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Sechzehntes Kapitel.
Ein verzweifelter Kampf.

Eine Prozession zog nach der Pagode. Der Zug bestand aus etwa hundert Menschen, denen ein Dutzend Musikanten und eine Schar Bajaderen voranschritten, die unglaublich gewandt tanzten.

Männer und Frauen schrien aus vollem Halse und sangen die Lobgesänge der schreckenerregenden Holica, während die Musiker mit rasender Wut Trommeln, »Gong« und Tamtam schlugen und aus voller Brust in die »Catuben« bliesen.

Alle jene Menschen schienen in eine lebhafte Schwärmerei verfallen zu sein. Wahrscheinlich hatten sie zuviel »Bang« getrunken, ein stark berauschender Likör, der aus Opium und verschiedenem Gewürz bereitet wird.

Sie sprangen durcheinander, einer um den andern herum, gebärdeten sich wie Besessene, schlenkerten wie verrückt mit den Armen in der Luft und schienen wettzueifern, wer die kräftigsten Lungen habe.

Bhandara, der im Gestrüpp versteckt lag, ließ jene Prozession Verrückter erst vorüber, dann folgte er ihr auf hundert Schritt Entfernung, bereit, sich bei erster Gelegenheit unter jene Menschen zu mischen.

Er war überzeugt, daß alle jene Wesen Gefährten des Fakirs waren, und daß sie dieses Fest zu Ehren der Dämonin nur veranstaltet hatten, um ihre Versammlung geheim zu halten und jeden Verdacht abzuwenden.

Die Prozession durchschritt, immer spielend, den Wald und brüllte und tanzte. Dann blieb sie vor der Pagode stehen und umzingelte die riesige Statue der Holica, die unsichtbare Hände mit Blumen und Laub geschmückt hatten.

Nachdem sie sie begrüßt und die 24 Lobestitel hergesagt hatten, die Brahma der Dämonin abtreten mußte, um seine Freiheit wiederzuerlangen, sammelten Männer und Frauen Äste und Blätter, zündeten sie an und improvisierten Leuchtfeuer. Dann begannen sie, unter wachsendem Lärme, wieder ihre verwirrten Tänze und wetteiferten mit den Sprüngen der Bajaderen.

Bhandara gab dem Knaben seine letzten Befehle und mischte sich unbemerkt unter jene Menge, indem er wie die andern schrie und hüpfte.

Aber er beobachtete sie alle scharf, in der Hoffnung, bekannte Gesichter zu entdecken.

Plötzlich zuckte er zusammen. Er hatte den Gefährten des Riesen bemerkt, der mit einer mit Goldringen und kostbaren Steinen beladenen Bajadere tanzte.

»Ich war sicher, mich nicht zu täuschen,« murmelte er. »Das ganze Gesindel ist Anhang jenes verwünschten Fakirs.«

Er sah nach, ob er noch Revolver und Messer hatte, und mengte sich abermals unter die Tänzer und Tänzerinnen.

Niemand schien auf ihn zu achten, wenigstens bisher nicht, er war ja auch nicht der einzige, der als Brahmane gekleidet war.

Trotzdem war er vorsichtig, bereit, sich beim ersten Alarm von jener lustigen Gesellschaft zu trennen.

Inzwischen wurde die Menge immer wahnsinniger. Flaschen mit »Bang« und anderen Likören machten schnell die Runde und ebenso schnell wurden sie leer.

Männer und Bajadern fielen von Zeit zu Zeit neben die Leuchtfeuer, erschöpft oder vollständig betrunken, während die Musikanten ihren Krawall verdoppelten, als wären sie eigens dazu da, jene wahnsinnige Menge gänzlich zu betäuben.

Bhandara hatte vorsichtig jene Liköre verweigert und zog sich gewandt zurück, wenn ihn eine halb trunkene Bajadere zum Trinken zwingen wollte.

Es mußte fast Mitternacht sein, als die Leuchtfeuer plötzlich verloschen, indem einige Männer, die aus der Pagode kamen, Wasser darüber gossen.

Über die Hälfte der Menge lag betrunken am Boden und war nicht mehr fähig, sich auf den Füßen zu halten.

»Was wird geschehen?« fragte sich Bhandara verblüfft.

»Jenes übermäßige Verteilen von »Bang« muß seinen Grund gehabt haben. Vielleicht durften alle jene Personen der geheimnisvollen Versammlung nicht beiwohnen und die ungebetenen Gäste waren absichtlich trunken gemacht worden.

