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Das Ende

Ein sechzigjähriger Mann, müde und verbraucht, sitzt Erasmus in Freiburg wieder hinter seinen Büchern, geflüchtet – nun wie oft schon! – vor dem Andrang und der Unruhe der Welt. Immer mehr schmilzt der kleine magere Leib in sich zusammen, immer mehr ähnelt das zerfaltete zarte Gesicht mit seinen tausend Runzeln einem mit mystischen Zeichen und Runen beschriebenen Pergament, und der einst an eine Auferstehung der Welt durch den Geist, an eine Erneuerung der Menschheit durch reinere Menschlichkeit leidenschaftlich geglaubt, wird allmählich ein bitterer, spöttischer und ironischer Mann. Schrullig, wie alle alten Hagestolze, klagt er viel über den Niedergang der Wissenschaften, über die Gehässigkeit seiner Feinde, über die Teuernis und die betrügerischen Bankleute, über den schlechten und sauren Wein; immer mehr fühlt der große Enttäuschte sich fremd in einer Welt, die durchaus nicht Frieden halten will und in der täglich die Vernunft von der Leidenschaft, die Gerechtigkeit von der Gewalt gemeuchelt wird. Das Herz ist ihm längst schläfrig geworden, nicht aber die Hand, nicht aber das wunderbar klare und helle Gehirn, das wie eine Lampe steten und makellosen Lichtkreis verbreitet über alles, was in das Blickfeld seines unbestechlichen Geistes gerät. Eine einzige Freundin, die älteste, die beste, sitzt ihm treu zur Seite: die Arbeit. Tag für Tag schreibt Erasmus dreißig bis vierzig Briefe, er füllt ganze Folianten mit den Übertragungen der Kirchenväter, er ergänzt seine Kolloquien und fördert eine unabsehbare Reihe ästhetischer und moralischer Schriften. Er schreibt und wirkt mit dem Bewußtsein des Mannes, der an das Recht und die Pflicht der Vernunft glaubt, ihr ewiges Wort selbst in eine undankbare Welt zu sagen. Aber im Innersten weiß er längst: es hat keinen Sinn, in einem solchen Augenblick des Weltwahns Menschen zur Menschlichkeit aufzurufen, er weiß, seine hohe und erhabene Idee des Humanismus ist besiegt. Alles, was er gewollt, was er erstrebt, Verständigung und gütlichen Ausgleich statt wüster Kriegerei, ist gescheitert am Starrsinn der Zeloten, sein geistiger Staat, sein Plato-Staat inmitten der irdischen, seine Gelehrtenrepublik hat keine Stätte inmitten des Schlachtfelds aufgeregter Parteien. Zwischen Religion und Religion, zwischen Rom und Zürich und Wittenberg wird berserkerisch gekriegt, zwischen Deutschland und Frankreich und Italien und Spanien gehen die Feldzüge unablässig hin wie wandernde Gewitter, der Name Christi ist Feldruf geworden und Panier für militärische Aktionen. Wie lächerlich, da noch Traktate zu schreiben und die Fürsten zur Besinnung zu mahnen, wie unsinnig, noch der evangelischen Lehre Fürsprecher zu sein, seit Gottes Verwalter und Verkünder das Wort Evangelium gebrauchen wie eine Streitaxt. »Alle haben sie diese fünf Worte im Munde, Evangelium, Gottes Wort, Glaube, Christus und Geist, und doch sehe ich viele von ihnen sich so aufführen, als seien sie vom Teufel besessen.« Nein, es hat keinen Sinn mehr, in einer solchen Zeit der politischen Überreizung noch weiterhin Mittler und Schlichter sein zu wollen; der erhabene Traum eines sittlich geeinigten, eines europäischen humanistischen Weltreichs, er ist zu Ende, und der ihn für die Menschheit geträumt, er selbst, Erasmus, ein alter, ein müder Mann, unnütz, weil ungehört. Die Welt geht an ihm vorüber: sie braucht ihn nicht mehr.

