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Ich will Deiner Versicherung glauben, Clotilde, daß keine Heimlichkeit vorhergegangen, daß der Antrag auch Dir überraschend gekommen ist; damit aber genug – überlaß jetzt mir das Weitere!«

Die Worte waren an eine junge Dame gerichtet, die bleich und in großer Erregung vor dem Sprechenden stand, und Der, aus dessen Munde sie kamen, war ein alter Mann mit weißem Haar und gichtisch gelähmten, von einem Krückstock unterstützten Körper, dessen Erscheinung aber trotzdem den Eindruck von Gebrechlichkeit nicht aufkommen ließ, weil die Züge von innerer Kraft und Energie belebt waren.

Seine Erklärung mußte sie hart getroffen haben, denn sie wagte die Augen nicht aufzuschlagen und nur halb schmerzlich, halb bittend sagte sie:

»Und nach meinem Herzen fragst Du gar nicht, Vater?«

»Wenn Du eine Neigung hast über Dich kommen lassen, ohne Deine Vernunft zu fragen,« entgegnete er nicht ohne Härte, »so hast Du dafür jetzt meiner Vernunft zu folgen, und die lehnt den Antrag des Assessors Sonner« – er wies auf einen offenen Brief, den er in der Hand hielt – »ab.«

»So sag' mir, Vater,« rief Clotilde, all' ihren Muth zusammennehmend, »was Dir an dem Namen fehlt, den Jeder mit Achtung und Auszeichnung nennt, während mir Albert Sonner so hoch steht, daß ich – ich sage Dir das offen – bis zu dieser Stunde nicht glauben konnte, er würde mich für würdig halten, die Seine zu werden!«

Sie wußte selbst nicht, wie stolz ihr Aussehen, ihr Ton bei ihren letzten Worten geworden war, wol aber sah sie jetzt, daß sie die Heftigkeit ihres Vaters gereizt hatte.

»Wenn Du,« sagte er, während sich seine Stirn röthete, »das Blut, welches in Deinen Adern fließt, so weit vergessen kannst, daß Du es für eine Ehre hältst, Dich wegwerfen zu dürfen an einen Mann ohne Namen und Herkunft: ich habe für dies Blut einzustehen, ich habe mit dem letzten Tropfen des meinen das Erbe zu bewahren, das uns von Vätern und Großvätern her geworden ist, das Vorrecht eines edlen Geschlechts! – Kein Wort weiter, Clotilde,« schnitt er die Entgegnung, welche sie versuchen wollte, ab; »Du hast mir heute gezeigt, wie schwindlig Dein Kopf in der Freiheit, dem Verkehr des Instituts, dem ich Dich nach dem Tode Deiner Mutter übergeben mußte, geworden ist; es ist Zeit, daß Du wieder begreifen lernst, was auch Du der Ehre unseres Hauses schuldig bist! Treu dem Stamm! heißt seine Devise, und darum noch einmal ausdrücklich: kein Reis dieses Stammes darf auf gemeines Holz gesetzt werden!«

Eine dunkle Röthe stieg in Clotilden's Wangen auf; sie wollte mit zuckenden Lippen etwas erwiedern, doch stockte sie, als sich in demselben Augenblick die Thür öffnete, um dafür, als sie den Kommenden erkannte, diesem mit einem raschen Schritt entgegen zu treten.

Es war ein junger Officier, dessen Gesicht die Züge des ihrigen trug, so daß Jeder auf den ersten Blick erkennen konnte, er sei wie sie ein Kind des Hauses, nur war er vielleicht um ein halbes Jahrzehnt älter als die Schwester.

»Egon,« sagte sie mit erregtem Ton, »ich stehe und spreche hier für einen Mann, gegen den der Vater Vorurtheile hegt, die er nicht verdient – ich weiß, Du kennst Sonner –«

»Sonner?« unterbrach sie der Bruder, »also von dem ist die Rede? Ich glaubte schon in ernsteren Dingen als Fürsprecher dienen zu sollen!«

Er hatte die letzten Worte wie neckend zu der Schwester gesprochen, dann aber wandte er sich gegen den Vater und sagte ernster, immer aber doch ziemlich gleichgiltig:

»Nun, wenn Dir wirklich an meinem Urtheil über den Assessor Sonner etwas liegt, Vater – ich bekümmere mich freilich nicht viel um ihn, aber bis zu einem gewissen Grade muß ich doch für ihn Partei nehmen, denn daß er von noblen Manieren ist läßt sich nicht leugnen.«

»Und weiter?« fragte der Freiherr kurz.

»Nun weiter,« wiederholte Egon halbverwundert, »weiter werde ich nicht für ihn einstehen sollen! So viel ich das on dit beachtet habe, kann ich etwa noch von ›musterhaften Charakter‹, ›glänzenden Gaben‹, oder wie all' die Stichworte heißen – man macht ja in der Gesellschaft viel aus ihm! – mitreden; außerdem weiß ich, daß er über bedeutende Geldmittel zu verfügen hat und – nun ja, daß in seinem Wesen etwas liegt, das einem auf den ersten Blick beinahe den Glauben erwecken könnte, er gehöre zu uns, sei sogar de pur sang! – das ist aber auch Alles!«

»Alles!« sagte Clotilde, deren Blicke aufzuleuchten begannen, »und Du sagst das so leichthin, als wenn es nichts wäre? – Vater!« wandte sie sich noch einmal mit nicht mißzuverstehendem Ausdruck gegen den Freiherrn.

Dieser jedoch schien nicht aus sie zu achten.

»Was wirst Du sagen, Egon,« nahm er das Wort, »wenn Du erfährst, daß der Mann, von dem Du soeben nach dem Urtheil der Welt sprichst – und es mag sein, daß sie ihm nicht zu viel Ehre erweist! – heute bei mir um die Hand Deiner Schwester angehalten hat!« »

Eine maßlose Ueberraschung malte sich in den Zügen des jungen Officiers.

»Um Clotilden's Hand? – Sonner?« rief er aus und seine Blicke flogen von dem Vater zur Schwester, während mit einem Male in seinem Angesicht ein Ausdruck hervortrat, der die übrigens schönen Züge desselben entstellte und es dem des jungen Mädchens nahezu unähnlich machte: der des ausgeprägtesten Hochmuths.

»Wenn ich die Sache nicht als einen Scherz nehmen soll,« sagte er, »so sagt mir wenigstens, daß die Anmaßung bereits ihre gebührende Zurückweisung erfahren hat! Ich meine, es ist einer Beleidigung gleich, wenn ein Mensch von so dunkler Herkunft wie der Assessor sich an ein Haus von sechzehn Ahnen wagt!«

»Egon!« rief Clotilde zürnend, »Du redest von einem Manne, der solche Vorzüge nicht zu achten braucht! Die Befangenheit unserer Begriffe ist ihm fremd – aber ich sehe jetzt selbst, Du kennst Sonner nicht!«

»Nun ja, unbefangen mag er sein,« lachte Egon spöttisch, »und unbefangen z. B. auch seinen Reichthum hingenommen haben, während es mich – ich gestehe das! – geniren würde, wenn mein Vater in dem Ruf gestanden hätte, daß seine Hände bei dem Sammeln desselben nicht die saubersten geblieben wären!«

»Wie?« fragte der Freiherr scharf dazwischen.

»Ei,« entgegnete Egon mit verächtlichem Achselzucken, »es ist bekannt genug, daß Sonner's Vater – er war Kriegslieferant – lange unter der Anklage gestanden hat, bedeutende Summen unterschlagen zu haben.«

»Setze hinzu, Egon,« rief Clotilde erglühend, »daß die Anklage eine verleumderische war, daß der alte Sonner vollkommen freigesprochen worden ist!«

Aufs Neue zuckte der Bruder die Achseln.

»Vielleicht nur aus Mangel an Beweisen! Jedenfalls hat man nie davon gehört, daß er dem falschen Ankläger etwa eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, oder daß es dem Sohn eingefallen wäre, die Ehre des Alten auf diese Weise zu retten! Indessen das sind die Unterschiede ihrer und unserer Moral – passons là dessus

Der armen Clotilde sank der Muth – welche Worte sollte sie noch sprechen, um in den Herzen der beiden Männer nur einen Ton zu erwecken, der ihrem Empfinden antwortete, welche Waffen blieben ihr noch, um den Mann zu vertheidigen, gegen den sie das Vorurtheil der Ihrigen in solcher Weise gerichtet sah? – Sann sie aber nach über eine Entgegnung, welche die richtige hätte sein dürfen – schon dies Suchen ward ihr abgeschnitten, denn der Freiherr erhob sich jetzt rasch und sagte:

»Die Unterredung hat schon zu lange gedauert! Da der Assessor Sonner uns ein Fremder ist, dürfen uns die Mängel seiner Familienehre nicht kümmern, genug, daß die unsere nie unter einem solchen Makel, oder nur einem ähnlichen Verdacht zu leiden gehabt hat! Und rein wie sie war, soll sie so Gott will bleiben, rein wie der alte Name unseres Hauses – und was dieser uns gebietet, das wird auch die Antwort auf jenen Brief sein. Was aber Dich angeht, Clotilde – die thörichte Verblendung eines Augenblicks konnte ich Deiner Jugend, Deinen neunzehn Jahren zugute halten und sie verzeihen; von dieser Minute an aber fordere ich: vergiß nie wieder, daß Du eine Kalden und meine Tochter bist! – Kein Wort jetzt mehr,« schnitt er ihre bittenden Geberden, die Antwort, welche sich auf ihre Lippen drängen wollte, ab – »Du weißt, ich dulde keinen Widerspruch und keine Entgegnung, wenn ich einmal meinen Willen kund gegeben habe!«

Clotilde senkte die Stirn! Der kalte, harte Ausdruck in den Zügen des Vaters ließ ihren warmen Herzschlag stocken – sie wußte nur zu gut, wenn er so blickte, war für keinen Wunsch, keine Bitte etwas zu hoffen!

In ihrer Seele stritten sich heißer Schmerz und tiefe Bitterkeit, aber ihre Lippen blieben geschlossen und mit Gewalt drängte sie die Thränen zurück, welche ihre Augen benetzen wollten.

»Du erlaubst, daß ich mich zurückziehe?« fragte sie nach einigen Secunden mit gepreßter Stimme.

Die Frage mochte ihm als einen Beweis ihres Gehorsams, ihrer völligen Unterwerfung gelten, denn er reichte ihr die Hand und sagte etwas milder:

»Ja Kind, geh' auf Dein Zimmer! Eine kurze Ueberlegung wird Dir dienen. Und damit sei denn die Sache ein für allemal abgeschlossen!«

 

Kaum eine Stunde nach dieser Unterredung erbrach der Assessor Sonner ein Schreiben, das mit dem Siegel der Kalden verschlossen war und das ihm ein Diener des freiherrlichen Hauses überbracht hatte. Es enthielt die Antwort des Barons auf seine Werbung um die Hand der Tochter. – Eine gewisse Höflichkeit der Form war dem Briefe nicht abzusprechen, wie denn der Schreiber nie die Sitte des Edelmanns verleugnete, der Sinn aber war unzweideutig – der bürgerliche Bewerber fand sich zurückgewiesen.

Keine heftige Erregung, kein Ausbruch des verletzten Gefühls oder gar des Zorns trat bei Sonner hervor, als er die Zeile eine nach der andern las; nur die Farbe seines Gesichts ward etwas bleich und fast unmerklich preßten sich feine Lippen zusammen.

»Ich hätte mir selbst glauben sollen,« murmelte er, »daß die Kalden nicht zu Denen gehören, welche sich über die engen Satzungen ihrer Kaste zu erheben vermögen!«

»Aber Clotilde!« hub er nach einer kleinen Pause wieder an, und nun zuckte ein schmerzlicher Ausdruck über seine Züge, »wäre es möglich, daß auch über sie das Blut, welches die Geburt in ihre Adern flößte, mehr Macht hätte, als jener höhere Ruf, dem ihre Seele zu lauschen schien?«

Er griff wieder nach dem Briefe und las die Zeilen noch einmal, in denen der Freiherr von seiner Tochter erwähnte, daß sie in kindlicher Pflicht die Einsicht des Vaters zu der ihrigen mache und daß sein Wille – wie gebührend – der ihrige sei. Mit gesenkter Stirn schritt er einige Male auf und ab, und als er dann stehen blieb und sie erhob – da stand etwas wie eine in sich gefestete Zuversicht auf seinem männlich schönen Gesicht zu lesen.

»Geduld nur und Vertrauen!« sagte er vor sich hin – »sie selbst wird mir sagen, daß es Sünde gewesen wäre an ihr zu zweifeln!«

Vor Jahresfrist erst war Albert Sonner an das Gericht der Kreisstadt versetzt worden, aber schon hatte sein Name daselbst eine ungewöhnliche Bedeutung erlangt. Die Anerkennung, zu der selbst Egon – und mochte sie noch so leichtfertig in seinem Munde klingen – gezwungen worden war – sie ward ihm von Niemandem verweigert, der je in einer Beziehung zu ihm gestanden hatte. Und doch that er im Grunde wenig, um sich, seinem Geist und seinen Talenten Geltung zu verschaffen, vielmehr war ihm eine gewisse Zurückhaltung eigen, die sich aber wieder vollkommen mit der Klarheit und Ruhe, die sein Wesen charakterisirte, vertrug. Das Gefühl des eigenen Werthes war ihm dabei nicht fremd, und ohne daß er die geringste Ueberhebung zur Schau trug, wie ihm denn überhaupt die feinste Form zu Gebot stand, war es, als decke ihn dasselbe in jedem Augenblicke gleich einem unsichtbaren Schilde.

»Das macht, er ist eine vornehme Natur!« hatte einst ein Urtheil gelautet, das sich warm für Sonner erhob, und in seiner Weise hatte Egon gerade dies Urtheil bestätigt, wenn er von Sonner sagte: man könne glauben, er sei de pur sang!

Jedenfalls hatte diese innere und äußere Sicherheit seiner Erscheinung viel dazu beigetragen, ihm den Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, welchen er unbestritten einnahm, den eines in allen Kreisen gesuchten und hochgestellten Mannes, wie er denn zu den Wenigen gehörte, welche sich vollkommen zwanglos in dem adeligen wie dem bürgerlichen Cirkel – und trotz des im Ganzen guten Einvernehmens trennten die feinen Linien der Standesunterschiede die Gesellschaft doch in diese beiden Sphären – zu bewegen wußten. Hier wie dort verstand er es, mit der vollendeten Bildung seines Geistes die wahlverwandten Elemente auszusondern, hier wie dort aber auch, mit ihr allen offen oder versteckt auftretenden Vorurtheilen einen Damm entgegenzusetzen.

 

Schon als Clotilde zum ersten Mal an dem geselligen Leben der Kreisstadt, in die ihr Vater während ihres Institutlebens gezogen, theilnahm, hatte sie der Zufall mit Sonner zusammengeführt. Da sie ihn im Kreise der Standesgenossen sah, war es ihr nicht eingefallen, nach seiner Stellung, dem »Werth« seines Namens zu fragen; sie hatte den vollen Eindruck seiner Persönlichkeit auf sich wirken lassen, und so kam es denn, daß sie nach kurzer Zeit statt der ersten unterlassenen die andere Frage an sich selbst that: »Ist Einer unter Allen, der sich diesem Manne gleichstellen dürfte!«

Ach, und wie sie jeden Ausspruch seines Mundes beachtete, wie sie sein geringstes Thun mit immer wachsender Theilnahme begleitete, so erfüllte es sie mit Entzücken, als sie zu bemerken glaubte, daß sein Auge sich ihr, dem unbedeutenden jungen Mädchen, zuwandte, als sie mehr und mehr fühlte, daß sie Gegenstand seiner Aufmerksamkeit war, als er es nicht verschmähte, die Schätze seines Geistes vor ihr auszubreiten und sie wol gar in noch bedeutungsvollere Tiefen, in die seines Herzens, blicken zu lassen! – –

Es war nur eine Ahnung, die sie empfangen hatte – sie wagte sich dieselbe kaum völlig zu deuten, aber sie konnte doch nicht anders – sie mußte zuweilen dem Gedanken nachhängen, wie die Seligkeit sein müsse, wenn sie wirklich von einem Manne wie Albert Sonner geliebt würde! – Weiter aber war ihr Denken kaum je gegangen; sie hatte nie ernstlich daran gedacht, wie es werden würde, wenn Sonner um ihre Hand würbe – und hätte sie es gethan, nimmer würde sie der Furcht Raum gegeben haben, der Vater könne ihm diese Hand versagen. Zwar seine Grundsätze, seine Standesbegriffe waren ihr nicht fremd, aber war Sonner nicht der Mann, vor dem alle vorgefaßten Meinungen in Nichts zerfallen mußten? war es möglich, einer solchen Persönlichkeit gegenüber noch das Recht der alten Satzungen ihres Hauses zu behaupten, über die sie manchmal schon ein halbes Staunen angewandelt hatte, wenn sie dieselben mit den Lehren verglich, die ihr die freiere Richtung des Instituts eingeprägt?

