Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

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XIII

Das Leben in Lower Norwood hatte sich, seitdem die regelmäßigen und geheimen Ausflüge Monjas von Katharina beobachtet worden waren, nicht mehr verändert. Die Hausbewohner waren in verschiedene Gruppen geteilt, die eigentlich nur noch während der gemeinsamen Mahlzeiten zusammentrafen: Katharina und Harry, Monja und Nikolaus, John und Natalie. – Frau Monja, wenn sie zu Hause war, ging dort in ihrer gewöhnlichen, stillen Weise einher, machte sich etwas mit den Kindern, etwas in der Wirtschaft zu schaffen, oder las und ruhte. Sie ruhte viel, und es schien ihr vortrefflich zu bekommen: aus ihren tiefen, heißen Augen blickten Befriedigung und Freude am Leben; ihr schönes, bleiches Angesicht war wie ein Bild sicheren Seelenfriedens. – Von Ohlsen sah man wenig. Früher hatte er häufig mit Monja im Wohnzimmer zusammen gesessen oder lange Spaziergänge in dem schattigen Park mit ihr unternommen; aber schon seit Johns Ankunft war eine gewisse Veränderung in dieser Beziehung eingetreten, und nachdem Katharina sich in der Villa niedergelassen hatte, waren die Begegnungen in Lower Norwood zwischen Monja und Nikolaus selten und kurz geworden. Nikolaus verbrachte den größten Teil des Tages auf seinem Zimmer. Was er, der weder ein viel lesender noch ein viel schreibender Mann war, dort tun mochte, um die langen Stunden auszufüllen, wußte niemand. –

Zwei Menschen kümmerten sich vielleicht darum: Katharina und Natalie. Beide hatten Gelegenheit gefunden, darüber mit John zu sprechen; aber es war ihnen nicht gelungen, das, was sie wissen wollten, in Erfahrung zu bringen.

Katharina hatte mit Verwunderung bemerkt, daß John anscheinend nur geringen Anteil an dem Unglück seines Zwillingsbruders nahm. Jedenfalls war er Frau Monja und Ohlsen gegenüber nicht von jener Entrüstung und Erbitterung beseelt, die das Herz der alten Schwester füllten. Es war deshalb auch eine gewisse Erkältung zwischen den beiden Geschwistern eingetreten. Katharina, die zwar Harry gegenüber an dem Vorhandensein eines Verhältnisses zwischen ihrer Schwägerin und Ohlsen noch zu zweifeln schien, war in ihrem Innern fest von der Schuld der beiden überzeugt und sprach mit John darüber wie von einer unbestreitbaren Tatsache. Dies wollte der Kalifornier aber nicht gelten lassen.

»Es wird viel Schlechtes in der Welt über andere Leute geredet, woran nichts Wahres ist,« sagte er.

»Aber hast du denn keine Augen!« fuhr Katharina entrüstet auf. »Oder willst du nicht sehen?«

»Gerade weil ich Augen habe und recht gute obendrein, glaube ich, mich auf meine eigenen Wahrnehmungen verlassen zu dürfen. Ich sehe nichts Verdächtiges. Ohlsen wohnt hier im Hause, weil Harry ihn gebeten hat, sein Gast zu sein, Monja behandelt ihn freundlich und zuvorkommend, wie dies als Wirtin ihre Pflicht und Schuldigkeit ist, die beiden verkehren freundschaftlich miteinander, wie wir es alle erwartet und gewünscht haben. – Ich sehe in alledem keinen Grund zu irgendwelcher Beunruhigung oder zu einem bösen Argwohn.«