 

Aber ehe eine Kerze verlischt, flackert sie immer noch einmal verzweifelt empor. Ehe eine Idee vom Sturm der Zeit unterdrückt wird, entfaltet sie noch einmal ihre letzte Gewalt. So leuchtet noch einmal, kurz aber großartig, der erasmische Gedanke, die Idee der Aussöhnung und Vermittlung in die Stunde. Karl V., der Herr beider Welten, hat einen bedeutsamen Entschluß gefaßt. Der Kaiser ist nicht mehr der unsichere Knabe, als der er auf dem Reichstag zu Worms erschienen war. Enttäuschungen und Erfahrungen haben ihn gereift, und der große Sieg, den er soeben über Frankreich erfochten, gibt ihm endlich die notwendige Sicherheit und Autorität. Zurückgekehrt nach Deutschland, ist er entschlossen, im Religionsstreit endgültig Ordnung zu machen, die von Luther zerrissene Einheit der Kirche noch einmal, und sei es mit Gewalt, wiederherzustellen; aber statt mit Gewalt, will er es im Sinne des Erasmus durch Verständigung versuchen, zwischen der alten Kirche und den neuen Ideen einen Ausgleich zu schaffen, »ein Konzil weiser und vorurteilsloser Männer zusammenzuberufen«, damit sie in Liebe und Gründlichkeit alle Argumente hören und erwägen, die zu einer einigen und erneuten christlichen Kirche führen könnten. Zu diesem Zwecke beruft Kaiser Karl V. den Reichstag nach Augsburg ein.

Dieser Reichstag von Augsburg ist einer der größten deutschen Schicksalsaugenblicke und darüber hinaus eine wahrhafte Sternstunde der Menschheit, eine jener unwiderruflichen geschichtlichen Gelegenheiten, die in sich eingefaltet den Ablauf der nächsten Jahrhunderte enthalten. Äußerlich vielleicht nicht so dramatisch wie jener zu Worms, steht dieser Reichstag zu Augsburg dem andern kaum an historisch fortwirkender Entscheidung nach. Dort wie damals geht es um die geistig-geistliche Einheit des Abendlandes.

