Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Blick auf die brasilianische Kultur

Seit vierhundert Jahren kocht und gärt in der ungeheuren Retorte dieses Landes, immer wieder umgeschüttelt und mit neuem Zusatz versehen, die menschliche Masse. Ist dieser Prozeß nun endgültig beendet, ist diese Millionenmasse schon Eigenform, Eigenstoff geworden, eine neue Substanz? Gibt es heute schon etwas, was man die brasilianische Rasse nennen kann, den brasilianischen Menschen, die brasilianische Seele? In Hinsicht auf die Rasse hat der genialste Kenner des brasilianischen Volkstums, Euclides da Cunha, längst die entscheidende Verneinung gegeben, indem er glatt erklärte: Não há um tipo antropológico brasileiro, »es gibt keine brasilianische Rasse«. Rasse, sofern man diesen dubiosen und heute überbewerteten Begriff, der doch mehr oder minder nur einen Übersichtsbehelf darstellt, überhaupt verwerten will, meint tausendjährige Gemeinsamkeit von Blut und Geschichte, während bei einem richtigen Brasilianer alle im Unbewußten aus Urzeiten schlummernden Erinnerungen gleichzeitig träumen müssen von den Ahnenwelten dreier Kontinente, von europäischen Küsten, afrikanischen Krals und amerikanischem Urwald. Der Prozeß des zum Brasilianer Werdens ist nicht nur ein Assimilationsprozeß an das Klima, an die Natur, an die geistigen und räumlichen Bedingtheiten des Landes, sondern vor allem ein Transfusionsproblem. Denn die Mehrzahl der brasilianischen Bevölkerung – abgesehen von den spät Eingewanderten – stellt ein Mischprodukt dar und zwar eines denkbar vielfältigster Art. Nicht genug an der dreifach verschiedenen Heimat, der europäischen, der afrikanischen, der amerikanischen, ist jede dieser drei Schichtungen in sich selbst wieder neuerdings geschichtet. Der europäische Erstling in diesem Lande, der Portugiese des sechzehnten Jahrhunderts, ist alles weniger als einrassig oder reinrassig; er stellt ein Gemenge dar aus iberischen, aus römischen, gotischen, phönizischen, jüdischen und maurischen Vorfahren. Die Urbevölkerung des Landes wiederum zerfällt in ganz artfremde Rassen, die Tupís und die Tapuyas. Und erst die Neger; aus wievielen Zonen des unübersehbaren Afrika waren sie zusammengetrieben! All das hat sich ständig gemischt, gekreuzt und außerdem noch erfrischt durch den ständigen Zustrom neuen Bluts durch die Jahrhunderte. Aus allen Ländern Europas und schließlich mit den Japanern noch aus Asien hier herübergekommen, vervielfältigen und variieren sich diese Blutgruppen in unübersehbaren Kreuzungen und Überkreuzungen ununterbrochen im brasilianischen Raum. Alle Schattierungen, alle physiologischen und charakterologischen Nuancen sind hier zu finden; wer in Rio über die Straße geht, sieht in einer Stunde mehr eigenartig gemischte und eigentlich schon unbestimmbare Typen als sonst in einer anderen Stadt in einem Jahr. Selbst das Schachspiel mit seinen Millionen Kombinationen, von denen keine einzige sich wiederholt, scheint arm gegen dieses Chaos der Varianten, Kreuzungen und Überkreuzungen, in denen sich die unerschöpfliche Natur in vier Jahrhunderten hier gefallen hat.

Aber wenn beim Schachspiel auch keine Partie der anderen gleicht, so bleibt dieses Spiel doch immer Schach, weil eingeschlossen in den Rahmen desselben Raums und bestimmten Gesetzen unterworfen. Ebenso hat die Gebundenheit im selben Raum und damit die Anpassung an das gleiche klimatische Gesetz sowie der einheitliche Rahmen der Religion und der Sprache unter den brasilianischen Menschen bestimmte unverkennbare Ähnlichkeiten jenseits der Eigenheiten erzeugt, die von Jahrhundert zu Jahrhundert immer sichtbarer werden. Wie Kiesel in einem strömenden Fluß sich mehr und immer mehr abschleifen, je mehr und je länger sie gemeinsam rollen, so ist durch das Zusammenleben und die ständige Durchmischung innerhalb dieser Millionen die scharfe Eigenlinie des Ursprungs immer unmerkbarer geworden und gleichzeitig das Ähnliche und Gemeinschaftliche immer größer. Noch ist dieser Prozeß der fortwährenden Verähnlichung durch fortwährende Vermischung im Gang, noch ist die endgültige Form innerhalb dieser Entwicklung nicht ganz starr und ausgebildet. Aber doch hat der Brasilianer aller Klassen und Stände schon den deutlichen und typischen Stempel einer Volkspersönlichkeit.

Wer das Charakteristische dieses Brasilianischen von irgendeinem landeigenen Ursprung abzuleiten versuchte, geriete ins Unwahre und Künstliche. Denn nichts ist so sehr typisch für den Brasilianer, als daß er ein geschichtsloser Mensch oder zum mindesten einer mit einer kurzen Geschichte ist. Seine Kultur fußt nicht wie die der europäischen Völker auf uralten, bis in mythische Zeiten zurückreichenden Traditionen, noch kann sie sich wie diejenige der Peruaner und Mexikaner auf eine prähistorische Vergangenheit auf eigener Scholle berufen. Soviel die Nation in den letzten Jahren durch neue Kombinationen und eigene Leistung zugetan, die Aufbauelemente ihrer Kultur sind doch zur Gänze aus Europa importierte. Sowohl die Religion, die Sitte als die äußere und innere Grundform des Lebensstils dieser Millionen und Millionen verdankt wenig oder eigentlich nichts der heimischen Erde. Alle Kulturwerte sind auf Schiffen verschiedenster Art, auf den alten portugiesischen Karavellen, auf den Segelbooten und den modernen Dampfern über das Meer gebracht worden, und auch die pietätvoll-ehrgeizigste Mühe hat bisher einen wesentlichen Beitrag der nackten und kannibalischen Ureinwohner zur brasilianischen Kultur nicht finden oder erfinden können. Es gibt keine prähistorische brasilianische Dichtung, keine urbrasilianische Religion, keine altbrasilianische Musik, keine durch Jahrhunderte bewahrten Volkslegenden und nicht einmal die bescheidensten Ansätze zu einem Kunsthandwerk; wo sonst in den Nationalmuseen der Völkerkunde stolz die tausend Jahre alten Erzeugnisse von autochthoner Schrift- und Werkkunst gezeigt werden, müßte in den brasilianischen Museen eine völlig leere Ecke stehen. Gegen die Tatsache hilft kein Suchen und Nachspüren, und versucht man heute manche Tänze wie Samba oder Macumba als national-brasilianische zu deklarieren, so verschattet und verschiebt man damit künstlich die wirkliche Situation, denn diese Tänze und Riten sind von den Negern gleichzeitig mit ihren Ketten und Brandmarkungen mitgebracht worden. Ebensowenig sind die einzigen Kunstobjekte, die man auf brasilianischem Boden gefunden, die bemalten Tongeräte auf der Insel Marajó, autochthonen Ursprungs; sie sind zweifellos von Angehörigen fremder Rassen, wahrscheinlich von Peruanern, die den Amazonenstrom bis zur Insel an seiner Mündung herunterkamen, mitgenommen oder hier angefertigt worden. Man muß sich also damit abfinden: nichts kulturell Charakteristisches in Architektur und jeder anderen Form der Gestaltung reicht hier weiter zurück als bis in die Kolonialzeit, in das sechzehnte oder siebzehnte Jahrhundert, und selbst deren schönste Produkte in den Kirchen von Bahia und Olinda mit ihren goldstrotzenden Altären und geschnitzten Möbeln sind unverkennbare Schößlinge des portugiesischen oder jesuitischen Stils und kaum unterscheidbar von jenen in Goa oder den eigenen des Mutterlands. Wo immer man im Historischen hier über den Tag zurückgreifen will, da die ersten Europäer landeten, greift man in ein Vakuum, in ein Nichts. Alles was wir heute brasilianisch nennen und als solches anerkennen, läßt sich nicht aus einer eigenen Tradition erklären, sondern aus einer schöpferischen Umwandlung des Europäischen durch das Land, das Klima und seine Menschen.

