Fedor von Zobeltitz
Das Heiratsjahr
Fedor von Zobeltitz

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Viertes Kapitel.

Führt den Leser in die Hauptstadt und macht ihn mit zwei armen Teufeln bekannt, handelt auch von der Geschichte einer Nase.

An eben diesem Tage schien die Morgensonne gleich freundlich, wie sie über Hohen-Kraatz leuchtete, in ein kleines Mansardenstübchen hinein, das hoch oben unter dem Dache einer gewaltigen Mietskaserne im Norden der Hauptstadt lag.

Es war noch früh, früher, als man im Herrenhause zu Hohen-Kraatz zu erwachen pflegte, aber der Insasse der kleinen Mansarde lag doch schon seit geraumer Zeit mit hellen und wachen Augen in seinem Bette und starrte zu der weiß gekalkten Decke empor, als gebe es dort etwas ungemein Interessantes zu entziffern.

Das Zimmerchen machte trotz seiner ziemlich ärmlichen Möblierung keinen unwohnlichen Eindruck, zumal jetzt, wo das Sonnengold durch das tief in die schräge Wand eingebaute Fenster in vollen und warmen Fluten hineinströmte. Die Sonne störte den jungen Mann im Bette augenscheinlich; sie war höher gestiegen, legte sich mit breitem Strahle über das Kopfkissen und fing hier ein neckisches Spiel an, strich flimmernd über die Augen des jungen Mannes und leuchtete ihm dann plötzlich in das ganze Gesicht, so daß er zunächst zu blinzeln und dann zu niesen begann und sich schließlich unmutig aufrichtete.

War es denn schon so spät? –

Der junge Mann warf einen raschen Blick auf die silberne Taschenuhr, die neben dem Bette auf dem Stuhle lag. Sieben Uhr! Seine Wirtin hatte wieder einmal die Zeit verschlafen! – Aber nein – schon der Gedanke war eine Verleumdung, die auf der Stelle zurückgewiesen wurde, denn in diesem Augenblick klopfte es mit kräftigem Finger 62 an die Thür, und draußen wurde das eigentümlich fettig klingende Organ der Frau Möhring vernehmbar.

»Herr Freese! . . . Herr Freese – es ist Sieben!«

»Danke, Frau Möhring,« rief der junge Mann zurück, »ich stehe schon auf!«

Er sprang aus dem Bette und begann sich zu waschen und anzukleiden. Das nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Doch es ging alles so still vor sich, daß sich die Wirtin, die jenseit des Korridors in einer kleinen Küche am Plättbrett stand und eifrig beschäftigt war, darüber wunderte; denn sonst pflegte Herr Freese während seiner Toilette ein lustiges Studentenlied zu singen oder einen fröhlichen Gassenhauer vor sich hin zu pfeifen.

Frau Möhring war eine ehrsame Witib und hatte, wenn auch nur nach ihrer Meinung, eine große Vergangenheit hinter sich. Vor einigen Jahren hatte ihr Gatte das Zeitliche gesegnet, der Heldenspieler in Patzkos Vaudevilletheater gewesen war. Ein bedeutender Mann, der namentlich in hohen Stiefeln schön, stattlich und ritterlich aussah und das r wundervoll aussprach. Aber in einer Sonntagnachmittagsvorstellung des »Käthchen von Heilbronn« war ihm eine Coulisse auf den Kopf gefallen, und von dieser Zeit ab kränkelte er, und eines Morgens erhob er sich nicht mehr von seinem Lager. Der Verlust war ein schwerer für die trauernde Witwe. Sie war Souffleuse bei Patzko und spielte auch dann und wann kleinere Rollen in Vertretung; aber nach dem Tode ihres Gemahls regten sich wüste Kabalen im Vaudevilletheater, denen sie nicht gewachsen war: die Eichler-Biesenow, die erste Heroine, wollte ihre Nichte in den Souffleurkasten bringen, und dieser intriganten Seele gelang auch der Streich. Frau Möhring trat zurück von den weltbedeutenden Brettern und schuf sich einen andern Beruf. Sie »plättete auf Neu« und vermietete nebenbei 63 zur Erhöhung ihrer kärglichen Einkünfte das einzige Vorderzimmer ihrer Wohnung an Studenten oder junge Handlungsbeflissene. Aber die Erinnerung zehrte noch immer mit voller Kraft an ihr. Sie war eine fleißige Person und wich tagsüber nur selten von ihrem Plättbrett; doch wenn sie den prallen Brustseiten der Oberhemden mit geschickter Hand Stärke und Glanz verlieh oder den Besatz der Unterröcke und Nachtjäckchen zierlich kräuselte, so flogen die Gedanken weit über das Bügeleisen fort in die ruhmreiche Vergangenheit hinein.

So auch jetzt. Sie dachte nicht an die Manschetten, die unter dem heißen Stahl leise zischten, sondern an die Tage ihres ersten Auftretens, an jene ferne Zeit, da sie die erste Kammerdame der Donna Diana gespielt und ein Kleid aus rotem Glanzkattun mit einem Besatz aus Goldlitzen getragen hatte. . . . Da ihr indessen plötzlich einfiel, daß ihr Mieter nun wohl seine Toilette beendet haben könne, so stellte sie das Bügeleisen zur Seite, verscheuchte ihre Erinnerungen und sah auf dem Herde nach, ob der Kaffee für Herrn Freese fertig sei.