Die Tage von Augsburg sind zuerst dem erasmischen Gedanken, jener von ihm immer und immer wieder geforderten versöhnlichen Aussprache zwischen den geistig-geistlichen Gegnern ungemein günstig. Denn beide Mächte, die alte und die neue Kirche, sind von einer Krise berührt und deshalb zu großen Zugeständnissen bereit. Die katholische Kirche hat viel von dem unnahbaren Hochmut verloren, mit dem sie im Anbeginn den kleinen deutschen Ketzer betrachtete, seit sie gewahr wurde, daß wie ein Waldbrand die Sache der Reformation den ganzen Norden Europas ergriffen hat und stündlich weiterlodert. Schon ist Holland, schon sind Schweden, schon die Schweiz, schon Dänemark und vor allem England der neuen Lehre gewonnen, überall entdecken die immer in Geldverlegenheit befindlichen Fürsten, wie vorteilhaft es ihre Finanzen fördert, die reichen Kirchengüter im Namen des Evangeliums einzuziehen; längst haben die alten Kampfmittel Roms, Bannstrahl und Exorzismus, nicht mehr die Kraft wie zu Zeiten Canossas, seit ein einzelner Augustinermönch ungestraft eine päpstliche Bannbulle auf munterem Feuer öffentlich verbrennen konnte. Am furchtbarsten aber hat das Selbstbewußtsein des Papsttums gelitten, seit der Schlüsselgewaltige von seiner Engelsburg niederblicken mußte auf ein geplündertes Rom. Der »Sacco di Roma« hat den Mut und Übermut der Kurie für Jahrzehnte verstört. Aber auch für Luther und die Seinen sind Sorgenstunden gekommen seit den rauschenden und heroischen Tagen von Worms. Auch im evangelischen Lager steht es schlimm mit der »lieblichen Eintracht der Kirche«. Denn noch ehe es Luther gelungen ist, seine eigene Kirche als geschlossene Organisation aufzubauen, erstehen bereits Gegenkirchen, jene Zwinglis und Karlstadts, die englische Heinrichs VIII. und die Sekten der »Schwarmgeister« und Wiedertäufer. Schon hat der selbst durchaus redliche Glaubensfanatiker erkannt, daß, was er geistig gewollt, von vielen im fleischlichen Sinne verstanden und zu Nutz und Vorteil grimmig ausgebeutet wird; am schönsten spricht Gustav Freytag die Tragik von Luthers späteren Jahren aus: »Wer vom Schicksal erkoren wird, das Größte neu zu schaffen, der schlägt zugleich einen Teil des eigenen Lebens in Trümmer. Je gewissenhafter er ist, desto tiefer fühlt er den Schnitt, den er in die Ordnung der Welt gemacht, in seinem Innern. Das ist der heimliche Schmerz, ja die Reue jedes großen geschichtlichen Gedankens.« Zum erstenmal zeigt sich jetzt sogar in diesem harten und sonst unversöhnlichen Menschen ein leichter Wille zur Verständigung, und seine Partner, die sonst ihm den Willen strafften und überstrafften, auch die deutschen Fürsten, sind nun vorsichtiger gesinnt, seit sie merken, daß Karl V., ihr Herr und Kaiser, wieder den Arm frei hat und mit gutem Eisen bewehrt. Vielleicht wäre es, so denkt mancher unter ihnen, doch ratsam, diesem Herrn Europas nicht als Rebell gegenüberzutreten: man könnte Kopf und Land bei starrem Beharren verlieren.

Zum erstenmal fehlt also jene furchtbare Unnachgiebigkeit, die vordem und nachdem in deutschen Glaubenssachen waltet, und durch diese Entspannung des Fanatismus ist eine ungeheure Möglichkeit gegeben. Denn gelänge Verständigung im Sinne des Erasmus zwischen der alten Kirche und der neuen Lehre, dann wäre Deutschland, wäre die Welt im Geistigen wieder geeint, der hundertjährige Glaubenskrieg, Bürgerkrieg, Staatenkrieg mit allen seinen gräßlichen Zerstörungen kultureller und materieller Werte könnte vermieden werden. Die moralische Oberherrschaft Deutschlands in der Welt wäre gesichert, die Schmach der Glaubensverfolgungen vermieden. Es müßten keine Scheiterhaufen brennen, Index und Inquisition brauchten nicht ihre grausamen Brandmale auf die Freiheit des Geistes zu drücken, unermeßliches Elend würde dem geprüften Europa erspart. Nur eine kleine Spanne eigentlich trennt mehr die Gegner. Wird sie durch gegenseitiges Entgegenkommen überwunden, so hat die Vernunft, so hat die Sache des Humanismus, so hat Erasmus noch einmal gesiegt.