Dieses typisch Brasilianische ist allerdings heute schon augenfällig und persönlich genug, um nicht mehr verwechselt zu werden mit dem Portugiesischen, sosehr die Verwandtschaft, die Kindschaft noch fühlbar ist. Unsinnig, diese Abhängigkeit zu leugnen. Portugal hat Brasilien die drei Dinge gegeben, die für die Formung eines Volkes entscheidend sind, die Sprache, die Religion, die Sitte, und damit die Formen, innerhalb deren sich das neue Land, die neue Nation entwickeln konnte. Daß diese Urformen sich unter anderer Sonne und in anderen Dimensionen und bei immer stärker einströmendem fremdem Blut zu einem anderen Inhalt entwickelten, war ein unvermeidlicher, weil organischer Prozeß, den keine königliche Autorität und keine bewaffnete Organisation aufhalten konnte. Vor allem hat sich die Denkrichtung der beiden Nationen voneinander verschieden entwickelt; Portugal, als das historisch ältere Land, träumt zurück in eine große, wohl nie mehr zu erneuernde Vergangenheit, Brasiliens Blick ist in die Zukunft gerichtet. Das Mutterland hat seine Möglichkeiten – in großartigster Weise – schon einmal erschöpft, das neue die seinen noch nicht völlig erreicht. Es ist ein Unterschied nicht so sehr der volksmäßigen Struktur, als eine Verschiedenheit der Generation. Beide Völker, heute in enger Freundschaft verbunden, haben sich nicht einander entfremdet; sie haben sich gewissermaßen nur auseinandergelebt. Deutlichstes Symbol dafür vielleicht die Sprache. In Schrift und Vokabular, also in den Urformen, ist sie heute noch fast vollkommen identisch, und man muß schon das Ohr für die allerletzten Nuancen geschärft haben, um zu erkennen, ob man das Buch eines brasilianischen oder eines portugiesischen Dichters in Händen hält. Anderseits ist kaum ein einziges Wort der Ursprache der Tupís und Tapuyas, wie sie die ersten Missionare noch verzeichneten, in das Brasilianisch von heute übergegangen. Der Brasilianer spricht – dies der ganze Unterschied – das Portugiesische nur anders, eben brasilianischer aus als der Portugiese, und das Merkwürdigste ist, daß dieser brasilianische Akzent, dieser brasilianische Dialekt vom Norden bis zum Süden, vom Osten zum Westen über achteinhalb Millionen Quadratkilometer ein und derselbe geblieben ist, also eine vollkommene Nationalsprache. Noch verstehen sich der Portugiese und der Brasilianer vollkommen, da sie sich derselben Worte, derselben Syntax bedienen, aber in der Intonation und zum Teil auch schon im literarischen Ausdruck beginnen sich diese ursprünglich minimalen Varianten ungefähr in dem gleichen Verhältnis zu verstärken, wie sich Engländer und Amerikaner innerhalb derselben Sprachwelt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher als Individualitäten voneinander absondern. Tausend Meilen Distanz, ein anderes Klima, andere Lebensbedingungen, neue Bindungen und Gemeinsamkeiten mußten sich nach vierhundert Jahren allmählich fühlbar machen, und langsam, aber unaufhaltsam mußte hier ein neuer Typus, eine ganz spezifische Volkspersönlichkeit entstehen.

Was den Brasilianer physisch und seelisch charakterisiert, ist vor allem, daß er zarter geartet ist als der Europäer, der Nordamerikaner. Der wuchtige, der massige, der hochaufgeschossene, der starkknochige Typus fehlt beinahe vollkommen. Ebenso fehlt im Seelischen – und man empfindet es als Wohltat, dies vertausendfacht zu sehen innerhalb einer Nation – jede Brutalität, Heftigkeit, Vehemenz und Lautheit, alles Grobe, Auftrumpfende und Anmaßende. Der Brasilianer ist ein stiller Mensch, träumerisch gesinnt und sentimental, manchmal sogar mit einem leisen Anflug von Melancholie, die schon Anchieta 1585 und Padre Cardim in der Luft zu fühlen meinten, als sie dieses neue Land desleixada e remissa e algo melancólica nannten. Sogar im äußeren Umgang sind die Formen merkbar gedämpft. Selten hört man jemanden laut sprechen oder gar zornig einen andern anschreien, und gerade wo sich Massen sammeln, spürt man am deutlichsten diese für uns auffällige Sordinierung. Bei einem großen Volksfest wie dem bei Penha oder einer Überfahrt im Ferryboat zu einer Art Kirchweih nach der Insel Paquetá, wo in einem dichtgedrängten Raum tausende Menschen und darunter unzählige Kinder versammelt sind, hört man kein Toben und Juchzen, kein gegenseitig sich zu wilder Lustigkeit Anfeuern. Auch wenn sie sich in Massen vergnügen, bleiben hier die Menschen still und diskret, und diese Abwesenheit alles Robusten und Brutalen gibt ihrer leisen Freude einen rührenden Reiz. Lärm zu machen, zu schreien, zu toben, wild zu tanzen, ist hier der Sitte eine derart gegensätzliche Lust, daß sie gleichsam als Ventil aller zurückgestauten Triebe den vier Tagen des Karnevals aufgespart ist, aber selbst in diesen vier Tagen des anscheinend zügellosen Übermuts kommt es innerhalb einer Millionenmasse gleichsam von einer Tarantel gestochener Menschen nie zu Exzessen, Unanständigkeiten oder Gemeinheiten; jeder Fremde, ja sogar jede Frau kann sich beruhigt auf die quirlenden, von Lärm explodierenden Straßen wagen. Immer bewahrt der Brasilianer seine natürliche Weichheit und Gutartigkeit. Die allerverschiedensten Klassen begegnen sich untereinander mit einer Höflichkeit und Herzlichkeit, die uns Menschen des in den letzten Jahren arg verwilderten Europa immer wieder von neuem erstaunt. Man sieht auf der Straße zwei Männer sich begegnen; sie umarmen sich. Unwillkürlich denkt man, es seien Brüder oder Jugendfreunde, von denen einer gerade aus Europa oder von einer exotischen Reise zurückgekehrt sei. Aber an der nächsten Ecke sieht man wieder zwei Männer sich in dieser Art begrüßen und erkennt, daß die accolade zwischen Brasilianern eine durchaus selbstverständliche Sitte ist, ein Ausstrom natürlicher Herzlichkeit. Höflichkeit wiederum ist hier die selbstverständliche Grundform menschlicher Beziehung, und sie nimmt Formen an, die wir in Europa längst vergessen haben – bei jedem Gespräch auf der Straße behalten die Leute den Hut in der Hand, wo immer man eine Auskunft erbittet, wird einem mit begeistertem Eifer geholfen und in den höheren Kreisen das Ritual der Förmlichkeit mit Besuch und Gegenbesuch und Kartenabwerfen mit protokollarischer Genauigkeit erfüllt. Jeder Fremde wird auf das Zuvorkommendste empfangen und auf das Gefälligste ihm der Weg geebnet; mißtrauisch wie wir leider geworden sind gegen alles natürlich Humane, erkundigt man sich bei Freunden und neu Eingewanderten, ob diese offenbare Herzlichkeit nicht eine bloß formelle und formale sei, ob dieses gute, freundliche Zusammenleben ohne sichtbaren Haß und Neid zwischen Rassen und Klassen nicht eine Augentäuschung ersten oberflächlichen Eindrucks sei. Aber einstimmig hört man von allen als erste und wesentlichste Eigenschaft dieses Volkes rühmen, daß es von Natur aus gutartig sei. Jeder einzelne, den man befragt, wiederholt das Wort der ersten Ankömmlinge: É a mais gentil gente. Nie hat man hier von Grausamkeit gegen Tiere gehört, nie von Stierkämpfen oder Hahnenturnieren, nie hat selbst in den dunkelsten Tagen die Inquisition ihre Autodafés der Menge dargeboten; alles Brutale stößt den Brasilianer instinktiv ab, und es ist statistisch festgestellt, daß Mord und Totschlag fast niemals als geplante und vorausbedachte Tat geschehen, sondern immer spontan als crime passional, als ein plötzlicher Ausbruch von Eifersucht oder Gekränktheit. Verbrechen, die an List, Berechnung, Raubgier oder Raffiniertheit gebunden sind, gehören zu den größten Seltenheiten; es ist nur wie ein Nervenriß, ein Sonnenstich, wenn ein Brasilianer zum Messer greift, und mir selbst fiel es auf, als ich die große Penitenciária in São Paulo besuchte, daß der eigentliche in der Kriminologie genau verzeichnete Verbrechertypus völlig fehlte. Es waren durchaus sanfte Menschen mit stillen, weichen Augen, die irgendeinmal in einer überhitzten Minute etwas begangen haben mußten, von dem sie selber nicht wußten. Aber im allgemeinen – und dies bestätigte jeder Eingewanderte – liegt jede Gewalttätigkeit, alles Brutale und Sadistische auch in den unmerklichsten Spuren dem brasilianischen Menschen vollkommen fern. Er ist gutmütig, arglos, und das Volk hat jenen halb kindlich-herzlichen Zug, wie er dem Südländer oft zu eigen ist, aber doch selten in einem so ausgesprochenen und allgemeinen Maß wie hier. In all den Monaten bin ich hier keiner Unfreundlichkeit begegnet, nicht oben und nicht unten; überall konnte ich den gleichen – heute so seltenen – Mangel an Mißtrauen gegen den Fremden, gegen den Andersrassigen oder Andersklassigen feststellen. Manchmal, wenn ich in den favelas, diesen prachtvoll pittoresken Negerhütten, die auf den Felsen mitten in der Stadt wie schwanke Vogelhäuschen liegen, neugierig herumkletterte, hatte ich ein schlechtes Gewissen und schlimmes Vorgefühl. Denn schließlich war ich gekommen, mir als Neugieriger eine unterste Stufe der Lebenshaltung anzusehen und in diesen jedem Blick wehrlos offenstehenden Lehm- oder Bambushütten Menschen im primitivsten Urzustand zu beobachten und somit unbefugt in ihre Wohnungen und damit in ihr privatestes Leben hineinzuschauen; im Anfang war ich eigentlich ständig gewärtig, etwa wie in einer proletarischen Arbeitergegend in Europa, einen bösen Blick ins Auge oder ein Schimpfwort in den Rücken zu bekommen. Aber im Gegenteil, diesen Arglosen ist ein Fremder, der sich in diesen verlorenen Winkel bemüht, ein willkommener Gast und beinahe ein Freund; mit blinkenden Zahnreihen lacht der Neger, der einem wassertragend begegnet, einem zu und hilft einem noch die glitschigen Lehmstufen empor; die Frauen, die ihre Kinder säugen, sehen freundlich und unbefangen auf. Und ebenso begegnet man in jeder Straßenbahn, auf jedem Ausflugsschiff, gleichgültig ob man einem Neger, einem Weißen oder Mischling gegenübersitzt, der gleichen unbefangenen Herzlichkeit. Niemals ist innerhalb der Dutzende Rassen etwas von Absonderung gegeneinander zu entdecken, weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Das schwarze Kind spielt mit dem weißen, der Braune geht mit dem Neger selbstverständlich Arm in Arm, nirgends gibt es Einschränkung oder auch nur privaten Boykott. Beim Militär, in den Ämtern, auf den Märkten, in den Büros, in den Geschäften, in den Arbeitsstätten denken die einzelnen nicht daran, sich nach Farbe oder Herkunft zu schichten, sondern arbeiten friedlich und freundlich zusammen. Japaner heiraten Negerinnen und Weiße wiederum Braune: das Wort »Mischling« ist hier kein Schimpfwort, sondern eine Feststellung, die nichts Entwertendes in sich hat: der Klassenhaß und Rassenhaß, diese Giftpflanze Europas, hat hier noch nicht Wurzel und Boden gefaßt.