Er war es, und Frau Möhring ordnete das kleine Tablett, stellte Tasse und Kanne auf dieses und ein Tellerchen mit zwei Milchbroten dazu. Dann klopfte sie abermals an die Thür des Vorderzimmers und rief: »Sind Sie fertig, Herr Dokter?«

»Jawohl, liebe Frau Möhring; kommen Sie nur herein!« scholl die Antwort zurück.

Die Witib stutzte ein wenig, als sie bei ihrem Eintritt Herrn Freese bei einer eigentümlich melancholischen Beschäftigung sah. Der junge Mann saß auf dem Sofa vor dem runden, mit einer gehäkelten Decke bedeckten Tische und zählte sein Geld. Das war eine leichte und dennoch traurige Arbeit. Er hatte das Portemonnaie umgestülpt, gleichsam 64 als wolle er es bis in seine innersten Tiefen entleeren, aber es gab trotzdem blutwenig von sich: ein paar Markstücke, ein verfallenes Los der Marienburger Kirchenbaulotterie und eine Zehnpfennigmarke.

»Guten Morgen, Herr Dokter,« sagte die Möhring und setzte das Tablett auf den Tisch. »Na . . . gut geschlafen?«

Freese seufzte.

»Ach nein,« erwiderte er, »leider nicht. Liebe Frau Möhring, wenn man so viele Sorgen im Kopfe hat –«

»I was, Herr Dokter, es werden ja auch wieder 'mal bessere Zeiten kommen! Der Mensch soll nich immer gleich verzweifeln; mit das ewige Grübeln macht man sich bloß unnütz den Kopf schwer! Als mein Seliger gestorben war, wußte ich auch nich so recht aus und ein, denn auf die Bühne hätten mich nich zehn Pferde zurückgebracht – na, und es is doch gegangen! 'n fleißiger Mensch findet immer sein Auskommen, und ob ich als Souffleuse unten im Zwitscherkasten sitze oder für gutes Geld auf Neu plätte . . . wenn man sich ehrlich durchs Leben schindet, is alles toute même pipe . . .«

Sie hatte sich inzwischen auf den Stuhl neben dem Bette gesetzt und schaute aufmerksam zu, wie Freese die Milch in seinem Kaffee zerrührte. Die Sonne war immer höher gerückt und füllte nunmehr das ganze kleine Gemach mit ihrem Goldschimmer und hatte sogar in die Kaffeetasse zarte, bronzefarbige Fleckchen gestreut.

»Hören Sie 'mal, Herr Dokter,« fuhr die Möhring fort, »daß Sie mir nich wieder die beiden Brötchen liegen lassen, das bitt' ich mir aus! Wenn der Mensch auch noch so viel Kummer hat, essen muß er! Am Todestage von meinem Seligen, wie ich ihn des Morgens so unvermutet fand und am Abend vorher hatte er noch gesagt, ihm wäre 65 besser im Kopfe, er wollte 'ne Weiße trinken – da habe ich auch nichts zu mir nehmen wollen – aber da kam die Fiebichen von nebenan und brachte mir 'n Teller Schmorbraten, ich weiß es noch wie heute, und redete mir zu, und das hat mir denn auch wirklich wieder 'n bißken auf den Damm gebracht. . . . Herr Dokter, es geht allens seine richtigen Wege. Es muß auch 'mal schlecht're Zeiten geben, damit man sich auf bessre freuen kann. G'rade jetzt geht's mir auch nicht so, wie mir's gehen könnte, denn meine beste Kundschaft, was die feinen Leute sind, die sind auf Reisen – na, und was so zurückgeblieben, das zahlt nich immer am pünktlichsten. Aber es wird schon wieder 'mal anders werden – und damit tröst' ich mir . . . und das sollte auch vor Ihnen ein Trost sein, Herr Dokter!«

»Nennen Sie mich nur nicht immer Herr Doktor, liebste beste Frau Möhring,« entgegnete Freese, der sich nun auch endlich dazu entschloß, eines seiner beiden Milchbrötchen zu brechen. »Ich habe mein Examen noch vor mir – und wenn mich das Unglück so weiter verfolgt wie bisher, dann werde ich vielleicht nie im Leben dazu kommen, meine Prüfungen machen zu können. Plenus venter non studet libenter – aber wahrhaftig, mit leerem Magen studiert sich's noch schlechter! . . . Es wär' tausendmal gescheiter von meinem Vater gewesen, er hätte mich ein Handwerk lernen lassen. Das nährt schließlich seinen Mann. Aber nein . . . ich sollte Philologe werden – nicht einmal Dorfschulmeister wie mein guter Alter – Gymnasiallehrer, sollte die höhere Bildungscarriere einschlagen – – – hol's der Geier! . . . Größenwahn der Zeit, liebe Frau Möhring! Bildungsdurst ist gut, aber man muß auch in der Lage sein, ihn löschen zu können –«

Die Möhring nickte ernsthaft und faltete die Hände im Schoß.

