Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

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XI

Katharina hatte ihrem Bruder John zunächst nur einen sehr dürftigen Bericht über ihre Unterhaltung mit Harry erstattet. Sie hatte sich darauf beschränkt, zu sagen, Harry sei mit seiner Frau unzufrieden, ihre Oberflächlichkeit mache ihn unglücklich und beunruhige ihn wegen der Zukunft. John schüttelte den Kopf. Diese Erklärung für die Traurigkeit seines Bruders wollte ihm nicht einleuchten.

»Ist in jüngster Zeit etwas vorgefallen, was ihn beunruhigt?« fragte er.

»Nein, es ist nichts vorgefallen. – John, sie ist eine schreckliche Frau! Warum hat Harry sie genommen? Ein gutes schottisches Mädchen hätte ihn glücklich gemacht.«

»Hat er von meiner Abreise gesprochen?«

»Nein. Wir haben nur von seinem Verhältnis zu seiner Frau gesprochen.«

Der Kalifornier war enttäuscht. Er hatte darauf gerechnet, daß sein Bruder sich seiner Abreise von England widersetzen würde, und er hatte in seinem Geiste die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß er Harrys Wünschen schließlich nachgeben werde. Zum wenigsten würde er ihm gern versprochen haben, in einer bestimmten kurzen Frist, in sechs Monaten etwa, von Kalifornien nach London zurückzukehren. Aber nun war von ihm und seiner Reise gar nicht die Rede gewesen. – Er fühlte sich dadurch wie durch eine Vernachlässigung gekränkt. – Und doch war es die Anzeige seiner Abreise gewesen, die Harry zuerst in so große Aufregung versetzt hatte.

»Ich sehe meinen Weg nicht mehr,« sagte John mißtrauisch. »Ich glaube, du verheimlichst mir auch etwas. Jedermann scheint hier Geheimnisse zu haben: du, Harry, Nick! Ich weiß nicht mehr, was ich von euch und mir denken soll, wenn ich sehe, wie ihr mich behandelt.«

»Du nennst den Fremden auf gleicher Linie mit deinen Geschwistern!«

»Er ist mein Freund.«

»Er ist nicht dein Bruder! . . . Er gefällt mir nicht!« fuhr sie mit plötzlicher Leidenschaftlichkeit fort, die John erstaunt aufblicken machte. »Er gehört nicht zu uns! Was hat er hier zu suchen?«

»Bist du von Sinnen?« fuhr John auf. »Er ist unser Gast, und wir schulden ihm Ehre!«

»Und schuldet er seinem Wirte nichts?«

»Hat er in dieser Beziehung seine Pflichten verletzt?«

»Was weißt du davon? – Ich glaube, er sät Unfrieden und sinnt Verrat!«

John hatte nun einmal in seinem Kopfe festgesetzt, daß Nikolaus nach Nataliens Hand trachtete. Weshalb dem jungen Mann das so verdacht wurde, begriff John nicht. Der Gedanke. daß es sich um ein anderes weibliches Wesen als Natalie handeln könnte, kam ihm nicht. Aber es erschien ihm als Pflicht, den Freund zu verteidigen, auch wenn er dadurch sein eigenes Glück mit zerstören half.

»Es ist erlaubt, um die Tochter des Hauses in ehrlicher Weise zu freien,« sagte er.

»Um die Tochter des Hauses . . . in ehrlicher Weise?« wiederholte Katharina mit bitterstem Nachdruck auf die Worte »Tochter« und »ehrlich«.

John trat einen Schritt zurück und starrte seine Schwester erschreckt an. – Sie beantwortete seinen fragenden Blick durch ein bedeutungsvolles Neigen des Hauptes.

»Unmöglich,« brachte John endlich hervor. »Er ist treu wie Stahl.«

»Er ist wie alle Männer in den Händen einer Frau: ein schwankendes Rohr, unzuverlässig, weich wie Wachs. Sie hat ihn behext. Sie ist eine böse Hexe, es ist kein Tropfen guten Blutes in ihr!«

»Ich hoffe, du irrst dich, Katharina.«

»Wir wollen sehen!«

So nachdenklich war John Maclean noch niemals in seinem Leben gewesen, wie er es nach dieser Unterredung mit Deiner Schwester wurde. Was ihn dabei verdroß, ja, worüber er sich schämte, das war, daß die Mitteilungen Katharinas ihn zwar im ersten Augenblick heftig erschreckt, aber schließlich doch nicht in dem Maße entrüstet hatten, wie dies hätte der Fall sein sollen. Und dazu kam, daß seine unverzeihliche Nachsicht nicht etwa aus der Freundschaft für seinen alten Gefährten Nick entsprang; nein – er wagte nicht, es sich einzugestehen, und doch stand es klar vor seiner Seele: es war etwas in dem Unglück seines Bruders, was ihn nicht schmerzte. –

