Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

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XVI

Harry war nicht wieder aus dem Schlummer erwacht, in den er gesunken, nachdem er seine Frau und seine Schwester Hand in Hand am Fuße des Bettes stehend erblickt hatte. – »Das ist gut!« waren seine letzten Worte gewesen, Worte des Friedens. – Katharina hatte sie in ihre Brust gegraben. Nicht eine Miene, geschweige denn ein Wort verriet, daß sie Frau Monja noch vor kurzem gehaßt und bei ihrem Bruder John gleiche Gefühle zu erwecken versucht hatte. Sie vermied ihre Schwägerin nicht mehr, wie dies während der Krankheit Harrys geschehen war, sondern ging ihr milde und friedfertig bei den traurigen Geschäften und Arbeiten zur Hand, die zwischen dem Sterbe- und Begräbnistage verrichtet werden mußten. Zwei ihrer Schwestern, Geraldine und Maria, die telegraphisch von dem Abscheiden Harrys benachrichtigt worden waren, hatten sich in Lower Norwood eingefunden, um der Bestattung des Bruders beizuwohnen: große, hagere, ernste Frauen, mit versteinerten, eckigen Gesichtern, die in ihren einfachen, gänzlich schmucklosen Trauerkleidern aussahen, als seien sie aus einem alten Bilde herausgetreten. Sie hatten Frau Monja bei ihrer Ankunft ohne ein Wort der Klage oder des Beileids begrüßt und waren seitdem für diese wieder unsichtbar geworden.

Die vier Geschwister saßen am Abend jenes Tages in Katharinas Zimmer. Diese hatte den Neuangekommenen soeben einen kurzen, aber vollständigen Bericht über die letzten Augenblicke des dahingeschiedenen Bruders erstattet.

»Seine Frau war gut und treu zu ihm, sagtest du?« fragte Maria.

»Das war sie,« antwortete Katharina bestimmt.

»Gott segne sie dafür,« sprachen darauf Geraldine und Maria gleichzeitig.

John warf seiner ältesten Schwester einen verwunderten Blick zu; aber er schwieg.

»Als ich ankam,« fuhr Katharina fort, »da glaubte ich die Schwägerin auf eitlen Tand allein bedacht und konnte ihr nicht freundlich gesinnt sein. Aber nun weiß ich, daß sie nur anders ist als wir, nicht schlechter, und in meinem Herzen habe ich ihr Abbitte getan ob meines raschen Urteils.«

John stand leise auf, um sich zu entfernen. Katharina hielt ihn nicht zurück. Sie kannte ihn und wußte, daß es keiner Unterweisung von ihr bedurfte, um ihn zu warnen, den Schwestern den alten Verdacht gegen Frau Monja zu offenbaren. Er würde davon nicht sprechen, dessen war sie sicher.

John ging in den Park. Ob Monja schuldig oder unschuldig war, kümmerte ihn in diesem Augenblick nicht. Sein Herz war ganz voll des wehen Gefühls, den Menschen, der ihm am nächsten gestanden hatte, verloren zu haben. Er konnte an nichts denken, nicht einmal an den Verlust, den er erlitten hatte; er fühlte sich schwer, müde und sehnte sich nach Dunkelheit und Einsamkeit. In einer Allee des Parkes setzte er sich auf eine Bank nieder, und dort, unter dem herbstlichen Himmel, von niemand gesehen, löste er den Zwang, den er sich bis dahin auferlegt hatte, und ließ seinen Tränen freien Lauf. Sie rannen lange und still über seine Wangen und gewährten seinem Herzen, das nicht trostesbedürftig war, ja das Trost wie eine Kränkung zurückgewiesen haben würde, Erleichterung. – John Maclean wußte, daß er sich männlich in sein Schicksal zu fügen hatte, und daß er dies auch tun werde. Er verzweifelte nicht am Leben oder am Glück, weil er das Teuerste verloren hatte; aber der Schmerz um den Verlust war das einzige, was ihm jetzt noch von seinem Bruder blieb; er wollte diesen Schmerz wahren und pflegen wie etwas Kostbares, und niemand sollte ihm dessen Schwere verringern. Er war Mann, sie zu tragen.