66 »Das versteht sich,« erwiderte sie; aber es war doch zweifelhaft, ob sie so recht verstand. »Und mit dem Privatunterricht,« fuhr sie fort, glättend über die Schürze streichend, »ich dächte, das wäre damit 'ne ganze Zeit recht flott gegangen –«

»Gegangen,« fiel Freese ein; »aber es geht nicht mehr! Der Sommer ist für mich geradeso die tote Saison wie für Sie, Frau Möhring. Meine letzten paar Mark habe ich in Inseraten verpulvert. Die gesamten nachhilfebedürftigen Kinder scheinen in die Ferien gereist zu sein. Es findet sich nichts . . . Da« – er wies auf das seines Inhalts beraubte Portemonnaie – »das ist meine ganze Habe: drei Mark fünfundneunzig Pfennig, die Groschenmarke mit eingerechnet. Das Marienburger Los kaufte ich mir, als ich die letzte Privatstunde bezahlt bekam; da dachte ich wunder wie reich ich sei. Natürlich war's eine Niete. . . . Mein ganzes Leben ist eine dicke Niete!«

»Herr Freese, thun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie nich so. Sprechen Sie nich so; das ist lästerlich. Und denn hören Sie mir 'mal an und sagen Sie kein Wort. Mit der Miete, das hat keine Eile, und wenn ich mir zu Mittag mein Essen koche, koche ich gleich vor Ihnen mit. So gut wie in der Akademischen und wie bei Gruhlen in der Elsasserstraße is es auch noch; nahrhaft und kräftig und billiger als wie da. Und zu Abend können wir's ebenso halten. Auf ein Butterbrot mehr oder weniger kommt's nich an. Gott sei Dank nich! Und fehlt's Ihnen 'mal gar zu sehr an Baribus – mit 'n paar Markstücken kann ich am Ende auch immer noch aushelfen, Herr Freese; denn das muß ich Ihnen sagen: die Arbeit schändet nich und Reichtum macht noch lange nich glücklich. . . .«

Aber selbst diese große, wenn auch nicht neue Wahrheit vermochte Freese nicht über die peinliche Verlegenheit 67 fortzubringen, die er bei den gut gemeinten Worten der Frau Möhring empfand. Sein hübsches, sonst immer ziemlich blasses Gesicht war in dunkle Röte getaucht.

»Ich danke Ihnen herzlich, liebe Frau Möhring,« entgegnete er. »Ihr Anerbieten macht Ihrem Herzen alle Ehre, und es ist auch nicht Stolz von mir, daß ich es ablehne. Es geht aber nicht anders. Ich werde kaum noch lange hier bleiben. Vielleicht gelingt es mir, irgendwo auf dem Lande eine Hauslehrerstelle zu bekommen. Ich bin stadtmüde geworden. Man wird hier zu leicht zerstreut; auf dem Lande wird man weniger abgelenkt – ich denke, da werde ich in Ruhe meine Studien beenden können. . . . Sie sind mir doch nicht böse, Frau Möhring?«

Die Witwe hatte sich erhoben und zuckte mit der linken Schulter.

»I, wo werd' ich denn,« antwortete sie. »Warum soll ich denn böse sein? Es thut mir leid, daß Sie fortwollen; denn 'nen stilleren Mieter werd' ich mir lange suchen können – aber Sie müssen ja am besten wissen, was vor Ihnen gut is. Ich weiß man bloß nich – na, das geht mir ja allens nichts an, und des Menschen Wille is sein Himmelreich. Sind Sie fertig mit dem Kaffee?«

Freese nickte, und Frau Möhring räumte das Geschirr ab und verließ sodann mit schweren, schlurrenden Schritten das Zimmer, ohne ihren letzten Aeußerungen noch ein Wort hinzuzufügen. Es war zweifellos: sie fühlte sich beleidigt. Einen Augenblick dachte Freese daran, aufzuspringen und sie durch ein paar freundliche Worte zu besänftigen. Aber es widerstrebte ihm; vielleicht wiederholte sie ihre Anerbietungen, und er hatte schon vorhin ein gewisses Gefühl der Demütigung kaum verwinden können. . . .

Seine Lage war in der That übel. Er verlor nicht leicht den Mut; aber nun war er nahe daran, zu verzweifeln. 68 Herr Gott, was war das für ein elendes Dasein! Eine ewige Sorge um den nächsten Tag – eine ewige Angst um die Existenz! Und in allen diesen Nöten sollte er auch noch arbeiten; denn mit Ablauf des Jahres mußte er seine Staatsprüfung bestanden haben; er wollte endlich einmal in geebnetere Bahnen gelangen . . .

Er trat an das Fenster und öffnete es. Flimmernde Sonnenglut lag über dem Dächermeer, das man von hier aus, fast sechs Stockwerke über dem Straßenpflaster, übersehen konnte. In der heißen Luft schien das Drahtnetz der Telephonleitungen unaufhörlich hin und her zu schwanken. Aus dem nächsten Schornstein kräuselte in Guirlandenform ein dünner, hellblauer Dampf empor, und etwas weiter hinten entströmten einem mächtig aufragenden Fabrikschlot dicke Wolken rußigen Qualms.

Dicht vor dem Fenster lärmte und zwitscherte ein Spatzenschwarm. Das graue Völkchen befand sich sichtlich in Aufregung. Freese pflegte gewöhnlich sein Morgenbrot mit den piepsenden Herrschaften zu teilen; heut hatte er es vergessen. Der Kopf war ihm schwer; was sollte nun werden? – Bisher hatte ihn der Privatunterricht an faule oder zurückgebliebene Jungen wenigstens einigermaßen vor dem Mangel geschützt. Aber das Geld für die letzten Annoncen war umsonst ausgegeben worden; es hatte sich niemand gemeldet.