Aussichtsreich für eine solche Verständigung ist außerdem diesmal der Umstand, daß die Vertretung der protestantischen Sache nicht in den unnachgiebigen Händen Luthers, sondern in jenen mehr diplomatischen Melanchthons liegt. Dieser merkwürdig weiche und edle Mann, den die protestantische Kirche als den treuesten Freund und Helfer Luthers feiert, war seltsamerweise sein ganzes Leben auch der getreue Verehrer seines großen Gegenspielers und ein unerschütterlicher Schüler des Erasmus geblieben. Gemütsmäßig steht seiner bedachtsamen Natur die humanistische und humane Auffassung der evangelischen Lehre im Sinne des Erasmus sogar näher als die harte und strenge Formung Luthers; aber stark suggestiv bezwingend wirkt auf ihn Luthers Gestalt und Gewalt. In Wittenberg, in seiner unmittelbaren Nähe, fühlt Melanchthon sich völlig dem Willen Luthers hörig und hingegeben, er dient ihm demütig mit allem Eifer seines klaren und organisatorisch denkenden Geistes. Hier aber, in Augsburg, zum erstenmal außerhalb der persönlichen Hypnose des Führers, kann sich auch der andere Teil seiner Natur, kann sich das Erasmische in Melanchthon endlich ungehemmt entfalten. Ohne Rückhalt bekennt sich Melanchthon in diesen Tagen von Augsburg zur äußersten Versöhnlichkeit, er geht mit seinen Konzessionen so weit, daß er den Fuß beinahe schon wieder in der alten Kirche hat. Die »Augsburger Konfession«, von ihm persönlich ausgearbeitet, weil Luther, wie er eingesteht, »so sanft und leise nicht treten kann«, enthält trotz ihrer deutlichen und kunstvollen Formulierung doch nichts grob Provokatorisches für die katholische Kirche; in der Diskussion werden wiederum wichtige Streitfragen vorsichtig mit Schweigen umgangen. So bleibt die Prädestinationslehre, über die Luther mit Erasmus so erbittert kämpfte, unerörtert, ebenso die heikelsten Punkte, wie das göttliche Recht des Papsttums, der character indelebilis, der unablegbare Charakter des Priestertums, die Siebenzahl der Sakramente. Von beiden Seiten vernimmt man erstaunlich vermittelnde Worte. Melanchthon schreibt: »Wir verehren die Autorität des römischen Papstes und die ganze Kirchenpietät, wenn uns nur der römische Papst nicht verstößt«, andrerseits erklärt ein Vertreter des Vatikans halboffiziell die Frage der Priesterehe und des Laienkelches für diskutabel. Schon erfüllt trotz aller Schwierigkeiten die Teilnehmer eine leise Hoffnung. Und wäre jetzt ein Mann von hoher moralischer Autorität, ein Mann inneren, leidenschaftlichen Friedenswillens zur Stelle, setzte er die ganze Kraft seiner vermittelnden Beredsamkeit, die Kunst seiner Logik, die Meisterschaft der sprachlichen Formulierung ein, er könnte vielleicht noch in letzter Stunde Protestanten und Katholiken, denen er beiden nahe verbunden ist, den einen durch Sympathie, den anderen durch Treue, zu einer Einigung bringen, und der europäische Gedanke wäre gerettet.

Dieser eine und einzige Mann ist Erasmus, und Kaiser Karl, der Herr beider Welten, hat ihn ausdrücklich zum Reichstag geladen, er hat vordem seinen Rat und seine Vermittlung angesprochen. Aber tragisch wiederholt sich die Form des erasmischen Schicksals, daß es diesem vorausschauenden und doch nie sich vorwagenden Manne immer nur gegeben war, welthistorische Augenblicke wie kein anderer zu erkennen und doch die Entscheidung durch persönliche Schwäche, durch eine unheilbare Mutlosigkeit zu versäumen: hier erneuert sich seine historische Schuld. Genau wie auf dem Reichstag zu Worms fehlt Erasmus auf dem Reichstag in Augsburg; er kann sich nicht entschließen, mit seiner Person vor seine Sache, seine Überzeugung zu treten. Gewiß, er schreibt Briefe, viele Briefe an beide Parteien, sehr kluge, sehr menschliche, sehr überzeugende Briefe, er sucht seine Freunde in beiden Lagern, Melanchthon und andererseits den Gesandten des Papstes, zu äußerstem Entgegenkommen zu bewegen. Aber niemals hat das geschriebene Wort in gespannter Schicksalsstunde die Kraft des blutwarmen und lebendigen Anrufs, und dann, auch Luther sendet ja aus Coburg Botschaft um Botschaft, um Melanchthon härter und unnachgiebiger zu machen, als sein inneres Wesen wollte. Zum Schluß versteifen sich neuerdings die Gegensätze, weil der rechte, der geniale Mittler persönlich fehlt: in unzähligen Diskussionen wird der Gedanke der Verständigung wie ein fruchtbares Samenkorn zerrieben zwischen den Mühlsteinen. Das große Konzil von Augsburg zerreißt die Christenheit, die es verbinden wollte, endgültig in zwei Glaubenshälften, statt Frieden steht Zwietracht über der Welt. Hart zieht Luther seinen Schluß: »Wird ein Krieg daraus, so werde er daraus, wir haben genug geboten und getan.« Und tragisch Erasmus: »Wenn Du furchtbare Wirrnisse in der Welt wirst entstehen sehen, dann denke daran, daß Erasmus sie vorausgesagt hat.«