Katharina dagegen hatte keine Nebengedanken. Sie verfolgte nunmehr nur ein Ziel. Sie wollte die Verräter entlarven. Sie heftete sich stetig und still, nimmer müde, erschrecklich ermüdend, an Monjas Schritte. Wo diese erschien, folgte ihr Katharina wie ein Schatten, ohne ein Wort der Erklärung für ihre Anwesenheit zu geben, ohne im mindesten den Mißmut zu beachten, den ihre Zudringlichkeit binnen weniger Tage bei dem Opfer derselben hervorrufen mußte. – Was Katharina tat, das tat sie nicht zu ihrem Vergnügen, und es war für sie ohne Bedeutung, ob sie damit andern Freude machte oder nicht. Es handelte sich für sie nur darum, ihrem Bruder zu nützen, ihm Aufklärung zu verschaffen. Alles andere war in dem Augenblick Nebensache für sie. – Aber sie war in ihrem rücksichtslosen Eifer zu weit gegangen. Frau Monja lehnte sich auf. Sie klagte Harry unbefangen und unverhohlen ihr Leid.

»Deine Schwester ist hier herzlichst willkommen,« erklärte Frau Monja ihrem Mann in dem Ton einer Frau, die sich in ihren unantastbaren Rechten gekränkt sieht. – »Ich bin ihr auf das freundlichste entgegengekommen und werde dies auch in Zukunft tun; aber ich wünschte, du machtest sie darauf aufmerksam, daß wir hier in England in bezug auf unsere Gäste und Wirte andere Sitten haben als in Schottland zu herrschen scheinen. Ich will unberücksichtigt lassen, daß ich mich von deiner Schwester, sobald ich mit ihr zusammen bin, fortwährend beobachtet fühle, ja, daß sie jeden Hausbewohner und das ganze Hauswesen auf das strengste zu überwachen scheint. Sie beginnt ihre Besichtigungen, sobald sie aufsteht und unterbricht sie selbst während der Mahlzeiten nicht. Wenn sie die Suppe ißt, schweifen ihre Augen langsam und unermüdlich von einem zum andern. Es kann kein Wort, kein Blick gewechselt werden, ohne daß sie es zu notieren scheint. – Das ist eine Eigentümlichkeit, unter der wir alle zu leiden haben und von deren Beschwerde ich meinen Teil mittragen will, ohne mich zu beklagen; aber dieselbe äußert sich mir im besonderen gegenüber in einer Weise, die mir lästig wird. – Deine Schwester verfolgt mich auf Schritt und Tritt, von dem Augenblick an, wo ich mein Zimmer verlassen habe. Da ich ihr dabei unmöglich eine böse oder auch nur unfreundliche Absicht unterschieben kann, so nehme ich an, sie hält sich mir gegenüber zu dieser steten Begleitung verpflichtet, die übrigens für sie ebenso ermüdend sein muß wie für mich. Ich könnte ihr darüber nichts sagen, ohne sie zu verletzen. Das entspricht nicht meiner Absicht und würde mir peinlich sein; deshalb bitte ich dich, mit ihr darüber zu reden. Eine Bemerkung von dir, daß es bei uns Sitte ist, die persönliche Freiheit eines jeden möglichst zu achten, wird sicherlich den gewünschten Erfolg haben. Sollte das nicht der Fall sein, so würde ich mich genötigt sehen, meine Lebensweise zu ändern. Ich bin kein Kind mehr, das seine Gewohnheiten mit Leichtigkeit aufgibt. Ich habe es seit fünfzehn Jahren verlernt, stets jemand um mich zu haben, niemals allein, ungestört zu sein. Und wenn ich in unserem Wohnzimmer und Garten nie mehr meine eigene Herrin sein kann, so werde ich mir die wenigen Stunden Ruhe und Einsamkeit, deren ich bedarf, in meinem Schlafzimmer sichern.«