»So!« entgegnete Katharina mit schwer verhaltenem Ingrimm ob der Verstocktheit und Stumpfsinnigkeit ihres Bruders. »So! Du siehst nichts! – Willst du mir sagen, was Herr Nikolaus Ohlsen hier zu suchen hat, weshalb er hier bleibt? Ist es etwa Harrys wegen, der sich nicht um ihn bekümmert? – Ist es um Natalie, das arme Kind, das sich in Liebe um ihn verzehrt? – Was in der Welt könnte ihn verhindern, um sie anzuhalten und sie heimzuführen? – Ist es deinetwegen? – Wo seht ihr beide euch, wann sprecht ihr miteinander? – Du sagtest mir, er sei nach England gekommen, um sich zu verheiraten. Sucht er in diesem Hause eine Frau? – Nach Harrys Briefen hatte ich immer angenommen, es sei ein offenes Haus. Das muß sich aber seit der Ankunft des Fremden geändert haben; denn außer der französischen Schneiderin habe ich, seitdem ich hier bin, noch kein weibliches Wesen über unsere Schwelle treten sehen. – Nun, so antworte doch! . . . Was hält ihn hier? – Er schleicht wie das böse Gewissen umher. Und er hat guten Grund dazu, der Elende! – Scham, Schimpf und Schande über ihn! Weshalb zieht er nicht seiner Straße? Ist die Welt nicht groß genug für alle? Weshalb stört er unseren Frieden? – Ich sage dir, nur eines fesselt ihn hier: ein sündiges, schlechtes Weib. Ich hasse sie. Wenn ich ihre Blicke umherschweifen sehe, so muß ich an mich halten, um ihr nicht laut zuzurufen, sie solle die Augen niederschlagen und kein öffentliches Ärgernis erregen durch ihre Niedrigkeit. Ich möchte ihr einen Trank eingeben, der ihren Frieden zerstörte, der sie schwer und elend und krank machte, wie sie unseren armen Harry gemacht hat!«

John schwieg. Ihn hatte in dem Zornesausbruch seiner Schwester vor allem ein Satz berührt, der nämlich, in dem Katharina von Nataliens Liebe für Nikolaus gesprochen hatte. Er war darüber sehr nachdenklich geworden. Sie beobachtete ihn, sie hoffte, sein Vertrauen erschüttert zu haben, und besänftigter, zutraulicher fuhr sie fort:

»Ich glaube, der Fremde bereut, was geschehen ist. Er ist jahrelang dein Freund gewesen, und ursprünglich war er vielleicht nicht schlecht. Er mag gekämpft haben, ehe er unterlegen ist, aber sie war zu stark für ihn mit ihrer Macht und ihrer List. Was ihn jetzt drückt, das ist, zu wissen, er darf einem Ehrenmanne nicht mehr ins Auge sehen. Könnte er alles ungeschehen machen, er täte es. Ich möchte schwören, daß er sie nicht mehr liebt – vielleicht hat er sie nie geliebt. Aber sie hält ihn, sie hat ihn sich erobert. Er ist ihr Eigentum, sie gibt ihn nimmer frei. Sie hängt sich an ihn wie eine Klette! – Weshalb, John, hört man nichts mehr von eurer Reise nach Kalifornien? Er wollte fort, und du hattest ihm versprochen, ihn zu begleiten. – Wochen sind vergangen, seit du von eurer Abreise als nahe bevorstehend sprachst – jetzt ist nicht mehr die Rede davon. Es tut mir leid, mich schon wieder von dir zu trennen; aber ich sage dir: geh' und schaffe den untreuen Menschen aus dem Hause – um jeden Preis, auch um den unseres Zusammenlebens, das ich jahrelang ersehnt hatte!«

»Er hat nicht wieder von der Reise gesprochen. Es ist richtig, daß ich in den letzten Tagen wenig von ihm gesehen habe,« antwortete John zerstreut.

»Er hat nicht wieder davon gesprochen, weil sie es ihm verboten hat!«

»Unsinn! – Weshalb sollte er ihr gehorchen?«

»Hat sie nicht Gewalt über ihn? – Und wenn sie ihm gesagt hat: ›Wenn du gehst, so folge ich dir, mir ist dann alles gleich?‹ – Harry, der sie kennt, sagte mir, sie sei eine, die auch mit Schimpf und Schande leben könne, ohne unglücklich zu sein. Das könnte sie; aber dein Freund kann es nicht. Er weiß in seiner tiefsten Brust, daß er ein Elender ist, – sich selbst täuscht er darüber nicht; – aber er will den Schein, daß er die anderen täuscht, aufrechterhalten. Ihre Befehle allein halten ihn hier zurück – glaube mir!«

»Ich will ihn an die Rückreise nach Kalifornien erinnern,« sagte John, noch immer auffallend zerstreut.

