich dann nicht deutlich genug ausgedrückt habe,« sagte er, »aber wenn du dir beide Äußerungen überlegst, wirst du vielleicht zu der Einsicht kommen, daß beide Ansichten richtig sein können.«

»Aber noch –,« begann der jüngere von beiden, als das Telefon auf dem Tisch läutete.

Sir Gregory nahm den Hörer und sprach.

»Wer?« sagte er. »Ja! Lassen Sie ihn sofort heraufkommen.«

Er hängte an und wandte sich an Kay.

»Wenn du vom Teufel sprichst –,« gab er auf die Frage in den Augen des anderen zur Antwort, »Emmerson hat etwas zu berichten.«

»Ich bin neugierig, was es ist.«

»Ich hoffe nur, daß es Licht auf das Geheimnis wirft,« meinte der Chef, als sein Neffe warnend den Finger hob.

»Kommen Sie herein!« antwortete er auf das Klopfen, und Emmerson betrat lächelnd das Zimmer.

»Nehmen Sie Platz,« sagte Sir Gregory, auf einen Stuhl deutend, »und lassen Sie uns die letzten Neuigkeiten hören, Doktor!«

Er war hier der einzige, der Emmerson mit seinem Titel ansprach, und der war so wenig daran gewöhnt, daß er sich unwillkürlich umsah, ob vielleicht noch eine vierte Person anwesend sei. Während er über sich selbst lächelte, ließ er sich in den bezeichneten Stuhl fallen.

»Es sind eigentlich keine Neuigkeiten, sondern es ist eine Theorie, die ich habe,« schickte er voraus.

»Theorien sind immer interessant,« warf Kay kurz ein, und Sir Gregory nickte, obgleich seine Mundwinkel einige Male zuckten.

»Nun,« begann Emmerson, indem er sich eigentlich mehr an den Chef wandte, »ich habe ein bißchen nachgeforscht und daraus meine Schlüsse gezogen und bin zu der Annahme gekommen, daß hier eine sehr geschickte Verbrecherorganisation am Werk ist, und daß derselbe Mann sowohl für den Mord an Camden Hale als auch für den Plutarch-Raub verantwortlich ist.«

»Wieso?«

»Nun, um damit zu beginnen, in beiden Fällen handelt es sich um eine große Summe.«

»Beim Plutarch-Raub sicher, aber wie war es denn bei der Ermordung Camden Hales?«

»Vielleicht erinnern Sie sich daran,« erklärte der Arzt, »daß Hale am Tage seines Todes tausend Pfund von der Bank abhob, und daß das Geld verschwunden ist. Ich gebe zu, daß es nur eine Annahme ist, daß das Verschwinden des Geldes mit dem Mord an Hale zusammenhängt, aber Sie werden zugeben, daß es sehr wahrscheinlich ist.«

»Eine sehr gute Theorie,« bestätigte Sir Gregory mit freundlichem Lächeln, »sonst noch etwas?«

»Ja. Ich glaube, daß es sich bei dem Plutarch-Raub nicht um zwei, sondern nur um einen Wagen handelt.«

»Wie?« Kay war es, der die Frage ausstieß.

Emmerson wiederholte seine Meinung.

»Aber,« unterbrach Sir Gregory, »sowohl der Fahrer des verfolgten Wagens als auch Ferris Mance selbst sahen zwei Wagen.«

Emmerson schüttelte bedächtig den Kopf. »Sie sahen sie nicht, und ich glaube auch nicht, daß sie mit Bestimmtheit behaupteten, daß sie sie gesehen hätten. Ich nehme zwar an, daß sie jetzt bereit sind zu beschwören, daß sie zwei Wagen sahen, aber hat man beide Wagen gleichzeitig gesehen?«

»Ich folge Ihnen nicht ganz,« sagte Sir Gregory mit einem erstaunten Ausdruck.

»Lassen Sie es mich erläutern! Die Verfolger sahen den Wagen mit den Räubern fortfahren. Dann verloren sie ihn für einen Augenblick aus den Augen. Später erblickten sie einen Wagen, der dem ersten ähnlich war, und als sie ihn überholten, war nur der Fahrer drin. Der Mann konnte sich ausweisen und durfte gehen. Mit anderen Worten, er gab ein Alibi. Es war an den Punkten, wo man es hätte angreifen können, einwandfrei. Wie ich schon sagte, konnte er nach einigen Fragen gehen. Aber er tat mehr als das – er verschwand.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Bromley Kay.