Freese suchte seine Bücher hervor; er wollte arbeiten. Doch die sorgenden Gedanken waren stärker als seine Arbeitskraft. Die griechischen Buchstaben begannen vor seinen Augen zu tanzen, sich in Reigen zu schlingen und dann in tollem Cancan über die Seite zu springen, heraus und hinab, querüber und wieder zurück. Nein – es war unmöglich; mit ruheloser Seele läßt sich nicht studieren!

Der junge Mann schleuderte das Buch ärgerlich vom 69 Tische. Verdammte Bücher – verdammte Gelehrsamkeit! Warum war er nicht Tischler geworden, Maurer, Dachdecker, Schuster?! Die Leute brauchten wenigstens nicht zu verhungern – und bei Gott, ihm drohte der Hunger! Natürlich – wenn seine letzten paar Mark aufgezehrt waren, dann kam der Hunger an die Reihe! »Wollen 'mal sehen, wie's thut,« sagte sich Freese; ein grimmiger Humor überschlich ihn. »Ich glaube, der Mensch kann wochenlang ohne Nahrung leben. Succi hat es bewiesen. Schließlich werde ich Hungerkünstler wie der Italiener, statt Gymnasiallehrer. Succi mag sich so wie so besser stehen. . . .« Er streckte sich der Länge nach auf dem Sofa aus und zog den Schlafrock über die Beine. Das war die Stellung, in der er zu überlegen pflegte. Zum Teufel – war das denn nicht alles Unsinn?! Am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts verhungert man nicht mehr. Man mußte ihm helfen. Aber wer?! – Frau Möhring hatte sich dazu erboten. Nein – lieber schon hungern, als zum Almosenempfänger herabzusinken! Gab es denn nichts mehr zum Versetzen?! Ja – ein Wertobjekt, das schon längst auf die Pfandleihe wartete, besaß er noch: seine silberne Taschenuhr. Er hatte sie zur Konfirmation bekommen; der Vater mochte lange genug gespart und gedarbt haben, ehe er sie hatte bezahlen können. Dieser unglückselige, liebe, gute, närrische Vater! Er war Kantor in Nieder-Dittersdorf gewesen, einem Dorfe im Kreise Belzig. Ein Original: ungeheuer lang, erschreckend mager, immer mit großer blauer Brille, die seinem spitzen Vogelgesicht das Aussehen eines Uhus gab. Sein liebendes Vaterherz wollte den einzigen Sohn aus der tristen Einförmigkeit des Dorflebens, in dem er selber aufgewachsen, herausheben; sein Franz sollte dermaleinst mehr erreichen als er. Und da der Junge fleißig war und ihm die verstorbene Mutter zudem noch ein kleines Kapital hinterlassen hatte, 70 so schien sich auch alles von selbst machen zu wollen. Aber das Kapital war gering, und um es zu vergrößern, kam der Alte auf Anraten eines Bekannten, des dicken Neumüllers vom Wasserhof, auf die unglückselige Idee, sich Spekulationspapiere zu kaufen. Er verlor das Geld seines Sohnes, und eines Morgens fand man ihn tot im Bette. Die Gewissensbisse hatten ihn in das Grab gebracht. . . .

In diesem Augenblick, da Freese so lebhaft an den Vater dachte, sah er ihn förmlich leibhaftig vor sich. In dem graubraunen, eingetrockneten, eigentümlich gestalteten Gesicht prägte sich immer ein Zug leidensvoller Entsagung aus, der sich in zwei tiefen Linien zwischen der knochigen Nase und dem Munde markierte. Und wenn der Alte die blaue Brille abnahm, sah er aus wie die lebendig gewordene Verkörperung des Lehrerelends. Man konnte sich fürchten vor diesem hageren Greise, der sich niemals in seinem langen Leben satt gegessen zu haben schien. Um seinem Jungen eine gute Erziehung zu teil werden lassen zu können, hatte er sich die Butter auf dem Brote versagt und zum Mittagessen dünnen Kaffee getrunken. Die Hoffnung, Franz einmal als »Dr. phil.« und wohlbestallten Oberlehrer an seine Brust schließen zu dürfen, hatte ihm die Entsagung leicht werden lassen. Und nun hatte der Moloch Spekulation mit einem Schlage alle seine Hoffnungen zertrümmert; der Alte starb, weil er an die Grenze seiner Entsagungskraft gelangt war. . . .

Höher und höher klomm die Sonne. Es wurde stickig heiß in der kleinen Mansarde. Franz war unthätig auf dem Sofa liegen geblieben. Es war, als sei seine Arbeitsamkeit ganz plötzlich lahmgelegt worden. Die Sorgen hatten ihn in den letzten Nächten schlecht schlafen lassen; nun plötzlich überkam ihn im heißen Sonnenschein und in der dumpfen Luft des Stübchens eine unwiderstehliche Müdigkeit. Er 71 schloß die Augen und schlummerte ein. Als er wieder erwachte, verspürte er einen grimmigen Hunger. Er sah auf die Uhr; es ging auf Eins. Seufzend erhob er sich, setzte sich aber sofort wieder, ganz beherrscht von seiner Unentschlossenheit, auf das Sofa zurück.

