Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVII

Die Villa in Lower Norwood leerte sich schnell nach dem Begräbnis des Direktors. Der erste, der verschwand, war Ohlsen, und dies geschah in einer Weise, die für alle, bis auf John, ein unaufgeklärtes Geheimnis blieb. Als dieser nämlich nach dem Begräbnis in sein Zimmer trat, fand er auf dem Tische einen Brief liegen. Er erkannte die Handschrift Ohlsens, der noch vor einer halben Stunde auf dem Kirchhofe neben ihm gestanden hatte. Nikolaus schrieb:

»Lieber Jack! Ich scheide von Dir. Du hast mir gestern zum letzten Male die Hand gedrückt. Du wolltest mir damit einen Beweis von Vertrauen geben. Aber es war Mißtrauen darin. Das konntest Du nicht ändern. – Du bleibst mir der liebste Freund. Aber ich will Dich niemals wiedersehen. Ich gehe jetzt nach Kalifornien, um dort meine Angelegenheiten zu ordnen. Gib mir dazu drei Monate Zeit und bleibe bis dahin in Europa. Nachher gehört Dir die ganze Welt. Lebe wohl, alter Kamerad.

N. O.«

Macleans großes Herz war »gesättigt«. Es empfand keinen neuen Schmerz mehr. Er faltete den Brief sorgfältig wieder zusammen, steckte ihn in eine große Brieftasche, in der er wertvolle Dokumente aufbewahrte und die er, nach alter kalifornischer Art, stets bei sich trug, und gesellte sich sodann zu seinen Schwestern, mit denen er zu Mittag aß und den Abend verbrachte. – Monja hatte ihr Zimmer nicht verlassen, seitdem die Leiche aus dem Hause getragen worden war.

Am nächsten Tage reisten die drei Schwestern nach Edinburg zurück. Geraldine und Maria nahmen in förmlichster Weise Abschied von Monja. Sie war ihnen stets eine Fremde geblieben, und der Tod dessen, der sie im Leben hätte vereinen können, näherte sie einander nicht. – Katharina aber hatte, ehe sie ging, ja ehe sie sich überhaupt entschloß zu gehen, eine Unterredung mit Monja. Sie suchte diese in ihrem Zimmer auf und fragte in dem Tone und mit den Worten jemandes, der aufrichtig wünscht, daß seine Anerbieten angenommen werden, ob sie sich auf irgendeine Weise im Hause nützlich machen könnte – vielleicht bei den Kindern, die sie ja liebgewonnen hätten. Monja lehnte dankend ab, keineswegs unfreundlich, aber doch bestimmt. Katharina würde im Hause herzlichst willkommen sein, so lange sie bleiben wollte, und sie, Monja, würde sich glücklich schätzen, wenn es ihrer Schwägerin recht lange in Lower Norwood gefiele; aber sie selbst habe keine andere Freude mehr im Leben, als die, sich um ihre Kinder zu bekümmern, und diese einzige Freude könne sie mit niemand teilen, auch mit einer so lieben Verwandten nicht, wie Katharina. – Darauf sagte diese: »Wenn Sie je meiner bedürfen, so schreiben Sie mir, und ich werde kommen.« Monja dankte. Es sei ihr ein großer Trost, zu wissen, daß sie nicht ganz allein dastehe in der Welt. – Und dann umarmten sich die beiden in klösterlicher Weise, indem sie die Wangen gegeneinander drückten, und schieden voneinander.

Auch John Maclean fand nur wenig zu tun, um als einer der Testamentsvollstrecker den letzten Willen seines Bruders zu erfüllen. Die Verhältnisse des Erblassers waren vollständig geordnete gewesen. Das Testament, von einem Rechtskundigen aufgesetzt, war kurz und bündig, mit den in England üblichen Bestimmungen, die Witwe und die hinterlassenen Waisen betreffend. Die Kinder waren noch zu jung, als daß es Maclean möglich gewesen wäre, seine Fürsorge für sie in dem Augenblick tatsächlich zu beweisen. Sie mußten noch während langer Jahre der Mutter anvertraut bleiben. Die Verwaltung ihres Vermögens übernahm der zuverlässige und sachverständige Direktor Brent. Nachdem John dies alles festgestellt hatte, tat er, wie seine Schwestern getan. Er suchte Frau Monja auf und stellte sich dieser bereitwillig und ganz zur Verfügung; auch erhielt er denselben Bescheid wie Katharina. – Monja erklärte, sie sei in der Tat tief gerührt von so viel Liebe und Freundschaft; aber sie bedürfe keines Beistandes. Ihre Lebensaufgabe sei ihr vorgezeichnet. Sie wolle sie zu lösen versuchen, indem sie ihre Kinder zu glücklichen und guten Menschen mache.

