Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel.
Die Geheimnisse der Pagode.

Jener Gang, der zu den Zimmern führen mußte, die eines Tages die Priester der Pagode bewohnten, war halbkreisförmig. An den Wänden befanden sich Skulpturen und Säulen aus schwarzem Marmor.

Wischnu, der erhaltende Gott der Indier, dem die Pagode geweiht war, sah man überall, zusammen mit Bumidevi, der Erdgöttin und Latschimi, der Göttin der Schönheit, mit ihren beiden Gatten und Moyen, dem Sohne, der sich später in ein wunderschönes Weib verwandelte, um die Riesen zu bezaubern und den »Amurdon« zu rauben, den kostbaren Likör, der Unsterblichkeit verlieh.

Tiefes Schweigen herrschte in jenem Gewölbe, kaum unterbrochen von den schürfenden Schritten der fünf Menschen.

Toby war sofort einige Schritte rasch vorgesprungen, da er den Mann zu finden glaubte, der die Tür geöffnet hatte; aber er sah niemand.

Jener Gang schien völlig verlassen zu sein.

»Dieses Schweigen beunruhigt mich,« sagte er zu Indri, der mit Sadras und den beiden Berghirten zu ihm gestoßen war. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn sich Widerstand gefunden hätte.«

»Vielleicht haben sie nicht gewagt, uns entgegenzutreten,« antwortete der Ex-Favorit des »Guicowar«. »Trauen wir ihnen trotzdem nicht, wer weiß, welche Überraschungen sie uns vorbereiten.«

»Wohin wird dieser Gang führen?«

»Am Ende scheint eine Treppe zu sein,« sagte Thermati, der einige Schritte voran war.

»Dann führt er auch nicht in die unterirdischen Gänge der Pagode,« bemerkte Toby. »Wo werden sie Bhandara eingeschlossen haben?«

»Sehen wir nach, ob Türen hier sind,« sagte Indri.

»Ich sehe keine.«

»Gehen wir vorwärts, Toby.«

Sie folgten dem Wege, immer vorsichtig mit erhobenen Waffen und erreichten eine halbverfallene Treppe, die sich gewunden emporschlängelte.

»Was tun wir?« fragte Indri.

»Steigen wir hinauf,« antwortete Toby. »Wir werden nachsehen, wo sie aufhört.

»Auch hier sieht man keine Türen.«

»Nein, Indri.«

Sie erklommen vierzig Stufen und gelangten in einen weiten, viereckigen Saal, dessen Decke in eine Kuppel endete. Die Wände waren mit Skulpturen und teilweise mit alten Teppichen bedeckt.

In jenem Orte herrschte ein feuchter Modergeruch, obwohl an den Wänden kein Tropfen Wasser zu sehen war.

»Das ist ein Zimmer, das seit Jahrhunderten nicht bewohnt worden ist,« sagte Toby.

Er wollte eben ringsum gehen, als ein fernes Stöhnen an seine Ohren drang.

Da er glaubte, sich getäuscht zu haben, achtete er nicht darauf, aber nach wenigen Minuten hörte er es wieder und zwar deutlicher. Lebhaft erregt, ging er zu seinen Gefährten zurück.

»Habt ihr's gehört?« fragte er.

»Ja,« antworteten Indri und die Berghirten.

»Ob jenes Stöhnen von Bhandara herrührt? Jener Unglückliche leidet seit vierzig Stunden Hunger.«

»Woher kam es?« fragte Indri, tief erschüttert.

»Ich weiß nicht: lauschen wir.«

Sie verteilten sich im Saale und horchten.

Das Stöhnen wiederholte sich deutlich und schien aus der dunkelsten Ecke zu kommen.

»Dort,« sagte Toby.

Alle eilten nach jener Richtung, indem sie die Lampen hoch hielten und befanden sich plötzlich vor einer gewaltigen Statue, die die vierte Schöpfung Wischnus darstellte, als er sich halb als Mensch, halb als Löwe verwandelte, um den Riesen »Cremiano« zu vernichten, der, nachdem er von Brahma das Vorrecht erhalten hatte, weder von Göttern, Menschen, noch von Tieren getötet werden zu können, sich für eine Gottheit ausgegeben hatte.

Jene riesenhafte Statue war in die Wand eingehauen, so daß sie nicht fortgeschafft werden konnte.

»Ob sich jemand in dieser Statue versteckt hat?« fragte sich Toby.

Abermals war ein Stöhnen laut geworden und diesmal hinter der Wand, die den Gott stützte.

»Wer seid Ihr?« fragte Indri. »Wo seid Ihr verborgen? Wer ihr auch sein mögt, in uns werdet Ihr Beschützer finden.«

Diesmal antwortete kein Stöhnen, sondern eine Toby, Indri und Sadras wohlbekannte Stimme; es war Bhandara.