»Ich meine, daß er nirgends zu finden ist. Er brachte an dem Abend seinen Wagen in die Garage und ließ sich seitdem nicht mehr blicken. Ich weiß nicht, ob die Leute in der Garage eingeweiht sind, doch ich glaube nicht. Sie sagten mir genau die Zeit, wann Comstock an dem Tage die Garage verließ. Ich habe das nachgeprüft und gefunden, daß der Mann, wenn er den Hauptverkehr mied und die Nebenstraßen benutzte, in der angegebenen Zeit einen doppelt so langen Weg hätte zurücklegen können, als er angab. Ich denke es mir so: Er fuhr den angegebenen Weg von der Garage, nahm an der Bank die Räuber auf und jagte mit ihnen fort. Als er in den dichten Verkehr kam, fuhr er in die erste Seitenstraße, die er erreichen konnte, setzte seine Fahrgäste ab, kam durch die nächste Straße wieder zurück und erschien wieder vor dem verfolgenden Wagen. Das klingt ganz einfach und wurde auch so ausgeführt. Mance und der Fahrer glaubten, daß sie den Wagen wegen des Verkehrs nur zeitweise aus den Augen verloren hätten.«

»Sie gehen ja ordentlich ran,« meinte Kay. »Demnach hätten wir also einen von den Männern gefangen und haben ihn dann wieder laufen lassen?«

»Es ging unter den Umständen kaum anders,« erklärte Emmerson. »Comstocks Angaben schienen zu stimmen. Er gab offen seine Erklärungen ab, und man hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Und selbst wenn wir jetzt seiner habhaft werden könnten, hätten wir nicht den geringsten Beweis gegen ihn. Seine Darstellung ist nicht zu widerlegen. Der ganze Plan ist von Anfang bis zu Ende von einem klugen Kopf erdacht. Ich habe ja auch vorausgeschickt, daß alles, was ich sagte, nur Theorie ist. Ich glaube zwar, daß es sich so abgespielt hat, aber wir haben nicht den geringsten Beweis dafür.«

Sir Gregory und Kay wechselten einen Blick. Die Theorie Emmersons hatte die Dinge in ein anderes Licht gerückt, und beide hatten den Eindruck, daß sie viel für sich hätte.

»Übrigens,« fuhr Emmerson fort, bevor einer von beiden ein Wort erwidern konnte, »ich machte heute morgen bei dem ›grauen Bock‹ einen Besuch. Wie Sie wissen, ist seine Wohnung der Treffpunkt der halben Verbrecherwelt Londons, ich glaubte, ich könne dort einige wichtige Fingerzeige erhalten. Auf jeden Fall lohnt es sich, den Ort im Auge zu behalten.«

»Fanden Sie dort etwas Wichtiges?« fragte Kay freundlich.

»Ja, ich traf Bill Scarfe und unterhielt mich mit ihm, er war nicht sehr mitteilsam. Ich glaube jedoch, daß er in der Nacht redseliger gewesen ist. Ich bin überzeugt, daß er mancherlei weiß.«

Kay sah über den Tisch hinweg Sir Gregory an, und der Ältere nickte.

»Scarfe gestand in der Nacht,« sagte Kay langsam, »und es wäre sicher gut, wenn Sie dies einmal läsen.«

Emmerson nahm das Protokoll und begann zu lesen, er achtete scheinbar gar nicht darauf, wie ihn zwei Paar kritische Augen scharf beobachteten.

Zunächst war er äußerlich vollkommen unbewegt, aber als die Erzählung fortschritt, zeigte sein Gesicht wechselndes Erstaunen. Einmal pfiff er durch die Zähne, das war ein sicheres Zeichen, daß er etwas gefunden hatte, das ihn ungewöhnlich interessierte.

»Also stimmt meine Theorie so ziemlich mit der Wirklichkeit überein,« sagte er schließlich, »dieser –« er hielt an und sah auf die Schreibmaschinenbogen in seiner Hand – »dieser ›Würger‹, wie er sich nennt, ist der Mann, den wir suchen. Und in beiden Fällen handelt es sich um eine große Geldsumme. Allerdings eine ziemlich oberflächliche Beschreibung des Burschen! Konnte Bill ihn nicht genauer beschreiben? Das ist allgemein. Das paßt auf –«

Er hielt inne und las einige Zeilen der Beschreibung sorgfältiger durch, dann schaute er die andern beunruhigt an.

»Es ist mir vorhin nicht so aufgefallen,« sagte er ernst, »aber die Beschreibung paßt vollkommen auf mich.«

»Nun, da Sie die Tatsache selbst festgestellt haben,« sagte Kay zu ihm, »muß ich zugeben, daß Sie recht haben.«

Er blickte auf Sir Gregory, und Emmerson fing den Blick auf.

»Halten Sie es nicht für besser, wenn ich die Bearbeitung des Falles an einen anderen abgebe?« sagte er, indem er sich gleichzeitig an Kay und seinen Chef wandte.

»Warum?« fragte Sir Gregor, und Kay neigte sich mit fragender Miene vor.

»Nun, die Kappe paßt mir doch, nicht wahr? Man kann doch nicht von jemand erwarten, daß er sich selbst beschuldigt,« sagte Emmerson langsam.

Kay betrachtete nachdenklich seine Fingernägel, um so die Entscheidung Sir Gregory zuzuschieben.

»Wenn Sie eine dementsprechende Eingabe machen würden,« sagte der letztere endlich, »wird sie wohl in Erwägung gezogen werden, aber ich bezweifle sehr, daß sie berücksichtigt wird. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.«

»Wenn es so ist,« sagte Emmerson aufstehend, »werde ich keine Zeit damit verschwenden, sie zu schreiben.«


 << zurück weiter >>