Und nun waren jene Vorurtheile doch mächtiger gewesen, als der ganze Werth des von ihr geliebten Mannes, und in demselben Moment, als ihr die Erfüllung ihrer schönsten Träume nahe trat, hatten sie sich gegen ihr Glück erhoben! –

Hatte aber der erste Augenblick, der unerwartete Ausspruch des Vaters sie halb betäubt, hatte seine strenge Entschiedenheit ihrem Widerstand nicht den vollen Raum gelassen – jetzt, wo sie sich ihm nicht mehr gegenübersah, in der Einsamkeit ihres Zimmers, ward ihr Herz von seinen Empfindungen fast überfluthet. – Nein, nein, es konnte, es durfte so nicht zu Ende gehen zwischen ihr und dem Geliebten! Sie hatte nicht kräftig, nicht überzeugend genug zu dem Vater geredet, ihre Bitten, ihre Vorstellungen waren nicht eindringend genug gewesen, sie mußte noch einmal den Weg zu ihm nehmen!

Einen Augenblick schwoll ihr Herz in frischer Hoffnung empor, aber dann kam neue und noch tiefere Muthlosigkeit über sie. War es denn aus ihrer Erinnerung entschwunden, daß der Vater noch nie sein Nein mit einem Ja vertauscht hatte, so lange sie denken konnte? Hatte sie es je erlebt, daß sein Sinn in irgend einem Punkt ein anderer geworden war, mochten Vorstellungen Anderer, mochten Erfahrungen, mochte das Leben mit seinen Wechseln selbst auch noch so sehr ihn gerüttelt haben? –

Dennoch aber, mein Gott, er war ja ihr Vater! War er auch streng – daß er sie liebte, wußte sie; war es denn nicht möglich, daß Kindesbitte ein Vaterherz bewegen konnte, daß sie den Weg zu seinen weicheren Gefühlen fand? Ja, sie wollte es versuchen, jetzt in dieser Stunde, wo sie sich so grenzenlos nach einem Herzen sehnte und ihr kein anderes zur Seite stand, nicht das einer Mutter, einer – Freundin, oder auch das des Bruders, zu dem sie nie in ein wirklich inniges Verhältniß hatte treten können, wollte sie sich noch einmal an den Vater wenden!

Als sie der Thür des Freiherrn zuschritt, trat ihr der Diener entgegen und sagte:

»Der gnädige Herr will ungestört bleiben; er ist allein mit dem jungen Herrn Baron.«

»Gehen Sie hinein und sagen Sie ihm, ich hätte das Verlangen, ihn nur einen Augenblick sehen und sprechen zu dürfen!« entgegnete Clotilde.

Der Diener that zögernd, was sie befahl; die Antwort des Vaters brauchte seine Herrin aber nicht erst aus seinem Munde zu hören; durch die halbgeöffnete Thür vernahm sie die harte, ärgerliche Stimme des Freiherrn, wie er zu dem Boten sagte:

»Jetzt nicht! Ich habe Geschäftssachen zu erledigen und für nichts Anderes Zeit!«

Das war der Bescheid, mit dem Clotilde in die Einsamkeit ihres Zimmers zurückkehrte.

 

»Bleib noch, Egon, ich habe auch über Anderes mit Dir zu sprechen!«

Mit den Worten hatte der Freiherr seinen Sohn zurückgehalten, als dieser sich bald nach der Beendigung jenes ersten Gesprächs entfernen wollte und darauf zum Uebergang nur noch die Bemerkung gemacht:

»Ich schaffe gern Klarheit in allen Dingen und will sie auch Dir geben, da Du als künftiger Herr des Gutes ein Recht hast, unsere Verhältnisse genau kennen zu lernen. Daß unsere Lage,« fuhr er dann fort, »nicht brillant ist, weißt Du; sind Dir aber auch unsere augenblicklichen besonderen Verlegenheiten bekannt?«

Ein eigenthümlicher Blick zuckte aus den Augen des Sohnes.

»Du erschreckst mich, Vater,« sagte er; »ich hatte in der That gehofft, ja darauf gerechnet, daß es in Deiner Kasse nicht fehle – ich – –«

»Von mir und meiner Kasse,« unterbrach ihn der Freiherr mit einem Stirnrunzeln, »ist nicht die Rede, Egon! Du weißt, ich betrachte sie als einen abgetrennten Theil vom Ganzen und habe aus den Einkünften des Gutes gerade so viel abgesondert, wie zu meinem und Clotilden's Unterhalt, so wie zu Deiner Subventionirung nöthig ist, nicht mehr, nicht weniger: alles Uebrige wird ein für allemal dem Gute selbst wieder zugeschrieben, welches ich von Gottes und Rechts wegen meinen Händen dazu vertraut hatte, daß ich es meinen Kindern und Kindeskindern in dem Stande überantworte, wie ich es als Kind und Kindeskind überkommen habe. Die Erträge haben die Ausgaben bisher mindestens gedeckt, wenn sie dieselben auch nicht gerade viel überstiegen haben. In diesem Jahre ist das eben anders, die Berechnungen, welche mir Herr Rodewald, unser Verwalter, heute vorgelegt hat, zeigen, wie groß unser Schaden durch das Viehsterben, den Brand der Scheunen und den nothwendigen Bau der Schleusen gewesen ist, und erklären es, daß wir mit einem beträchtlichen Deficit herauskommen. Dazu kommt noch, daß andere Ausgaben kaum zu umgehen sein werden. Rodewald meint, daß der Bau der neuen Mühle nicht länger aufgeschoben werden darf und eben so dringt er auf die Drainirung des Riedengrunds –«

»Rodewald!« rief der junge Mann und warf den Kopf mit einer halb ärgerlichen, halb hochmüthigen Bewegung zurück, »ich meine, er könnte sich begnügen, das in Ordnung zu halten, was ihm zugetheilt ist, und es frappirt mich, Vater, daß Du Dir von dem impertinenten Menschen Vorschläge oder gar Bedingungen machen läßt!«

Der Freiherr runzelte flüchtig die Stirn.

»Von Bedingungen ist keine Rede, Egon; Rodewald hat den Respect in keiner Weise verletzt, aber seine Einsicht ist der unserigen vielfach voraus, darum halte ich auf seinen Rath. Außerdem ist er ehrenhaft und zuverlässig.«

»Mein Mann ist er nicht, ich finde sein Wesen unerträglich!« warf Egon ein.

»Nun, es ist möglich, daß seine Manieren nicht die glattesten sind,« entgegnete der Vater, »das Leben in den amerikanischen Hinterwäldern, was er lange geführt hat, erklärt und entschuldigt das – und überdies, was geht uns sein Wesen an, wenn er uns nur leistet, was er schuldig ist?«

Egon pfiff leise vor sich hin und zuckte die Achseln.

»Hast Du vielleicht etwas mit ihm gehabt? Ich meine, er war bei Dir, ehe er zu mir kam?« fragte der Freiherr mit einem raschen Blick auf seinen Sohn. »Mir fiel es auf, daß er besonders finster und kurz angebunden war.«

»Ich bin dem Vergnügen einer Begegnung mit Herrn Rodewald ausgewichen,« sagte Egon mit spöttischem Anflug, »wer weiß aber, vielleicht ist das schöne Käthchen an seiner Laune schuld, indem sie ihn durch ihre Sprödigkeit geärgert hat!«

»Das schöne Käthchen? das ist die Försterstochter,« entgegnete der Vater, »man sagt, er wirbt um sie, es wäre vielleicht ein passendes Paar.«

»Möglich!« meinte Egon leichthin, »wenn sie nicht etwa selbst findet, daß sie zu gut für den Bärenhäuter ist, indessen – chacun a son goût! – Um nun aber wieder auf ernstere Dinge zu kommen« – fuhr er dann rasch fort – »wie denkst Du Dir in der Krisis, die Du mir angedeutet hast, zu helfen, Vater?«

Der Freiherr stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Das Schwere muß gesagt werden, Egon, es bleibt uns nichts übrig, als das Gut mit einer zweiten Hypothek zu belasten.«

Egon antwortete nicht gleich, er mochte erst die weiteren Schlüsse überdenken, die sich aus dieser Erklärung des Vaters ziehen ließen, dieser jedoch schien eine Art Vorwurf in des Sohnes Schweigen zu erkennen, denn er fuhr eifrig fort:

»Glaube nicht, daß mir der Entschluß leicht wird – ich füge mich nur nach hartem Kampfe der Nothwendigkeit! Sag' selbst, ob uns andere Hülfe bleibt! Capitalvermögen fehlt uns, also können wir mit vorhandenen Mitteln jene Schäden nicht decken und noch weniger weiteren Schäden vorbeugen –«

»Aber die 6000 Thaler, welche in der H…schen Bank liegen und deren Nießbrauch Dir zusteht,« warf Egon ein.

»Davon kein Wort!« rief der Freiherr, »sie gehören Clotilden, sind ihr von dem Bruder ihrer Mutter, der ihr Pathe war, verschrieben, und eine Clausel des Testaments bestimmt, daß sie nicht zu Hülfsquellen für das Gut genommen werden dürfen.«

»Nun dann ließe sich vielleicht auf andere Weise Geld herbeischaffen,« meinte Egon zögernd. »Ich wollte es z. B übernehmen, Dir auf Deinen Namen Summen beliebiger Größe von Hensfeld zu verschaffen!«

»Von Hensfeld, dem Bankier? auf Wechsel natürlich?« entgegnete der Freiherr. »Nichts da – Wechsel sind nicht meine Sache, Egon! Mit einem Wisch Papier kann der Teufel sein Spiel treiben und Einer kommt um sein Geld, der Andere um seine Ehre. Nein, nein – Grund und Boden haften anders!«

»Aber Vater, das ist ein bloßes Vorurtheil!« rief Egon, und erschöpfte sich in Vorstellungen, um dem Freiherrn das Thörichte seiner Ansicht klar zu machen. Es half aber nichts, der Alte blieb bei seiner Erklärung mit den Wechselgeschäften ein- für allemal nichts zu thun haben zu wollen.

Egon lachte etwas gezwungen.

»So möchte ich es fast erleben, daß Dir einmal ein Wechsel zur Bezahlung präsentirt würde,« sagte er wie im Ton des Neckens, »den irgend Jemand auf Deinen Namen gezogen hätte, Vater!«

»Ich sehe nicht ein, wie dies anders als mit Schurkerei zugehen sollte,« sagte der Freiherr gelassen, »und wie ich mich einer Schurkerei gegenüber zu stellen pflege, weiß Jeder, der mich kennt, wie es darum nicht umsonst ist, daß sich jeder vor mir hütet!«

Sein Auge hatte bei den letzten Worten, wenn auch unwillkürlich, einen so drohenden Blick angenommen, daß Egon es gerathen finden mochte, von dem Gegenstand abzulenken.

»Ich sprach ja nur im Scherz!« sagte er, und nahm dann rasch die Frage wieder auf, um welche es sich beim Beginn des Gesprächs gehandelt hatte. Es war aber eigentlich nur, um zu erklären, daß er dem Vorhaben des Vaters wegen der neuen Hypothek nichts entgegensetzen wolle, und hatte es dem Letztern zuerst geschienen, als ob der einstige Erbe des Gutes einer möglichen Schädigung seiner Interessen allzu sorgsam ausweichen wolle, so durfte er sich jetzt darüber wundern, daß derselbe die immerhin wichtige Frage mit solcher Leichtigkeit behandelte und alle weiteren Bedenken ohne weiteres bei Seite schob. Ja, es war unverkennbar, daß er nur noch in einer Art Zerstreuung sprach und in seinen letzten Worten: »Leihe doch in Gottes Namen auf das Gut, Vater, was schadet's denn!« lag nahezu etwas von Ungeduld.

Die Stirn des Freiherrn faltete sich daher auch sehr bald in rasch aufsteigendem Unmuth aufs Neue.

»Ich liebe den Leichtsinn nicht, mit dem Du die Sache behandelst, Egon,« sagte er. »Vergiß nicht, daß Du dereinst den bunten Rock ausziehen sollst, um die Wirthschaft zu führen, gleichwie alle Kalden das Gut mit eigener Hand verwaltet haben und wie mich nur mein lahmer Körper, der es mir unmöglich machte, selbst aller Orten nach dem Rechten zu sehen, gezwungen hat, einen Verwalter zu nehmen. Es wurmt mich aber längst, daß Dein künftiger Besitz nicht die Bedeutung für Dich hat, die er verlangt.«

»Ach, die Bedeutung wird schon kommen,« sagte Egon, dem der Boden offenbar unter den Füßen zu brennen begann, »wenn ich dereinst meine Bestimmung erreicht habe und anfange, Kohl und Rüben zu bauen! Für jetzt nur – –«

»Für jetzt hast Du andere Interessen, ich weiß das!« fiel der Freiherr ein, »und es ist ein Glück für Dich, daß die Hand des Vaters sie zügelt!«

Egon zog die Oberlippe ein.

»Ich empfinde es oft schwer,« wagte er zu sagen, »daß ich hinter den Kameraden zurückstehen muß!«

Die Gestalt des Alten richtete sich auf.

»Was ich als ein adeliges Recht anerkenne, weigere ich Dir nie – unsinnige Forderungen aber weise ich zurück ohne Mitleid und Bedauern; und ohne Mitleid und Bedauern würde ich darum auch heute wieder Nein sagen, wenn Du wie neulich den Ankauf des kostbaren Pferdes von mir verlangtest.«

»Das Pferd hat in dem gestrigen Rennen den zweiten Preis davongetragen, der die Ankaufssumme nahezu erreichte,« bemerkte Egon. »Graf Loschwitz hat es gekauft, nachdem ich zurückgetreten war.«

»Einerlei!« entschied der Freiherr, »ich hatte nicht die Mittel, Dir zu helfen, und Du konntest das wissen! Uebrigens – warst Du bei dem Rennen zugegen?«

»Ja – als bloßer Zuschauer natürlich!« sagte Egon mit kaum verhehlter Bitterkeit, die der Vater indeß nicht weiter beachtete.

»Es sollen wieder enorme Summen verwettet sein,« bemerkte er.

»O ja, gewettet ward viel!« sagte Egon kurz.

»Und wie man mir erzählte, hätten die Summen der Wetten die der ausgesetzten Preise vielleicht um das Dreifache überstiegen.«

»Leicht möglich!« bestätigte Egon. »Mancher hat es büßen müssen,« setzte er mit einem raschen Anlauf hinzu, »daß ein unglücklicher Zufall die begründetsten Erwartungen zu Schanden machte – –«

»Geschieht diesen ›Manchen‹ ganz recht!« erklärte der Freiherr entschieden. »Hätte ich zu gebieten – ich schickte Jeden in's Tollhaus, der kein Geld zu verlieren hat und doch den Zufall versucht! Hoffe Du also in einem ähnlichen Fall nie auf meine Hülfe, Egon!«

Der Sohn murmelte etwas, das nicht recht zu verstehen war, auf das der Vater aber auch nicht achtete, denn gleich nach seiner letzten Warnung hatte er sich abgewandt, um das Zimmer zu verlassen.

Ein zorniges Fußstampfen verrieth Egon's Empfinden, als er sich allein sah. »Es ist klar, ich müßte Mauern brechen können,« rief er aus, »wenn mir hier ein weiterer Anlauf noch nützen sollte! Mir müssen andere Mittel aus der Klemme helfen!«

Er sann einige Minuten nach und rüstete sich dann rasch zu einem Ausgange.