Diese ungemeine Zartheit des Seelischen, diese vorurteilslose und arglose Gutartigkeit, diese Unfähigkeit zur Brutalität büßt der Brasilianer mit einer sehr starken und vielleicht überstarken Empfindlichkeit. Nicht nur sentimental, sondern auch sensitiv veranlagt, besitzt jeder Brasilianer ein besonderes leicht verletzbares Ehrgefühl und zwar ein Ehrgefühl besonderer Art. Gerade weil er selbst so besonders höflich und persönlich bescheiden ist, empfindet er jede und auch die unbeabsichtigtste Unhöflichkeit sofort als Mißachtung. Nicht daß er heftig reagiert wie etwa ein Spanier oder Italiener oder ein Engländer; er schweigt die vermeintliche Kränkung gleichsam in sich hinein. Immer wieder wird einem dasselbe erzählt: in einem Hause ist eine Angestellte, schwarz oder weiß oder braun; sie ist sauber, freundlich und still und gibt nicht den geringsten Anlaß zu einer Beschwerde. Eines Morgens ist sie verschwunden, die Hausfrau weiß nicht warum und wird es nie erfahren. Sie hat ihr vielleicht gestern ein leises Wort des Tadels, der Unzufriedenheit gesagt und mit diesem einen kleinen oder vielleicht zu lauten Wort, ohne es zu ahnen, das Mädchen tief gekränkt. Das Mädchen revoltiert nicht, beschwert sich nicht, sucht keine Auseinandersetzung. Still packt sie ihre Sachen und geht lautlos fort. Es ist nicht in der Art des brasilianischen Menschen, sich zu rechtfertigen oder Rechtfertigung zu fordern, sich zu beschweren oder zornig auseinanderzusetzen. Er zieht sich nur in sich selbst zurück; es ist seine natürliche Gegenwehr, und diesem stillen, geheimnisvoll schweigsamen Trotz begegnet man hier überall. Niemand wird, wenn man einmal eine Einladung oder Aufforderung auch in allerhöflichster Form abgelehnt hat, sie wiederholen, kein Verkäufer in einem Geschäft, wenn man mit dem Ankauf zögert, mit einem weiteren Wort zureden, und dieser geheime Stolz, diese Empfindlichkeit des Ehrgefühls reicht hinab bis in die untersten und alleruntersten Schichten. Während man in den reichste Städten der Welt, in London und Paris und gar in den Südländern überall Bettler findet, fehlen sie in diesem Lande, wo die »nackte Armut« oft kaum mehr ein Wort der Übertreibung ist, fast vollkommen und dies nicht etwa infolge eines energischen Dekrets, sondern aus der dem ganzen Volke eigenen Hypertrophie der Empfindlichkeit, die auch die höflichste Zurückweisung noch als Kränkung empfindet.

Diese Zartheit des Gefühls, diese Abwesenheit jeder Vehemenz will mir vielleicht als die charakteristischste Eigenschaft des brasilianischen Volkes erscheinen. Die Menschen brauchen hier keine heftigen und gewaltigen Spannungen, keine sichtbaren und ausnutzbaren Erfolge, um zufrieden zu sein. Es ist kein Zufall, daß der Sport, der doch im letzten die Leidenschaft des sich gegenseitig Überholens und Übertreffens darstellt, die ein gut Teil der Verrohung und Entgeistigung unserer Jugend verschuldet, in diesem Klima, das mehr zur Ruhe und zu behaglichem Genießen lockt, nicht jene absurde Überwichtigkeit gewonnen hat, und daß jene wüsten Szenen und tollwütigen Erregungen völlig fehlen, wie sie in unseren sogenannten zivilisierten Ländern an der Tagesordnung sind. Was Goethe auf seiner ersten Italienreise bei den Südländern so sehr sympathisch erstaunte, daß sie nicht ununterbrochen materielle oder metaphysische Zwecke des Lebens suchten, sondern sich des Lebens an sich auf stille und oft lässige Weise freuen, ist hier immer wieder von neuem dankbar zu empfinden. Die Menschen wollen hier nicht zu viel, sie sind nicht ungeduldig. Nach der Arbeit oder zwischen der Arbeit ein bißchen plaudern, Kaffee trinken, frisch rasiert und mit gutgeputzten Schuhen zu flanieren, an seinem Haus, an seinen Kindern seine gute Freude zu haben, ist den meisten genug. Alle Zustände des Behagens, des Glücks sind mit dieser friedlichen Gelassenheit gemischt. Darum ist und war es von je verhältnismäßig so leicht, dieses Land zu regieren, darum brauchte Portugal so wenig Militär und benötigt die Regierung heute so wenig Druck und Nachdruck, um Frieden und Ordnung zu bewahren. Das Zusammenleben im Staat ergibt sich hier mit unendlich viel weniger Haß von Gruppe zu Gruppe und Klasse zu Klasse dank dieser ihnen immanent innewohnenden Friedlichkeit und Neidlosigkeit.