»Mich hungert,« sagte er zu sich selbst. »Wenn ich nun tapfer wäre, würde ich dies ekelhafte Gefühl zu bekämpfen versuchen. Ich könnte eine Probe machen, wie weit meine Courage reicht. Ich könnte wenigstens einmal einen Tag lang hungern. Aber –«

Er sprang wieder auf. Was Teufel – dazu hatte er immer noch Zeit, wenn erst der letzte Groschen verthan war! Vielleicht kam ihm beim Glase Bier ein rettender Gedanke! Er wollte auch noch einmal auf der Expedition des Tageblattes nachfragen, ob nicht doch noch ein Brief für ihn eingetroffen sei. . . . Mit fiebriger Hast warf er den alten, verschlissenen Schlafrock ab, hing ihn in den Schrank und schlüpfte in seinen schwarzen Rock, das wertvollste Stück seiner Garderobe, das er zu tragen hoffte, bis die Staatsprüfung den vorschriftsmäßigen Frack von ihm verlangen würde.

Als er über den Korridor schritt, sah er die Thür zu der gegenüberliegenden Küche halb offen stehen. Dort stand die Möhring, plättete ihre Hemdkragen und dachte dabei an den Undank der Welt.

»Ich gehe zum Mittagessen, Frau Möhring,« rief Freese in die Küche hinein, »bin aber gegen Drei wieder zurück, falls jemand nach mir fragen sollte!«

»Es wird ja woll keiner,« erwiderte die Möhring, und ihre Plätteisen klapperten heftig.

Die Thür fiel zu. Franz stieg die Treppe hinab, deren Dielung sich geworfen hatte und von der längst der letzte Rest der Anstrichfarbe gewichen war. Eine ewige leichte 72 Staubschicht rieselte durch diesen tiefen, durch schmallängliche Fenster erleuchteten Treppenschacht. Das Haus, in dem der Kandidat wohnte, zählte an sechzig Parteien, nur arme Leute, die ihrerseits dies oder jenes Zimmer wieder an Aftermieter vergaben oder als »Schlafstelle« ausnutzten, so daß das ganze Gebäude mit seinen Querflügeln und dem Hinterbau von fast zweihundert Menschen bewohnt wurde. Es glich einem kolossalen Ameisenhaufen, zumal am frühen Morgen, wenn die meisten der Insassen an ihre Arbeit gingen, oder in den Abendstunden, wenn sie nach vollbrachtem Tagewerk wieder heimkehrten. Und immer war der Hof von einem lärmenden Kinderschwarm erfüllt, der hinter dem Müllkasten Verstecken spielte und das zum Ausklopfen der Teppiche errichtete Gerüst für seine Turnkunststückchen benützte.

Franz bog in eine Seitenstraße ein, in welcher die kleine Gastwirtschaft lag, in der er gewöhnlich zu speisen pflegte. Es war dies ein sehr sauber und freundlich gehaltenes Kellerlokal. Der Fußboden war mit weißem Sande bestreut; auf jedem Tische lag statt des Tafeltuchs eine schwarzweiß gemusterte Wachstuchdecke und auf den Tellern sah man Papierservietten mit einem Stillleben in einer Ecke und der Umschrift »Wilhelm Gruhle, Mittagstisch à 50 Pfennig. Elsasserstraße 102.« Herr Gruhle selbst stand in respektgebietender Breite und Rundung hinter dem niedrigen Büffett mit seinen zahllosen Glasglocken, die belegte Butterbrote, Wiener Würstchen, Rollmöpse, Heringe und dergleichen mehr bedeckten.

Freese schaute sich beim Eintritt um, ob er noch einen leeren Tisch finden könne; er war in seiner jetzigen bedrängten Lage ziemlich gesellschaftsscheu geworden. Das Lokal war aber fast bis auf den letzten Platz gefüllt und durchaus nicht mit schlechter Gesellschaft. Den Hauptteil der Besucher stellte, wie es schien, die kleinere Kaufmannswelt; die meisten der 73 Anwesenden waren wohl Commis aus den benachbarten Geschäften; auch einige arme Studenten, die der »billige Mittagstisch« anlockte, mochten darunter sein.

Da Franz keinen gänzlich freien Tisch fand, so nahm er unweit des Büffetts an dem am wenigsten besetzten Platz. Nur ein einziger Gast hatte sich dort niedergelassen, ein junger Mensch, dessen weltfreudiges Gesicht Freese schon öfters bei Vater Gruhle gesehen zu haben vermeinte. Es war in der That ein ziemlich auffälliges Gesicht für unser pessimistisches Zeitalter: rund und rosig, mit einer vergnüglich aufgestülpten, wahrhaften Regennase, ohne erkennbares Nasenbein, über die ein paar eigentümlich ernste Augen unendlich verwundert über solche unpassende Nachbarschaft in die Welt schauten. Der feinlippige, durch keinen Bart verdeckte Mund schien den Augen recht zu geben, während das Kinn, rund wie eine Apfelsine und mit neckischen Grübchen, sich mehr zu der Nase hielt. So kam es, daß jeder, der den jungen Mann mit dem unlogischen Gesicht sah, zuerst freundlich schmunzelte und dann fast erschreckt zurückfuhr, wenn er den tiefernsten Blick aufgefangen hatte. Gewissermaßen als Ausgleich hatte der Besitzer dieses widerspruchsvollen Antlitzes es sich angewöhnt, möglichst freundlich mit seinen elegischen Augen zu zwinkern und dabei den Zeigefinger wie dozierend und gleichsam die Nase verlängernd an diese zu legen. . . .