 

Kaum eine Stunde später befand er sich dem Bankier gegenüber, dessen er im Gespräch mit dem Vater Erwähnung gethan hatte und mit dem er jetzt selbst eine eifrige Unterhaltung führte. Er war sehr beredt, sehr liebenswürdig in dieser Minute – vielleicht so beredt und liebenswürdig, wie der Bankier ihn noch nie gesehen hatte. Er erzählte von dem gestrigen Rennen – er schilderte es mit großer Anschaulichkeit – er flocht sogar Späße mit ein und scherzte über sein eigenes »verteufeltes Mißgeschick,« das ihm buchstäblich einen Stein in den Weg geworfen habe, denn über diesen sei das Pferd des Grafen Loschwitz, auf welches er 300 Thaler gewettet gehabt, gestolpert, so daß es gerade eine halbe Minute zu spät an's Ziel gekommen sei und darum nur den zweiten Preis gewonnen habe.

»Und was das Tollste ist!« fuhr er dann lachend fort, »ich bin um eine solche Lappalie in Verlegenheit gerathen, Herr Hensfeld, geradezu in Verlegenheit!«

»Nun aber der Herr Vater Baron wird doch den jungen Herrn Baron nicht stecken lassen?« sagte der Bankier mit einem scharfen Seitenblick.

Egon lachte noch immer.

»Ja, sehen Sie, muß nun gerade der Teufel sein Spiel treiben, daß mein Vater von Herrn Rodewald, unserm Verwalter, um allerlei Summen gebrandschatzt ist, die er nöthig haben will – kurzum, daß seine Kasse für den Augenblick leer ist, während ich das Geld natürlich auf der Stelle – Sie wissen ja, Herr Hensfeld, Wetten sind eben so gut Ehrensache wie Schulden beim Spiel – haben muß. Da sage ich mir denn, Herr Hensfeld wird der Nothhelfer sein!«

»Mit Vergnügen, Herr Baron, mit Vergnügen!« sagte der Bankier sich verbeugend. »Schaffen Sie mir nur ein Wechselchen mit der Unterschrift des Herrn Papa – und Sie haben das Geld in der Tasche.«

»Ja, sehen Sie,« sagte Egon, seinen Schnurrbart drehend, aber anscheinend immer noch in guter Laune – »das ist nun so eine Marotte von ihm – ein Anderer als der Sohn würde es geradezu Blödsinn nennen! – daß er es verschworen hat, seinen Namen je unter einen Wechsel zu setzen, und – ach nein, lassen wir ihn ganz aus dem Spiele!« brach er kurz ab, um mit einem Anflug von Empfindlichkeit hinzuzusetzen: »Ich sollte aber denken, Herr Hensfeld, ein Schein von meiner eigenen Hand ausgestellt und auf meinen eigenen Namen lautend und wenn Sie wollen noch mit meinem Ehrenwort bekräftigt, würde zu Ihrer Sicherheit genügen!«

»Gott, mein Gott, werden Sie nicht zornig, Herr Baron, aber es ist auch so eine Marotte von mir – beinahe wie beim gnädigen Papa – daß ich immer genau wissen muß, wo mein Fuß zu stehen kommt, wenn ich ihn irgendwo hinsetze! Ich denke darum nicht übler von Ihnen, aber – nun ohne Bürgschaft werde ich das Geld nicht leihen können. Was ist's denn Großes! Einer Ihrer reichen Freunde – Sie haben sicher viele reiche Freunde, Herr Baron! – tritt mit seinem Wort für Sie ein!«

»Ich brauche das Geld nur für drei Wochen!« rief Egon. »Ich bin sicher, daß einer meiner Kameraden mir dann helfen kann.«

»Um so besser!« entgegnete der Bankier unerschütterlich, »so wird dieser oder ein anderer guter Kamerad gern dafür haften, daß Sie mir das Geld – wollen wir sagen, heute über drei Wochen, oder vier? –wieder bezahlen.«

»Nun,« sagte Egon, der nur mit Mühe, weil er sich unter dem Zwang der Nothwendigkeit wußte, seinen Unmuth beherrschte, »Graf Loschwitz wird mir gern den Gefallen thun und einen solchen Wisch wie Sie ihn verlangen ausstellen!«

»Graf Loschwitz?« sagte der Bankier und wiegte den Kopf –»Graf Loschwitz sitzt alle Zeit, wo er kann und nicht kann am grünen Tisch – nennen Sie lieber einen Andern!«

»Gut denn!« sagte Egon mit verächtlichem Lachen: »Denitz also!«

»Der Rittmeister!« fragte Hensfeld gedehnt zurück – »man sagt mir, er hat sich ohnehin tief hineingeritten – in die Schulden meine ich.«

»Nun aber in des Henkers Namen, wen verlangen Sie denn?« rief Egon auffahrend.

»Um Vergebung, Herr Baron, ereifern Sie sich nicht!« sagte Hensfeld gelassen. »Ich will Ihnen sagen, wenn Sie mir z. B. ein Papier von dem Herrn Assessor Sonner bringen – ich meine, er gehört auch zu Ihren guten Bekannten – daß er für Sie bürgt, so sollen Sie das Geld haben!«

»Sonner?« fragte Egon, und wieder warf sich sein Kopf mit hochmüthiger Geberde in den Nacken zurück – »wie kommen Sie auf Den?,«

»Nun,« entgegnete der Bankier, »man hat doch sein Geschäft und kennt die Menschen! Solide, sag' ich Ihnen, solide, daß Einem das Herz lachen kann! Mir ist Keiner so viel werth, sag' ich Ihnen, wie der Assessor Sonner!«

Egon wandte sich ab, er konnte es dem Bankier doch nicht erklären, weshalb er gerade den von ihm Genannten nicht um einen Dienst ansprechen durfte! Der Letztere aber, welcher sein Schweigen anders deutete rief aus:

»Recht so! Lassen Sie es sich durch den Sinn gehen, Herr Baron, und dann kommen Sie zurück mit der Unterschrift und holen sich die 300 Thaler!«

»Ich muß mir an anderen Orten Hülfe suchen,« sagte Egon sich, als er aus Hensfeld's Comptoir trat, und diese selben Worte sagte er bald zum zweiten und zum dritten Male, als er zum zweiten und zum dritten Male einen vergebenen Gang gemacht hatte. Dabei aber ward seine Laune immer schlechter und sein Blut pochte immer unruhiger.

So groß hatte er sich die Schwierigkeit seiner Lage selbst nicht vorgestellt und er wollte und mußte sich doch nun aus derselben befreien.

Seine Gedanken kehrten zu dem ersten Versuche, den er bei Hensfeld gemacht, und zu dessen Vorschlage zurück. Sonner ansprechen! und das im gegenwärtigen Augenblicke! Lieber hätte er sich selbst die Zunge abgebissen! – Es wäre ja auch zu denken gewesen, daß der anmaßende Mensch jetzt eine Bitte abschlüge, oder wol gar stolz thäte, sie ihm großmüthig zu gewähren, obgleich der Dienst in allen Fällen ein so geringer bleiben würde!

Was war's denn weiter? Ein einfacher Namenszug unter ein paar Zeilen gesetzt – er trug das Blättchen noch bei sich, auf welchem das Bürgschaftsformular stand und das ihm Hensfeld zugeschoben hatte – auf den nichts, aber auch gar nichts weiter ankam, denn heute über drei Wochen bekam er nicht allein das Geld, welches ihm Steinburg versprochen hatte, auch seine Gage war inzwischen fällig geworden, und konnte im Nothfall einen Theil des Betrages decken – und – nun ja, für die schlimmste, aber eigentlich unmögliche Möglichkeit blieb ihm doch der Vater, der am Ende retten mußte, wenn er nur selbst den Sturm auf sich nehmen wollte, den sein Geständniß allerdings hervorrufen würde. Es war mithin nur eine Art Komödie, die nach dem Willen des Juden ausgeführt werden sollte, eine Farçe, die Niemand in Schaden und Ungelegenheit bringen konnte, und die nichts von ihrem Charakter verlor, wenn etwa der verlangte Namenszug gar nicht einmal echt wäre! –

Wie ein Blitz fuhr der Gedanke durch seinen Kopf, daß jener Brief Sonner's noch im Besitz des Vaters sein müsse und daß es nur eines leichten Vorwandes bedürfen würde, um ihn in die Hände zu bekommen, die Unterschrift für den gegenwärtigen Fall zu studiren. Aber nein, nein – er zuckte doch zusammen bei dieser Vorstellung.

»Und wenn auch kein Mensch davon erfährt,« murmelte er, »es bleibt doch eine Unredlichkeit, darum weg mit den Gedanken!«

Hatte Egon nach diesem Selbstgespräch aber noch unruhige Stunden, hatte er wol gar eine schlaflose Nacht an die Sache verloren, der nächste Tag sah ihn wieder unbefangener im Kreise seiner Kameraden, wie denn seinem Wesen nicht anzumerken war, daß er sich noch von irgend einer Verpflichtung gedrückt fühlte, ja, er trank lustig von dem Champagner mit, den Lieutenant von Wilberg, der glückliche Gewinner jener Wette, »gesetzt« hatte, damit die ganze Genossenschaft von der ihm zu Theil gewordenen Gunst des Zufalls profitire und ihm über dieselbe jubiliren helfe.

 

Vermochte der Bruder sich aber leicht mit Dem abzufinden, was seine Laune einen Augenblick getrübt und beunruhigt hatte – Clotilden sollte sobald keine Erleichterung ihres bekümmerten Gemüths zu Theil werden. Zwar – ein Entschluß war auch ihr gekommen, als sie vor der Thür ihres Vaters abgewiesen ward, und er hatte sich gestaltet in der qualvollen Aufregung, die sie bald darauf wie ein Fieberschauer überlief und sich mit jeder Minute steigerte. Sonner Aug' in Auge gegenübertreten, ihm sagen, daß sie unschuldig an Dem war, was man ihm gethan hatte, konnte sie nicht, so wollte sie ihm schreiben und den Brief vor Gott und ihrem Vater verantworten, denn er sollte nichts enthalten, was gegen die Pflicht der Tochter gesündigt hätte, er sollte dem Geliebten nur zeigen, daß er das Weh nicht allein trug, daß sie litt wie er.

Sie legte sich das Blatt zurecht, aber die Hand, welche die Feder halten wollte, zitterte in dieser Stunde seltsam und zugleich hämmerte das Blut in ihren Schläfen, als ob dieselben zerspringen sollten. Es war ihr unmöglich, ein Wort niederzuschreiben, ja nur noch ihre Gedanken klar zu ordnen; sie wußte nur, daß sie in diesem Augenblick krank war, und mit einem traurigem »Ich muß noch warten!« schob sie das Blatt bei Seite. Tröstete sie sich aber zugleich, daß sie in der nächsten Stunde, oder doch am nächsten Tage im Stande sein würde, ihren Vorsatz auszuführen, so sollte dieser Trost rasch zu Schanden werden, denn jene nächste Stunde fand sie bereits kränker und am nächsten Tage stand der Arzt an ihrem Lager und gebot ihr, dasselbe bis auf weiteres nicht zu verlassen. –

Er kam dann und ging und Clotilde lag Tage und Wochen lang gefesselt und durfte nur still seufzen über ihre Krankheit und – über die Last, die ihre Brust bedrückte.

Für ihr Leben war der Arzt nur wenige Tage hindurch ernstlich besorgt gewesen, aber wie er die Aeußerung aufrecht hielt, daß eine heftige Erregung oder Erschütterung des Gemüths, die vielleicht im Keim vorbereitete Krankheit zum Ausbruch gebracht haben könne, so dauerte auch seine strenge Weisung fort, ihr bis zur Genesung jede Aufregung fern zu halten. –

So blieb sie denn wie abgeschieden von der Welt und es drang wenig genug von derselben in ihr stilles Krankenzimmer. Sie selbst begehrte auch nach keiner andern Kunde als nach irgend einer Nachricht über den Geliebten; aber es war Niemand um sie, an den sie eine Frage über ihn hätte stellen können, wenn sie sich nicht an den Vater oder den Bruder mit einer solchen wenden wollte und das zu thun schien ihr lange eine Unmöglichkeit.

Endlich und endlich aber – es war bereits in den Tagen ihrer Genesung, als Egon einmal vor ihrem Lager saß, überwand sie sich, diesen mit leisem Ton zu fragen:

»Weißt Du etwas von Sonner, Egon?«

Sie hatte ihr eigenes Gesicht vorhin abgewandt und konnte daher die flammende Röthe nicht sehen, welche das seinige für einen Moment übergoß.

»Er ist verreist– und für einige Zeit noch, glaube ich!« entgegnete er und brach dann rasch ab, um das Zimmer zu verlassen.

Sie hatte nicht die Zeit, freilich aber auch nicht den Muth behalten, sich nach dem Wohin? seiner Reise zu erkundigen, wol aber hatte sie nach dieser Stunde das trostlose Gefühl, daß er einstweilen für jedes Wort von ihr unerreichbar war!

Uebrigens besserte sich von jenem Tage an Clotilden's Zustand entschieden, so daß der Arzt sie, nachdem sie über drei Wochen krank gewesen war, für nahezu genesen erklären konnte. Mit freundlichen Worten verkündigte er ihr, daß er sie nunmehr ihrer strengen Haft entließe, und sie, um sich dem liebenswürdigen, alten Herrn gefällig zu erweisen, zeigte ihm die Freude über ihre Lossprechung vielleicht noch lebhafter als sie dieselbe wirklich empfand, indem sie ihm zugleich scherzende Vorwürfe darüber machte, daß er sie so lange von jedem Verkehr mit der Welt abgeschnitten habe.

»Zur Strafe müssen Sie jetzt auch die Wiederanknüpfung mit ihr vermitteln,« fügte sie hinzu, »und mir von alten und neuen Dingen, die inzwischen vorgefallen sind, erzählen!«

Er ging mit guter Laune auf den kaum ernst gemeinten Vorschlag ein und kramte in einem Athem alle Stadtneuigkeiten aus, die ihm einfielen.

Clotilde hörte anfangs nur in halber Zerstreutheit zu, zuckte aber plötzlich zusammen, als der alte Herr jetzt den Namen aussprach, der allein ihr Interesse zu fesseln vermochte.

»Sie sprechen von dem Assessor Sonner?« unterbrach sie ihn, »ich meine gehört zu haben, daß er verreist sei.«

»Er war neulich nur kurze Zeit abwesend,« war die Antwort, »und gerade nach seiner Rückkehr hört man wieder das Gerücht erwähnen, das schon vorher auftauchte und das Sie kennen werden, gnädiges Fräulein!«

»Ich? nein, wie sollte ich?« entgegnete Clotilde, und zwang sich zu äußerer Unbefangenheit, während doch ihr Herz heftig pochte.

»Ei, Viele verloben ihn ja doch mit Alma Senkenberg, der Tochter des Commerzienraths.«

»Ah!« sagte Clotilde, »und seit längerer Zeit schon spricht man von dieser Verlobung? Ach ja, die Menschen haben immer viel zu meinen und zu reden! Ich – nun ich persönlich glaube nicht an eine solche Verbindung!«

Der Arzt zuckte die Achseln. »Warum nicht? Hübsch ist die Kleine – und reich der Papa, beides läßt sich nicht leugnen!«

»Finden Sie denn nicht auch, Herr Doctor,« sagte Clotilde, und unbewußt richtete sie sich höher auf, »daß ein Mädchen wie Alma Senkenberg kaum den Ansprüchen genügen dürfte, zu denen ein Mann von Sonners Geist und Bildung berechtigt ist?«

»Ei ja, wenn Sie mich auf's Gewissen fragen: für ziemlich unbedeutend halte ich das junge Mädchen auch – aber, was wollen Sie, mein gnädiges Fräulein? Schon mehr als ein kluger und bedeutender Mann hat sich durch Gutherzigkeit und fröhliches Gemüth – beides aber besitzt Alma – gewinnen lassen; darum bürge ich auch in diesem Fall nicht für eine geistig ebenbürtige Wahl. Jedenfalls ist es Thatsache, daß Sonner das Senkenberg'sche Haus in der letzten Zeit sehr oft betreten hat.«

Ein Lächeln legte sich um Clotilden's Lippen; sie wußte das, aber sie gab sich nicht die Mühe, es zu verscheuchen, ja, sie wollte es beibehalten, selbst dann noch, als der Arzt, welcher sich bereits während seiner letzten Worte zum Ausbruch gerüstet hatte, gegangen war. Durfte sie denn nicht spotten über die thörichte Voraussetzung, über die Blindheit der Welt, welche Albert Sonner in ein Verhältniß zu der Tochter des Commerzienraths brachte? Sie selbst – o, sie war ruhig – eine Alma Senkenberg konnte ihr Bild nie aus Alberts Herzen verdrängen!