Lucas Cranach: Philipp Melanchthon

Von diesem Tage an, da seine »erasmische« Idee die letzte, die entscheidende Niederlage erlebt, ist dieser alte Mann in seinem Büchergehäuse zu Freiburg nur mehr ein unnützes Wesen, ein fahler Schatten seines einstigen Ruhmes. Und er fühlt es selbst am besten, daß ein Mann der stillen Nachgiebigkeit fehl am Ort ist »in diesem lärmenden oder, besser gesagt, tollwütigen Zeitalter«. Wozu noch lang diesen gebrechlichen, gichtkranken Körper durch die aller friedlichen Gesinnung entfremdete Welt schleppen? Erasmus ist müde geworden des einst so geliebten Lebens; erschütternd bricht von seinen Lippen der flehende Anruf, »daß Gott mich doch endlich zu sich nehmen wollte aus dieser rasenden Welt!« Denn wo hat das Geistige noch eine Stätte, wenn der Fanatismus die Herzen aufpeitscht? Das hohe Reich des Humanismus, das er erbaut, ist berannt von den Feinden und halb schon erobert, vorbei sind die Zeiten der »eruditio et eloquentia«, die Menschen hören nicht mehr auf das feine, das wohlerwogene Wort der Dichtung, sondern einzig auf das grobe und leidenschaftliche der Politik. Das Denken ist dem Rottenwahn verfallen, es hat sich uniformiert in Lutherisch oder Papistisch, die Gelehrten kämpfen nicht mehr mit eleganten Briefen und Broschüren, sondern werfen einander nach Marktweiberart grobe und ordinäre Schimpfworte zu, keiner will den anderen verstehen, sondern jeder dem anderen seinen Parteiglauben, seine Doktrin wie ein Brandmal gewaltsam aufpressen, und wehe denen, die abseits bleiben wollen und ihrem eigenen Bekenntnis anhängen: sie, die zwischen den Parteien und über ihnen stehen wollen, gegen sie wendet sich zweifacher Haß! Wie einsam wird es in solchen Zeiten um den, der nur am Geistigen hängt! Ach, für wen soll man noch schreiben, wenn inmitten des politischen Gebelfers und Geschreis die Ohren taub geworden sind für die feinen Zwischentöne, für die zarte und eindringliche Ironie, mit wem über die Gotteslehre theologisch disputieren, seit sie in die Hände der Doktrinäre und Zeloten gefallen ist, die als letztes und bestes Argument ihres Rechthabens die Soldateska aufrufen, die Reiterhaufen und die Kanonen? Eine Treibjagd gegen Andersdenkende und Freidenkende hat begonnen, die Diktatur der Einseitigkeit: mit Morgensternen und Henkersschwertern glaubt man dem Christentum zu dienen, und gerade die Geistigsten, die Kühnsten unter den Bekennern ergreift die roheste Gewalt. Der Tumult ist gekommen, den er vorausgesagt; aus allen Ländern schmettern Schreckensbotschaften in sein verzweifeltes und müdes Herz. In Paris hat man seinen Übersetzer und Schüler Berquin an langsamem Feuer verbrannt, in England seinen geliebten John Fisher und Thomas Morus, seine edelsten Freunde, unter das Beil geschleppt (selig, wer die Kraft hat, für seinen Glauben Märtyrer zu sein!), und Erasmus stöhnt, da er die Botschaft vernimmt: »Mir ist es, als sei ich in ihnen selber gestorben.« Zwingli, mit dem er oftmals Briefe und freundliche Worte gewechselt, haben sie erschlagen auf dem Schlachtfeld von Kappel, Thomas Münzer zu Tode gefoltert mit Torturen, wie sie Heiden und Chinesen nicht grimmiger erdenken könnten. Den Wiedertäufern reißen sie die Zunge aus, die Prediger zerfleischen sie mit glühenden Zangen und rösten sie am Ketzerpfahl, sie plündern die Kirchen, sie verbrennen die Bücher, sie verbrennen die Städte. Rom, die Herrlichkeit der Welt, haben die Landsknechte verwüstet – o Gott, welche bestialischen Instinkte toben sich in Deinem Namen aus! Nein, die Welt hat keinen Raum mehr für Freiheit des Denkens, für Verständnis und Nachsicht, diese Urgedanken der humanistischen Lehre. Die Künste können nicht gedeihen auf so blutigem Boden, vorbei ist für Jahrzehnte, für Jahrhunderte, vielleicht sogar für immer die Zeit übernationaler Gemeinschaft, und auch das Latein, diese letzte Sprache des geeinten Europas, die Sprache seines Herzens stirbt ab: so stirb auch du, Erasmus!