Benutzen wir die Dunkelheit und die Verwirrung, um in die Pagode einzudringen, bevor sie meine Gegenwart bemerken.«

Kaum hatte er die breite Tür durchschritten, so umhüllte ihn stockfinstere Nacht, denn keine Fackel brannte im Innern.

Er hielt sich rechts an der Mauer und schlich lautlos vor, bis er eine Art Nische tasten konnte, worin er sich versteckte.

Als er die Arme ausstreckte, stieß er an zwei gewundene Säulen, wahrscheinlich zwei steinerne Elefantenrüssel, die sich vor ihm kreuzten.

»Werden sie genügen, um mich zu verbergen?« fragte er sich, nicht ohne Unruhe. »Wenn sie mich entdecken, werden sie mich zweifellos umbringen. Zwar bin ich gut bewaffnet und werde mich verteidigen.«

Seit einer Viertelstunde war er dort versteckt, als er etwa dreißig Männer eintreten sah, die von 4 anderen begleitet wurden, die eiserne Leuchter trugen.

Die schwere Bronzetür wurde hinter ihnen geschlossen, dann setzten sich jene Wesen, Gaukler und Schlangenbändiger, mitten in die Pagode, indem sie einen großen Kreis bildeten.

Bhandara warf einen raschen Blick umher.

Der Tempel war gewaltig groß. In der Mitte ritt Siwa auf dem Ochsen Nandi, rundum standen Pfeiler und zahllose Säulen, die von riesigen Elefantenköpfen getragen wurden, die ihre Rüssel übereinander kreuzten.

Da befanden sich auch Statuen Ravanas, Wischnu mit vier Armen, Löwen und ungeheuerliche Sphinxe.

Der Tempel lief in eine riesig hohe Kuppel aus, die reich mit Skulpturen verziert, bemalt und mit Stuck versehen war, der Löwen mit Darma-Radscha, dem gerechten König der Indier, darstellte.

Die Nische, in der sich der mutige »Kornak« versteckt hielt, wurde, wie schon vermutet, von zwei Elefantenrüsseln gebildet, die sich, etwa einen Meter von der Wand entfernt, kreuzten und so genügend Raum für einen Menschen ließen.

Da der Marmor fast schwarz war, konnte Bhandara, der schon sein »Doote« ausgezogen hatte, um freier zu sein, mit seiner dunkeln Hautfarbe jeden leicht täuschen.

Die Gaukler und Bändiger hatten sich eben gesetzt, als Bhandara durch einen Gang, der sich am entgegengesetzten Ende der alten Pagode befand, den Riesen Barwani eintreten sah, der eine Fackel in der Hand hielt.

Hinter ihm schritt ein anderer Indier, der ein gelbseidenes, »Doote« trug, den der »Kornak« aber nicht sofort erkennen konnte.

Als er ihn aber mitten in jenem Fackelkreise sah, hatte er Mühe, einen Schrei zu unterdrücken.

»Der Fakir!« … murmelte er. »Ich hatte mich nicht getäuscht!«

Sitama, er war es wirklich, setzte sich in die Mitte der Gaukler und Bändiger, schaute sie nacheinander scharf an und fragte dann:

»Seid ihr alle da?«

»Alle,« antworteten wie aus einem Munde die Anwesenden.

»Und die, die euch begleiten?«

»Die haben wir mit ›Bang‹ trunken gemacht und schlafen fest,« sagte ein Schlangenbändiger. »Vor morgen werden sie nicht wieder erwachen.«

»Also sind keine Verräter hier?«

»Nein, keiner.«

»Dann können wir von unsern Interessen sprechen. Wer ist dem weißen Jäger und seinen Gefährten gefolgt?«

»Ich,« antwortete ein junger Indier, indem er aufstand.

»Haben sie den ›Menschenfresser‹ getötet?« fragte Sitama.

»Ja, den ersten.«

»Wieso den ersten?«

»Weil es zwei waren. Ich habe ihrer Jagd beigewohnt, indem ich mich zwischen den Ästen einer Tamarinde versteckte und habe mich überzeugen können, daß es zwei »Bâg« waren.«

»Haben sie auch die zweite erlegt?«

»Nein, aber sie nahmen sich vor, sie zu jagen.«

»War der ›Kornak‹ bei ihnen?«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

Der Fakir machte eine zornige Gebärde.

»Man sagte mir, jener Mensch sei die rechte Hand des Ex-Favoriten des ›Guiocowar‹ und sein geheimnisvolles Verschwinden beunruhigt mich. Sie müssen ihn auf meine Spuren gesetzt haben.«

»Darüber kann man Gewißheit erlangen,« sagte der Riese Barwani.