»Sie erlauben,« sagte Freese und rückte am nächsten Stuhle, um sich dem Fremden gegenüber niederzulassen.

»Bitte sehr,« erwiderte dieser höflich und machte eine Bewegung, als wolle er einen Vortrag beginnen.

Franz wartete einen Augenblick auf die in Aussicht stehende Rede, und als nichts erfolgte, nahm er Platz und bestellte sich bei der aufwartenden Kellnerin Mittagessen und ein Glas Bier.

74 Der Gast nebenan hatte seine bedeutsame Miene beibehalten, anfänglich ohne zu sprechen, aber mit beiläufigem, sichtlich interessiertem Mustern der Persönlichkeit Freeses. Dann begann er verlegen auf seinem Platze hin und her zu rücken und fragte plötzlich in leichtem Plauderton: »Entschuldigen Sie . . . sind Sie nicht, wenn ich fragen darf, Herr Freese?«

Franz blickte verwundert von seinem Teller auf.

»Sie kennen mich?«

»O – nur von Ansehn und nur dem Namen nach,« erwiderte der andre. »Wir wohnen nämlich beide in gleichem Hause – id est, ich wohne nicht vorn heraus, sondern im Hofgebäude rechts parterre. . . . Ich glaube, wir sind sozusagen Kollegen, wenn auch von verschiedenen Fakultäten. Gestatten Sie mir, daß ich mich vorstelle: Reinbold, cand. theologiae. . . .«

Die beiden Herren erhoben sich ein wenig von ihren Sitzen, machten sich gegenseitig eine leichte Verneigung, sagten: »Sehr angenehm« . . . und setzten sich wieder.

Reinbold strich einigemal mit dem Zeigefinger seiner Rechten über seine Nase, deren humoristischer Aphorismus ihm noch unangenehmer zu sein schien, nachdem er seinen geistlichen Zukunftsberuf vor dem Nachbar kundgegeben hatte.

»Es ist merkwürdig, wie man sich manchmal so unerwartet zusammenfindet,« meinte er. »Ich weiß, Sie verkehren häufiger hier unten . . . man speist ja ganz gut bei Vater Gruhle und vor allen Dingen nicht zu teuer für unsereinen. . . . Stehen Sie dicht vor der Prüfung, wenn ich fragen darf?«

»Ach nein,« entgegnete Freese, der seine Mahlzeit beendet hatte und nun die Teller ein wenig zur Seite schob, »ich bin leider noch nicht so weit, das heißt« – und er seufzte leicht auf – »ich könnte es schon sein, aber äußere 75 Verhältnisse widriger Art haben mir bisher im Wege gestanden. Es ist nicht leicht, sich durchs Leben zu kämpfen, wenn man mittellos ist!«

»Du lieber Gott – wem sagen Sie das?« warf Reinbold ein; »uns armen Studenten pflegt es ja ziemlich gleich zu gehen – dem einen wie dem andern! Die beste Zeit wird durch Stundengeben vertrödelt – man muß doch leben! Gewöhnlich bleibt einem nur die Nacht übrig, um sich für Examen und Amt vorzubereiten. Ob ich das kenn'! Ein Elend ist's! Hätte mich nicht ein glücklicher Zufall noch in der zwölften Stunde aus den bittersten Sorgen herausgerissen, dann säße ich heute vielleicht als Hauslehrer in einem herrschaftlichen Schlosse und könnte mich mit ungezogenen Bengels herumärgern, statt an die eigene Arbeit zu denken!«

»Ich wünschte nur, ich fänd' eine Stellung als Hauslehrer,« erwiderte Freese. »Wenn man nicht allzu sehr überlastet wird, muß es sich in ländlicher Stille ganz famos arbeiten lassen. Ich habe mich immer danach gesehnt, und g'rade im Augenblick würde es mir doppelt zurecht kommen, nachdem ich mich wochenlang vergeblich um die Erteilung von Privatunterricht bemüht habe. . . .«

Kandidat Reinbold ließ den Zeigefinger sinken und schaute sein Gegenüber aufmerksam an.

»Donnerwetter!« sagte er, biß sich gleich darauf auf die Lippen und verbesserte den harmlosen Fluch in das noch harmloser klingende: »Alle Wetter – – alle Wetter, Kollege, ich glaube, ich kann Ihnen helfen!«

»Haben Sie eine Stellung zu vergeben?«

»Ja – das heißt – – es ist eine närrische Geschichte! . . . Ich hatte in der ›Kreuzzeitung‹ nach einem Hauslehrerposten gesucht –«

»Ich auch, aber umsonst,« warf Freese ein.

76 »Na also – ich hatte mehr Glück! Vor ein paar Tagen bekam ich einen Brief – warten Sie 'mal, ich habe ihn bei mir –« und er zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr ein Schreiben, das er entfaltete und Franz hinüberreichte, der es halblaut las:

»Hohen-Kraatz bei Plehningen über Frankfurt a. O., 20. Juni.

Hauslehrer X. Z. 103. Expedition der Kreuzzeitung, Berlin.