Da hörte er in der dunkeln Allee langsame Schritte. Eine Gestalt näherte sich, ohne ihn, der unbeweglich auf der Bank saß, zu bemerken. – Es war Ohlsen. – John ließ ihn vorübergehen. Er hatte das Gefühl, daß er ihn erschrecken würde, wenn er ihn beim Namen riefe. Als aber die Schritte sich in der Entfernung nur noch schwach vernehmen ließen, stand er auf und folgte ihnen. – Er hatte seinen Bruder verloren. Es blieb ihm ein Freund. Er hatte plötzlich den Entschluß gefaßt, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob er auch diesen verlieren müsse. Weit ausschreitend schlug er die Richtung ein, die Ohlsen genommen, und bald hatte er diesen so weit überholt, daß er die langsam vor ihm her wandelnde Gestalt wieder erkennen konnte. Ohlsen hatte die schweren Schritte hinter sich gehört und war stehen geblieben.

»Wer geht da?« fragte er unwillkürlich, alter kalifornischer Sitten eingedenk, da er in den Minen, wie in Feindesland gelebt und vor jeder fremden Annäherung im Dunkeln auf seiner Hut gestanden hatte.

»Freund!« antwortete John zurück.

Darauf vereinigten sich die beiden und gingen eine Weile ohne zu sprechen nebeneinander her. Dann sagte Maclean:

»Wir haben uns seit Harrys Tode noch nicht allein gesprochen. Ich habe einen Gruß von ihm für dich.«

Und er berichtete von seiner letzten Unterhaltung mit dem verstorbenen Bruder. Ohlsen hörte schweigend zu. Die beiden hatten jetzt eine kleine Lichtung erreicht. Über ihnen breitete sich ein trüber Nachthimmel aus. Der Mond, durch ein graues Wolkenlager verschleiert, hinter dem er blaß hervorschien, spendete kaltes, glanzloses Licht. Die entblätterten Bäume, die die Lichtung einfaßten, streckten ihre nackten Äste wie lange, schwarze Geisterarme in die Herbstnacht hinaus. Es war ein trauriger Platz, und es herrschte dort unheimliche Stille, die nur durch den fernen, klagenden Schrei eines Nachtvogels unterbrochen wurde. – »Hin ist hin!« so klang der Ruf des Vogels in Nikolaus Ohren. – »Hin ist hin!« – Dort blieb Maclean stehen und sagte kurz entschlossen:

»Ohlsen« – seit langen Jahren war es das erstemal, daß er ihn so anredete, und die ungewohnte Ansprache hatte in seinem Munde etwas Feierliches –, »wir haben, seit wir uns kennen, als Freunde nebeneinander gestanden. Ich hatte nie anders gedacht, als daß es so bleiben müsse, bis der Tod uns scheidet. Aber diese Zuversicht habe ich nun verloren und – du weißt es – nicht durch meine Schuld. Du hast etwas Fremdes zwischen uns geschoben. Aber wenn es nicht etwas ist, dessen du dich zu schämen hast, so wird die Zeit es beseitigen, und vielleicht entschließt du dich später, mir zu sagen, wie ich dazu helfen kann. Ich verlange keine Geständnisse von dir, und ich verlange keine feierlichen Erklärungen. Ein Mann, ein Wort! Wem ich nicht traue, dem glaube ich nicht, wenn er auch tausend Eide schwört. – Nikolaus, dies ist eine reine Hand . . .«

Er streckte die Rechte, die Finger weit ausgespreizt, Ohlsen entgegen.

». . . die Hand des Zwillingsbruders von Harry Maclean, neben dem ich unter einem Herzen geruht und vierzig Jahre lang in ungetrübter Liebe und Eintracht gelebt habe. Sie ist Blut von seinem Blute. Wenn du sie jetzt berührst, so berührst du auch die Hand des Toten. Darfst du das nicht – dann, Ohlsen, verschwinde! Hast du das Recht, sie zu ergreifen, dann nimm sie! – Da ist sie!« – Er streckte sie ihm mit heftiger Bewegung entgegen. – »Sie ist dein, und dann, bei Gott! Auf Leben und Tod!«

Ohlsen ergriff, ohne ein Wort zu sagen, die dargebotene Hand, deren Finger sich in zermalmendem Druck um die seine schlossen.

Dann gingen die beiden weiter; aber schon nach wenigen Schritten blieb Ohlsen plötzlich stehen, stieß einen kurzen, schwachen Klagelaut aus und fiel mit dem Gesicht nach vorn zur Erde, als hätte ihn eine Kugel getroffen.