Dennoch aber klopfte und wallte das Blut aufs Neue ungestüm in ihren Adern – es war gewiß, weil der Name ihres Geliebten zum ersten Male wieder von ihr genannt und von ihr selbst gegen Fremde ausgesprochen worden war! –

Was es aber auch sein mochte, die Erregung, einmal angefacht, wollte sich nicht wieder dämpfen lassen – ihr Sinnen und Denken richtete sich auf den einen Punkt, wie sie es beginnen sollte, um eine Begegnung mit Sonner herbeizuführen, denn ihm schreiben, wie sie es bisher gewollt hatte – sie wußte selbst nicht, wie es kam – aber ihm schreiben konnte sie von dieser Stunde an nicht mehr. Allein ein Wort, einen Blick mit ihm tauschen, es koste, was es wolle – das mußte sie!

Sie entsann sich, daß der Doctor in seinen Plaudereien von einem bal costumé gesprochen hatte, der in einigen Tagen von der Gemalin des Kreisgerichtsdirectors Gerstung, einer der angesehensten Persönlichkeiten der Stadt, gegeben werden sollte und der Gedanke: dort könntest Du Albert treffen, kam über sie. Eine Einladung war auch an sie ergangen, von ihr bisher aber unbeachtet geblieben, weil die Festlichkeit sie in ihrer gegenwärtigen Stimmung nicht lockte und sie sich auch kaum die Kraft zugetraut hatte, an derselben theilzunehmen. Jetzt war das aber alles anders – mein Gott, sie war ja gesund – sie fühlte sich stark genug, dem plötzlich erwachten Verlangen nachgeben zu dürfen, es kam nur darauf an, zu erfahren, ob auch Sonner auf dem Balle anwesend sein würde. –

Sich darüber Gewißheit zu verschaffen, war aber nicht schwer, es bedurfte dazu nur eines Besuchs bei der Festgeberin, den sie dieser ohnehin nach ihrer Genesung schuldete, und einer geschickten Wendung des Gesprächs, um die redebereite Dame zu einem genauern Bericht über die getroffenen Einrichtungen, so wie die Liste der Geladenen zu veranlassen. –

Schnell wie ihr der letzte Einfall gekommen war er ausgeführt, und schon am nächsten Tage konnte sie sich tiefaufseufzend sagen:

»Jetzt nur einige Tage noch, und ich werde Albert wiedersehen!«

 

Clotilden's Umgebung ward durch ihre Erklärung, daß sie den Ball bei Gerstungs zu besuchen wünsche, überrascht; da sie aber die Zustimmung des Arztes für sich hatte und das Empfinden des Vaters überdies noch etwas weich für die eben erst Genesene war, gleichwie ihn im Stillen ihr Verlangen nach einer Zerstreuung befriedigen mochte, so fand sie keinen Widerspruch. Nur ward der Freiherr noch am Tage des Balles selbst von einem heftigen Gichtanfalle heimgesucht, der es ihm unmöglich machte, die Tochter zu begleiten; da es jedoch zu spät war, um dem Feste auch für die Letztere abzusagen, so mußte er es geschehen lassen, daß Clotilde unter dem Schutze einer ältern befreundeten Dame der Einladung nachkam.

Die Gesellschaft war schon ziemlich zahlreich, als Clotilde in die geschmückten Ballsäle trat, und die verschiedensten Gestalten und Costüme wogten bunt und wechselvoll durcheinander. Türken und Zigeunermädchen, Polen und Bäuerinnen vermischten sich mit historischen Trachten und solchen, die nur die Phantasie zum Meister genommen hatten.

Clotilde hatte sich das Gewand einer mittelalterlichen Patriciertochter gewählt, und der steife Brocat, der schwere Sammet gaben ihrer hohen, schlanken Gestalt eine eigene Würde, die noch durch das Gemessene ihrer Bewegungen – die enganschließende Kleidung so wie die lange, gewichtige Schleppe zwangen ihr die besondere Haltung auf – gehoben ward.

Wieder aber contrastirte diese äußere Gebundenheit kaum mit ihrer Stimmung, die trotz allen Ringens nicht frei werden wollte. Ihr Auge hatte die Versammlung rasch überflogen und gemustert – Der, den es suchte, war nicht unter ihr. Wenn er nun doch nicht kam, wenn ihm nicht dasselbe Verlangen, welches sie hierhergezogen hatte, die Ahnung eingab, daß er sie an diesem Orte finden würde! Oder wenn er gar – sie stockte, denn sie vermochte es noch nicht auszudenken, daß er sie absichtlich meiden könne!

Einen Augenblick später aber athmete sie hoch auf: auf der Schwelle erschien eine edel gebaute Gestalt, einfach in einen schwarzen Domino gekleidet – er war es! Am Eingang, unfern von ihr blieb er stehen – die Wirthe mußte er im Vorzimmer begrüßt haben – und wie sie es noch vor einer Weile gethan hatte, ließ er seine Blicke zunächst prüfend über die Menge gleiten.

»Jetzt oder nie!« flüsterte sie und hob den Fuß, um aus dem künstlichen Gebüsch, welches in einer Ecke des Saales angebracht war und das ihre Gestalt bisher verdeckt hatte, hervorzutreten.

In demselben Moment jedoch machte sich eine junge Dame, die höchst geschmackvoll als italienisches Bauernmädchen gekleidet war, von einer entfernten Gruppe frei und eilte leichten Schrittes auf den Neuangekommenen, welchen sie offenbar in's Auge gefaßt hatte, zu; Clotilde aber fuhr halberschrocken zurück, denn sie hatte Alma Senkenberg erkannt.

Wäre sie jetzt unbefangen gewesen, hätte sie das junge Mädchen allerliebst finden müssen, denn wenn es auch eine gewisse Keckheit nicht verleugnete, so umspielte doch ein Hauch von wirklicher Anmuth die graziöse Gestalt, und lag auf dem, wenn nicht regelmäßigen, doch feinen Gesichtchen, das überdies von einem strahlenden Lächeln erhellt wurde; so aber sah sie nur mit einer bittern, fast feindlichen Empfindung auf Die, welche es wagte, in diesem Augenblick wagte, zwischen sie und den Geliebten zu treten.

Dann aber – mein Gott, spielte denn ein Blendwerk vor ihren Augen, oder hatte er dem jungen Mädchen, das auf ihn zuschwebte, wirklich entgegengelächelt und darauf die Hand, die sie ihm bot, eine Secunde lang vertraulich in der seinen gehalten?

Halb athemlos lehnte sie sich zurück, aber ihr Ohr wie ihre Seele strengte sich an, um zu erlauschen, was Beide mit einander sprechen würden. – Bei dem ersten Worte, das sie hörte, ging es ihr wie ein Stich durch's Herz: Alma hatte Sonner, mit dem sie in keiner Weise verwandt war, unbefangen bei seinem Vornamen genannt.

»Albert,« so war das halblaute Sprechen bis zu ihr erklungen, »wie reizend, daß Sie gekommen sind! Wissen Sie, daß mir sonst der ganze Ball öde und langweilig erschienen wäre?«

Was er ihr erwiederte, hörte sie nicht deutlich; nur daß auch er die einfachste Form der Anrede gebrauchte, daß er sie »liebe Alma« nannte, das hatte sie verstanden! Es mußte indessen eine sanfte Ermahnung, eine Vorstellung, oder was nun immer, in seinen Worten gelegen haben, denn halb schmollend, halb lachend entgegnete sie:

»Ach, schweigen Sie! Ich mußte meinen Willen haben und noch einmal gleichsam incognito in der Gesellschaft sein! Sie wissen gar nicht, wie entzückend es ist, wenn die Menschen umher noch nichts ahnen, und Eine es doch selbst im Herzen weiß, daß sie Braut ist!«

Der Lauscherin in ihrem Versteck war es, als ob das heiße Blut in ihren Adern plötzlich erstarre, als ob sie gebannt und gelähmt sei; dennoch horchte sie weiter, und es ward ihr jetzt nicht schwer, auch das zu verstehen, was über die Lippen Sonner's kam.

»Sie sind ein Kind, Alma,« sagte er – und o, wie freundlich und weich erklang bei den Worten seine tiefe, sonore Stimme! – »aber vielleicht gerade darum huldigt man Ihrer Tyrannei! Wenn unser Geheimniß indessen gewahrt bleiben soll,« fügte er gleich darauf in ernsterem Tone hinzu, »so ziehen Sie sich jetzt von mir zurück – wir haben schon die Blicke auf uns gelenkt!«

Sie gehorchte seiner Aufforderung und wandte sich mit einigen scherzenden Worten von ihm ab.

Clotilde hatte nicht mehr auf die letzteren geachtet– was brauchte sie noch weiter zu hören? Und war es nicht auch einerlei, ob es nun Alle erfuhren, was sie von dieser Minute an wußte, oder ob sie noch eine Weile allein in das Geheimniß des Paares eingeweiht blieb, in das Geheimniß, daß Albert Sonner und Alma Senkenberg Verlobte waren? – –

Sie fühlte, wie ihr Herz ruhig und kalt ward; sie begriff es nicht länger, wie dasselbe vor Kurzem noch so stürmisch geklopft hatte und sie pries sich nur glücklich, daß ein Empfinden in ihrer Brust nicht ausgelöscht war – ihr Stolz! Ja, der Vater hatte Recht, sie war eine Kalden, und Alle, Alle sollten das wissen, auch Albert Sonner, der sie aufzugeben vermocht hatte für eine Alma!

Starr wie ihre Seele war auch ihr Auge geworden und seinem leblosen Blick war entschwunden, was um sie her vorging; deshalb hatte sie ein Zusammenzucken zu bemeistern, als jetzt eine Stimme – es war dieselbe, deren Klang noch in ihrem Ohr bebte – auf's Neue und jetzt in ihrer unmittelbaren Nähe vernehmlich wurde. Sie zwang sich, ihr Auge nur langsam aufzuschlagen, um so viel ruhiger und kalter den Blicken begegnen zu können, die, wie sie fühlte, auf sie gerichtet waren.

»Fräulein Clotilde,« sagte jene Stimme, »das Schicksal gönnt uns eine Minute, eine einzige, aber sie kann zu einem Gnadengeschenk für uns Beide werden, gleichwie das eine Wort, welches ich von Ihnen verlange. Jene Antwort, welche mir Ihr Vater gab, haben Sie dieselbe mit seinem Willen als die Ihrige gelten lassen, oder – war es nicht die des eigenen Herzens?«

Sein Ton war weich und fast schmeichelnd gewesen, so daß ihr Herz in seinem Erschrecken erbebte. O, wenn er so vor wenigen Minuten noch zu ihr gesprochen hätte – wie würde sie ihm geantwortet haben! Jetzt hatte sie ihm nur zu zeigen, daß sie sich durch seine Herzlosigkeit nicht in den Staub treten ließ! –

Ihre Gestalt richtete sich hoch auf und kalt sprach sie:

»Ich war einst so thöricht zu glauben, Herr Assessor, daß Niemand über die Gefühle seines Herzens hinauskommen könne – ich habe dies jetzt anders gelernt!«

Er maß sie mit großen, erstaunten Blicken.

»Habe ich Sie verstanden, Clotilde, daß Sie den Glauben an Ihr eigenes Empfinden, an seine Echtheit verloren haben? Dann freilich, wenn Sie jedes Erinnern folgen wollten, hätte ich Ihnen nichts mehr zu sagen!«

»Wozu rufen Sie Erinnerungen auf?« sagte sie langsam und bitter; »ich meine, wir schämen uns jetzt Beide eines Irrthums, und für Sie wie für mich wird es das Beste sein, wir suchen es zu vergessen, daß wir uns je anders als fremd waren! Und so denke ich auch, wir lassen unsere jetzige Begegnung zu Ende sein! Die Gesellschaft hat Rechte an uns!« –

Er war sehr bleich geworden, aber er that nichts anderes, als daß er sich schweigend vor ihr verbeugte, wie es ein Herr nach jeder Beendigung eines Gesprächs mit einer Dame zu thun pflegt. Dann trat er zurück, so weit, daß ihn selbst nicht mehr der Saum ihres schleppenden Gewandes berühren konnte und sagte:

»Ihr Weg ist frei, mein gnädiges Fräulein!«

Von den Ballgästen, unter denen gerade ein eingeübter Tanz arrangirt wurde, war Clotilden's Zurückziehen ziemlich unbemerkt geblieben und noch weniger ihre kurze Unterhaltung mit Sonner beachtet worden; dafür aber hatten sich in den letzten Momenten zwei Augen unruhig auf sie geheftet, die ihres Bruders, der als Verspäteter erst vor Kurzem in den Saal getreten war. Er näherte sich ihr jetzt rasch und sagte mit etwas wie Heftigkeit in seiner Stimme:

»Du sprachst mit Sonner? wozu das, Clotilde?«

»Beruhige Dich!« sagte sie kalt; »er mußte wissen, wie ich jetzt denke!«

War es die leise Betonung, die sie dem einen kleinen Worte lieh, oder ihre stolze Haltung, welche ihm die Gewißheit gab, sie sei zur Erkenntniß des Abstandes gekommen, der sie von Sonner schied – genug aber, er forderte keine weitere Erklärung, sondern murmelte nur noch:

»Ich hatte gehört, daß er den Ball nicht besuchen würde, sonst wäre es wol besser gewesen, wir wären nicht gekommen.«

Die Schwester antwortete nicht; sie trat von ihm hinweg, um todtstarren Herzens noch mit einigen gleichgiltigen Menschen über einige gleichgiltige Dinge zu sprechen, bis aller Form und allem Schein genügt war und sie ohne ein Aufsehen, eine Verwunderung zu erregen, dem Ballsaal den Rücken wenden durfte. – Daß Sonner denselben schon bald nach dem Gespräch mit ihr verlassen hatte, erfuhr sie nicht mehr.

 

Egon aber zog beim Beginn der ersten Tanzpause einen seiner Kameraden bei Seite und flüsterte hastig:

»Wie ist's mit dem Gelde, Benno? Morgen ist der Termin, wo ich bezahlen muß – ich kann doch sicher darauf rechnen, daß Du mir hilfst?«

»I natürlich!« gab der Angeredete zurück. »Sobald ich wußte, daß mein Papa seine Pachtgelder in Händen hatte, habe ich ihm geschrieben und ihm einige Händel gebeichtet. Die väterlichen Vorwürfe und Ermahnungen kamen mit umgehender Post zurück, das Geld sollte zwei Tage später nachfolgen. Zwei Tage später – das ist heute: so werde ich es höchst wahrscheinlich vorfinden, wenn ich nach Hause komme, denn an dem, was mein Papa androht oder verspricht, fehlt selten nur das Titelchen über dem I! Komm nur morgen zu rechter Zeit bei mir vor und hole Dir von mir, so viel Du willst! Es ärgert mich noch jetzt verdammt, Egon, daß ich Dir neulich nicht helfen konnte!«

Egon war beruhigt; die Sache mit dem Bankier und – nun ja auch mit allen anderen war so gut wie erledigt!

»Ja, denke Dir nur, Egon,« rief der junge Officier seinem Freunde halb lachend, halb ärgerlich entgegen, als dieser am andern Morgen in sein Zimmer trat, »welch malitiösen Streich uns der Zufall gespielt hat! Komme ich da diese Nacht zu Hause und finde – nicht etwa das Geld, sondern einen Brief von meinem Papa, den ich trotz aller Müdigkeit, hauptsächlich in Deinem Interesse, noch las und in dem stand, daß ich das Geld aus seiner eigenen Hand empfangen sollte, da er sich entschlossen habe, selbst hierher zu kommen.«

»So ist es nichts mit Deiner Hülfe?« fragte Egon erschrocken.

»Was Du Dir gleich denkst!« rief Benno fast zornig. »Meinst Du, mein Vater würde nach Allem, was ich ihm gestanden habe – ich habe sogar Dein Malheur als eigene Sünde großmüthig auf mein Conto schreiben lassen – mit leeren Händen kommen?«

»Aber wann, wann wird er eintreffen?« fragte Egon besorgt.

»Nun, vielleicht noch im Laufe dieses selben Tags,« antwortete Benno, »jedenfalls aber – ich halte es nämlich für möglich, daß er einen Besuch bei Verwandten, den er mit der Tour verbinden will, über Nacht ausdehnt – ist er morgen Mittag hier. Seine Zimmer im Hotel sind bereits gemiethet.«

»Und heute ist der Wechsel fällig!« rief Egon und fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar.