Auf Ihre Annonce hin zur gefälligen Nachricht, daß ich für meine beiden Söhne, Zwillinge, zehnjährig, einen tüchtigen, energischen Hauslehrer mit guter Lehrmethode suche und eventuell um Ihre Papiere, Zeugnisse und Empfehlungen bitte.

Hochachtungsvoll

Frhr. von Tübingen.«

Reinbold nahm den Brief zurück und steckte ihn wieder zu sich.

»Ich schickte also meine Papiere ein,« fuhr er fort, während Freese aufmerksam zuhörte, »– was ich so hatte: Abiturientenzeugnis, Geburtsschein, ein paar Empfehlungsbriefe – und da kriege ich denn heute folgendes Telegramm.« . . . Er suchte wieder in seiner Brieftasche und las Freese die Depesche vor: »Will Sie engagieren. Freie Station, siebenhundert Mark Jahresgehalt. Erwarte Nachricht, wann Sie eintreffen. Werde Wagen Plehningen schicken. Von Tübingen.«

Freese hielt fast den Atem an, so gespannt war er auf die weitere Entwickelung der Angelegenheit. Siebenhundert Mark und freie Station . . . war dieser Reinbold ein Glückspilz! . . .

»Nun?« fragte Franz gedehnt; er fieberte vor Erwartung.

Reinbold legte wieder den Finger als Verlängerung der Nase über diese.

77 »Ich hätte natürlich schleunigst meine Koffer gepackt und wäre abgedampft,« erzählte er weiter, »wenn mir nicht noch eine andre Nachricht in die Quere gekommen wäre. Nämlich vom Amtsgericht in Müncheberg. Da ist ein Onkel von mir gestorben, den ich mein Lebtag nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen habe, und der hat mir ein Legat von sechstausend Mark vermacht. Da brauche ich nun die Hauslehrerstelle nicht mehr. Im Gegenteil . . . denken Sie sich, diese unerwartete Erbschaft hat mir so gewaltigen Mut gemacht, daß ich größte Lust habe, schleunigst in das zweite Examen zu steigen. Heute nachmittag wollte ich Herrn von Tübingen abschreiben. Gut, daß ich's noch nicht gethan habe! Denn natürlich werden Sie nun an meine Stelle treten, Kollege! . . .«

Franz hatte vor Aufregung hochrote Backen bekommen. Er nickte lebhaft mit dem Kopfe.

»Herr Gott, ist das ein Glücksfall!« sagte er. »Aber – ich bin ein Pechvogel; passen Sie auf, da kommt noch im letzten Moment irgend etwas dazwischen! Ich kenne mich. Jedenfalls will ich sofort nach Hause und an Herrn von Tübingen schreiben –«

Er erhob sich bereits, aber Reinbold hielt ihn zurück.

»Nicht schreiben – Unsinn!« entgegnete er. »Immer praktisch, Kollege – immer gleich zugreifen! Direkt auf das Ziel los – ohne Umwege! Setzen Sie sich auf die Bahn und rutschen Sie direkt nach Hohen-Pleiningen oder wie das Dings heißt! Erklären Sie dem Baron Tübingen persönlich, wie die Sache liegt, und bitten Sie ihn, es einmal mit Ihnen zu versuchen. Sie haben eine so vorteilhafte äußere Persönlichkeit, daß der erste Eindruck unbedingt günstig wirken muß. Unbedingt! Haben Sie irgend welche Empfehlungen?«

»O ja – von verschiedenen Seiten – sehr gute –«

78 »Na also! Greifen Sie zu, lieber Freund, wenn Sie in der That in Bedrängnis sind!«

»Ach, und in wie großer, Kollege!«

»Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß Sie reüssieren werden. Mehr als ich! Ach du lieber Gott – ich!? . . . Erstens bin ich durchaus nicht mehr der Jüngste –«

»Aber, Herr Reinbold,« fiel Freese lächelnd ein, »kokettieren Sie doch nicht! Wer so jugendlich aussieht wie Sie, so kindlich beinahe –«

Reinbolds Augen hörten auf, freundlich zu zwinkern, und selbst die verblüffende Nasenspitze schien sich senken zu wollen.

»Sehen Sie,« sagte er sanft, »das, was Sie da äußern, ist sicher von Herzen gut gemeint – und doch . . . Jede Familie hat ihr Skelett im Hause. Bei uns ist es – die Nase.«

»Sollte Skelett in diesem Falle der zutreffende Ausdruck sein?« entgegnete Frese in harmlosem Spott, wurde aber sofort ernst, als er die Augen seines neuen Bekannten mit wahrhaft traurigem Ausdruck auf sich gerichtet sah.

»Sie glauben gar nicht, Kollege,« fuhr Reinbold fort, »wie viel und wie schweren Kummer mir schon der mir angeborene lustige Zug im Gesicht und vor allem meine schreckliche Nase bereitet hat! Denn diese unselige Nase allein genügt, um bei der urteilslosen Welt von vornherein das größte Mißtrauen gegen mich und meinen Charakter zu erwecken . . . Wie muß es um die seelische Würde eines Mannes bestellt sein, der selbst bei den heiligsten Dingen aussieht, als ob er soeben einen Witz gemacht hätte! Wer vertraut gern seine Kinder einem Menschen an, der selbst noch den Eindruck eines Tertianers macht – den jeder Nachtwächter prüfend von der Seite anschaut, weil er im nächsten Augenblick irgend einen übermütigen Streich von ihm erwartet!? . . . 79 Denken Sie sich, daß man mich in verschiedenen Fällen sogar ausdrücklich gebeten hat, Trauerfeierlichkeiten fern zu bleiben! . . . Ach, wie viel Kränkungen hat mir dies physische short-coming schon verursacht – wie viel gute Stellungen schon verscherzt! . . . Und selbst, wenn ich nun endlich das Examen bestanden haben werde – welche Gemeinde wird weihevoll gestimmt bleiben, wenn sie einen Pastor auf ihrer Kanzel sieht, der in bestem Falle einem Dürerschen Posaunenengel gleicht!?«