»Tue das . . . entferne ihn! – Du rettest Harry das Leben.«

John begab sich schnurstracks auf Ohlsens Zimmer. Er wußte nicht, wie er mit ihm sprechen sollte; jede Verstellung wurde ihm schwer, und da er von Nikolaus Schuld nicht überzeugt war, so wollte er keinen Argwohn zeigen. – Aber auch auf die Gefahr hin, daß Katharina sich irrte, wollte er Ohlsen nun aus Lower Norwood entfernen. Da Harry und Katharina dem Gast mißtrauten, so war es unter allen Umständen gut, daß er aus dem Hause verschwand. Auch für Natalie war es gut, daß er ging, wenn sie ihn liebte, und er ihre Gefühle nicht erwiderte oder nicht bekennen durfte. – Ja, entschieden, auch für Natalie war es gut, daß Nikolaus ging!

Ohlsen war nicht auf seinem Zimmer. Er war überhaupt nicht in Lower Norwood. Der Gärtner sagte, er sei gegen zehn Uhr morgens fortgegangen und nicht wieder zurückgekommen. – Es war drei Uhr nachmittags.

Darauf suchte John Natalie auf, um mit ihr einen Spaziergang zu machen. Aber die Unterredung zwischen den beiden guten Freunden wollte diesmal nicht in das zutrauliche Geleise kommen, in dem John gewünscht hätte, sie sein ganzes Leben lang fortführen zu können. Er war mit dem Gedanken beschäftigt, daß Natalie eine unglückliche Liebe für Nikolaus hege. Er wollte sich Gewißheit verschaffen; aber es fehlte ihm der Mut, eine gerade Frage darüber an Natalie zu richten, und er war zu ungeschickt, um auf krummem Wege etwas aus ihr herauszulocken, das sie wie ein Geheimnis bewahren mochte. – Der große, starke Mann blickte bemitleidenswert melancholisch auf das zarte, kleine Wesen herab, das an seiner Seite, anscheinend unbekümmert um sein Leid, leicht einherschritt, und seine Brust hob sich mehr als einmal zu einem Seufzer, den er nur zu unterdrücken vermochte, indem er sich selbst zurief: »Jack, alter Mann! – Sei kein Narr!« – Aber er war ein Narr geworden, und Natalie, welche anfing, sich unbehaglich zu fühlen am Arme des Freundes, der heute so eigentümliche Manieren zur Schau trug, würde dies ohne Zweifel durch einige Fragen, die ihr auf der Zunge schwebten, entdeckt haben, wenn beider Aufmerksamkeit nicht plötzlich durch das Läuten der Glocke des Gartentors, dem sie sich genähert hatten, in Anspruch genommen worden wäre. – Es war halb vier Uhr nachmittags.

Die Tür wurde geöffnet, und ein schwarzgekleideter Herr trat in den Park. John erkannte den Unterdirektor der Western-Bank, dem er von seinem Bruder vorgestellt worden war. Sicherlich etwas ganz Außergewöhnliches und Wichtiges mußte vorgefallen sein, um diesen Mann zu veranlassen, wahrend der Geschäftsstunden nach Lower Norwood zu kommen. John näherte sich ihm schnell und besorgt.

»Was gibt's, Herr Brent?«

Herr Brent sah verstört aus. Er ergriff Johns Hand und sagte mit auffallender Wärme:

»Es ist mir sehr lieb, daß ich Sie zuerst antreffe, Herr Maclean. – Wo ist Ihre Frau Schwägerin?«

»Was gibt's, Herr Brent?«

»Ihrem Bruder ist ein Unfall zugestoßen.«

John erbleichte, und seine Augen öffneten sich weit.

»Ist er tot?« fragte er heiser.

»Nein, Gottlob! . . . Aber er hat sich schwere innere Verletzungen zugezogen . . . Er ist überfahren worden.«

»Wo ist er?«

»Ich habe ihn durch einen Expreßzug nach Lower Norwood schaffen lassen. Der Doktor ist bei ihm. Er wird in einer Sänfte hergetragen. Er kann in wenigen Minuten hier sein. – Wo ist seine Frau?«

»Natalie, rufen Sie Ihre Mutter!«

»Sie ist ausgegangen.«

»Rufen Sie meine Schwester! . . . Herr Brent, ich folge Ihnen.«

»Nein, bleiben Sie hier. Die Sänfte muß jeden Augenblick kommen und darf auf der Straße nicht angehalten werden.«

John Maclean räusperte sich. Sein Atem kam und ging schnell. Er schaukelte sich von einem Fuß auf den anderen. Dann öffnete er die Gartentür und blickte hinaus.