Im wirtschaftlichen, im erfolgstechnischen Sinne mag dieser Mangel an Impetus, dieses Nicht-gierigsein, Nicht-ungeduldigsein, das an sich individuell für mich eine der schönsten Tugenden des Brasilianers darstellt, ein gewisses Manko sein. Mit Europa oder mit Nordamerika verglichen, bleibt im Tempo die kollektive Arbeitsleistung des ganzen Landes stark zurück, und schon vor vierhundert Jahren hat Anchieta den hemmenden Einfluß verzeichnet, den die erschlaffende Wirkung des Klimas notwendigerweise ausüben muß. Aber man kann diese Minderleistung keineswegs Trägheit nennen. An sich ist der Brasilianer ein ausgezeichneter Arbeiter. Er ist anstellig, schafft und begreift rasch. Man kann ihn zu allem heranbilden, und die aus Deutschland herübergekommenen Emigranten, die neue und oft komplizierte Industrien ins Land übertragen, rühmen einstimmig, mit welcher Wendigkeit und welchem Interesse sich die einfachsten Arbeiter auf neue Formen der Produktion umzustellen wissen. Im Kunsthandwerk zeigen die Frauen viel Geschick und in den Wissenschaften die Studenten regstes Interesse, und es wäre ungerecht im höchsten Maße, den brasilianischen Handwerker oder Arbeiter minderwertig zu nennen. In São Paulo, in einem günstigeren Klima und eingepaßt in eine europäische Organisation, leistet er genau dasselbe, wie irgendein anderer Arbeiter der Welt, aber auch in Rio de Janeiro habe ich hunderte Male beobachtet, wie bis tief in die Nacht die kleinen Schuster und Schneider noch in ihren engen Werkstätten arbeiten, und redlich bewundert, wie auf den Baustellen bei einer infernalischen Sommerhitze, wo es für einen selbst schon eine Anstrengung bedeutet, einen Hut vom Boden aufzuheben, die schwere Arbeit des Lasttragens inmitten der prallen Sonne ohne Pause weitergeht. Es ist also keineswegs die Fähigkeit, die Willigkeit und das Tempo des einzelnen, das zurückbleibt, es fehlt nur im ganzen jene europäische oder nordamerikanische Ungeduld, mittels verdoppelten Einsatzes an Arbeit im Leben doppelt rasch vorwärtszukommen – oder »hochzukommen«, wie man im deutschen Jargon sagt – es ist also eher eine seelische Minderspannung, welche die Gesamtheitsdynamik vermindert. Ein großer Teil der caboclos, besonders in den tropischen Zonen, arbeitet nicht, um zu sparen und zurückzulegen, sondern einzig, um die nächsten paar Tage zu fristen; wie immer in den Ländern, wo die Welt schön ist, die Natur alles bietet, was man zum Leben braucht, die Früchte rings um das Haus einem gleichsam in die Hand wachsen und man für keinen schlimmen Winter vorzusorgen hat, stellt sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Gewinn und Sparsinn ein; man hat es nicht eilig mit dem Geld und auch nicht mit der Zeit. Warum durchaus heute dies liefern oder schaffen? Warum nicht morgen – amanhã, amanhã – warum in einer so paradiesischen Welt sich übereilen? Pünktlichkeit gilt hier höchstens insofern, als jede Vorlesung, jedes Konzert ziemlich pünktlich eine Viertel- oder halbe Stunde später anfängt als angesagt; stellt man seine Uhr richtig darauf ein, so versäumt man nichts und paßt sich selber an. Das Leben an sich ist hier wichtiger als die Zeit. Oft geschieht es – so berichtete man mir zu übereinstimmend, als daß ich es bezweifeln könnte – daß am Tage nach der Lohnauszahlung der Arbeiter einfach zwei, drei Tage ausbleibt. Er hat fleißig und flink die letzte Woche seine Pflicht getan und genug verdient, um in bescheidenster, allerbescheidenster Weise noch zwei Tage ohne Arbeit zu leben. Wozu dann diese zwei Tage noch arbeiten? Reich kann er von den paar Milreis ohnehin nicht werden, also lieber diese zwei oder drei Tage in stiller und behaglicher Weise genießen, und vielleicht muß man die Üppigkeit der Welt hier gesehen haben, um dies zu verstehen. Während in einem grauen und öden Flachland Arbeit die einzige Rettung des Menschen vor der Freudlosigkeit des Daseins ist, erweckt innerhalb einer so reichen, von Früchten überquellenden und durch Schönheit beglückenden Natur das Leben den Wunsch nicht so heftig und so wild wie bei uns, reich zu werden. Reichtum ist in der Vision des Brasilianers keineswegs mühsame Aufhäufung von gespartem Geld aus unzähligen Arbeitsstunden, nicht Resultat eines rasenden und nervenzerrüttenden Antriebs. Der Reichtum ist etwas, wovon man träumt; es soll vom Himmel kommen, und die Funktion dieses Himmels ersetzt in Brasilien die Lotterie. Das Lotto ist in Brasilien eine der wenigen sichtbaren Leidenschaften dieses äußerlich so stillen Volkes und die tagtägliche solidarische Hoffnung von Hunderttausenden und Millionen. Ununterbrochen dreht sich das Glücksrad, jeden Tag ist neue Ziehung. Wo man geht und wo man steht, in jedem Geschäft und auf der Straße, auf dem Schiff und in der Bahn werden einem Lose angeboten, und jeder Brasilianer kauft Lose mit dem, was er von seinem Wochenlohn gerade übrig hat, der Friseurgehilfe, der Schuhputzer, der Gepäckträger, der Angestellte und der Soldat. Um eine bestimmte Nachmittagsstunde sieht man dann wie eine schwarze Geschwulst dicke Ansammlungen von Menschen vor den Ziehungsstellen, in allen Häusern und Geschäften ist das Radio aufgedreht, die Erwartung einer ganzen Stadt oder vielmehr des ganzen Landes ist in diesem Augenblick auf eine einzige Ziffer und eine einzige Zahl gestellt. Die oberen Schichten wieder spielen in den Kasinos, und fast jeder Kurort, jedes vornehme Luxusetablissement hat das seine. Monte Carlo ist hier verdutzendfacht, und selten sieht man einen der Tische nicht umdrängt. Aber noch nicht genug an dem. Zu diesem aus Europa importierten Spiel, dem Lotto, dem Baccarat und dem Roulette, hat sich die Bevölkerung hier noch ein eigenes brasilianisches Nationalspiel erfunden, das bicho, das sogenannte Tierspiel, das zwar von der Regierung streng verboten ist, aber trotz aller Verbote auf das fleißigste gespielt wird.

Dieses Bicho, dieses Tierspiel, hat eine sonderbare Entstehungsgeschichte, die an sich schon deutlich zeigt, wie sehr diese Leidenschaft für das Hasard dem träumerischen und naiven Charakter dieses Volkes zutiefst entspricht. Der Direktor des Zoologischen Gartens in Rio de Janeiro hatte über schlechten Besuch zu klagen. So kam er, seine Landsleute genau kennend, auf die gloriose Idee, daß jeden Tag ein bestimmtes Tier seines zoologischen Gartens, einmal der Bär, einmal der Esel, einmal der Papagei, einmal der Elefant ausgelost wurde. Wessen Besucherkarte diesem Tier entsprach, dem wurde dann der zwanzig- oder fünfundzwanzigfache Eintrittspreis ausbezahlt. Sofort stellte sich der erwünschte Erfolg ein: der Tiergarten wurde durch Wochen von Menschen überfüllt, die eigentlich weniger kamen, um die Tiere sich anzusehen, als die Prämie zu gewinnen. Schließlich wurde es ihnen zu weit und zu mühsam, immer wieder in den Tiergarten zu gehen. So spielten sie privatim untereinander, welches Tier an diesem Tage ausgelost werden würde. Kleine Winkelbanken taten sich hinter Schanktischen und an den Straßenecken auf, welche den Einsatz aufnahmen und die Gewinne ausbezahlten. Als dann die Polizei das Spiel verbot, wurde es auf geheimnisvolle Weise dem jeweiligen Lottoresultat angegliedert, in dem jede Ziffer für einen Brasilianer ein bestimmtes Tier darstellte. Um der Polizei jeden Beweis zu entziehen, wird auf Treu und Glauben gespielt. Der Winkelbankier stellt keine Bescheinigung für seine Klienten aus, aber es ist kein einziger Fall bekannt, wo er seine Verpflichtung nicht verläßlich eingehalten hätte. Dieses Spiel hat, vielleicht gerade um des Verbotenen willen, alle Kreise erfaßt, jedes Kind in Rio weiß schon, kaum es in der Schule zählen gelernt hat, welche Zahl jedes Tier darstellt, und kann die ganze Liste besser heruntersagen als das Alphabet. Alle Autoritäten, alle Strafen haben sich als illusorisch erwiesen. Denn wozu träumt der Mensch des Nachts, wenn er dann nicht morgens seinen Traum in Ziffer und Zahl, in Tier- und Lottospiel umsetzen dürfte? Wie immer haben sich die Gesetze machtlos erwiesen gegen eine wirkliche Volksleidenschaft, und immer wieder wird der Brasilianer, was ihm an Raffgier fehlt, kompensieren durch diesen täglichen Traum von plötzlichem Reichwerden.

Es ist also keine Frage: wie aus der Erde selbst noch lange nicht alle potentiellen Werte, so hat auch die große Masse Brasiliens aus sich noch nicht hundertprozentig herausgeholt, was in ihr an Begabung, an Arbeitskraft, an aktiven Möglichkeiten steckt. Aber im ganzen gesehen ist in Anrechnung der klimatischen Hemmungen, der körperlichen Feinorganisiertheit die Leistung eine äußerst respektable, und man zögert nach den Erfahrungen der letzten Jahre, ein allfälliges Manko an Ungeduld und Impetus, ein Es-nicht-allzu-eilig-Haben mit dem Vorwärtskommen, einen Fehler zu nennen. Denn es ist eine Frage weit über das brasilianische Problem hinaus, ob das friedliche, sich selbst bescheidende Leben von Nationen und Individuen nicht wichtiger ist als der übersteigerte, überhitzte Dynamismus, der eine Nation gegen die andere zum Wettkampf und schließlich zum Kriege treibt, und ob bei dem hundertprozentigen Herausholen aller seiner dynamischen Kräfte nicht etwas im seelischen Erdreich des Menschen durch dieses ständige doping, diese fiebrige Überhitzung eintrocknet und verdorrt. Der kommerziellen Statistik, den trockenen Zahlen der Handelsbilanz steht hier etwas Unsichtbares als der wahre Gewinn gegenüber: eine unverstörte, unverstümmelte Humanität und ein friedliches Zufriedensein.