»Herr Brent wird stets wissen, wo ich zu finden bin,« bemerkte darauf der Kalifornier. »Wenn ich Ihnen oder den Kindern nützen kann, so rufen Sie mich.«

Ähnliche Worte hatte Katharina gebraucht. Es war, als ob die beiden sich verabredet hätten, dasselbe zu sagen. Geraldine und Maria würden zweifelsohne auch so gesprochen haben, wenn sie Gelegenheit gefunden hätten, Monja ihre Dienste anzubieten.

John hatte den Tag seiner Abreise festgestellt. Am Vorabend derselben fand noch eine Unterredung zwischen ihm und Natalie statt. – Es war nun winterlich geworden, und die Türen, die zur Veranda und in den Park führten, waren verschlossen. Im Kamin prasselte ein gutes Kohlenfeuer. Frau Monja hatte sich, wie sie es häufig tat, gleich nach dem Essen auf ihr Zimmer zurückgezogen, um erst zum Tee wieder zu erscheinen. Natalie und John waren allein. Da sagte dieser:

»Ich gehe nun morgen fort von hier, Gott weiß, auf wie lange Zeit. Da muß ich Sie noch etwas fragen, und Sie können mir unverhohlen antworten; denn wie Ihr Bescheid auch ausfallen möge, er wird mir Gesetz sein . . . Ich habe die traurigste Zeit meines Lebens hier verlebt; aber sie war nicht freudenleer, weil ich Sie hier kennen gelernt habe. – Ich habe Sie liebgewonnen, so lieb, das glaube ich, wie ein Mensch einen anderen lieb haben kann. Sie sind weit jünger als ich, und Sie sind so schön und gut, daß der Beste im Lande glücklich und stolz sein müßte, wollten Sie ihm ihre Hand reichen. Und doch werbe ich darum . . . weil ich glaube, daß niemand mehr darauf bedacht sein wird, Sie glücklich zu machen, als ich. – Wollen Sie sich mir anvertrauen?«

Natalie antwortete nicht. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und begann zu weinen.

»Warum weinen Sie?« fragte John.

»Sie sind so gut,« antwortete Natalie unter Tränen, »weit besser als alle anderen Menschen, die ich kenne, und ich habe Sie von Herzen lieb; aber was Sie von mir verlangen, das kann ich nicht!«

»Das dachte ich mir,« sagte der Kalifornier ruhig und geschäftsmäßig. »Nur mußte ich sprechen, auch Ihretwegen, weil ich immer denken werde, daß ein anderer nicht so für Ihr Glück sorgen kann, wie ich es getan haben würde. – Aber davon wollen wir nicht weiter reden! – Und noch eins: ich möchte nicht, daß Sie ganz aus meinem Leben verschwänden. – Wollen Sie mir schreiben?«

»Gern, gern werde ich es tun.«

»Sehr wohl. Meine Adresse ist leicht zu behalten: Bank von Kalifornien in San Francisco. Sollten Sie das vergessen, Direktor Brent weiß, wo ich zu finden bin. – Soll ich Ihnen schreiben?«

»Ach bitte, tun Sie das!«

»Es soll geschehen! – Und wenn Sie einen Freund brauchen, – ich bin immer da, das vergessen Sie nicht! Und nun geben Sie mir die Hand wie ein guter Freund – und als guter Freund nehme ich von Ihnen Abschied.«

Sie reichte ihm die Hand, die er sanft drückte und dann langsam wieder freigab.