Maclean raffte den leblosen Körper auf und erreichte mit ihm, keuchend und in Schweiß gebadet, Ohlsens Zimmer, wo er den noch immer Bewußtlosen auf das Bett legte. Dort kam der Leidende nach kurzer Zeit wieder zu sich. Nachdem er sich mühsam und schwerfällig entkleidet, wobei Maclean ihm hilfreiche Hand geleistet hatte, bat er leise, ihn allein zu lassen; Ruhe würde ihm wohltun und wäre alles, dessen er bedürfte.

Am Nachmittag des nächsten Tages sollte die Beerdigung des Direktors stattfinden. Vom frühen Morgen ab war die Leiche in dem von liebenden Händen ausgeschmückten, offenen Sarg ausgestellt worden, auf daß die Angehörigen und Freunde bis zum letzten das Antlitz des Dahingeschiedenen schauen möchten. Es war ein schönes, durch den Tod wunderbar verklärtes Angesicht, voll heiligen, sanften Friedens und himmlischer Versöhnung. Die Geschwister kamen und gingen unausgesetzt, ohne sich daran satt sehen zu können. Auch Frau Monja erschien jede Stunde und kniete dann, in tiefem, langem Gebete versunken, am Fuße des Sarges nieder, ohne jedoch das weiße Gesicht auch nur ein einziges Mal zu erheben, um in das noch weißere vor ihr zu schauen.

Nikolaus trat zu früher Stunde in das Totengemach und verweilte dort geraume Zeit. Er war allein. Er näherte sich dem Sarge und blickte festen Auges in das Angesicht des Verblichenen. Die Versöhnung und der Friede, die darauf lagen, schienen auch in seine Seele zu dringen, und seine starren Züge wurden sanfter und weicher.

Die Hände des Toten waren über dem Bahrtuche fromm zusammengefaltet: wachsgelbe, makellos reine, fleischlose Hände mit bläulichen Nägeln, von schneeweißen Manschetten umfaßt. – Ohlsens Augen, die lange Zeit unverwandt auf dem Gesicht des Toten geruht hatten, fielen jetzt darauf. Der Anblick schien ihn mit Grausen zu erfüllen, denn er begann zu zittern und kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er wankte zurück und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Er wurde nicht ohnmächtig, aber seine Sinne umflorten sich. Er lag mit weitgeöffneten, starren Augen – und doch wie in einem Traum.

Er befand sich im Getöse einer großen Stadt. John, und wiederum nicht dieser, dessen Doppelgänger, ergriff vertraulich seine Hand und führte ihn nach einem stillen Park, in dessen dunkeln, endlosen Gängen sie dahinwandelten. Hinter den Bäumen blitzte im hellen Sonnenschein ein weißes Haus hervor, und von diesem herab schwebte ihm eine lichte Erscheinung entgegen: ein Weib mit sehnsüchtigen Augen und liebend geöffneten Armen. – Da wurde es plötzlich dunkel und schaurig, und die verfinsterte, eisige Luft war nur noch durch das fahle Licht des Mondes erhellt. – Er stand auf einem freien Platze, von unheimlichen, drohenden Gestalten umringt, die ihre nackten, schwarzen Geisterarme nach ihm ausstreckten. Eine furchtbare Angst packte ihn. Er wollte schreien – und er hörte einen Schrei; aber nicht aus seiner eigenen Brust. Aus weiter Ferne, voll unendlichen, trostlosen Jammers, zog es wehklagend durch die Luft: »Hin ist hin! . . . Hin ist hin!«. – Der Doppelgänger stand noch immer neben ihm; aber nicht mehr vertraulich, freundschaftlich hielt er ihn. Die Finger hatten sich wie eiserne Klammern um seine Hand gelegt und drückten sie zum Zermalmen. Ohlsen riß sich wütend los, der andere taumelte zurück, die Hand zitternd, mit weit ausgespreizten Fingern gegen ihn ausgestreckt, und dann fiel er zu Boden und lag da, regungslos, auf einem mit Blumen und Palmen geschmückten Sarge, das Antlitz feierlich und still, die reinen Hände fromm und ergeben über der Brust gefaltet.

Ohlsen stöhnte wie unter dem Druck eines Alps. – Mit einer furchtbaren Anstrengung riß er sich empor aus der Betäubung, in die er versunken war. Licht und Leben kamen wieder in seine Augen: trauriges, hoffnungsloses Leben. Er erhob sich und wankte der Tür zu mit einem letzten scheuen Blick auf den Toten im offenen Sarge. –


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