Frau Monja hatte diese lange und wohlbegründete Klage am Abend vor dem Schlafengehen geführt, als sie mit Harry allein war. Dieser hatte ihr zugehört, ohne sie mit einem Worte zu unterbrechen. Das Zimmer war matt erleuchtet durch eine Lampe, die in der Mitte auf einem niedrigen Tische stand, und deren mildes Licht noch durch einen farbigen Schirm gedämpft wurde. Harry konnte Monjas Gesichtszüge nicht deutlich erkennen. Aus ihrer Stimme klang nicht die geringste Erregung. So sprach eine Frau, die ihr gutes Recht gegen unbefugte Angriffe verteidigt. – Aber dies überzeugte Maclean nicht. Er hatte sich seit Jahren seine Ansichten über Monja gebildet: dazu gehörte auch, daß sie in gewissen Rollen eine Schauspielerin ersten Ranges sei. Ebenso ruhig, wie sie jetzt angriff, hatte sie sich stets verteidigt, auch wenn sie im Unrecht war und dies wußte, und keinen Zweifel darüber hegen konnte, daß ihr Mann von ihrer richtigen Selbsterkenntnis überzeugt sei. Sie hatte den Grundsatz, niemals einzugestehen, daß sie unrecht habe. Daß dies ungerecht sei, war ihr gleichgültig. Hatte sie irgend etwas Ungefälliges getan und machte man ihr darüber einen Vorwurf, so setzte sie sich darüber hinweg, daß sie den Tadel durch ihre Handlung hervorgerufen hatte und klagte nur darüber, daß ihr überhaupt ein Vorwurf gemacht werde. – »Du bist sehr unfreundlich,« sagte sie dann und zog sich wie eine unschuldig Gekränkte zurück. – Das starke Gerechtigkeitsgefühl des Schotten empörte sich gegen eine solche Auffassung; aber er fühlte sich dagegen machtlos, denn er wußte aus Erfahrung, daß nichts seine Frau bewegen werde, auf den von ihm getadelten Vorfall selbst zurückzukommen, und daß jede neue Bemerkung darüber von Monja nur als eine neue Härte zurückgewiesen werden würde. – Schließlich sagte er sich dann gewöhnlich, daß er um eine »Kleinigkeit« – in den meisten Fällen handelte es sich in der Tat nur um Kleinigkeiten – zu großen Aufheben mache, und ließ den Gegenstand fallen, nicht ohne das bittere Gefühl. daß das gute Recht leide. Dann triumphierte sie – und nicht immer im stillen. »Da hast du dich und mich wieder einmal recht unnütz geärgert,« pflegte sie bei solchen Gelegenheiten zu sagen; »ein anderes Mal sei doch vernünftiger.« – Es waren Nadelstiche, mit denen sie ihn verletzte, aber es war, als seien sie vergiftet, so schmerzten sie ihn. – Ähnliche häusliche Auftritte, die in den ersten Jahren der Ehe häufig gewesen, waren mit der Zeit selten geworden. Maclean vermied sie ängstlich, und Monja gehörte zu der Klasse von Frauen, die wenigstens dann verträglich sind, wenn man ihnen in allen Dingen nachgibt. Sie hatte seit Jahren ihren freien Willen und tat beinahe nur noch, was ihr gefiel. Alle Angriffe auf ihre Selbständigkeit waren von ihr systematisch zurückgewiesen worden – selten mit ehrlichen Waffen. Das kümmerte sie nicht. – Johanna, Harrys jüngstes Kind, fand es ganz in der Ordnung, ihren Bruder mit den Nägeln zu kratzen, wenn sie sich mit ihm zankte. Der kleine Harry weinte und wurde wütend. Aber er war ein richtiger Junge, und es wäre ihm unmöglich gewesen, seine Schwester wieder zu kratzen. – Maclean fühlte sich von den rosigen Nägeln seiner Frau zerfleischt, – er knirschte dazu mit den Zähnen, aber es war ihm unmöglich, mit denselben Waffen zu kämpfen wie sie. Ihr Gleichmut, ihre Höflichkeit, ja nicht selten ihre Zärtlichkeit nach solchen Auftritten waren ihm ein Greuel. – Aber auch dagegen war er machtlos. – Er hatte eine Furcht: er wußte, daß er jähzornig werden konnte. Manchmal fühlte er, angesichts der Ungerechtigkeit Monjas, das Blut in seinen Adern kochen. Er kämpfte mit der Kraft eines starken männlichen Willens gegen solche Aufwallungen. – Aber wenn seine Kraft einmal nicht genügte, wenn der Zorn seiner Herr würde! – Nein, das sollte nicht geschehen! – Wenn er fühlte, daß ihm ob ihrer Ungerechtigkeit das Blut zu Kopfe stieg, so entfernte er sich aus ihrer Gegenwart, und sie sah ihm dann achselzuckend und lächelnd nach. Sie wußte in solchen Fällen nicht, daß sie in Lebensgefahr geschwebt hatte. – Und wenn sie es gewußt hatte, so würde das auch nichts an ihrem Benehmen geändert haben. Furcht kannte sie nicht.