Am nächsten Tage war John Maclean gegangen, und nun war die Villa in Lower Norwood in der Tat ganz still und öde geworden. Auch auf den Kindern schien das Unglück des Hauses zu lasten. Man hörte sie nicht mehr lachen, und sie wurden still und ernst und sahen eingeschüchtert aus, wie Kinder, die von gekauften Händen gepflegt werden. Monja gab sich große Mühe, um sie aufzuheitern – aber es gelang ihr nicht. Ja, die Herzen der Kleinen schienen sich von ihr abzuwenden. Sie waren gern mit Natalie, ruhig und freundlich, wenn diese oder die Mägde sich mit ihnen beschäftigten; aber vor der eigenen Mutter schienen sie Furcht zu haben, und wenn sie eine kleine Weile mit ihr zusammen gewesen waren, so baten sie mit befremdlicher, ängstlicher Artigkeit, die Mutter möge ihnen doch erlauben, mit Tascha zu spielen.

Monja bemerkte diese Zurücksetzung, ohne darunter zu leiden. Die Kleinen seien, wie die meisten Kinder, launenhaft und unberechenbar. Mit den Jahren würden sie von selbst herausfinden, daß die Mutter ihnen unvergleichlich näher stände, als alle anderen Menschen, und würden sich ihr dann dementsprechend anschließen. – Frau Monja hatte ihre kühle Objektivität nicht verloren; aber sie war seit dem Tode des Direktors eine andere Frau geworden, zunächst nachdenklich, dann unruhig, endlich schwermütig.

Als ihr erster Mann, der Grieche Antoniades, gestorben war, hatte ihre Mutter noch gelebt. Sie war zu ihr gezogen, und das Haus der jungen, schönen Witwe hatte sich bald wieder mit Freiern und Freunden gefüllt. Sie hatte in vielen Blicken das Verlangen gelesen, sie zu trösten, und hatte sich nach Ablauf der üblichen Frist von Herrn Direktor Maclean trösten lassen. Ihre erste Ehe war eine kurze gewesen. Sie war in der schönsten Jugend aus derselben herausgetreten, und das ganze Leben hatte damals noch vor ihr gelegen. – Jetzt war alles anders. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, sie besaß eine erwachsene Tochter, zwei Kinder, die heranwuchsen. Sie hatte bis dahin nie an ihr Alter gedacht. Ihre Schönheit stand auf dem Höhepunkt der Reife und Vollkommenheit. Jetzt kam sie sich plötzlich alt vor – und sie wurde alt. Kleine, zunächst kaum bemerkbare Fältchen lagerten sich um die Augen und den Mund, und eines Nachts, als sie vor dem Schlafengehen ihr Haar ordnete, erblickte sie im Spiegel ein schneeweißes Haar an ihrer Schläfe. Es mußte im Laufe des Tages weiß geworden sein. Sie hatte es am Morgen nicht bemerkt.