Diese erstaunliche Genügsamkeit der Existenzform charakterisiert die ganze untere Schicht dieses Landes, und es ist eine ungeheure Schicht, eine dunkle und unabsehbare Masse, die bisher statistisch in ihrer Zahl oder in ihren Lebensbedingungen nie vollkommen erfaßt werden konnte. Wer in großen Städten lebt, begegnet ihr kaum. Sie ist nicht gesammelt wie etwa die amerikanische, die europäische Masse der Besitzlosen in Fabriken oder Arbeitsstätten, und man kann sie eigentlich nicht Proletariat nennen, weil diesen versteckten und über das Land hin verstreuten Millionen jede Bindung untereinander fehlt. Die caboclos des Amazonas, die seringueiros in den Wäldern, die vaqueiros auf den großen Weideflächen, die Indios in ihrem oft unzugänglichen Dickicht sind nirgends zu großen übersichtlichen Siedlungen vereinigt, und der Fremde (und auch der einheimische Großstädter) weiß eigentlich wenig von ihrer Existenz. Er weiß nur dunkel, daß irgendwo diese Millionen sind, und daß sowohl der Bedarf als auch das Einkommen dieser untersten, fast durchweg farbigen Masse sich an der untersten Grenze des Lebensniveaus knapp an dem Nullpunkt bewegt. Seit hunderten Jahren hat sich die Lebenshaltung dieser vielfach gemischten Abkömmlinge der Indios und Sklaven weder verändert noch verbessert, und wenig von den Leistungen und Fortschritten der Technik ihr Leben überhaupt erreicht. Die Wohnung schaffen sich die meisten selbst, eine Hütte oder ein kleines Haus aus Bambusrohr, mit Lehm beworfen und mit Schilf gedeckt, das sie sich mit eigener Hand irgendwo erbauen. Gläserne Fenster sind schon ein Luxus, ein Spiegel oder sonst ein Einrichtungsgegenstand außer Bett und Tisch in diesen Wohnhütten des inneren Landes eine Seltenheit. Für diese selbstgebaute Hütte bezahlt man allerdings keine Miete; außer in den Städten stellt Grund und Boden einen solchen non-valeur dar, daß niemand sich die Mühe nehmen würde, für ein paar Quadratmeter Entgelt zu verlangen. An Kleidung erfordert das Klima nicht mehr als eine Leinenhose, ein Hemd und einen Rock. Die Banane, der Mandioca, die Ananas, die Kokosnuß geben sich von Baum und Strauch umsonst, ein paar Hühner finden sich leicht dazu und allenfalls noch ein Schwein. Damit sind die Hauptbedürfnisse des Lebens gedeckt, und welche geregelte oder gelegentliche Tätigkeit dieser Arbeiter denn verrichtet, immer bleibt ihm noch etwas für die Zigarette und die anderen kleinen – allerdings winzig kleinen – Notwendigkeiten seiner Existenz. Daß die Lebensverhältnisse dieser Unterklasse, besonders im Norden, unserer Zeit nicht mehr entsprechen, daß bei der geradezu endemischen Armut ganzer Landstriche die Bevölkerung durch Unterernährung geschwächt und zu einer normalen Leistung nicht fähig ist, wissen die oberen Stellen längst selbst, und ununterbrochen werden Maßnahmen erwogen und angeordnet, dieser im wahrsten Sinne nackten Armut zu steuern. Aber in dieses von Bahnen und Straßen gleich abgelegene Hinterland, in die Wälder von Mato Grosso und Acre können die von der Regierung Getúlio Vargas festgelegten Minimallohnsätze als Norm noch nicht vordringen, Millionen Menschen sind weder im Sinne einer regulierten, organisierten, kontrollierten Arbeit, noch in dem der Zivilisation überhaupt erfaßt, und es wird Jahre und Jahrzehnte dauern, ehe sie dem nationalen Leben tätig eingeordnet werden können. Wie alle Kräfte seiner Natur, so hat Brasilien auch diese weite und dunkle Masse weder als Produzent noch als Konsument von Gütern bisher ausgewertet. Auch sie stellt eine der ungeheuren Reserven der Zukunft, eine der vielen noch nicht in Leistung umgesetzten potentiellen Energien dieses erstaunlichen Landes dar.

Über dieser im Dunkel verstreuten und amorphen Masse, die – großenteils analphabetisch und in ihrem Lebensstandard nahe dem absoluten Tiefpunkt – bisher wenig oder eigentlich gar nichts zur Kultur beitragen konnte, erhebt sich, stark aufstrebend und ständig in ihrem Einfluß wachsend, die kleinbürgerliche, die ländliche Mittelklasse: die Angestellten, die kleinen Unternehmer, die Geschäftsleute, die Handwerker, die vielfältigen Berufe der Städte und der Fazendas. In dieser durchaus rationalen Schicht prägt sich am deutlichsten die bestimmte und bewußte brasilianische Eigenheit in einem unverkennbar persönlichen Lebensstile aus – einem Lebensstil, der viel der alten kolonialen Tradition nicht nur bewußt aufrechterhält, sondern auch schon schöpferisch weiterbildet. Es ist nicht leicht, in ihre Existenz hineinzublicken, denn in der äußeren Haltung fehlt jede Ostentation, diese Klasse lebt völlig einfach und unauffällig und fast möchte ich sagen, lautlos, weil drei Viertel der Existenz sich ganz in unserem alten europäischen Stil im Familienkreis erfüllt. Ein eigenes Haus bildet – außer in Rio de Janeiro und São Paulo, wo in unseren Tagen die vielstöckigen Häuser eigentlich zum erstenmal den Typus der Mietswohnung eingeführt haben – die unauffällige Schale, die den eigentlichen Kern des Daseins, den Familienkreis umschließt. Es ist fast immer ein kleines Haus mit ein oder höchstens zwei Stockwerken und drei bis sechs Zimmern, das nach außen ohne Prätention und ohne Zierrat sich in die Gasse einordnet und innen mit so einfachem Mobiliar eingerichtet ist, daß für Feste und Gäste kein Raum bleibt. Außer bei drei- oder vierhundert »oberen« Familien wird man im ganzen Lande kein wertvolles Bild, kein Kunstwerk auch nur von mittlerem Rang, keine wertvollen Bücher finden, nichts von der breiten Bequemlichkeit des europäischen Kleinbürgers – immer wieder ist es in Brasilien die Genügsamkeit, die einem von neuem auffällt. Da das Haus ausschließlich für die Familie bestimmt ist, versucht es nicht mit falschem Prunk und kleinen Üppigkeiten zu blenden. Mit Ausnahme des Radios und des elektrischen Lichts und allenfalls eines Badezimmers ist heute seine Einteilung nicht anders als in der Kolonialzeit der Vizekönige und auch die Lebensform in diesem Hause; in der Sitte hat manches Patriarchalische aus dem anderen Jahrhundert, das bei uns längst – man bedauert es fast – historisch geworden ist, sich noch in voller Geltung erhalten: vor allem widerstrebt hier bewußt ein traditioneller Wille der Auflockerung des Familienlebens und des väterlichen Autoritätsprinzips. Wie in den alten Provinzen Nordamerikas wirkt auch hier die strengere Auffassung der Kolonialzeit unbewußt nach; man begegnet hier noch in voller Geltung, was unsere eigenen Väter in Europa uns von der Welt ihrer Väter erzählten. Die Familie ist hier noch der Sinn des Lebens und das eigentliche Kraftzentrum, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückführt. Man lebt und man hält zusammen; wochentags im engeren Kreise, versammelt man sonntags den weiteren Kreis der Verwandten; gemeinsam wird der Beruf, das Studium des einzelnen bestimmt. In der Familie wiederum ist der Vater, der Mann noch unbeschränkter Herr über die Seinen. Er hat alle Rechte und Vorrechte, kann Gehorsam als selbstverständlich voraussetzen, und es ist besonders in den ländlichen Kreisen noch wie einst bei uns in früheren Jahrhunderten der Brauch, daß die Kinder dem Vater die Hand küssen als Zeichen des Respekts. Die männliche Superiorität und Autorität sind noch unbestritten und dem Manne vieles verstattet, was der Frau versagt ist, die, wenn auch nicht mehr so streng gehalten wie noch vor wenigen Jahrzehnten, im wesentlichen auf den inneren Wirkungskreis im Haus beschränkt ist. Die bürgerliche Frau betritt hier fast nie allein die Straße, und selbst von einer Freundin begleitet wäre es unzulässig, wenn sie nach Einbruch der Dämmerung ohne ihren Gatten außer dem Hause gesehen würde. Darum sind abends, ähnlich wie in Spanien oder Italien, die Städte eigentlich nurmehr Männerstädte; die Männer sind es, die die Cafés überfüllen, auf den Boulevards promenieren, und es wäre selbst in den Großstädten kaum denkbar, daß Frauen oder Mädchen abends ohne Begleitung des Vaters oder Bruders in ein Kino gingen. Emanzipationsbestrebungen oder Frauenrechtlerei haben hier noch keinen Boden gefunden, selbst die berufstätigen Frauen, die hier noch in verschwindender Minorität gegen die an Haus und Familie gebundenen stehen, bewahren die traditionelle Zurückhaltung. Noch eingeschränkter ist selbstverständlich die Stellung der jungen Mädchen. Freundschaftlicher Verkehr mit jungen Leuten auch naivster Art, sofern er nicht deutlich von Anfang an sich mit Heiratsabsichten verbindet, ist selbst heute noch nicht üblich, und das Wort flirt läßt sich nicht ins Brasilianische übersetzen. Im allgemeinen heiratet man, um alle Komplikationen zu vermeiden, außerordentlich früh, die Mädchen aus den bürgerlichen Kreisen meist mit siebzehn, mit achtzehn Jahren, wenn nicht schon vordem. Baldiger sowie reichlicher Kindersegen ist hier noch erwünscht und nicht gefürchtet. Frau, Haus, Familie sind hier noch innig verbunden, außer bei wohltätigen Veranstaltungen treten die Frauen selbst bei festlichen oder repräsentativen Anlässen niemals in den Vordergrund und – mit Ausnahme der Geliebten Dom Pedros I., der Marquise von Santos – haben sie im politischen Leben niemals eine Rolle gespielt. Amerikaner und Europäer mögen dies hochmütig als rückständig empfinden, aber diese unzähligen Familien, die still und ohne jede Vordringlichkeit in ihren kleinen Häusern zufrieden leben, bilden durch ihre gesunde, normale Existenzform das eigentliche Kraftreservoir der Nation. Aus dieser mittleren Schicht, die trotz ihrer konservativen Lebenshaltung bildungseifrig und fortschrittsfreundlich gesinnt ist; aus diesem festen und gesunden Humus stammt heute jene Generation, die die Führung des Landes mit den alten und aristokratischen Familien zu teilen beginnt, und in gewissem Sinne ist Vargas, der selbst vom Lande und aus dem Mittelstand stammt, der sinnfälligste Ausdruck dieser neuen, stark und energisch aufstrebenden und doch gleichzeitig bewußt traditionellen Generation.