Reinbolds Ton hatte alles Scherzende verloren; er blickte düster und mit gefalteter Stirn vor sich nieder. Auch Franz war ernst geblieben; wohl schien es hin und wieder wie ein verstecktes Lächeln um seinen Mund zu zucken, aber er beherrschte sich, um den armen Reinbold nicht zu verletzen.

»Ich glaube, lieber Kollege,« entgegnete er, »Sie nehmen die komischen Teile Ihres Antlitzes zu tragisch. Aesop war bucklig, und vom heiligen Augustinus erzählt die Legende, daß er auf einem Auge geschielt habe.«

»Aber was ist selbst die affenhafte Häßlichkeit Voltaires gegen mich!? – Und dennoch, Kollege – ist's nicht Professor Jäger, der da behauptet, der Sitz der Seele sei die Nase?!«

Nun durfte Freese wieder fröhlich lachen.

»Ich glaube ja,« erwiderte er, »und dann gehörte Ihnen eine Himmelfahrtsseele, was sich mit Ihrem Berufe decken und das richtigste für Sie sein würde! . . . Geben Sie mir Ihre Hand, verehrter Herr Reinbold. Es ist kein Kainszeichen, das Ihnen die Natur auf das Antlitz gedrückt hat. Es gibt schlimmere Gebrechen.«

Reinbold hatte die Hand Freeses genommen.

»Ich weiß, daß Sie es gut meinen, lieber Freund. Es hat mir auch wohl gethan, daß ich mich wieder einmal ausklagen konnte. Es befreit das Herz. Der Mensch gehört 80 zur Klasse der Mitteilsamkeitsgeschöpfe. . . . Aber nun zu Ihrer Sache zurück! Sie reisen also?«

Freese schwankte noch immer.

»Ich möchte schon,« meinte er, »aber ich weiß doch nicht recht –«

»Herr Freese, mit Hangen und Bangen kommt man nicht durch die Welt! Wenn Sie meine Nase hätten, würden Sie Energie lernen! Hier haben Sie den Brief und das Telegramm des Herrn von Tübingen; und nun kommen Sie mit auf mein Zimmer, wo ich noch selbst ein paar aufklärende Worte an den Baron schreiben werde! Die können Sie ihm vorzeigen. Ich wette, daß er Sie behält!«

»Wenn er doch möchte!«

»Wird er schon. Schlimmsten Falls haben Sie zwei Tage und ein paar Mark Reisegeld geopfert – immerhin unangenehm genug, aber ein Risiko, das Sie in Anbetracht der sonstigen günstigen Aussichten schon wagen können. Abgemacht?!«

»Also gut – ich will es versuchen! Vielleicht habe ich auch einmal Glück! . . .«

Die beiden Kandidaten beglichen ihre Zeche und verließen die Wirtschaft. Es waren nur wenige Schritte bis zu dem Kasernenhause, in dem sie wohnten. Reinbold schrieb in seinem Stübchen mit flinker Hand den besprochenen Brief an den Baron Tübingen, in dem er sich entschuldigte, noch in letzter Stunde von der ihm angebotenen Hauslehrerstelle zurücktreten zu müssen und an seiner Statt Herrn Franz Freese empfahl, der vielleicht noch besser geeignet sei, als er selbst, den fraglichen Posten auszufüllen.

»So,« sagte er, den Brief couvertierend, »– und nun Courage, wenn Sie Herrn von Tübingen gegenübertreten! Die Landaristokratie ist nach meiner Erfahrung entweder sehr feudal oder freisinnig durchschossen. In ersterem Falle 81 wird man Ihre männliche Offenheit für originell, im zweiten für im guten Sinne symptomatisch halten. Schüchternheit ist niemals angebracht; das ist eine goldene Regel, Herr Freese. Geben Sie Nachricht, ob alles geglückt ist und schicken Sie mir meine Zeugnisse zurück! Gott befohlen!«

Er reichte Franz die Hand, der sie warm schüttelte und einige herzliche Dankesworte sprach. Dann machte sich Freese auf den Weg nach seinem olympischen Heim, während sich Reinbold bei verriegelter Thür einer Thätigkeit hingab, die keines Menschen Auge sehen durfte. Er holte aus seiner Kommode ein längliches Etui hervor, das er sich auf ein Zeitungsinserat hin für schweres Geld und nach mannigfachen Entbehrungen angeschafft hatte – öffnete es und entnahm ihm ein Doppelstäbchen mit beweglicher Elfenbeinkugel und eine ebenfalls elfenbeinerne Rundstange. Dann setzte er sich aufseufzend vor den Spiegel und begann, genau nach dem Rezept »Verschönere dein Antlitz«, seine unglückliche Nase kunstgerecht abwärts zu massieren. . . .



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