»Beruhigen Sie sich,« sagte Herr Brent teilnehmend; »es ist noch Hoffnung vorhanden.«

»Natürlich! . . . Natürlich! . . .« antwortete John.

Da eilte Katharina die Freitreppe der Villa herunter und stürzte auf ihren Bruder los. Sie sah erschrecklich aus mit ihrem bleichen Gesicht und den unheimlich blitzenden, großen, schwarzen Augen.

»Wo ist Harry?« rief sie mit wehklagender, herzzerreißender Stimme.

»Er kommt, Kitty, er kommt!«

»O, die Elenden! Sie haben ihn ermordet!«

»Schweig', Kitty! – Ich beschwöre dich, sei ruhig! Es ist ihm ein Unfall zugestoßen! Er ist überfahren worden! . . . Da ist er!«

Durch die offene Gartentür trugen vier starke Männer eine schwere Bahre. Sie gingen langsam, festen, weiten Schrittes, im Takt, wie professionelle Leichenträger. Sie hatten gemeine, teilnahmlose Gesichter, die von der Anstrengung erhitzt und gerötet waren. Neben der Bahre schritt ein Herr mit ernstem, stillem Gesicht: der Arzt. Er begrüßte die Anwesenden und bat, ihm zunächst das Zimmer anzuweisen, in das der Kranke gebracht werden sollte.

Katharina, die plötzlich ganz ruhig geworden war, ging voran, und der Arzt folgte ihr. John und Herr Brent schlossen den traurigen Zug. Natalie war auf eine Gartenbank niedergesunken und schluchzte laut.

Der Kranke wurde in sein Schlafzimmer gebracht. Er war bereits verbunden und wurde nun unter der Leitung des Doktors von seiner Schwester sanft gebettet. Seine Augen waren geschlossen. Katharina warf einen langen, sehnsüchtigen Blick auf das bleiche Angesicht, auf dem ein Ausdruck tiefsten seelischen Schmerzes sich gelagert hatte. Ihre Nasenflügel öffneten sich weit, und sie atmete schwer und vernehmlich. Aber sie sprach kein Wort und schien nur darauf bedacht, die Anordnungen des Arztes auf das beste auszuführen.

Dieser winkte ihr jetzt, sich vom Lager des Kranken zu entfernen und sagte ihr dann leiser, um die anscheinende Ruhe des Kranken nicht zu stören:

»Es ist augenblicklich nichts zu tun. In einer Stunde werden Dr. Morris und Dr. Alisson hier sein, um sich mit mir über die Behandlung Ihres Herrn Gemahls zu beraten.«

»Er ist mein Bruder.«

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau; ich habe nicht die Ehre, Frau Harry Maclean zu kennen . . . Das einzige, was wir augenblicklich für Ihren Bruder tun können, ist, ihm vollständige Ruhe zu sichern. Das überlasse ich Ihnen. Ich werde unten auf meine Kollegen warten. Falls der Kranke inzwischen aufwachen sollte, so bitte ich Sie, mich zu rufen. – Herr Brent, Herr Maclean, Sie folgen mir wohl! Je weniger Personen im Zimmer sind, desto besser für den Patienten.«

Die drei Männer entfernten sich.

Katharina blieb allein mit ihrem Bruder. Sie setzte sich an das Bett, und ihre Augen hefteten sich auf das Angesicht des Leidenden. Sie saß still, ohne sich zu rühren, ohne einen Laut von sich zu geben.

Bald darauf kam Frau Monja aus London zurück. Sie trat müden Schrittes in den Park, ruhebedürftig. Die erste Person die sie dort sah, war die weinende Natalie.

»Weshalb weinst du, mein Kind?«

»Ach, der arme Vater!«

»Was ist geschehen?« fragte Monja ängstlich und schnell.