 

Aber Verhängnis seines Lebens, noch einmal, jedoch jetzt zum letztenmal, muß dieser ewige Nomade abermals auf die Wanderschaft. Noch einmal mit fast siebzig Jahren flüchtet er plötzlich aus Heim und Haus. Ein ganz unerklärbares Verlangen hat ihn überfallen, Freiburg zu verlassen und nach Brabant zu ziehen, der Herzog hat ihn dorthin berufen, aber im tiefsten ruft ihn ein anderer: der Tod. Eine geheimnisvolle Unruhe hat sich seiner bemächtigt, und der sein ganzes Leben als Kosmopolit, als bewußt Heimatloser verbracht, empfindet ein ängstlich liebevolles Bedürfnis nach heimischer Erde. Der müde Leib will zurück, von woher er gekommen, eine Ahnung in ihm weiß, die Fahrt geht zu Ende.

Aber er gelangt nicht mehr ans Ziel. In einer kleinen Reisekutsche, wie sie sonst nur für Frauen gebraucht werden, hat man den Hinfälligen nach Basel gebracht, dort will der alte Mann noch einige Zeit lang ruhen und warten, bis das Eis bricht und er mit dem Frühling nach Brabant in die Heimat fahren kann. Basel hält ihn inzwischen fest, hier ist noch immer etwas geistige Wärme, hier leben noch immer einige Getreue, Frobens Sohn, Amerbach und andere. Sie sorgen für bequeme Unterkunft des Kranken, sie nehmen ihn zu sich, und auch die alte Druckerei steht noch da, er kann wieder beglückt die Verwandlung des gedachten und geschriebenen ins gedruckte Wort mitleben, den fetten Geruch der Presse atmen, die schönen, klar gedruckten Bücher in Händen halten und mit ihnen, den wunderbar stillen, den herrlich friedfertigen, belehrende Zwiesprache führen. Ganz still und abgeschlossen von der Welt, zu müde, zu kraftlos schon, um das Bett mehr als vier oder fünf Stunden des Tages zu verlassen, verbringt Erasmus seine letzte Lebenszeit in innerem Frost. Er hat das Gefühl, vergessen zu sein und verfemt, denn die Katholiken werben um ihn nicht mehr und die Protestanten verhöhnen ihn, niemand braucht ihn mehr, niemand fordert sein Urteil und seinen Spruch. »Meine Feinde mehren sich, meine Freunde schwinden«, klagt verzweifelt der Einsame, für den humaner geistiger Umgang das Schönste und Beglückendste des Lebens gewesen.