»Ah bah!« lachte Benno, »glaubst Du, daß Dich der Bankier wegen des einen Tages Verspätung in den Schuldthurm bringen wird?«

»Wenn auch nicht,« murmelte Egon und nagte an seinen Lippen, die in dieser Secunde etwas bleich waren, »mein Wort – – Es wird mir doch nichts übrig bleiben, als mich meinem Vater zu entdecken!«

»Bist Du toll, Egon?« rief der junge Officier ernstlich ungeduldig, »nach Allem, was Du mir von dem bärbeißigen Grimm Deines Alten gesagt hast, und nach Allem, was ich selbst gethan habe, um Dir den Rücken zu decken? Und das nur, weil der Wechsel zufällig auf heute statt auf morgen ausgestellt ist? Hast Du mir nicht selbst gesagt, daß es dem Bankier einerlei gewesen sei, wie weit der Wechsel ausgedehnt werden solle? Und meinst Du etwa, es käme bei Einem von uns Allen so genau auf's Worthalten an? Ich sage Dir, ich lache Dich aus, wenn Du so penibel bist, im Ernst aber« – sein Ton ward jetzt fest und bestimmt– »bürge ich Dir mit meinem Ehrenwort dafür, daß Du nach vierundzwanzig Stunden das Geld – einerlei, woher ich es nehme – aus meinen Händen empfangen sollst! – Bist Du nun zufrieden, Egon, oder willst Du, daß ich selbst in dieser Stunde zu Deinem Gläubiger gehe, vor dem Du doch nun einmal peur zu haben scheinst – mir hat er sich nämlich immer äußerst tractabel gezeigt! und ihm meine Person noch als Pfand biete, damit er Dich bis morgen in Ruhe läßt?«

»Nein, laß nur, laß!« entgegnete Egon schnell. »Du hast Recht; Hensfeld wird nicht wagen sich mausig zu machen und in vierundzwanzig Stunden bat er sein Geld. Topp Benno?«

»Topp!« entgegnete der Freund und schlug lachend, aber fest in Egon's dargebotene Hand ein. »Und nun: à bas la misère!« fuhr er fort, »und hoch alles Vergnügen, was wir noch miteinander genießen wollen! Möge aber jedes so exquisit sein, wie der gestrige Ball, an den ich vierzehn Tage lang noch denken werde! Er war der amüsanteste des ganzen Winters.«

»Ja, Du hast Recht, es war famos bei Gerstungs!« sagte Egon, und erschien er bei dieser Antwort noch etwas zerstreut: bald war er schon mehr bei dem angeregten Thema, das Benno so schnell nicht wieder verließ, und in Kurzem plauderten die jungen Leute nur noch über das Arrangement des Festes, die Toiletten und die Schönheit der Damen und – über die Triumphe, denen sie sich selbst bei dieser oder jener Auserkornen rühmen durften. –

 

Es war in den Nachmittagsstunden des folgenden Tages, als Sonner in das Comptoir Hensfelds trat. Das Geschäft, welches ihn hierher geführt hatte, schien fast schon erledigt zu sein, denn er schickte sich an, eine Anzahl von Banknoten – der Bankier hatte ihm eine beträchtliche Summe ausbezahlt – in eine Brieftasche zu legen, während der Letztere noch die dafür ausgestellte Quittung überflog.

Da derselbe dabei das Blatt etwas länger in Händen hielt, als gerade nöthig war, richtete sich Sonner's ruhiger Blick unwillkürlich auf ihn und es entging ihm nicht, daß ein gewisses Zögern in Hensfelds Mienen lag, als beschäftige ihn ein Bedenken.

»Nun?« fragte er gelassen, »ist etwas nicht in Ordnung.«

»O ja, gewiß!« entgegnete der Bankier, »das heißt: hier auf dem Papier ist Alles in Ordnung; aber ich denke so, wie ich das Datum ansehe, daß gestern der Tag war, wo der junge Herr Baron zu zahlen hatte, Sie wissen es ja, Herr Assessor, und – kurz und gut: er ist nicht gekommen, muß ich Ihnen sagen!«

»Ich soll es wissen?« erwiederte Sonner mit einem Lächeln, »nein, ich weiß nichts von der Sache und sie wird mich wol auch nichts angehen, Herr Hensfeld!«

»Ob es Sie angeht?« gab Hensfeld erregter zurück; »haben Sie denn vergessen – aber mein Gott und Herr, ich selbst habe vergessen, den Namen zu nennen: von dem Herrn Lieutenant von Kalden ist die Rede, Herr Assessor!«

»Nun?« fragte Sonner mit interesselosem Ton.

»Nun?! – ei ja nun, wie ich Ihnen sagte, er hat den Wechsel nicht eingelöst und ich – will ich ihm auch nichts Uebles thun und Ihnen auch nicht, Herr Assessor, so – je nun, mein Geld muß ich doch haben, nicht wahr? Im Vertrauen: ich weiß, wie die Jugend ist und auch der junge Baron – nichts für ungut, Herr Assessor, ich weiß ja, Sie sind sein guter Bekannter, sonst wären Sie nicht eingetreten für ihn! – und so sehe ich zu, was ich thue, und wo ich Geld leihe, fordere ich Bürgschaft. Sind Sie mir böse, Herr Assessor, daß ich den Schein von Ihnen verlangte? Aber nein, wenn Sie böse wären, hätten Sie den Schein nicht gegeben, und der Herr Baron hätte ihn mir nicht gebracht und das Geld nicht bekommen. ›Der Herr Assessor ist mir sicher‹, habe ich ihm gesagt, ›sicherer als jeder Andere!‹ und zu mir selbst habe ich gesagt: ›Wenn Einer verlieren muß – der Herr Assessor kann's tragen! Was sind dem Herrn Assessor dreihundert Thaler?‹ Ich aber, lieber Herr, ich habe mein Geschäft und muß vorsichtig sein, wo wäre sonst das Ende und das Ende vom Schaden?«

Sonner hörte gar nicht mehr auf die letzten Worte des Redenden Seine Augen hatten sich weit geöffnet, seine Lippen aber preßte er zusammen und eben so zwang er jede Muskel seines Gesichts, daß er ruhig blieb.

»Und jenen Schein, den ich ausfüllen sollte,« sagte er, »den der Baron von Kalden Ihnen brachte: Sie haben ihn?«

»Ob ich ihn zu Händen habe? O gewiß, Herr Assessor!« entgegnete der Bankier und entnahm seinem Schreibpult rasch ein offenbar schon bereit gehaltenes Papier. »Sehen Sie, hier ist es – – ›Ich verpflichte mich mit meiner Namensunterschrift u. s. w!‹«

Er entfaltete das Blatt und reichte es dem Assessor, mit dem Finger nach dem Namenszuge deutend, der unverkennbar in denselben kurzen, kräftigen Federstrich auslief, den Sonner seiner Unterschrift stets beigab.

Sonners Prüfung dauerte nicht länger als seine Ueberlegung. Fast in derselben Secunde schon entgegnete er – er sprach jedes Wort ruhig und langsam:

»Wozu ich mich verpflichtet habe, das halte ich natürlich. Ich löse somit den Wechsel, den Herr von Kalden ausgestellt hat, ein« – er nahm einige von den Banknoten aus seiner Brieftasche zurück und legte sie vor dem Bankier nieder – »und Sie geben mir mit ihm den Schein, welchen er Ihnen brachte – Sie sagten mir ja doch, daß Sie ihn aus des Lieutenants eigenen Händen haben, nicht wahr, Herr Hensfeld? Ja? – nun wol, Sie geben mir, sage ich also, jenen Schein zurück.«

Der Bankier erschöpfte sich in dankenden Worten, so wie in Versicherungen, daß der Herr Assessor gewiß nicht bei dem Handel zu Schaden kommen würde. Die Finanzen der Kaldens seien freilich nur so so und ein Haus, in welchem sie, wie er wisse, noch Capitalien haben, sei fallit, aber dreihundert Thaler machten ja die Welt nicht aus, und der Herr Baron bliebe doch im Grund ein Cavalier, der einen Freund, welcher so großmüthig für ihn eingetreten sei, nicht um das Seinige bringen werde.

»Ohne Sorge, Herr Hensfeld!« beschwichtigte Sonner mit einer abwehrenden Handbewegung, »ich halte mich wegen meines Eigenthums vollkommen sicher – es wird sehr einfach sein, mich hierüber mit dem Lieutenant von Kalden auseinander zu setzen!«

»Gewiß, gewiß!« bestätigte Hensfeld, »ich nahm daher auch gar keinen Anstand, mich gleich an den Herrn Assessor zu halten!«

Sonner entgegnete darauf nichts weiter; er tauschte nur noch einen flüchtigen Gruß mit dem Bankier aus, griff nach seinem Hut und ging.

Wenige Schritte von der Hensfeld'schen Wohnung lag eine Bücherhandlung, in die er bisweilen kam; er trat hier auch jetzt ein, forderte Schreibmaterial und überschrieb in der nächsten Minute ein Briefcouvert, das er bei seinem Weitergang in einen nahen Postschalter steckte; dann wandte er sich einem Kaffeehause zu, wo er manchmal Abends eine Stunde im Kreise von Beamten und Officieren verweilte.

Auch dieses Kaffeehaus lag in der Nähe der Hensfeld'schen Wohnung, und der Bankier pflegte in geschäftsfreien Augenblicken von seinem Fenster aus mit seinen kleinen lebhaften Augen die Aus- und Eingehenden zu beobachten und zu mustern. Er hatte sich auch jetzt, nach Sonner's Fortgang, eine Weile damit unterhalten, als die Thür seines Comptoirs plötzlich aufgerissen ward und klirrende Schritte hinter ihm laut wurden. Indem er sich umwandte, stand der Lieutenant von Kalden hinter ihm.

»Da bringe ich Ihnen Ihr Geld, Herr Hensfeld,« sagte Egon, »und ich denke, Sie nennen mich pünktlich, denn das Warten um einen einzigen Tag werden Sie selbst nicht rechnen wollen! Nun aber nur schnell die Scheine, damit die Sache mit einem Ruck und einem Riß zu Ende kommt!«

Der Bankier suchte seine Verlegenheit unter einem Hüsteln und einem Lächeln zu verbergen.

»Ja, sehen Sie, mein bester Herr Baron, hätte ich gedacht, daß Sie mich so prompt bezahlen wollten – bei Gott, ich wäre ganz ruhig gewesen, und wir hätten den Wechsel verlängern können, so weit Sie es verlangten. Weil nun aber gerade der Herr Assessor Sonner her kam und es ihm ganz egal war mit der Bezahlung – ›was sind Ihnen auch dreihundert Thaler!‹ habe ich zu ihm gesagt – so – –«

»Wie, Sonner war hier?« unterbrach Egon ihn ungestüm, während er fühlte, daß alles Blut aus seinen Wangen entwich, »und Sie – Sie haben ihm die Scheine gegeben?«

»Weil er das Geld bezahlt hat, gewiß!« entgegnete Hensfeld. »Aber was schadet das dem Herrn Baron? Sie können es ihm ja wiedergeben – auf der Stelle meinetwegen! Sehen Sie, da stand er noch vor einer Viertelstunde auf Ihrem Platz, und wie ich ihm die Scheine gebe, legt er sie in seine Brieftasche, steckt sie ein, knöpft den Rock zu und geht fort!«

Der kleine lebhafte Mann begleitete jedes seiner Worte mit einer Gesticulalion, wie um dem Andern den Vorgang recht deutlich zu machen; Egon aber sah und hörte kaum – er fühlte sich von einem Schwindel gepackt.

»Vor einer Viertelstunde erst?« stieß er hervor, während er für sich murmelnd hinzusetzte: »gerade so lange habe ich das Geld in Händen!«

»Sagen wir: zehn Minuten vielleicht!« steigerte sich der Bankier. »Gebt er doch von mir weg, spricht meinetwegen draußen ein paar Worte mit einem guten Bekannten – denn es ist nur ein Augenblick, daß ich ihn nicht sehe – und tritt dann vor meinen Augen in das Visconti'sche Café; dort wird er noch sitzen und Sie werden ihn treffen, Herr Baron!«

»Es ist gut, Herr Hensfeld,« sagte Egon wie aus einer Betäubung heraus – »Ich habe jetzt also mit dem Assessor Sonner abzuschließen!«

»Genau, was ich meine!« erwiederte der Bankier, »und ich meine auch, einfacher kann's keinen Handel geben zwischen zwei guten Freunden!«

Der Andere hörte ihn nicht mehr.

Das Blut sauste in Egon's Kopf, als er hastigen Schrittes über die Straße nach dem Kaffeehause ging. Daß er das verhängnißvolle Blatt, welches in Sonner's Hände gerathen war, wiederhaben mußte, stand fest; was er aber dazu thun, wie er die Sache angreifen sollte – er wußte es noch nicht – es mußte ihm das Alles jedoch klar werden, wenn er sich erst seinem Feind – es that ihm wohl, Sonner in diesem Augenblick seinen Feind zu nennen! – gegenübersah.

Als er in das Kaffeehaus trat, fand er die meisten Tische bereits besetzt und sich selbst von kameradschaftlichen Zurufen begrüßt, die ihm aus der Mitte des Saales entgegendrangen. Um eine größere Tafel war hier eine Anzahl von Officieren und jüngeren Angestellten versammelt, die in besonders fröhlicher Laune zu sein schienen, während die Batterie der aufgestellten und zum Theil schon geleerten Flaschen verrieth, daß dem Gott Bacchus in angelegentlicher Weise gehuldigt ward.

»Hierher, Kalden!« rief man ihm entgegen. »Denitz' Geburtstag ist heute, und ihm werden Trankopfer gebracht!«

Egon folgte der Einladung nicht sogleich; sein Blick überflog die Anwesenden nach dem Einen, um dessentwillen er seine Schritte hierher gelenkt hatte.

Dort in jener Ecke, so weit entfernt von der übrigen Gesellschaft wie es möglich war, saß ein einzelner Gast, der sich um das Treiben derselben wenig zu bekümmern schien, und nur jetzt einen Moment von seiner Zeitung aufsah, als Kalden's Name an sein Ohr schlug. Und Egon – mochte er sich sträuben, mochte er sich innerlich über seine Schwäche schelten – aber er war gezwungen, seine Augen in diesem selben Moment, wo er den Mann erkannte, niederzuschlagen. Als er sie wieder erhob, hatte jener Gast seinen Blick schon abgewandt und las aufs Neue in der Zeitung.

»Verwünscht dies marmorne Gesicht!« murmelte Egon in sich hinein, als er auf die Züge blickte, die in der That wie gemeißelt erschienen, und mit einer raschen Wendung trat er darauf an den Tisch, wo ihm die vollen Gläser entgegengehalten wurden. Er trank eins und wieder eins von diesen Gläsern hinab, als lechze seine Kehle nach einer Erquickung, oder als wolle er sich rasch in die Stimmung bringen, welche der Wein zu erzeugen pflegt.

Nach einer Weile ging er auf den Herrn zu, der immer noch einsam in seiner Ecke saß, und wie er sich zu einer unbefangenen Haltung zwang, so suchte er auch einen gewissen sorglosen Ton in seine Stimme zu legen.

»Ich habe Sie aufgesucht, Herr Assessor,« sagte er, »weil ich noch eine – eine kleine Angelegenheit mit Ihnen in Ordnung zu bringen hatte. Ist es Ihnen recht, so nehmen wir den Ausgleich auf der Stelle vor! Ich hoffe dabei, Sie werden meine Erklärung gelten lassen, daß es sich bei der Sache lediglich um eine Art Scherz handelte – ja, einen Scherz, den ich mir erlaubte, und es fügte sich nun unglücklich –«

Der Andere unterbrach ihn:

»Von einem Scherz Ihrerseits ist mir nichts bekannt, Herr Lieutenant von Kalben,« sagte er, die Worte scharf betonend. «Zu einem ernsten Ausgleich ist dieser Ort aber, meine ich, nicht geeignet.«

»O, was das betrifft, mein Herr Assessor,« entgegnete Egon mit einem Ton, aus welchem, trotzdem das Gespräch fast leise geführt ward, die auflodernde Gereiztheit hervorklang, »so ist das wol meine Sache! Wie nun, wenn ich Ihnen erkläre, daß mir jeder Ort recht ist, um mich von einer zufällig entstandenen Verpflichtung frei zu machen?«

Ein halb bitteres, halb verächtliches Lächeln spielte um die Lippen seines Gegners, doch klang die Antwort, welche er gab, sehr ruhig.