»Sahib«, hatte er gesagt. »Ich sterbe!«

»Bhandara!« riefen sie alle.

»Ich bin es … ›Sahib‹.«

»Eingeschlossen in eine kleine Zelle, sterbe ich vor Durst.«

»Wir sehen dich nicht.«

»Ich bemerke aber einen Lichtstrahl in meinem Gefängnis.«

»Ist ein Loch da?«

»Ja, Herr, so groß wie eine Rupie.«

»Gibt es hier eine Geheimtür?«

»Rückt die Statue weg, Herr.«

»Auf welche Weise? Zwanzig Männer brächten diese Masse nicht vom Fleck.«

»Ich sah, wie Barwani einen Druckknopf berührte.«

»Wo befindet er sich? Sprich, Bhandara.«

»Ich entsinne mich nicht, ob er die Mauer oder die Statue berührte.«

»Freunde, suchen wir!« sagte Indri.

»Bhandara, kannst du es noch einige Stunden aushalten?«

»Ja … obwohl mir der Gaumen verdorrt … Man gab mir zu trinken … ich weiß nicht, welche höllische Flüssigkeit, um meine Leiden zu verdoppeln … Herr, rettet mich … ich habe Geheimnisse für Euch.«

»Hast du den Fakir wiedergesehen?«

»Niemand trat wieder in diese furchtbare Zelle.«

Die beiden Berghirten, Sadras und Toby suchten inzwischen fieberhaft nach jenem geheimen Druckknopf, der die Gottheit beiseite rücken sollte.

Nachdem sie alle Wandvorsprünge betastet, den riesigen Gott genau untersucht und sogar den Boden in jeder denkbaren Weise abgeklopft hatten, mußten sie sich für besiegt erklären.

»Nichts, absolut nichts!« rief Toby verzweifelt. »Entweder ist der Druckknopf von jenen Elenden zertrümmert worden, so daß er versagt, oder er ist so versteckt, daß man ihn nicht finden kann. Uns bleibt nur übrig, die Wand einzuschlagen.«

»Ein schwieriges und langes Unternehmen,« sagte Indri. »Außerdem würden auch die kleinen Äxte deiner Leute an diesen Mauern zersplittern. Dazu braucht man Spitzhacken.«

»Bhandara!«

»Herr.«

»Gibt es keinen andern Eingang?«

»Ich kenne keinen andern.«

»Sahib,« sagte Sadras. »Zwei Kilometer von hier ist die Mine, dort werden wir genug Spitzhacken finden.«

»Und wenn die Gaukler unterdessen kommen und Bhandara morden?« sagte Toby. »Vielleicht hat jener Barwani unsere Gegenwart schon bemerkt.«

»Ich gehe mit Euern Leuten und Ihr bleibt hier. In einer Stunde sind wir wieder zurück.«

»Wir können nichts anderes tun, Toby,« sagte Indri.

»Und wenn sie inzwischen das Seil abschneiden?«

»Poona wird als Seilwächter am Fenster bleiben.«

»Sei es,« sagte Toby. »Wenn wir die Wand nicht einschlagen, wird Bhandara nie herauskommen.«

»Geht, meine Tapfern, und wenn ihr den Weg von jenen Banditen versperrt findet, so kehrt ohne Kampf zurück.

»Verlaßt Euch auf uns, Herr,« sagte Thermati. »Ich gehe mit Sadras zur Mine und Poona bleibt auf dem Fensterbrett.«

Sie nahmen eine Lampe, griffen zu den Revolvern und verschwanden lautlos hinter der Treppe.

Toby und Indri hatten sich neben die Statue gesetzt.

»Bhandara?« fragte Indri.

»Herr … ich bin erschöpft vom Wachen und Fasten.«

»Du kannst ruhen, solange wir wachen. In einer Stunde wirst du frei sein, wenn alles gut geht, dann spüren wir jenem verwünschten Fakir nach. Hast du während deiner Gefangenschaft kein Geräusch gehört?«

»Nein, ›Sahib‹.«

»Dann haben die Banditen diese Pagode verlassen.«

»Ich weiß es nicht.«

»Schließ die Augen und ängstige dich nicht um uns. Wir sind bewaffnet und haben vor jenen Schuften keine Furcht.«

Da sie vom Tempel her keinerlei Geräusch vernahmen, waren sie überzeugt, daß der Knabe und die beiden Berghirten schon durch das Fenster hindurch waren, ohne Barwani oder seinen Gaunern begegnet zu sein.

Wenn Alarm gegeben worden wäre, so hätten sie ihn gehört, bei der tiefen Ruhe, die dort herrschte.

Trotzdem war weder Toby noch Indri ruhig; sie dachten immer wieder an die Bronzetür, die erst ihren Bemühungen widerstanden und sich dann von selbst geöffnet hatte, ohne daß jemand den geheimen Druckknopf hätte finden können.