Aber siehe: noch einmal klopft wie eine verspätete Schwalbe an die schon winterlich überfrosteten Fenster ein Wort der Ehrfurcht und des Grußes in seine Verlassenheit. »Alles, was ich bin und tauge, habe ich einzig von Dir, und wenn ich dies nicht einbekennen würde, wäre ich ja der undankbarste Mensch aller Zeiten. Salve itaque etiam atque etiam, pater amantissime, pater decusque patriae, litterarum assertor, veritatis propugnator invictissime. Gruß und noch einmal Gruß, geliebter Vater und Ehre des Vaterlandes, Schutzgeist der Künste, unbezwingbarer Kämpfer für die Wahrheit.« Der Name des Mannes, der diese Worte schreibt, wird den seinen überleuchten; es ist François Rabelais, der im Morgenrot seines jungen Ruhms das Abendlicht des sterbenden Meisters grüßt. Und dann kommt noch ein anderer Brief aus Rom. Ungeduldig öffnet ihn Erasmus, der Siebzigjährige, bitter lächelnd legt er ihn aus der Hand. Spottet man nicht seiner? Der neue Papst bietet ihm einen Kardinalshut an mit den reichsten Pfründen, ihm, der alle Stellen dieser Welt um der Freiheit willen sein Leben lang verächtlich gemieden. Mit Überlegenheit lehnt er die fast kränkende Ehrung ab. »Soll ich, ein sterbender Mann, Bürden auf mich nehmen, die ich zeitlebens zurückgewiesen habe?« Nein, frei sterben, wie man frei gelebt! Frei und im bürgerlichen Kleid, ohne Abzeichen und irdische Ehren, frei wie alle Einsamen und einsam wie alle Freien.

Die ewige, die treueste Freundin aller Einsamkeit und ihre beste Trösterin, die Arbeit aber, sie bleibt bis zur letzten Stunde bei dem Kranken. Mit von Schmerz gekrümmtem Leibe, im Bett liegend und mit zittrigen Händen, schreibt und schreibt Erasmus Tag und Nacht an seinem Kommentar zum Origenes, an Broschüren und Briefen. Er schreibt nicht um des Ruhmes mehr, nicht um des Geldes willen, sondern einzig um der geheimnisvollen Lust, durch Vergeistigung des Lebens zu lernen und durch Lernen wieder stärker zu leben, Wissen einzuatmen und Wissen auszuatmen; nur diese ewige Diastole allen irdischen Daseins, nur dieser Kreislauf hält sein Blut noch in Gang. Tätig bis zum letzten Augenblick, entflüchtet er durch das heilige Labyrinth der Arbeit einer Welt, die er nicht anerkennt und versteht, einer Welt, die ihn nicht mehr anerkennen und verstehen will. Endlich tritt der große Friedensbringer an sein Bett. Und nun er nahe ist, der Tod, den Erasmus ein Leben lang so über alle Maßen gefürchtet, nun blickt der Müdegewordene ihm still und fast dankbar entgegen. Noch bleibt sein Geist hell bis zum Abschied, noch vergleicht er die Freunde, die sein Lager umstehen, Froben und Amerbach, mit den Freunden Hiobs, und unterhält sich mit ihnen im geschmeidigsten und geistreichsten Latein. Aber dann, in letzter Minute, da ihm Atemnot schon die Kehle würgt, geschieht ein Sonderbares: er, der große humanistische Gelehrte, der sein ganzes Leben lang nur Latein geredet und gesprochen, vergißt plötzlich diese gewohnte und ihm selbstverständliche Sprache. Und in der Urangst der Kreatur stammeln die erstarrenden Lippen plötzlich das kindgelernte heimatliche »lieve God«, das erste Wort und das letzte seines Lebens finden sich im gleichen niederdeutschen Laut. Und dann noch ein Atemzug, und er hat, was er für die ganze Menschheit zutiefst ersehnte: den Frieden.


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