Über dieser, das ganze Land schon durchdringenden und sich ständig in ihrem Einfluß steigernden Klasse, die das neue Brasilien repräsentiert, steht – oder besser gesagt, besteht unentwegt die alte und bedeutend kleinere, die man die aristokratische nennen möchte, wenn in diesem neuen und durchaus demokratischen Lande dieses Wort nicht irreführend wirken würde. Denn, teilweise noch aus der Kolonialzeit stammend, teilweise erst mit König João aus Portugal herübergekommen, hatten diese vielfach untereinander verschwägerten – manchmal geadelten, manchmal ungeadelten – Familien nicht eigentlich Zeit, zu einer aristokratischen Kaste zu erstarren; ihre Gemeinsamkeit bestand einzig in der Lebenshaltung und der schon seit Generationen hochentwickelten geistigen Kultur. Vielgereist in Europa oder von europäischen Lehrern und Gouvernanten herangebildet, zum großen Teil reich begütert oder in hohen Regierungsfunktionen, haben sie seit dem Beginn des ersten Kaiserreichs den geistigen Zusammenhang mit Europa ständig bewahrt und ihren Ehrgeiz daran gesetzt, Brasilien vor der Welt im Sinne kultivierter und fortschrittlicher Wesensart zu repräsentieren. Aus diesen Kreisen stammt die Generation jener großen Staatsmänner wie Rio Branco, Rui Barbosa, Joaquim Nabuco, die auf das glücklichste verstanden, innerhalb der einzigen Monarchie Amerikas den nordamerikanisch-demokratischen Idealismus mit dem europäischen Liberalismus zu verbinden und jene Methode der Konzilianz, der Schiedsgerichte und Verträge, die für die brasilianische Politik so ehrenvoll ist, auf eine stille und beharrliche Weise durchzusetzen.

Noch heute ist die Diplomatie fast ausschließlich diesen Kreisen vorbehalten, während der Verwaltungsdienst und das Militär schon mehr in die Hände der jungen, aufsteigenden Bürgerklasse überzugehen beginnen. Aber ihr kultureller Einfluß auf das allgemeine Repräsentationsniveau ist noch immer wohltätig fühlbar. Auch in ihrer Lebenshaltung fehlt jede Ostentation. In schönen Häusern mit alten, wundervollen Gärten wohnend, die sich aber keineswegs als Paläste markieren, meist in den früher exklusiven Teilen der Stadt, in Tijuca und Laranjeiras oder der Rua Paissandú halten sie in der Wohnkultur am Traditionellen fest, Sammler von allen historischen Kunstwerten ihres Landes, und stellen in ihrer gleichzeitigen nationalen Gebundenheit und geistigen Universalität einen Typus höchster Zivilisation vor, wie er in den anderen südamerikanischen Ländern fast völlig fehlt, und der stark an den österreichischen erinnert in seiner Kunstfreundlichkeit und geistigen Liberalität. Noch sind diese alten Familien – alt meint hier schon hundert Jahre – in ihrer kulturellen Vorherrschaft nicht verdrängt durch eine neue Aristokratie des Reichtums, weil sie großenteils selbst vermögend sind und hier die Unterschiede viel unmerklicher als bei uns ineinanderfließen. Das Brasilianische kennt nicht das Exklusive – dies seine eigentliche Kraft – und wie in der rassenmäßigen, so ist auch in der sozialen Schichtung der Assimilationsprozeß ein ständiger. Alle Tradition, alle Vergangenheit ist hier zu kurzfristig, als daß sie sich nicht willig und leicht in die neuen und erst werdenden Formen des Brasilianischen auflöste.

Auf diesen beiden Gruppen ruht, da die unterste Masse durch Analphabetismus und räumliche Isolierung an der Herausformung einer typisch brasilianischen Kultur noch nicht teilnimmt, sowohl im produktiven als auch im aufnehmenden Sinne der ganze individuelle Anteil Brasiliens an der Weltkultur. Um diese spezifische Leistung gerecht einzuschätzen, darf nicht vergessen werden, daß das ganze geistige Leben dieser Nation kaum viel mehr als hundert Jahre umfaßt und daß in den dreihundert kolonialen Jahren vordem jede Form des kulturellen Auftriebs systematisch unterdrückt worden war. Bis 1800 ist in diesem Land, das keine Zeitung und kein literarisches Werk drucken darf, das Buch eine Kostbarkeit, eine Rarität und außerdem meist eine Überflüssigkeit, denn man schätzt eher zu hoch als zu tief, wenn man annimmt, daß um 1800 unter hundert Menschen neunundneunzig Analphabeten einem einzigen gegenüberstanden, der lesen und schreiben konnte. Zuerst waren es noch die Jesuiten, die in ihren Colégios den Unterricht besorgten, bei dem sie selbstverständlich die Unterweisung in der Religion jeder Form der universellen und zeitgenössischen Bildung voranstellten. Mit ihrer Austreibung 1765 entsteht ein völliges Vakuum im öffentlichen Unterricht. Weder Staat noch Stadt denken daran, Schulen einzurichten. Eine besondere Steuer auf Lebensmittel und Getränke, die 1772 der Marquis de Pombal anordnet, um von diesem Ertrage Elementarschulen zu eröffnen, bleibt bloßes papiernes Dekret. Mit dem flüchtenden portugiesischen Hofe kommt 1808 die erste wirkliche Bibliothek ins Land, und um nach außen hin seiner Residenzstadt einen gewissen kulturellen Glanz zu geben, läßt der König Gelehrte herüberkommen und gründet Akademien und eine Kunstschule. Aber damit ist nicht viel mehr als eine dünngestrichene Fassade geschaffen; noch immer geschieht nichts Großzügiges, um systematisch die großen Massen in das doch recht bescheidene Geheimnis des Lesens, Schreibens und Rechnens einzuführen. Erst unter dem Kaiserreich beginnt man 1823 herumzuprojektieren, daß cada villa ou cidade tenha uma escola pública, cada província um liceu, e que se estabeleçam universidades nos mais apropriados locais. Aber es dauert noch vier Jahre, bis 1827 gesetzlich wenigstens die Minimalforderung festgelegt wird, in jeder größeren Ortschaft müsse eine Elementarschule vorhanden sein. Damit ist endlich der prinzipielle Ansatz zu einem Fortschritt gemacht, der jedoch nur im Schneckentempo fortschreitet. 1872 errechnet man, daß bei einer Bevölkerung von über zehn Millionen im ganzen nur 139 000 Kinder die Schule besuchen, und selbst in unseren Tagen, 1938, sah sich die Regierung noch vor die Notwendigkeit gestellt, ein eigenes Initiativkommittee zu gründen zwecks der endgültigen Ausrottung des Analphabetismus.

Der ersehnten Blüte einer eigenen Dichtung und Literatur fehlte also jahrhundertelang der richtige Humus, in dem sie zu wirklichem Wachstum gelangen konnte: das einheimische Publikum. Verse zu schreiben, Bücher zu verfassen bedeutete für einen Brasilianer bis knapp in unsere Zeit einen materiell aussichtslosen und wirklich heroischen Opferdienst an das dichterische Ideal, denn sie alle schufen und sprachen, sofern sie nicht dem Journalismus oder der Politik sich dienstbar machten, völlig ins Leere. Die großen Massen vermochten ihre Bücher nicht zu lesen, weil sie überhaupt nicht lesen konnten, und die obere dünne intellektuelle Schicht, die aristokratische, hielt es für wenig wichtig, ein brasilianisches Buch zu bestellen, und bezog ihre Lektüre an Romanen und Versen fast ausschließlich aus Paris. Erst in den letzten Jahrzehnten ist durch den Zustrom kulturgewohnter und darum kulturbedürftiger Elemente, durch die enorme Ausweitung der Bildung in der aufsteigenden Mittelklasse hier Wandel geschaffen worden, und mit der ganzen Ungeduld, wie sie nur lang zurückgehaltene Nationen haben, dringt die brasilianische Literatur in die Weltliteratur vor. Das Interesse an geistiger Produktion ist hier erstaunlich. Buchladen entsteht neben Buchladen, in Druck und Ausstattung verbessert sich die Herstellung ständig, belletristische und auch wissenschaftliche Werke können schon Auflageziffern erreichen, die vor einem Jahrzehnt noch als traumhaft gegolten, und schon beginnt die brasilianische Produktion die portugiesische zu überflügeln. Mehr als bei uns, wo der Sport und die Politik in gleich verhängnisvoller Weise die Aufmerksamkeit der Jugend ablenkt, steht die geistige und künstlerische Produktion im Mittelpunkt des Interesses der ganzen Nation.