In dem vorliegenden Falle, gelegentlich ihrer Klagen über Katharinas Benehmen, erkannte Maclean, daß er seine Schwester nicht verteidigen konnte. Es war wieder die alte, elende, verächtliche Geschichte. – Daß Katharina guten Grund hatte, mißtrauisch zu sein – davon war nicht die Rede, sollte und konnte nicht die Rede sein! Aber daß Katharina ihre Schwägerin überwachen zu wollen schien, – das war unerträglich, dagegen erhob sich der starke Einwand. –

Frau Monja hatte, nachdem sie gesprochen, Harry ungestört seinen Gedanken überlassen und sich mit ihrer Toilette beschäftigt. Jetzt stand sie im Nachtgewand vor ihm und sagte freundlich: »Ich darf wohl darauf rechnen, daß du deiner Schwester meine Wünsche mitteilst. Dein Takt und deine Liebe zu ihr bürgen mir dafür, daß dies in schonender Weise geschieht. – Gute Nacht! – Ich bin müde!«

Sie reichte ihm die Wange zum Kuß, die er mechanisch, kalt berührte, und legte sich nieder, und bald darauf zeigten ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge, daß sie des erquickenden Schlafes ruhe, dessen sich der Gerechte seltener erfreut als der Herzlose. – Er stand leise auf und verließ das Zimmer auf den Fußspitzen. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, richtete sich Frau Monja im Bett in die Höhe und blickte nachdenklich um sich, mit einem sorgenvollen Ausdruck auf dem Gesicht. Nach einer Weile atmete sie tief auf und strich sich mit der flachen Hand über die Stirn, als wollte sie die Sorgen entfernen, die sich darauf gelagert hatten. Dann legte sie sich wieder nieder, und nachdem sie sich noch einige Male unruhig im Bett hin und her geworfen hatte, schlief sie ein. – Harry aber war ohne weiteres zu seiner Schwester gegangen, um mit dieser von der letzten Unterredung mit seiner Frau zu sprechen.

Die beiden Geschwister saßen sich stumm gegenüber.

»Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein,« sagte Katharina nach einer längeren Pause. »Ich will es nicht mit ihr verderben. Sie soll kein Recht haben, mich aus diesem Hause zu vertreiben.« – Sie schwieg wieder, und dann setzte sie plötzlich hinzu: »Ich begreife nicht, weshalb du den Menschen länger im Hause duldest, diesen Menschen, der so erbärmlich ist, einen Freund zu verraten.«

»Ich weiß nicht, ob er mich verrät. Ich fürchte nur, daß er es tut.«

»Nun, der dich verraten würde, wenn er Gelegenheit dazu hätte.«

»Das weiß ich auch nicht . . . Ich klage sie allein an.«

»Aber weshalb willst du ihn nicht entfernen, da er doch einmal die unmittelbare Ursache deiner Unruhe ist?«

»Die unmittelbare Ursache meiner Unruhe ist Monja, und die kann ich, Gott sei es geklagt, nicht entfernen!«

»Du hast auf alles Antwort,« entgegnete Katharina; »aber was du sagst, überzeugt mich nicht. Der Mensch gibt Ärgernis – entferne ihn! Warte ab, was später kommt. Vielleicht trifft nicht ein, was du für die Zukunft fürchtest. Kümmere dich um die Gegenwart. Entferne den Menschen!«

»Es geht nicht, Katharina. Das hieße alle Welt in mein Unglück einweihen, und das soll nicht sein – wenigstens nicht, bis die Schande mir sonnenklar vor Augen liegt . . . Dann wird es ein großes Unglück geben. – Dann sei Gott ihr gnädig!«

Er hob die geballte Faust drohend in die Höhe. Er sah furchtbar aus.

»Harry!« rief Katharina ängstlich.

Er biß die Zähne zusammen, so daß die Backenknochen auf seinem hageren Gesicht hervortraten und es breit und erschrecklich machten und wiederholte heiser, die Worte zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervorstoßend: »Dann sei Gott ihr gnädig!«


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