»Die Verantwortung möchte doch sehr schwer für Sie werden, Herr von Kalden!« sagte er.

Von dem andern Tisch erschollen jetzt wieder laute Rufe, die Egon galten. »Zurück zur Tafelrunde!« hieß es. »Der Assessor ist heute moros – er will nicht mit feiern, aber Du, Egon, darfst nicht fahnenflüchtig werden! Zur Flasche, zu den Gläsern: es gilt Denitz' Gesundheit!«

Und wieder floß der Wein und wieder stürzte Egon Ströme desselben hinunter.

Sonner war unterdessen mit seiner Lectüre fertig geworden, er stand auf und rüstete sich zum Aufbruch. In dem Moment aber, als er in das Vorzimmer trat, welches gerade leer von Menschen war, sah er Egon noch einmal an seiner Seite.

Die Wangen des jungen Mannes, welche vorher bleich gewesen waren, erschienen jetzt fieberhaft erhitzt, und fieberhaft glänzte es auch in seinen Augen.

»Herr Assessor,« stieß er mit scharfem Flüstern hervor, »Sie tragen etwas bei sich, was – nun, was mich compromittiren könnte, wenn es perfide gegen mich benutzt würde. Geben Sie es mir zurück – ich werde dafür thun, was Sie verlangen!«

Hätte Egon vielleicht im Sinn gehabt, etwas, das einer Bitte gleich kam, an seinen Gegner zu wenden, so drückte sein Ton dieselbe nicht aus, denn er klang hochmüthig und herrisch. Sonner maß ihn daher auch nur mit einem stolzen Blick und sagte:

»Halten Sie mich wirklich für erbärmlich genug, daß ich auf eine solche Forderung eingehen könnte, Herr von Kalden?«

»So wollen Sie mir jenes – jenes Papier nicht hier auf der Stelle ausliefern?« sagte Egon, kaum noch im Stande, sich zu mäßigen.

»Nein!« Kalt und scharf klang die Antwort von Sonner's Lippen zurück.

»Und was werden Sie mit ihm beginnen?« preßte Egon hervor.

»Sie werden das seiner Zeit erfahren!« entgegnete Sonner ruhig, wandte sich damit aber zugleich so entschieden von Egon ab, daß es diesem klar werden wußte, er wolle dem Zwiegespräch kein weiteres Wort mehr hinzusetzen.

Einen Augenblick stand Egon wie betäubt, zwar ballten sich seine Fäuste zusammen, und seine Zähne preßten sich krampfhaft auf einander, aber er sah und hörte doch in einer Art Erstarrung zu, als Sonner jetzt den Kellner herbeirief, dessen Forderung berichtigte und dann dem Ausgang zuschritt, um das Lokal zu verlassen. Erst als derselbe seinen Augen entschwunden war, kehrte neues Leben und neue Wuth in ihn zurück.

»Er geht und stürzt mich in's Verderben – er darf mir nicht entrinnen!« – so wühlte es in seinem Gehirn, so knirschte es zwischen seinen Zähnen hervor.

Er stürzte in den Saal zurück, griff nach Säbel und Mütze, die er hier abgelegt hatte, stammelte nur eine verwirrte Entschuldigung gegen die Genossen, daß er nicht bleiben könne, da eine vergessene Angelegenheit ihn rufe, und eilte fort.

»Was hatte nur Kalden heute?« fragte Einer halbverwundert hinter ihm her, »er war merkwürdig aufgeregt!« Und ein Anderer wunderte sich über seinen plötzlichen Antheil an Sonner, dem er sonst so ziemlich aus dem Wege gegangen sei. Eine ernstliche Bedeutung legte indessen Niemand einer dieser Bemerkungen bei, und nach einer Viertelstunde schon sprach Keiner mehr von Kalden und dem Auffälligen seines Benehmens.

 

Egon kannte den Weg, welchen Sonner nehmen mußte, um nach seiner Wohnung zu kommen; es war derselbe, den er für seine eigene Heimkehr einzuschlagen hatte und der den entfernteren Stadttheilen, wo die Häuserreihen vielfach mit Gärten durchsetzt waren, zuführte. Der Vorausgegangene mußte indessen gleichfalls einen raschen Schritt eingeschlagen haben, denn obgleich sein Vorsprung sich nur auf wenige Minuten belief, so war er doch bereits in die eben bezeichnete Gegend gelangt, bevor Der, welcher mit athemloser Hast seinen Spuren gefolgt war – der inzwischen aufgegangene Mond ließ diesen die vor ihm befindliche Gestalt deutlich erkennen – ihn einzuholen vermochte.

Plötzlich aber hörte Sonner hinter sich fast laufende Schritte und einen keuchenden Athem, und noch ehe er sich umwenden konnte, fühlte er, daß eine Hand krampfhaft nach einem Ende seines lose umgehängten Mantels griff.

»Sie weichen mir aus, aber ich hefte mich an Ihre Fersen – ich muß jenes Papier wieder haben – hören Sie, ich muß, und sollte ich Sie ermorden!« rief eine heisere Stimme dicht an feinem Ohr.

Sonner schüttelte die Hand ab und trat einen Schritt zurück; hoch und stolz stand er vor seinem Gegner.

»Sind Sie ein Wahnsinniger?« fragte er.

Der Mond schien hell auf Egon's Züge, die wirklich wie im Wahnsinn verzerrt waren.

»Das Papier, jenes Papier – wollen Sie es mir geben!« stöhnte er.

Sonner stand ruhig – hätte Egon in sein Gesicht zu blicken vermocht, er würde vielleicht ein halbes Mitleid in ihm gesehen haben und ruhig klang auch sein Ton, als er jetzt erwiederte:

»Ihre Worte sind unnütz, Herr von Kalden; ich entgegne Ihnen nur: gehen Sie in dieser Stunde nach Hause!«

Waren die Worte jedoch gesprochen, um einen halb Sinnlosen zur Vernunft zu bringen, so verfehlten sie ihren Zweck, denn bei Egon, der nur einen diabolischen Hohn in ihnen erkannte, entfesselte sich jetzt die furchtbarste Leidenschaft. Er stieß einen kaum noch menschenähnlichen Laut aus und mit einem wilden Sprung faßte er seinen Gegner an der Kehle.

Sonner versuchte ihn zurückzuschleudern, verlor aber selbst bei dem Anprall das Gleichgewicht; er wankte und fiel gegen die eisernen Gitterstäbe eines Gartengeheges, an dessen Saum man sich getroffen hatte.

Ein leiser Schmerzensschrei drang über seine Lippen, und während er nun völlig zu Boden sank, sah Egon, wie sein Gesicht von Blut überrieselt ward: die Spitzen der Gitterstangen waren ihm beim heftigen Aufschlagen in die Schläfe gedrungen.

Einen Moment war Egon von Entsetzen durchrieselt; er beugte sich über die regungslose Gestalt, denn die Ahnung, daß er eine ungeheure Schuld auf sich geladen haben könne, begann ihn zu packen. In der nächsten Secunde aber hob sich seine Brust erleichtert.

»Gottlob, er lebt!« murmelte er. Zugleich aber wandte er den Kopf scheu zur Seite – hinter ihm erschollen Tritte – in einem Augenblick mußten Andere an dieser Stelle sein – ihn aber durfte man hier nicht finden: es galt zu fliehen!

Einen letzten Blick warf er nur auf den immer noch unbeweglich Daliegenden, einen Blick, dem ein jähes Aufleuchten in seinen Mienen folgte. Durch den Fall, oder das Anstreifen des Gitters hatte sich Sonner's Gewand verschoben und halb gelöst und aus der Brusttasche seines Rockes schimmerte ihm mit mattem Goldglanz der Einband einer Brieftasche entgegen. Hensfeld's Erzählung, wie und wo Sonner den Schein geborgen habe, zuckte durch seine Erinnerung – jetzt, jetzt konnte er sich retten! Ein Ruck, und die Brieftasche war in seinen Händen; dann aber – die Menschen, deren Schritte er gehört hatte, waren fast schon zur Stelle – sprang er auf, und wie ein gehetztes Wild jagte er von dannen.

 

»Gottlob, daß Sie wieder da sind, Herr Lieutenant! Der gnädige Herr will etwas von Ihnen und ich habe Ihnen in der Stadt schon nachfragen müssen.«

Mit den Worten trat ihm Johann, sein Bursche, entgegen, als Egon eine Viertelstunde später in das Haus seines Vaters zurückkehrte.

Er selbst gab aber kaum Antwort, sondern sprang nun mit wenig Sätzen die Treppe hinauf, die nach seinem Zimmer führte.

Es fiel ihm in diesem Augenblick nicht auf, daß hier bereits die Lampe brannte; er achtete auch nicht darauf, daß verschiedene Sachen umher lagen, die sonst an dieser Stelle nicht ihren Platz hatten, gleich wie ein halbgepackter Reisekoffer in der Mitte des Zimmers stand: er dachte nur daran, daß er das Werkzeug, mit dem ein Anderer ihn in Schmach und Verderben hatte stürzen wollen, in seinen Händen hielt und daß er dasselbe zu vernichten hatte!

In dem Moment jedoch, als er die Brieftasche aus seiner eigenen Kleidung, wo er sie geborgen hatte, hervorziehen wollte, um ihr den unseligen Schein zu entnehmen, fiel sein Blick auf einen Brief, der seine Adresse trug, und den man auf den Tisch unter die Lampe gelegt hatte.

Ihm war, als kenne er die Handschrift, darum griff er hastig nach dem Couvert, riß es auf und – zwei Papiere fielen heraus, das eine der Wechsel, welchen er ausgestellt hatte, das zweite der Schein, welcher Sonner's Bürgschaftserklärung enthielt! Beide waren zerrissen und damit ungiltig gemacht, eine Zeile, ein Wort der Erläuterung aber war nicht beigefügt.

Vernichtet ließ Egon die Hand, welche die Papiere gefaßt hatte, sinken. So hatte sich Sonner gerächt, so ihm sein Verbrechen – Egon wußte jetzt, daß er ein solches begangen hatte – vorgeworfen!

Ehe er sich noch fassen konnte – er hatte nur eben noch Zeit gewonnen, die verhängnißvollen Blätter in das Feuer des Kamins zu werfen, wo sie hoch aufflammten – öffnete sich die Thür und sein Vater trat in's Zimmer, ihn beinahe mit denselben Worten, die schon der Diener an ihn gerichtet hatte, begrüßend.

»Gut, daß Du da bist, Egon!« sagte er eifrig, »und nun vernimm auch nur gleich, was ich Dir zu sagen habe: Du mußt auf der Stelle verreisen!«

»Ich?« fragte Egon verwirrt und seinen Vater kaum verstehend.

»Ja, und zwar statt meiner, da mich leider die Gicht invalid macht. Hier ist ein Brief – er kam vor einer Stunde – von meinem Rechtsanwalt in H., der mir mittheilt, daß das Koller'sche Bankhaus, in dem, wie Du weißt, Clotilden's Vermögen steht, zu stürzen droht. Meine persönliche Anwesenheit, schreibt er, sei erwünscht, wenn nicht gar nothwendig, um das Geld wenigstens noch zum Theil zu retten – es bliebe aber kein Tag, kaum eine Stunde zu verlieren. Es ist ein Glück, daß Du den Urlaub zu einer andern Reise schon in der Tasche trägst, so kannst Du Dich gleich, statt nach W. zur Hochzeit Deiner Cousine, nach H. auf den Weg machen! In dreiviertel Stunde fährt der Zug. – Deinen Koffer hat Johann bereits fast fertig gepackt, bleibt uns gerade noch Zeit für die nothwendigsten Instruktionen und – à propos, über Eins muß ich noch außerdem mit Dir reden – weißt Du, daß Herr Rodewald jetzt auf der Stelle fort will?«

Der Freiherr hatte so eifrig von seinen Angelegenheiten gesprochen, war so erfüllt von ihnen gewesen, daß ihm die Verstörtheit in des Sohnes Aussehen und Benehmen entgangen war; eben so hatte er es unbeachtet gelassen, daß derselbe sich sichtlich danach sehnte, daß der Vater in seinen Worten inne hielt, daß er sogar mehrfach gestrebt hatte, ihn zu unterbrechen. Erst jetzt, bei der letzten Frage ward es Egon möglich, ward er sogar gezwungen, ein Wort einzuschieben; aber dasselbe schien seinem eigentlichen Ideengang fern zu liegen, denn es klang halbzerstreut, als er entgegnete:

»Jetzt, noch vor dem bestimmten Termin? – das nenne ich plötzlich!«

»Mit dem Grund, der ihn forttreibt, wollte er nicht heraus,« fuhr der Vater fort: »er erklärte mir nur, er könne nicht länger bleiben, und solle er deswegen auch mit leerer Tasche abziehen. Ueberhaupt aber erschien er mir halb desperat! Da mich indessen seine Privatangelegenheiten nicht kümmern, der neue Verwalter aber bereit ist, sofort für ihn einzutreten, so mag er gehen, wenn die Abrechnung, die er mir eingehändigt hat, in Ordnung ist. Ich habe sie mitgebracht, um sie mit Dir durchzusehen – aber dazu fehlt jetzt die Zeit. Rüste Dich rasch, Egon, uns bleiben nur noch Minuten zur weitern Besprechung!«

Egon hielt sich mit beiden Händen den Kopf – ihm war taumelig.

Er brachte ein paar halbzusammenhängende Worte hervor, er nahm sogar einen schwachen Anlauf, um dem Vater die unbedingte Nothwendigkeit der plötzlichen Abreise auszureden, aber im Grunde wußte er selbst nicht klar, was er sagte und that, bis die sehr energische Antwort des Letztern, daß von einer Aenderung der getroffenen Bestimmungen gar nicht die Rede sein könne, ihn plötzlich den Gedanken an seine augenblickliche Entfernung von hier näher in's Auge fassen ließ.

Ja, er mußte fort! – Der Boden brannte ihm mit einem Mal unter den Füßen!

Auf der Reise, in der Entfernung von hier, würde ihm klar werden, was jetzt geschehen mußte, würde er Alles ruhig überdenken können – darum nur fort, fort!

Mit fieberhafter Hast vollendete er nun selbst die Vorbereitungen zu seiner Reise; er packte den Rest seiner Effecten, er versah sich mit den zur Fahrt nöthigen Gegenständen, und in kürzester Frist stand er gerüstet vor dem Freiherrn, der den Sohn keinen Augenblick verlassen und ihn während seiner Thätigkeit mit den nöthigen Informationen versehen hatte. Darauf, im letzten Moment, trat er noch einmal in's Zimmer zurück, zog etwas aus seinen Kleidern, das ihn zu drücken schien, warf es mit einer hastigen Bewegung in seinen Schreibtisch und steckte den Schlüssel desselben zu sich.

»In vierundzwanzig Stunden wirst Du spätestens zurück sein, denke ich!« sagte der Freiherr.

»In vierundzwanzig Stunden!« wiederholte Egon mechanisch, und nach einem kurzen Zögern, das wie ein plötzliches Stocken über ihn kam, eilte er mit einem flüchtigen Lebewohl die Treppe hinab.

 

Sonner war an jener Stelle, wo er blutend und bewußtlos niedergesunken war, gleich nachdem Egon die Flucht ergriffen hatte, von den Personen, die des Weges kamen, gefunden worden. Der erste Schreck ließ dieselben ihn für einen Todten halten, und als solchen hob man ihn auf, um ihn in das nächste Haus zu tragen. Zwar entdeckte man hier sehr bald, daß er nur in einer starken Betäubung lag, aber die einmal entstandene Aufregung ward dadurch nicht gelinder, und eine unerhörte Kunde verbreitete sich mit Blitzesschnelle über weitere und immer weitere Kreise. Bevor Sonner noch selbst eine Erklärung abgeben, ja, fast bevor er unter den Händen des Arztes zu voller Besinnung und Erinnerung wiedererwacht war, wußte man es schon an vielen Orten, daß er das Opfer eines verbrecherischen Anfalls, vielleicht geradezu eines Raubmordversuches geworden war. Diejenigen, welche zuerst auf den Schauplatz des Ereignisses gekommen waren, hatten noch die Umrisse einer flüchtigen Gestalt entdeckt, sie hatten auch bemerkt, daß der Rock des am Boden Liegenden aufgerissen war, und fehlten auch Uhr und Geldtasche nicht – der Thäter mochte nicht Zeit behalten haben, sich Alles anzueignen – wer konnte sagen, ob er nicht noch andere Werthgegenstände bei sich getragen und jene fremde Hand sich diese angeeignet hatte?