»Er ist überfahren worden . . . Sie haben ihn eben auf sein Bett niedergelegt.«

»Doch nichts Gefährliches, hoffe ich?«

»Ich weiß nicht, Mama. Der Arzt ist im Wohnzimmer mit Herrn Brent und Onkel John.«

Frau Monja beschleunigte ihre Schritte ganz bemerkbar und würde die Stufen zur Freitreppe hinaufgelaufen sein, wenn ihre Kleider sie nicht verhindert hätten. Sie trat sichtlich aufgeregt in den Salon und ließ sich von dem Arzt, nachdem dieser ihr von Herrn Brent in üblicher Form vorgestellt worden war, bis in die kleinsten Einzelheiten alles berichten, was dieser über den beklagenswerten Vorfall wußte. Sie äußerte sodann den lebhaften Wunsch, den Verwundeten zu sehen, ließ sich jedoch, nach einigem Widerstand, vom Doktor überzeugen, daß es im Interesse des Kranken am besten sei, auf die Erfüllung dieses Wunsches vorläufig zu verzichten, da Herr Maclean der Ruhe bedürfe und ihm die Aufregung erspart bleiben müsse, die der Anblick der Gattin hervorrufen könnte.

Darauf legte Frau Monja den Mantel ab, zog die langen schwedischen Handschuhe aus, was einige Zeit erforderte, da sie mit einer großen Anzahl von Knöpfen versehen waren, und ließ sich endlich auf einem bequemen Sessel nieder, auf dem sie schweigend und nachdenklich, mit sichtbarer Bekümmernis in den Mienen, verharrte, bis Dr. Morris und Dr. Alisson erschienen und mit dem bereits anwesenden Kollegen zur Beratung in das Krankenzimmer traten.

Man hatte Harry in das gemeinschaftliche Schlafgemach gebracht. Es war dies auf Miß Katharinas Anordnung geschehen. Er wäre in jedem anderen Zimmer ebensogut, ja vielleicht besser aufgehoben gewesen, denn das Schlafgemach lag nach vorn heraus und war nicht so ruhig wie einige andere Zimmer, an die Frau Monja dachte. Es war bedauerlich, daß die ersten Anordnungen nicht von ihr selbst getroffen worden waren, man hätte dann manches zweckmäßiger einrichten können. Miß Maclean war zweifellos von der besten Absicht beseelt; aber man durfte nicht von ihr erwarten, daß sie den Hausstand in Lower Norwood so kenne, wie die Herrin desselben. Augenblicklich ließ sich nun aber an den getroffenen Anordnungen nichts mehr ändern, und es handelte sich nur darum, Harry dort, wo er war, möglichste Ruhe und jeden erdenklichen Komfort zu verschaffen.

Gegen halb sechs Uhr erschien Ohlsen. – Die Doktoren hatten sich bereits in das Krankenzimmer begeben. John war geräuschlos aus dem Wohnzimmer verschwunden. Er wartete auf dem Flur vor dem Krankenzimmer auf den Ausspruch der Ärzte. – Herr Brent hatte sich mit der Versicherung zurückgezogen, er werde am nächsten Morgen, ehe er auf die Bank ginge, wieder vor[bei]kommen, um Nachrichten über das Befinden des Direktors einzuholen. – Frau Monja war allein im Salon, als Ohlsen dort eintrat. Sie erzählte ihm mit besorgter Miene, mit flüsternder Stimme, was vorgefallen sei und sprach zum Schluß mit tiefer Inbrunst die Hoffnung aus, daß alles gut vorübergehen möge; Harry stehe glücklicherweise im kräftigsten Mannesalter; er sei, seitdem sie ihn kenne, nie, auch nur einen Tag krank gewesen. Unter solchen Umständen dürfe man von der Natur gute Hilfe erwarten.

Frau Monja tröstete ihre Umgebung; aber Ohlsen schien dafür wenig Verständnis zu haben; denn er entgegnete kein Wort, sondern schlich auf den Fußspitzen aus dem Salon die Treppe hinauf, um sich in sein Zimmer zu begeben. Frau Monja sah ihm nachdenklich nach, und ihre Züge blieben sorgenschwer, auch nachdem er gegangen war.

Auf dem Flur im ersten Stockwerk erblickte Nikolaus seinen Freund John, der mit kummervollem Gesicht vor der Tür des Krankenzimmers Wache stand. Ohlsen drückte ihm stumm und fest die Hand, und dabei traten ihm die Tränen in die Augen. Als er, auf seinem Zimmer angelangt, allein war, setzte er sich nieder und blickte mit blöden Augen, wie jemand, den ein schwerer Schlag betäubt hat, vor sich nieder und dann wieder in den Garten, dessen Blätter von den Strahlen der untergehenden Sonne vergoldet wurden, wie an jenem Tage, da er mit Harry zum ersten Male in den Park von Lower Norwood getreten war.


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