Es war ganz still in dem warmen Gemach, und auch draußen herrschte feierliche Ruhe. Frau Monja blieb vor dem Toilettentisch sitzen, auf dem zwei Kerzen brannten, die ihr Spiegelbild hell beleuchteten. – Das weiße Haar kümmerte sie nicht; aber die Gedanken, die langsam, unwiderstehlich in ihr aufstiegen und ihr ganzes Wesen wie in einen kalten Nebelmantel einhüllten, lagerten düstere Schatten auf ihre Stirn. – Was sie im Leben noch nicht erreicht hatte, das würde sie nun auch nicht mehr erreichen! – Und was hatte sie erreicht? Wohin hatten sie die tausend Erfolge, nach denen sie so heiß gerungen hatte, auf die sie stolz gewesen war, nun geführt? – Sie war die unbekannte Witwe eines zu seinen Lebzeiten hochgeachteten, nunmehr bereits vergessenen Mannes. – Ihr Haus war seit seinem Tode vereinsamt. – In den ersten Tagen nach dem Trauerereignis waren zahlreich Visitenkarten bei ihr abgegeben worden mit dem üblichen »p. c.« in der eingeknifften Ecke. Einige näher stehende Bekannte hatten der Witwe persönlich ihre Aufwartung gemacht; – aber seit Wochen ließ sich niemand mehr im Hause blicken. Sie mußte sich eingestehen, und sie tat es mit dem bitteren Gefühle verletzten Stolzes, daß der schlichte, wortkarge, pedantische Mann, um den sie sich seit Jahren kaum noch bekümmert hatte, weil er »schwer« war, weil er sie langweilte, den niemand in Gesellschaften zu bemerken schien, wo sich alles um sie, die Schönste der Schönen, drängte, daß dieser Mann es gewesen war, dem sie alles verdankte, was sie im Leben erfreut hatte. Sie fühlte jetzt, da sie allein blieb, was sie mit Harry Maclean verloren hatte. – Wo waren die Freunde des Hauses geblieben? – Verschwunden! Und ihre Freunde? – Sie hatte nie Freunde gehabt. – Sie dachte an Katharina und John, aber nur einen Augenblick, dann machte sie entmutigt eine abwehrende Bewegung mit der Hand; an Valerie, die Getreue. – Sie lächelte bitter. Die liebenswürdige Schneiderin war ihr mit ihren überschwänglichen Ergebenheitsversicherungen plötzlich unangenehm geworden. Sie hatte ihr nicht etwa die Tür gewiesen, sie zeigte ihr, wenn sie kam – was häufig geschah –, ein möglichst freundliches Gesicht, und ihre Trauerkleider waren im »Hause Didier« gemacht und wie gewöhnlich übermäßig teuer und sofort bezahlt worden; – aber mit der Liebe für die Jugendfreundin war es wohl zu Ende; denn zweimal schon hatte Monja sich, wenn auch in der schonendsten, vorsichtigsten Weise, vor der treuen Valerie verleugnen lassen. Sie konnte doch am Ende nicht die Schneiderin Mademoiselle Didier zum Grundpfeiler des gesellschaftlichen Gebäudes machen, in dem sie in Zukunft hausen wollte! – Wenn sie sich wieder verheiratete? Sie dachte als Freier an diesen und jenen, die jahrelang zu ihren Füßen gelegen und wiederholentlich zu verstehen gegeben hatten, daß sie mit Freuden ihr »Herzblut« für sie hingeben wurden. Aber dieser kam nicht und wäre möglicherweise nicht gekommen, auch wenn sie ihn gerufen hätte, und jenen, der die Hand der reichen Witwe wohl bereitwillig ergriffen haben würde, wenn sie sie ihm gereicht hätte, jenen wollte sie nicht.

Frau Monja hatte den Liebes- und Freundschaftsbeteuerungen ihrer Anbeter, auch der ausgezeichnetsten unter ihnen, niemals vollen Glauben beigemessen; aber daß das angebotene »Herzblut«, das sie in Gedanken oftmals berauscht hatte, ein so elender, nüchterner Saft sei, wie sie nun erkannte, das hatte sie doch nicht erwartet, und das quälte sie. – Blieb ihr denn nichts, nachdem Harry, der ihr so wenig gewesen, gestorben war?

Ein neuer Gedanke, nagender, bitterer als alle anderen, schien in ihr aufzusteigen, denn ihre Mienen verfinsterten sich, und sie preßte die kleinen, blauweißen Zähne scharf zusammen. – Aber von diesem Gedanken mußte sie sich befreien: es war unerträglich. – Sie stand hastig auf und trat in das Nebenzimmer, in dem Natalie schlief. – Sie hatte, unmittelbar nach dem Tode ihres Mannes, das Schlafzimmer ihrer Tochter neben das ihrige verlegt. Die Einsamkeit der Nacht war ihr beängstigend gewesen, sie hatte ein lebendes Wesen in ihrer Nähe wissen wollen. – Natalie schlummerte sanft. Frau Monja beugte sich vorsichtig zu ihr hinab und drückte einen leisen, langen Kuß auf ihre Stirn. Sie trat beruhigter wieder in ihr eigenes Gemach zurück und vollendete ihre Nachttoilette, wobei sie um den feinen, nackten Hals nichts als ein leichtes, seidenes Tuch schlang. Dann begab sie sich ohne weiteres zur Ruhe, nachdem sie, in dem Augenblick, wo sie sich niederlegte, hastig das Zeichen des Kreuzes geschlagen hatte.


 << zurück weiter >>