In dem Kaffeehause, wo das Vorgefallene bereits in den nächsten Stunden bekannt und mit allen angeregten Vermuthungen besprochen ward, wußte der Kellner, daß der Herr Assessor eine Brieftasche bei sich getragen hatte, die er sogar genau beschreiben konnte, da er ihr eine Banknote entnommen und ihm selbst zum Einwechseln übergeben habe; und später vermochte der Bankier Hensfeld, der diese Brieftasche ebenfalls kannte, sogar anzugeben, daß sie mindestens 1700 Thaler enthalten habe, als Sonner von seinem Comptoir aus in das Kaffeehaus getreten sei. Von diesem Moment an bis zu jenem, wo man ihn blutend vom Boden aufgenommen hatte, war Sonner an keinem andern Ort gewesen, das stand fest, und somit stand auch fest – wenigstens in dem Urtheil Aller, die von diesen Dingen redeten – daß Sonner um der genannten Summe willen überfallen und geplündert worden war.

Man wartete es nicht ab, daß er selbst allen diesen Vermuthungen durch seine Erklärung die Bestätigung verlieh; man brachte ihm den ausgemachten Thatbestand entgegen, als er sich von der Ohnmacht und der ihr folgenden ersten Schwäche erholt hatte, und nahm es fast übel, daß er die getroffenen Combinationen nicht als vollkommen richtige gelten lassen wollte.

Daß er eine Brieftasche bei sich getragen habe, daß ihm dieselbe fehle – über den Inhalt verweigerte er geradezu jede Mittheilung – konnte er freilich nicht leugnen, doch wies er mit Heftigkeit die Annahme zurück, daß sie das Objekt eines Raubanfalls gewesen sein könne; sie möge ihm leicht bei dem Fall, den er gethan, entglitten und später von irgend einem achtlosen Fuß aus dem Weg geschleudert, oder auch von einer beliebigen Hand eingesteckt worden sein, meinte er. Und eben so entschieden bestritt er die Meinung, daß ihn der Schlag einer fremden Faust zu Boden gestreckt habe: sein zufälliges Ausgleiten auf dem glatten Stein und das Aufschlagen auf die Spitzen des Gitters seien eben Alles gewesen, behauptete er – alles Uebrige beruhe auf Einbildung oder müßiger Erfindung.

Es gab Einige, die sich durch diese Erklärung des Assessors nahezu enttäuscht fühlten – hatten sie sich doch bereits auf einen interessanten Criminalfall Hoffnung gemacht! Andere dagegen meinten halbtröstend, Sonner's Weise sei nur die des vorsichtigen, klugen Juristen, der keinen vorzeitigen Schlüssen Raum geben wollte – unter der Hand würde er eine Untersuchung selbst schon einleiten!

 

In die Wohnung des Freiherrn war die Kunde des Vorfalls, nebst der Auffassung, die er im Publicum fand, noch spät am Abend gedrungen. Das Gerücht hatte allen Einzelheiten desselben noch die Uebertreibung hinzugefügt, Sonner sei so schwer verwundet, daß man an seinem Aufkommen zweifle.

Ach und wie bebten Clotilden's Glieder, als sie die Nachricht vernahm! Der Mann, dem sie den Stolz ihres verletzten Gefühls herbe gezeigt hatte – er lag vielleicht im Sterben, durfte sie da noch ihr Zürnen bewahren? –

In der ganzen langen Nacht, die sie schlaflos verbrachte, dachte sie daran, was er ihr, was sie ihm gethan hatte, und das Ende war, daß ihr Gewissen ihr härter und härter vorwarf, ihn herzlos und ohne daß ein Recht auf ihrer Seite stand, gekränkt zu haben. Stand es ihm, dem man ein so schnödes Nein entgegengerufen hatte, als er um eine Tochter des Kalden'schen Hauses ward, nicht frei, sich dorthin zu wenden, wo man eine würdigere Meinung von seinem Werth hatte, wo ihm vielleicht eine verschwiegene, von ihm aber erkannte Neigung tröstend entgegen kam? War er ihr, für deren eigenstes Empfinden ihm die sichere Bürgschaft fehlte, weitere Rechenschaft für das seine schuldig? –

Dennoch aber hatte er ihr eine solche offenbar geben wollen, als er sich ihr auf jenem Ball näherte, und hätte sie ihn angehört – vielleicht wäre die Trennung, wenn sie auch unvermeidlich blieb, zu einer versöhnten geworden; aber mit Schroffheit und Härte war sie ihm ausgewichen, und in Schroffheit und Härte waren sie darum und wol auf Nimmerwiedersehen – geschieden. Vor bitterm Schmerz weinte sie in ihre Kissen!

Mit dem Morgen drangen tröstlichere Nachrichten über Sonner's Zustand an ihr Ohr. Sie erfuhr, daß man um sein Leben nicht in Sorge sei, ja, daß die erhaltene Verletzung im Grunde als eine leichte betrachtet werden könne und voraussichtlich ohne weitere üble Folgen heilen werde; und damit ward denn auch ihr Gemüth ruhiger. Nur das weichere Empfinden, welches während dieser Nacht in ihrem Herzen aufgelebt war, verließ sie nicht wieder; es war ihr, als könne sie eine Schuld der Dankbarkeit gegen den Himmel, der sein Leben schonen wollte, dadurch sühnen, daß sie dies Dasein nicht mehr mit selbstischem Verlangen für sich begehre, daß sie den Besitz des Geliebten neidlos einer Glücklichern gönne; und wenn ihre Augen sich auch mit Thränen füllten, so sagte sie sich doch:

»Wie ich in dieser Nacht für sein Leben gebetet habe, so will ich fortan für sein Glück beten!«

Auch der Freiherr hatte einige Worte mit seiner Tochter über das Ereigniß gewechselt, doch bezogen sich dieselben zumeist auf das Bubenstück selbst, dessen Opfer Sonner vielleicht nur zufällig geworden war.

Er sprach dabei die Hoffnung aus, daß es der Polizei gelingen möge, des Thäters, der sonst wol eine bisher friedliche Gegend in den Ruf der Unsicherheit bringen könne, habhaft zu werden, und verweilte dann noch einen Augenblick halb lachend, halb entrüstet bei der abenteuerlichen Gestalt, welche das umlaufende Gerücht bereits annähme. Da sollte einer von Denen, die nahezu als Zeugen der Unthat gelten konnten, an dem flüchtigen Verbrecher Merkmale des Officierstandes wahrgenommen haben! und wiederum wollten Andere den ganzen Ueberfall auf Motive zurückführen, die in persönlichen Beziehungen lägen! Als ob nicht allein das Fehlen eines Werthgegenstandes dem Verbrechen den allergemeinsten Charakter ausdrücke, und der Schuldige daher auch nur in den alleruntersten Schichten zu suchen sei! –

Im Ganzen aber haftete der Freiherr mit seinen Gedanken und seinem Interesse nicht lange bei dem Vorfall, da ihn die Angelegenheit mit seinem Verwalter allzusehr in Anspruch nahm. Dieselbe sollte und mußte heute noch abgethan werden, erklärte er. Jemanden in seinem Dienst zurückhalten, der nicht bleiben wollte, auch eine Stunde nur, war nicht des Barons von Kalden Sache!

 

Clotilde traf den Vater, als sie im Lauf des Tages einer Frage wegen in sein Zimmer trat, in ungeduldiger Stimmung und augenscheinlich etwas suchend. Sie erfuhr, daß ihm ein Papier fehle, was zur letzten Auseinandersetzung mit Rodewald nöthig sei, und das am gestrigen Abend noch in Händen gehalten zu haben er sich bestimmt erinnere. Sie half ihm verschiedene Haufen von Schriftstücken wegen des verlorenen Blattes auseinanderlegen, es war aber vergebens.

Plötzlich schlug er sich vor den Kopf, als käme ihm ein Gedanke:

»Es war in Egon's Zimmer,« sagte er, »dort muß es sich noch vorfinden!« und hastig eilte er hinaus, um das Suchen an dem bezeichneten Ort fortzusetzen, während Clotilde ihm in natürlicher Gefälligkeit folgte.

Aber auch in dem erwähnten Gemach fand sich jenes Papier nicht, und höchst verstimmt wollte schon der Alte seinen Rückzug antreten, als ihm mit einem Mal noch einfiel, Egon habe vor seiner eiligen Abreise im letzten Moment etwas in seinen Schreibtisch gelegt; es sei sehr möglich, ja fast wahrscheinlich, daß das betreffende Blatt, welches, wie er sich jetzt genau entsinne, auf dem Tisch gelegen habe, von ihm in der Eile mit erfaßt und eingeschlossen worden sei.

»Und der Schlüssel fehlt natürlich, und Egon kehrt, wie Du meinst, frühestens heute Abend zurück!« sagte Clotilde, die Bedauern mit der Unruhe des Vaters empfand, doch um Rath, wie derselben abzuhelfen sei, selbst verlegen war.

»So lange können wir nicht warten,« entschied Herr von Kalden kurz, »wir müssen das Schloß aufbrechen!«

»Sollte Egon das lieb sein können?« wagte Clotilde einzuwenden.

Der Alte runzelte leicht die Stirn. »Hältst Du es für nöthig, daß ich mich für mein Thun bei meinem Sohn verantworte? Egon weiß überdies, daß seine eigenen Sachen unangetastet bleiben – das Papier, wenn es eingeschlossen ist, muß oben auf liegen.«

»Wenn Du so willst, Vater,« entgegnete Clotilde zögernd, »ich habe vielleicht einen Schlüssel, der das Schloß ohne Gewalt öffnen dürfte. Egon gestand mir neulich unter Lachen, als ich ihn in meinem Zimmer überraschte, er habe sich erlaubt, einen Blick in meinen Schreibtisch zu werfen, da er die interessante Entdeckung gemacht habe, daß das Schloß desselben wie das seinige gearbeitet und also mit dem gleichen Schlüssel zu öffnen sei.«

»Nun, darum also, wozu weitere Scrupel?« erklärte der Freiherr kurz, und forderte dann Clotilde auf, den besprochenen Schlüssel herbeizuschaffen.

Eine Minute später steckte dieser im Schloß; die Finger des Alten drehten ihn und der Deckel des Schreibtisches sprang auf.

Ein einziger flüchtiger Blick, hatte er selbst gemeint, würde ihm sagen, ob sein Suchen vergeblich gewesen sei, oder nicht, nun aber – nun dehnte sich dieser Blick aus zu einem langen, entsetzlich langen Starren, und dann hob er Etwas aus dem Schreibtisch heraus, langsam, mit zitternden Händen, und hielt es seiner Tochter hin, als traute er seinen eigenen Augen nicht, und als müsse sie ihm erst die ihrigen leihen, bevor er wissen könne, ob er nicht etwa träume.

»Clotilde, was ist das?« fragte er mit plötzlich heiser gewordener Stimme.

Ein kurzer, halbunterdrückter Schrei war die einzige Antwort, die sie zu geben vermochte – sie hatte eine Brieftasche erkannt, die nicht ihrem Bruder gehörte, die aber den Namen ihres Eigenthümers auf dem goldgepreßten Leder des Einbandes trug. »Albert Sonner« stand dort erkenntlich mit verschlungenen Zügen geschrieben.

»Es ist nicht möglich, Vater,« sagte Clotilde nach einer kleinen Pause mit fliegendem Athem: »Egon kann das nicht gewesen sein!«

Die zitternden Finger des Alten, welche die Brieftasche bisher umklammert gehalten hatten, drückten jetzt auf das kleine Schloß, daß es aufsprang – eine Menge von Banknoten, die der erste Blick als von bedeutendem Werth erkennen ließ, ward sichtbar.

»Das Gerücht hat nicht übertrieben – es mögen leicht Tausende sein, die der Raub beträgt,« sagte der Freiherr mit einer Art Ruhe, die aber unheimlich und entsetzlich klang.

»Aber Vater, Vater, um Gotteswillen!« rief Clotilde, die kurze Betäubung, welche über sie gekommen war, mit Gewalt bezwingend, »schrecke Dich und mich nicht mit einem Gespenst! Kann Dein Sohn ein Verbrecher sein?«

Der Alte zuckte zusammen, als fühle er einen Stich.

»Mein Sohn! – ob er selbst noch wagen wird, sich meinen Sohn zu nennen?«

Es war Clotilden, als müsse sie zu des Alten Füßen stürzen, ihn anflehen, ihr und sich selbst Barmherzigkeit zu gönnen, sie und sich selbst nicht länger zu martern mit einem Gebilde des Wahns; aber sein Aussehen, das immer brütender, der Blick seines Auges, der von Secunde zu Secunde strenger und eiserner ward, schüchterte sie ein, daß sie die Lippen nicht mehr zu öffnen, daß sie kaum noch sich zu regen wagte.

Plötzlich trat ein Ausdruck von Spannung in des Alten Züge, er beugte sein Haupt vor, als lausche er auf einen Laut, einen Ton, und bevor Clotilde noch selbst aufmerksam auf einen solchen geworden war – sie achtete nur auf jede Miene, jede Bewegung des Vaters – mußte er erkannt haben, daß sein Ohr ihn nicht getäuscht hatte, denn eine gewisse finstere Befriedigung, welche auch die Tochter wahrzunehmen vermochte, prägte sich in seinem Antlitz aus.

In der nächsten Minute aber öffnete sich die Thür und mit raschem Schritt betrat Egon die Schwelle.

Er stutzte, als er Vater und Schwester in seinem Zimmer erblickte– dann aber ward sein Gesicht furchtbar bleich – er war dem Auge des Alten begegnet und hatte den Gegenstand erkannt, den derselbe noch in Händen trug.

»Egon, verantworte Dich, wie kommt dies Eigenthum eines Andern in Deinen Besitz?«

Die Worte klangen ruhig, aber die aufbrausendste Heftigkeit hätte keine betäubendere Wirkung haben können, als diese Ruhe.

»Fordere in diesem Augenblick keine Rechtfertigung, Vater!« stammelte Egon, »Du kannst den Zusammenhang nicht ahnen!«

»Ob ich ihn ahne wird sich zeigen!« entgegnete der Freiherr. »Es ist gestern Abend an einsamer Stelle ein Mann gefunden worden, blutend und beraubt, und Die ihn fanden, haben auch einen Andern gesehen, der von dem Schauplatz seines Verbrechens entfloh. Ob sie ihn erkannt haben, weiß ich nicht; aber wenn sie seine Spur verfolgen, so wird sie dahin leiten, wo der Raub liegt, und die Lippen des Mannes, der vielleicht ermordet werden sollte um schnödes Geld, werden den Thäter nennen.«

»Vater, noch einmal: Dich verstrickt ein Irrthum!« schrie Egon auf. »Ich weiß nichts von Geld, das geraubt sein soll!«

Die Angst gab jetzt auch Clotilden den Muth wieder. »Sei gerecht, Vater!« flehte sie mit noch bebenden Lippen, »verurtheile ihn nicht auf den Schein hin!«

Der Anruf mochte nicht ganz und gar verhallt sein, denn wenn auch die Züge des Alten unverändert blieben, seine Stimme klang doch etwas milder, als er das kurze Schweigen brach.

»Nun wohl, ich will Dich hören! Erkläre es, vertheidige Dich! was brachte jene Brieftasche mit ihrem kostbaren Inhalt in Deine Hände?«

Egon's Brust hob sich krampfhaft. »Es ist eine Unmöglichkeit, Vater!« preßte er hervor, »ich kann Dir die Erklärung nicht geben!«

Statt der Antwort umfaßte der Alte den Arm des Sohnes mit einem nahezu eisernen Griff und zog ihn vor das in Lebensgröße gemalte Bild eines jungen, schönen Weibes, das an der Wand hing.

»Egon,« sagte er, »hier ist das Bild Deiner Mutter und hier stehe ich – unsere beiden Geschlechter haben keinen Ehrlosen unter sich gehabt lange Menschenalter hindurch, kannst Du vor dem todten und dem lebenden Auge schwören, daß Du der Schande fern geblieben bist, daß unser Haus, unsern Namen keine Schmach getroffen hat?«

Sein Blick bohrte sich in die Mienen, in das Gesicht des Sohnes, und ob dieser gleich fühlte, daß es um sein Höchstes ging, wenn er diesem Blick nicht fest begegnete – er vermochte den seinen nicht zu erheben.