Denn der Brasilianer ist an sich durchaus geistig interessiert. Beweglichen Intellekts, rasch in der Auffassung und von Natur aus gesprächig, hat er als Portugiesenenkel die natürliche Freude an schönen sprachlichen Formen, die sich hier in Brief und Umgang in besonderen Höflichkeiten bewegen und im Rednerischen gern zum Überschwang neigen. Er liebt zu lesen; selten sieht man den Arbeiter, den Straßenbahnschaffner in einer freien Minute ohne eine Zeitung in der Hand, selten einen jungen Studenten ohne ein Buch. Dieser ganzen neuen Generation ist Schrift und Literatur nicht wie dem Europäer schon eine jahrhundertealte Selbstverständlichkeit, ein überliefertes Erbe, sondern etwas selbst Errungenes, und sie finden noch einen Stolz und eine Freude darin, sich selbst und die ganze Weltliteratur zu entdecken. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß in diesen südamerikanischen Ländern mehr als in allen andern noch eine gewisse Ehrfurcht vor der geistigen Leistung besteht, und daß das zeitgenössische – auch dank der Billigkeit der Ausgaben – rascher und weiter sich in das Volk verbreitet wie bei den traditionsgebundenen Nationen. Durch die eingeborene Neigung des Brasilianers zu zarteren Formen hat die Poesie lange den Vorrang in der nationalen Literatur gehabt; mit den epischen Gedichten »Uruguai« und »Marília« beginnt die brasilianische Kultur des Verses, die wirklich hervorragende Persönlichkeiten zeitigt. Ein Lyriker kann hier noch wirklich populär werden. In allen Parks findet man wie im Parc Monceau und Luxembourg in Paris die Statuen der nationalen Dichter aufgestellt, und sogar einem lebenden, Catulo da Paixão Cearense, hat die Bevölkerung – oder vielmehr das wirkliche Volk durch gemeinsame Sammlung von kleinen Silbermünzen – diese rührende Huldigung erwiesen. Noch ehrt, als eines der letzten, dieses Land das Gedicht, und die brasilianische Akademie versammelt heute eine stattliche Anzahl von Poeten, die der Sprache neue und persönliche Nuancen gegeben.

Länger dauert die Emanzipation von den europäischen Vorbildern in der Prosa, im Roman und in der Novelle. Selbst die Entdeckung des »guten Indios« in dem »Guarani« von José de Alencar war eigentlich nur ein Rückimport ausländischer Vorbilder wie Chateaubriands »Atala« oder Fenimore Coopers »Lederstrumpf«; bloß die äußere Thematik in seinen Romanen, nur ihr historisches Kolorit ist brasilianisch, nicht aber die seelische Einstellung; die künstlerische Atmosphäre.

Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts tritt mit zwei wahrhaft repräsentativen Gestalten, mit Machado de Assis und Euclides da Cunha Brasilien in die Aula der Weltliteratur ein. Machado de Assis bedeutet für Brasilien, was Dickens für England und Alphonse Daudet für Frankreich. Er hat die Fähigkeit, lebendige Typen, die sein Land, sein Volk charakterisieren, lebendig zu erfassen, ist ein geborener Erzähler, und die Mischung von leisem Humor und überlegener Skepsis gibt jedem seiner Romane einen besonderen Reiz. Mit seinem »Dom Casmurro«, dem populärsten seiner Meisterwerke, hat er eine Figur geschaffen, die für sein Land so unsterblich ist wie David Copperfield für England und Tartarin de Tarascon für Frankreich; dank der durchsichtigen Sauberkeit seiner Prosa, seinem klaren und menschlichen Blick stellt er sich den besten europäischen Erzählern seiner Zeit zur Seite.

Im Gegensatz zu Machado de Assis war Euclides da Cunha kein Schriftsteller von Profession; sein großes nationales Epos, die »Sertões«, ist gleichsam durch einen Zufall entstanden. Euclides da Cunha, seinem Beruf nach Ingenieur, hatte als Vertreter der Zeitung »Estado de São Paulo« eine der militärischen Expeditionen gegen die Canudos, eine aufständische Sekte in dem wilden und düsteren Gebiet des Nordens begleitet. Der Bericht über die Expedition, mit prachtvoller dramatischer Kraft gestaltet, wuchs sich in Buchform zu einer umfassenden psychologischen Darstellung der brasilianischen Erde, des Volkes, des Landes aus, wie sie seitdem mit ähnlichem Tiefblick und soziologischer Weitsicht nie mehr versucht und nie mehr erreicht worden ist. Vergleichbar in der Weltliteratur noch am ehesten den »Sieben Säulen der Weisheit«, in denen Lawrence den Kampf in der Wüste schildert, ist dieses im Ausland wenig bekannte großartige Epos bestimmt, unzählige heute berühmte Bücher zu überdauern durch die dramatische Großartigkeit seiner Darstellung, seinen Reichtum an geistigen Erkenntnissen und die wunderbare Humanität, die das Werk erfüllt. Wenn die brasilianische Literatur heute in ihren Romanschriftstellern und Dichtern an Subtilität, an sprachlicher Nuancierung im einzelnen ungeheure Fortschritte gemacht hat, so hat sie doch mit keinem Werke mehr diesen überragenden Gipfel erreicht.

Schwach dagegen ist vorläufig noch die dramatische Kunst entwickelt. Hier ist kein Name eines Dramas mir als wirklich bemerkenswert genannt worden, und auch im öffentlichen und geselligen Leben spielt die theatralische Kunst kaum eine wesentliche Rolle. An sich ist diese Tatsache nicht verwunderlich, denn das Theater als typisches Produkt einer einheitlich organisierten Gesellschaft ist eine Kunstform, die ausschließlich innerhalb einer bestimmten Schicht der Gesellschaft in Erscheinung treten kann, und diese Form der Gesellschaft hat in Brasilien nicht Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Brasilien hat kein elisabethanisches Zeitalter durchlebt, keinen Hof Ludwig XIV., keine breite bürgerliche theaterfanatische Masse gehabt wie Spanien oder Österreich. Alle theatralische Produktion beruhte bis tief in das Kaiserreich ausschließlich auf Import – und zwar infolge der Riesendistanz auf dem Import minderer Truppen und minderer Ware. Ein richtiges nationales Theater war selbst unter Dom Pedro nicht richtig versucht und gefördert worden; die ersten Truppen, die von Europa ins Land kamen, spielten sogar in spanischer und nicht in portugiesischer Sprache. Heute, da in den Millionenstädten schon ein aufnahmefähiges Publikum bestünde, ist es durch den alles überflutenden Einfluß des Kinos vielleicht schon zu spät, hier einen Anfang zu machen.

Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Musik. Auch hier macht sich das Fehlen einer jahrhundertealten, tief in alle Schichten eingedrungenen Tradition fühlbar. Es fehlen die großen herangebildeten Chöre, so daß gerade die monumentalen Werke der Musik wie die Matthäuspassion, die großen Requiems, die neunte Symphonie von Beethoven, die Händelschen Oratorien dem großen Publikum soviel wie unbekannt sind. Die Oper in Rio de Janeiro und São Paulo baut ihr Repertoire noch wie vor fünfzig Jahren auf die italienische Oper Verdis und bestenfalls Puccinis auf. Ein Werk wie der »Tristan«, den Kaiser Dom Pedro vor fast hundert Jahren für Rio de Janeiro zur Uraufführung haben wollte, ist vielleicht zwei- oder dreimal seitdem gespielt worden und die wirklich neuzeitliche Musik soviel wie unbekannt. Erst jetzt hat man damit begonnen, symphonische Orchester aufzubauen, aber noch immer ist es die leichte, die gefällige Musik, die hier im Publikum vorwaltet.

Um so erstaunlicher deshalb, daß dieses Land schon zu einer Zeit, wo es wirklichen Heroismus und einen geradezu verzweifelten Lernwillen erforderte, sich heranzubilden, einen Musiker hervorgebracht hat, dem ein rauschender Welterfolg beschieden war, Carlos Gomes. In einem kleinen Städtchen im Staate von São Paulo 1836 geboren, tritt er schon mit zehn Jahren in eine Musikkapelle ein und bildet sich nun ohne jeden richtigen Lehrer in einem Lande, wo Partitur und wirkliche Opernvorstellungen kaum für ihn erreichbar sind, so willenskräftig aus, daß er bereits mit vierundzwanzig Jahren eine Oper, »A Noite do Castelo«, vorlegen kann. 1861 in Rio de Janeiro aufgeführt, wird sie ebenso wie seine nächste ein großer nationaler Erfolg. Nun nimmt sich der Kaiser Dom Pedro seiner an und sendet ihn zur weiteren Ausbildung nach Europa. In Italien fällt ihm der Roman seines Landsmanns, die »Guarani« von José de Alencar, in italienischer Übersetzung in die Hand, und sofort stürzt er damit zum Librettisten, dies sei das Werk, mit dem er als Brasilianer Brasilien vor der Welt darstellen wolle. 1870 wird die Oper in der Scala aufgeführt und ein sensationeller Erfolg. Der Altmeister Verdi erklärt, einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben, und noch heute gelangen die »Guarani« – die beste Oper Meyerbeers, wie sie ein Musikhistoriker genannt hat – ab und zu auf italienischen Bühnen zur Aufführung. Ein typisches Musterexemplar jener großen Oper, die dem Auge, dem Ohr alles reichlich und überreichlich gibt, nur der Seele nicht genug, melodiös in ihrem lyrischen Teil, macht das Werk heute noch den Erfolg und die großen Hoffnungen, die man an den weiteren Aufstieg Carlos Gomes' knüpfte, verständlich, aber gerade weil sie so trefflich in diese romantische und pompöse Meyerbeer-Zeit paßten, sind die »Guarani« heute schon mehr ein musikhistorisches Dokument als lebendige Musik. Den typisch brasilianischen Beitrag zur Weltmusik hat bedeutend mehr als der italianisierende Carlos Gomes uns Villa Lobos gegeben. Ein starker, eigenwilliger Rhythmiker, der jedem seiner Werke eine bei anderen Komponisten nicht zu findende Farbe gibt, die in ihrer Grelle und dann wieder in ihrer geheimnisvollen Schwermut geheimnisvoll die Landschaft und die brasilianische Seele spiegeln.