Toby, der immer unruhiger wurde, war nach einigen Minuten gespannter Erwartung aufgestanden.

»Ich möchte mich mit meinen eignen Augen überzeugen, ob unsern Leuten nichts zugestoßen ist,« sagte er.

»Willst du zum Tempel hinab?« fragte Indri.

»Ich kann unmöglich hier bleiben. Ich habe düstere Vorahnungen.«

»Wenn unsere Leute auf jemand gestoßen wären, hätten sie Feuer gegeben, Toby, und der vom Echo verhundertfachte Donner wäre bis zu uns gedrungen.«

»Ich komme sofort wieder, sobald ich mich überzeugt habe, daß Poona sich noch auf dem Fensterbrett befindet.

Draußen muß noch der Mond scheinen und ich werde durchs Fenster sehen können.«

»Willst du die Lampe?«

»Die brauche ich nicht; ich kenne jetzt den Weg. Du wachst über Bhandara.«

Toby schritt zur Treppe, blieb auf der ersten Stufe stehen und lauschte.

»Nichts,« sagte er. »Hoffen wir das beste.«

Er stieg die Treppe hinab, indem er sich an der Wand hielt, und drang in den Gang vor.

Kaum war er jedoch einige Schritte gelaufen, als er vor sich ein leises Rauschen hörte.

Es war, als wenn jemand einen Seidenstoff hinter sich herzöge.

»Ist es das Echo meiner Schritte oder schreitet mir jemand voran?« fragte sich der Jäger.

Toby, der Furcht nie gekannt hatte, fühlte sich beklommen, allein in jenem stockfinsteren Gange, bei jenem seltsamen Rauschen.

Er erhob den Revolver, um schußbereit zu sein, und drang nach kurzem Zögern vor, entschlossen, jenes Geheimnis zu enthüllen.

Das Rauschen vor ihm dauerte fort und lief nach der Pagode zu. Toby beschleunigte seinen Schritt, aber auch jenes Wesen entfernte sich mit größerer Schnelligkeit.

Als er in die Pagode gelangte, war die Finsternis lang nicht mehr so dicht. Der Mond, der seine höchste Höhe erreicht hatte, schien durch einige Öffnungen der riesigen Kuppel, so daß man unbestimmt die Statuen längs der Wände erkennen konnte.

Toby schaute nach allen Richtungen und entdeckte nichts.

»Ob mich meine Ohren getäuscht haben?« fragte er sich. »Und doch möchte ich das Gegenteil schwören.«

Er war neben der Bronzetür stehen geblieben, da er nicht wußte, ob er vordringen oder zurückweichen sollte.

Plötzlich fühlte er seine Haare zu Berge stehen, eisiger Schweiß überlief ihn.

Eine der Wandstatuen hatte ihren Platz verlassen und schritt langsam in die Mitte des Tempels.

Sie war ganz weiß und riesenhaft groß. Ein gewaltiges Betttuch schien sie von Kopf bis zu den Füßen zu bedecken.

»Träume ich, oder sehen meine Augen schlecht?« fragte er sich. »Ist es möglich, daß sich Statuen bewegen und spazieren gehen können?«

Jenes weiße Wesen, Statue oder Gespenst, schritt immer weiter nach der gegenüberliegenden Seite des Tempels.

Ein Lichtstrahl beschien es und zeigte es ganz, dann verschwand es in der Finsternis und schlich der Wand entlang.

»Man hält mich zum Narren!« schrie Toby wütend. »Das ist ein Mensch, der sich über mich lustig macht! – –«

Er stürzte vor, hob den Revolver und gab Feuer.

Beim Aufleuchten des Pulvers hatte er jenes Trugbild zwischen zwei Elefantenköpfen verschwinden sehen, die sich auseinanderzubiegen schienen, um ihm Platz zu machen.

Der Schuß donnerte lange in der Pagode wieder und weckte das Echo, dann verhallte er in einer Galerie, indem er noch einige Augenblicke rumorte.

Ein gellendes, spöttisches Lachen und ein lauter Pfiff hatte dem Schüsse geantwortet.

Toby, aufgebracht, daß man ihn derart an der Nase herumgeführt hatte, war nach der Stelle gesprungen, wo das Gespenst verschwunden war.

»Bei Gott!« schrie er. »Sehen wir, ob du es wagst, dich zweimal über mich lustig zu machen! – –«

Da stieß er gegen die beiden riesigen Elefantenköpfe, die ihren früheren Platz wieder eingenommen hatten.

Er blickte zwischen die Rüssel hindurch, die sich einen halben Meter über dem Erdboden kreuzten und sah nichts als eine, von einer schwarzen Steinplatte geschlossene Öffnung.

»Schon wieder eine Geheimtür?« rief er. »Ich werde noch das ganze alte Gemäuer unterwühlen und mit seinen geheimnisvollen Bewohnern in die Luft sprengen! – – –«


 << zurück weiter >>