»Ich weiß, man muß aber erst die Rückkehr der Jäger abwarten.«

»Gedulden wir uns bis dahin, Sitama,« antwortete Barwani.

»Keiner von euch hat ihn gesehen?«

»Niemand,« antworteten alle.

»Jener Mensch kann unsere Geschäfte verderben, sodaß wir den ›Lichtberg‹ verlieren.«

Als Bhandara von dem berühmten Diamant reden hörte, war er überrascht und zugleich erschrocken. Wie haben jene Gauner den wahren Grund von Indris Reise erfahren können? Wer konnte seinen Herrn verraten haben? Wenn das Geheimnis bekannt war, bei Leuten diesen Schlages, waren Indri, Toby und Dhundia einer schweren Gefahr ausgesetzt, denn wenn der Radscha auch im entferntesten Verdacht geschöpft hätte, würde er sicher niemand verschont haben.

Bei diesem Gedanken schauderte es Bhandara.

Indri, sein edler Herr, war in Gefahr. Um jeden Preis mußte er gerettet werden.

Er wußte genug, um noch auf weitere Enthüllungen zu warten. Er mußte unbedingt aus der Pagode hinaus, aufs Diamantfeld und Indri und Toby warnen.

Hinaus? Wie, da doch die schwere Bronzetür geschlossen war?

»Die Pagode ist teilweise zerfallen,« murmelte Bhandara. »In den zerrissenen Wänden werde ich vielleicht eine Öffnung finden.«

Bhandara war ein Mensch, der nie zögerte, wenn er einen Plan gefaßt hatte.

Seit jenem Momente hatte er nur einen Gedanken: so schnell als möglich fort.

Niemand achtete auf ihn. Alle lauschten andächtig dem Fakir, der verschiedenen Indiern Aufträge erteilte, die alle auf dasselbe hinausgingen: den »Kornak« suchen und nicht wieder von ihm lassen.

»Bis ihr euch auf meine Verfolgung vorbereitet, handle ich,« murmelte Bhandara. »Wenn es euch gelingt, sollt ihr mich später wiederfinden.«

Er verließ sein Versteck, hielt sich dicht an der Mauer, mit deren dunkler Färbung er harmonierte und schlich sich lautlos zu dem Gange, aus dem er Sitama und den Riesen hatte kommen sehen.

Revolver und Dolch hatte er gezogen. Da er gewandt wie eine Schlange und gleichzeitig kräftig war, hoffte er, sich lange verteidigen zu können, falls jene geheimnisvollen Wesen sich auf ihn stürzen und ihm den Ausgang versperren sollten.

Langsam drang er vorwärts und hatte fast die Galerie erreicht, als ein Schatten auf eine weiße Marmorwand fiel.

Vom Lichte der Fackeln ungeheuerlich in die Länge gezogen, wurde er sofort von einem jener Menschen bemerkt, die den Kreis mitten in der Pagode bildeten.

Bhandara, der seinen Schatten auf jener weißen Wand zu spät bemerkte, hatte sich zu Boden geworfen, aber im Tempel ertönte schon eine Stimme:

»Da! … Da! … Ein Mensch!« … schrie der Mann, der seinen Schatten entdeckt hatte.

Gaukler und Bändiger waren wie ein Mann aufgesprungen.

»Schaut! … Ein Mann flieht!« … wiederholte dieselbe Stimme.

Als sich Bhandara entdeckt sah, war er zu dem Gang gestürzt, stieß aber mit dem Kopfe gegen eine Bronzetür, die er vordem nicht bemerkt hatte, infolge des Halbdunkels, das in jenem Teile der Pagode herrschte.

Er versuchte mit äußerster Kraftanstrengung die Tür aufzudrücken, aber sie wich nicht.

»Ich bin gefangen!« rief er. »Mein armer Herr!«

Gaukler und Bändiger stürzten sich wie eine Meute wütender Hunde auf ihn. In ihren Fäusten blitzten Messer und Dolche.

Bhandara lehnte sich an die Mauer, um nicht im Rücken angegriffen zu werden, und erhob entschlossen den Revolver, indem er schrie:

»Wer mich anrührt, ist des Todes!«

Mit einem Zeichen hielt der riesige Barwani seine Leute zurück.

»Wer bist du?« fragte er.

»Ein Mann, der hinaus möchte,« antwortete Bhandara.