Einen ähnlich typisch brasilianischen Ausdruck des Volkshaften erwartet man sich in der Malerei von Portinari, dem es als erstem brasilianischen Maler gelungen ist, sich eine internationale Stellung in wenigen Jahren zu erobern. Aber wieviel Farbe, wieviel Vielfalt, welche ungeheuren glücklichen Aufgaben erwarten in dieser großartigen Landschaft noch den Mann, der ähnlich wie Gauguin für die Südsee, Segantini für die Schweiz die grandiose Natur dieses Landes der Welt vertraut machen wollte. Welche Möglichkeiten eröffnen sich hier der Architektur in diesen mit fiebriger Geschwindigkeit wachsenden Städten, die immer stärker den Willen offenbaren, nicht mehr nach europäischem Schema und nicht auch nach dem nordamerikanischen, sondern in einer persönlichen Form zu gestalten! Viel wird in diesem Sinne hier versucht und einiges Wesentliche ist schon erreicht worden.

In der Wissenschaft – einer Materie, wo mir persönlich Überblick und Wertung durch mangelnde Fachkenntnis versagt ist – haben die letzten Jahre einen erstaunlichen Fortschritt in der historischen und ökonomischen Selbstdarstellung des Landes gebracht. Fast alle früheren Dokumente und Darstellungen Brasiliens waren von Ausländern geschrieben worden. Im sechzehnten Jahrhundert ist es der Franzose Thévet, der Deutsche Hans Staden, im siebzehnten der Holländer Berleus, im achtzehnten Jahrhundert der Italiener Antonil und im neunzehnten Jahrhundert der Engländer Southey, der Deutsche Humboldt, der Franzose Debret und der von Deutschen abstammende Varnhagen, denen man die eigentlich klassischen Darstellungen des Landes dankt. Aber in den letzten Jahrzehnten sind es die Brasilianer, die sich der Aufgabe angenommen haben, ihr Land und seine Geschichte auf Grund sorgfältigster Quellenstudien verständlich zu machen, und zusammen mit den sehr gründlichen Publikationen der Regierung und der einzelnen Staaten umfaßt diese Literatur schon allein eine ganze Bibliothek. In der Philosophie ist als merkwürdigstes Phänomen zu verzeichnen, daß der Positivismus Auguste Comtes hier eine Schule und sogar eine Kirche gegründet hat; ein gut Teil der brasilianischen Staatsverfassung ist von den Formeln und Anschauungen des französischen Philosophen durchsetzt, der hier ungleich mehr als in seinem Heimatland Einfluß auf das reale Leben genommen hat. Auf dem Gebiet der Technik wiederum hat vor allem der Aeronaut Santos Dumont unsterblichen Ruhm gewonnen durch seinen ersten Flug um den Eiffelturm und seine Konstruktionen von Aeroplanen, die in ihrer Kühnheit und Tatkraft den entscheidenden Anstoß zum Erfolg gaben. Ist der Prioritätsstreit heute auch noch immer im Gang, ob er es war oder die Brüder Wright, die zum erstenmal den Flug des Menschen in einem Flugzeug verwirklichten, das schwerer war als die Luft, so meint diese Frage eigentlich nur, ob Santos Dumont an zweifellos erster oder schlimmstenfalls bloß an zweiterster Stelle in dieser hervorragendsten und heroischsten Tat unserer neuen Welt steht, und dies ist genug, um seinen Namen für alle Zeiten in die Ehrentafel der Geschichte einzugraben. Sein Leben ist in sich selbst ein großartiges episches Gedicht des Wagemuts und der Selbstverleugnung, und unvergeßlich wie seine technische Tat werden die Taten seiner Menschlichkeit sein, jene beiden Briefe, die er verzweifelt an den Völkerbund richtete, damit dieser ein für allemal die Verwendung des Flugzeugs zu Bombenabwurf und anderen kriegerischen Grausamkeiten verbiete. Mit diesen beiden Briefen allein, welche die humanitäre Gesinnung seines Vaterlands vor der ganzen Welt proklamierten und verteidigten, hat sich seine Gestalt für alle Zeiten gegen jedes undankbare Vergessen geschützt.

Setzt man also in die Bilanz die richtigen Zahlen ein, so ist die kulturelle Leistung Brasiliens heute schon eine außerordentliche. Richtig aber rechnet man nur, sofern man das kulturelle Alter dieses Landes nicht mit vierhundertfünfzig Jahren und die Zahl seiner Bevölkerung mit fünfzig Millionen einstellt. Denn Brasilien zählt seit seiner Unabhängigkeit nicht viel mehr als hundert, genauer hundertneunzehn Jahre, und von seiner Bevölkerung nehmen heute noch kaum mehr als sieben oder acht Millionen an modernen Lebensbedingungen produktiv teil. Ebenso führt jeder Vergleich mit Europa ins Leere. Europa hat unermeßlich mehr Tradition und weniger Zukunft, Brasilien weniger Vergangenheit und mehr Zukunft, alles Geleistete ist hier ein Teil des noch zu Leistenden, vieles, was Europa der jahrhundertealte Grundstock als selbstverständlich gewährt, ist hier noch aufzubauen, die Museen, die Bibliotheken, der durchgreifende Bildungsapparat; noch hat es der junge Künstler, der junge Schriftsteller, der junge Gelehrte, der Student hier hundertmal schwerer als in den besser dotierten und besser organisierten Lehranstalten Nordamerikas, sich Überblick und universelle Kenntnisse anzueignen. Noch spürt man hier manchmal eine gewisse Enge und anderseits Ferne von den aktuellen Bemühungen unserer Zeit, noch ist das Land nicht seiner eigenen Proportion entsprechend entwickelt, noch wird jeder Brasilianer ein Jahr Europa oder Nordamerika als die richtige letzte Stufe seiner Studien empfinden, noch hat Brasilien trotz allen und allen unseren Torheiten von unserer alten Welt Auftrieb und Antrieb zu empfangen.

Aber anderseits hat auch der Europäer, der zu kürzerem oder längerem Besuch landet, schon viel hier zu lernen. Er begegnet einem anderen Raumgefühl, einem anderen Zeitgefühl. Der Spannungsgrad der Atmosphäre ist ein geringerer, die Menschen freundlicher, die Kontraste weniger vehement, die Natur näher, die Zeit nicht so überfüllt, die Energien nicht so bis zum letzten und äußersten gespannt. Man lebt hier friedlicher, also menschlicher, nicht so maschinell, nicht so standardisiert wie in Amerika, nicht so politisch überreizt und vergiftet wie in Europa. Dadurch, daß Raum ist um den Menschen, stößt nicht einer so ungeduldig mit dem Ellbogen gegen den andern, dadurch daß Zukunft ist in diesem Lande, ist die Atmosphäre unbesorgter und der einzelne weniger bekümmert und erregt. Es ist ein gutes Land für ältere Menschen, die schon viel von dieser Welt gesehen haben und nun in einer schönen, friedlichen Landschaft Stille und Zurückgezogenheit begehren, um all das Erlebte zu überdenken und auszuwerten. Und es ist ein wundervolles Land für junge Menschen, die ihre noch nicht ausgewerteten Energien in eine noch nicht ermüdete Welt bringen wollen, die noch restlos und freudig sich hier einpassen können und mitarbeiten an Entwicklung und Aufstieg. Von allen, die in den letzten Jahrzehnten aus Europa kamen, ist kaum einer zurückgekehrt; denselben Völkern, die heute sich jenseits des Ozeans sinnlos bekämpfen, ist hier eine gemeinsame Heimat des Friedens geworden. Und sollte – dies der glücklichste Trost in manchen Augenblicken unserer Verstörung – die Zivilisation unserer alten Welt sich wirklich in diesem selbstmörderischen Kampf vernichten, so wissen wir, daß hier eine neue am Werke ist, bereit, all das, was bei uns die edelsten geistigen Generationen vergeblich gewünscht und erträumt, noch einmal zur Wirklichkeit zu gestalten: eine humane und friedliche Kultur.


 << zurück weiter >>