»Wie kamst du in den Tempel?«

»Ich weiß nicht; ich folgte der Prozession, die Holica zu feiern kam, dann trank ich den »Bang« und wachte hier drinnen wieder auf.«

»Warum bist du bewaffnet? Um das Fest der Dämonin zu feiern, sind weder Revolver noch Dolche gebräuchlich.«

»Ich habe die Gewohnheit, stets Waffen bei mir zu führen.«

»Bist du ein Brahmane?«

»Du siehst es an den Kleidern, die ich trage,« antwortete Bhandara.

»Was hast du von unseren Gesprächen gehört?« fragte Barwani drohend.

»Nichts, denn ich schlief und wachte jetzt erst auf.«

Barwani wandte sich an den Fakir, der eben hinzukam und Bhandara scharf beobachtete.

»Was sollen wir mit jenem Menschen tun, Sitama?« fragte er ihn.

Der Fakir antwortete nicht; er schaute immer nach Bhandara, der sich entdeckt sah und einen Teil des Gesichts mit dem Arm zu verdecken suchte, in dem er den Revolver hielt.

Plötzlich stieß Sitama einen Triumphschrei aus.

»Der ›Kornak‹ der Jäger! Er ist in die Falle gegangen, wie ein junger Tiger! … Freunde, packt jenen Menschen, oder alles ist verloren.«

»Da du mich wiedererkannt hast, bekommst du die erste Kugel!« schrie Bhandara, indem er die bewaffnete Hand ausstreckte.

Ein Schuß krachte im Tempel und rief alle Echo wach.

Doch fiel nicht der Fakir, sondern ein Gaukler, der sich blitzartig vor seinen Häuptling geworfen hatte und seinen eigenen Körper als Schild bot.

»Geht ihm zu Leibe!« schrie Barwani, indem er einen eisernen Leuchter ergriff.

Alle warfen sich mit gezückten Messern auf ihn.

siehe Bildunterschrift

Diesen Menschen muss ich lebend haben, – schrie Sitama.

»Ich muß den Mann lebend haben!« rief Sitama.

Dieser Befehl kam zur rechten Zeit, denn die wütenden »Sâpwallah« und Gaukler wollten den mutigen »Kornak« eben in Stücke reißen.

Jener feuerte fortwährend in die Menge, bis er die letzte Kugel verschossen und fünf andere Männer zu Boden gestreckt hatte.

Dann schleuderte er die Waffe einem siebenten Gegner ins Gesicht und zerschmetterte ihm die Stirn, zog das Messer und warf sich wie ein blutdürstiger Tiger auf seine Gegner.

Er hoffte sich durch jene wütende Bande einen Weg zu bahnen und auf der andern Seite der Pagode entkommen zu können.

Aber Barwani überwachte ihn. In dem Augenblicke, in dem sich der »Kornak« auf die Gaukler und Bändiger stürzen wollte, warf er sich auf ihn, packte ihn bei den Schultern und schleuderte ihn zu Boden.

Sofort banden zehn Hände den Gefangenen, sodaß er sich nicht mehr bewegen konnte.

»Du bist gefangen,« sagte der Fakir, indem er näher trat.

»Dann töte mich,« antwortete Bhandara kalt.

»So dumm bin ich nicht; du kannst mir von großem Nutzen sein, mein Lieber.«

»Du täuschest dich.«

»Und wirst mir vieles erzählen, was ich noch nicht weiß und erfahren muß, um ein gewisses Unternehmen durchzuführen.«

»Betreffs des ›Lichtbergs‹, nicht wahr, Fakir?« fragte Bhandara ironisch.

Bei diesen Worten hatte Sitama einem Gaukler den Dolch entrissen und gegen den »Kornak« erhoben.

»Ah! … Du weißt das?« stieß er rauh hervor. »Dann hast du selbst dein Todesurteil ausgesprochen.«

»Vollziehe es also.«

»Ein Dolchstoß wäre viel zu gut für dich,« sagte Sitama, indem er die Waffe ihrem Eigentümer wieder zurückgab. »Nehmt jenen Menschen und schließt ihn in eine Tempelzelle.«

»Der Hunger wird richten und unsere Gefährten rächen.«

»Sei verflucht, elender Fakir,« sagte Bhandara. »Eines Tages werde auch ich vom weißen Jäger und meinem Herrn gerächt werden.«

»Dann lebst du nicht mehr und die Mäuse werden dir schon die Knochen zernagt haben.«

Der riesige Barwani packte den unglücklichen »Kornak«, hob ihn wie ein Kind auf, öffnete die Bronzetüre mittels eines Druckknopfes, der in der Mauer versteckt angebracht war, und verschwand im dunkeln Gange.


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