Auch Clotilde sah auf den Bruder in tödtlicher, unaussprechlicher Angst. »Egon, um Gotteswillen, vertheidige Dich, sprich!« flüsterte sie.

Kein Laut antwortete.

»Du schweigst?« sagte der Alte, »nun, so höre mich denn!« – Er stockte – es war, als sammle er Athem; aber seine Stimme, sein Aussehen hatte bereits verrathen, daß in der nächsten Minute eine entsetzliche Wuth zum Durchbruch kommen würde, und vielleicht war es gerade dies Anzeichen, welches Egon einen Theil seines Muthes zurückgab, der Wuth seines Vaters vermochte er eher zu begegnen als seiner Ruhe.

»Du hast kein Recht, Vater,« sagte er mit einer gewissen Festigkeit, »jenen Schwur zu verlangen! – Ich lehne die Vertretung für Das, was ich vielleicht gethan habe, nicht ab; aber nicht hier und nicht vor Dir will ich mich verantworten – Du kannst, Du darfst mich nicht in den Staub treten!«

Ein kurzes Lachen, das aber unnatürlich und wild klang, rang sich aus der Brust des Alten.

»Du meinst, der Vater sei nicht der Richter über den Sohn? Weißt Du, wie das in unserm Geschlecht gewesen ist von Uralters her? Ich will Dir sagen, wie das Gericht gewesen ist, das vor Zeiten das Haupt des Hauses gehalten hat und dessen Gedächtnis sich in der Familie erhalten hat, Jahrhunderte hindurch!

Als einst ein Kalden einen Frevel geübt hat gegen Sitte und Gesetz, da hat ihn der eigene Vater, dessen Wappenschild rein und makellos gewesen war bis dahin, niedergestoßen mit eigener Hand, damit er einem andern Gericht und der Schmach entginge. Und dann ist dieser ältere Kalden vor den Herzog, als seinen obersten Richter, getreten und hat ihm die That bekannt. Der aber hat ihn freigesprochen von Schuld und Vorwurf, und in Furcht und Ansehen ist er geblieben, bis er in der Schlacht seinen Tod fand, Jahre danach.

Was dünkt Dich von dem Ahnherrn, Egon, der so die Ehre seines Hauses zu decken vermochte?«

Bebend und von Thränen überströmt hatte Clotilde der Erzählung des Alten gelauscht; sie streckte jetzt die Hände gegen ihn aus, als wolle sie ihn flehend erweichen, ihn zur Milde beschwören. Egon dagegen hatte unterdessen seine Haltung wiedergewonnen und blickte kalt auf den Vater.

»Was mich von jenem Kalden dünkt?« sagte er, »ich meine, er hätte es dem Sohn überlassen sollen, zu sühnen, was geschehen war. Vielleicht hätte dieser seine Ehre wiedergewonnen, wenn etwa die eigene Hand that, was die des Vaters vollbrachte.«

Ein Zug bittersten, schmerzensvollsten Hohnes legte sich um des Alten Lippen.

»Und ich meine, jener Ahn hat gedacht, wie ich denke: von Einem, der seine Ehre verloren geben konnte, ist keine That des Muthes mehr zu erwarten – er ist zu den Feigen zu zählen!«

»Vater!« stieß Egon mit keuchendem Athem hervor. Seine Hände zuckten und ballten sich – hätte ein Anderer, als Der, dessen Namen er anrief, vor ihm gestanden – er würde sich auf ihn gestürzt haben.

Einen Augenblick standen die beiden Männer sich wortlos gegenüber, während sich nur ihre Blicke finster und wild begegneten; dann aber ließ die Spannung in den Zügen, den Muskeln des Jüngern nach; ein anderes Gefühl verdrängte offenbar den Trotz, und wie von plötzlich über ihn hereinbrechender Scham bewältigt wandte er sich ab.

Clotilde trat jetzt einen Schritt auf den Freiherrn zu. »Um unserer todten Mutter willen, Vater, vernichte ihn nicht!«

Er drängte die Hand, die sich auf seinen Arm legen wollte, zurück, aber er wandte sich noch einmal an den Sohn.

»Egon, noch einmal und zum letzten Mal, fühlst Du Dich noch irgend der Gnade, der Verzeihung werth, gedenkst Du je wieder die Hand des Vaters zu fassen, so gieb offenes Geständniß!«

Egon fühlte sich erdrückt von namenloser Qual.

»Es ist vergebens, Vater,« sagte er, »lieber sterben, als Dir in dieser Stunde ein Bekenntniß ablegen!«

»Auch dann nicht, wenn Dein Weigern uns scheidet, von dieser Stunde an bis zu Deinem und meinem letzten Augenblick?«

»Auch dann nicht!«

Die Worte kamen wieder wild über Egon's Lippen; dem alten Manne aber gaben sie die Ruhe zurück, wenn auch eine seltsame und unheimliche

»Wohl,« sagte er, »so war dies denn das Letzte! Vielleicht erfahre ich später, was Du Dir ersonnen hattest, um Deine Ehre zu retten; mir bleibt nur übrig die meine und die meiner Tochter zu decken –darum auch gebe ich das unrechte Gut seinem Herrn zurück.«

»Vater, es ist entsetzlich – Du selbst willst zu Sonner?« rief Egon außer sich.

Der Alte that, als hörte er ihn nicht, er wies ihn nur, selbst abgewandt, mit einer Handbewegung zurück und fuhr wie in sich hineinredend fort:

»Vielleicht, daß er Mitleid mit meinen weißen Haaren hat! Ich will ihn anflehen, sich nicht an uns zu rächen und uns zu helfen, daß unser Name der öffentlichen Schande entzogen wird.«

Damit winkte er der Tochter, und sich schwer auf sie lehnend wankte er aus dem Zimmer, während Clotilde, die selbst an allen Gliedern zitterte, nur durch äußerste Anstrengung fähig war, die sinkende Gestalt des alten Mannes so weit zu stützen, daß er nicht in diesen Augenblicken schon zusammenbrach.

Draußen aber verließen den Freiherrn die Kräfte gänzlich, sie konnte das Fallen des schweren Körpers nicht mehr verhindern und mußte den Diener rufen, um ihn mit dessen Hülfe aufheben und auf sein Lager tragen zu können. – Dort lag er lange mit geschlossenen Augen und ohne einen Laut, eine Bewegung, doch zeigte der Ausdruck seines Gesichts, daß er das Bewußtsein nicht verloren hatte.

Aengstlich hatte Clotilde sich über ihn gebeugt, und noch ängstlicher fast wurde sie, als ihr endlich das Zucken seiner Lippen verrieth, daß er ihr etwas sagen wollte, während doch die Zunge dem Willen nicht zu gehorchen vermochte.

Sie legte ihr Ohr an seinen Mund – umsonst, kein Laut drang über seine Lippen! Dafür aber ward der Ausdruck seines Gesichts flehender, und mit den Fingern, aus denen allmälig die Erstarrung wich, deutete er auf die Brieftasche, welche seine Rechte noch immer krampfhaft gefaßt hatte.

Sie verstand ihn jetzt – sie sollte statt seiner mit dem Manne reden, in dessen Händen Ehre und Schande seines Namens lag! Welches Schwere wäre in diesem Augenblick zu schwer für sie gewesen!

»Ich gehe zu ihm!« flüsterte sie und drückte ihre Lippen auf die kalten Hände des Vaters.

 

Clotilden war die Wohnung, der sie nach wenigen Minuten klopfenden Herzens zueilte, nicht unbekannt. Es war die einer Kaufmannswittwe, welche früher im Kalden'schen Hause einen Dienst gehabt hatte, und bei der das junge Mädchen daher oft noch in freundschaftlicher Weise einsprach. Ihr Vorhaben aber ward durch eben diesen Umstand erleichtert. Die gute Babett sollte es vermitteln, daß sie Sonner sah – und so trat sie zuerst in das Zimmer der Hauswirthin.

Die Frau zündete gerade ihre Lampe an, als Clotilden's: »Guten Abend, liebe Babett!« von der Schwelle her zu ihr drang. Es lag wol etwas in dem Klang der Stimme, das sie erschrecken machte, denn sie fuhr hastig herum, und als sie ihren Gast erkannte, ließ sie ihrer eigenen Begrüßung gleich den besorgten Ausruf folgen:

»Aber mein Gott, gnädiges Fräulein, Sie haben etwas, das Sie verstört!«

»Das mich sehr aufregt, gewiß, Babett!« entgegnete Clotilde hastig. »Mein Vater ist recht krank und es muß doch in einer wichtigen Angelegenheit etwas mit Jemandem gesprochen werden, mit einem Herrn, der bei Ihnen wohnt – den Assessor Sonner, meine ich.«

»Ach du meine Güte, der arme, liebe Herr,« rief die Frau aus, »der beste von meinen Miethsleuten! Haben Sie denn schon gehört, was ihm gestern Abend geschehen ist?«

»Ich weiß, ich weiß, Babett!« entgegnete Clotilde schnell. »Aber seine Verletzung ist nicht bedeutend, erfuhre ich?«

»O nein, er soll nur noch das Zimmer hüten, und sich mein bischen Pflege gefallen lassen, sagt der Doktor, sonst ist er gottlob wohlerhalten.«

»Gottlob – ja Babett! Wollen Sie ihm sagen, daß eine Dame – nennen Sie ihm nur meinen Namen! – hier an dieser Stelle auf ihn harrt und sich auf wenige Minuten Gehör von ihm erbittet? Sie selbst überlassen mir dann auf dieselbe Zeit dies Zimmer – nicht wahr, liebe Babett?«

Es lag etwas so Bestimmtes und Sicheres, zugleich so ruhig Gebietendes in Clotilden's Ton, daß es der Alten gar nicht einmal einfiel, einen Einspruch zu erheben, ja, nur etwas Auffälliges in dem Begehren eines jungen Mädchens, mit einem Herrn allein gelassen zu werden, zu finden. Sie versicherte nur gefällig, daß sie Alles besorgen werde und eilte hinaus.

Zwei Minuten später stand Sonner vor Clotilden. Ein Zittern ergriff sie, als ihr Auge dem seinen begegnete und den schmalen schwarzen Streifen in der Schläfe wahrnahm, der die Stelle der Verletzung bezeichnete und so deutlich an die That, die Schuld eines Andern mahnte.

»Sie hier, mein gnädiges Fräulein?« redete er sie offenbar gespannt, aber doch mit zurückhaltendem Tone an.

Sie nahm all' ihre Kraft zusammen. »Denken Sie, Herr Assessor, daß ich an Stelle meines Vaters hier stehe, um Ihnen etwas zurückzugeben, das Ihr Eigenthum ist und nur durch eine frevelhafte That unter das Dach seines Hauses kommen konnte!«

Er empfing den Gegenstand, welchen ihre Hände ihm reichten, langsam in den seinen! Aber es fiel ihm nicht ein, die Umhüllung zurückzuschlagen – er heftete nur seine Augen mit einem tiefen Mitleiden auf ihre Züge.

Sie aber – wie sie verstand, was es bedeutete, daß er wußte, was er empfing, so begriff sie auch diesen Blick und dies Mitleid, es sagte ihr, daß die letzte Hoffnung, Egon könne unschuldig sein, eine vergebene gewesen war, es sagte, ihr Bruder sei ein Verbrecher! Aufschluchzend schlug sie beide Hände vor ihr Gesicht.

»Wer gab Ihnen Kunde von Dingen, die nie an Ihr Ohr hätten dringen sollen?« sagte er, und seine Stimme klang weich und theilnehmend.

Sie suchte sich zu fassen, sie sprach von dem Gerücht, das die That zu ihr getragen und von dem Zufall, der die Hand des Vaters geleitet habe, daß die Entdeckung unvermeidlich geworden sei, die entsetzliche Entdeckung, daß Egon, von elendem Gewinn verlockt, die unerhörte Schuld auf sich geladen habe. – Sie wollte auch von dem halben Eingeständniß des Bruders reden; er aber unterbrach sie mit dem erschrockenen Ausruf:

»Um Gotteswillen, gnädiges Fräulein, halten Sie inne! Wie Ihnen auch die That erscheinen mag, die das Gerücht, wenn es von räuberischen Anfällen sprach, in übertriebener Weise zu Ihnen getragen hat, ein Verbrechen in Ihrem Sinn war sie nicht! Kann es Sie beruhigen, so bekräftige ich es mit meinem Wort: niedrige Habsucht war es nicht, die Ihren Bruder fortriß, seine Sinne verwirrte!«

Sie sah ihn mit großen Augen an.

»Ihre Worte machen die Räthsel noch dunkler! Wenn nicht das Geld – was war es denn, das ihn blendete, ihn zu der Wahnsinnshandlung trieb? – Nein, verhehlen Sie mir nichts,« fuhr sie dringender fort, als sie sein Stocken, sein Zögern bemerkte, »die volle Enthüllung kann das Wissen nicht qualvoller machen, darum versuchen Sie nicht, mich zu schonen!«

»Nun wo!,« entgegnete Sonner nach kurzem Besinnen, »was ihn trieb, war einzig das Verlangen einen Beweis zu tilgen, der gegen ihn und seine Ehre gebraucht werden konnte. Er glaubte ihn bei mir zu finden, denn er wußte in dem Augenblick noch nicht, daß die Folgen einer leichtsinnigen Minute von ihm abgewandt worden waren. Nun aber, mein gnädiges Fräulein – ich selbst flehe sie an, lassen Sie den Schleier ruhen, der jenen unglücklichen Moment bedeckt! Begnügen Sie sich mit der Deutung, die ich Ihnen geben konnte!«

Clotilde hatte den Kopf während seiner Worte gesenkt; sie hob ihn jetzt auf, daß das Licht der Lampe voll auf ihre bleichen Züge fiel.

»Ich darf nicht weiter in Sie dringen,« sagte sie, »mag die Schuld meines Bruders kleiner sein, als ich dachte, mag sie schwerer wiegen, als Ihre Großmuth einräumen will – nicht allein, um ihr Maß zu kennen, bin ich gekommen, ich habe Sie zu mahnen an das Haupt, das noch nicht gelernt hat, Schmach zu tragen. Herr Sonner, mein Vater liegt krank – seine Ehre – –«

Er unterbrach sie rasch: »Seine Ehre ist ungefährdet! Die Welt wird nie etwas erfahren, das einem Gliede seines Hauses Schmach bereiten könnte, denn nie wird mein Schweigen über jenen Vorfall gebrochen werden!«

Ihr Blick leuchtete einen Moment zu ihm auf.

»Ich wußte es, daß Sie sich und Ihrem Edelmuth treu bleiben würden!« sagte sie leise. »Ihre Hand rettet Egon's Schicksal wie das unsere, darum wird mein Herz für Ihr Glück beten, so lange es schlägt!«

»Mein Glück?!« sagte er mit einem Ton, der leicht ablenken sollte, doch aber eine halbschmerzliche Bitterkeit durchklingen ließ. »Ich denke, mein gnädiges Fräulein, das lassen wir als einen gleichgiltigen Gegenstand fallen!«

Sie empfand es, daß etwas wie ein Vorwurf in seiner Antwort lag, sie hatte ihm also noch nicht klar genug gezeigt, daß sie ihr Herz von jeder selbstischen Regung gereinigt hatte!

»Ich habe durch einen Zufall früher als die Welt von Ihrem Verhältniß zu Alma Senkenberg erfahren,« sagte sie mit dem Versuch ihrer Stimme Festigkeit zu geben, doch aber nicht im Stande ihre Augen zu ihm zu erheben, »und früher als von der Welt mögen Sie daher auch von mir ein Wort innigsten Antheils vernehmen!«

Ueberrascht, aber schweigend ließ er seinen Blick einen Augenblick auf ihr ruhen, während über seine Züge ein kurzes Aufleuchten glitt.

»Alma Senkenberg ist die Verlobte meines Bruders, den sie vor einigen Monaten kennen lernte,« sagte er dann in ruhigem Ton. »Einer Caprice der kleinen Braut ist es zuzuschreiben, daß die Verbindung noch für kurze Zeit ein Geheimniß bleibt.«

Dunkel erglühend wandte sich Clotilde ab; zuckte auch etwas wie Wonne durch ihr Herz, so sagte sie sich doch zugleich, daß sie vielleicht nicht den Muth gefunden haben würde, vor den Geliebten zu treten, wenn sie gewußt hätte, was sie in dieser Stunde erfuhr.

Sonner sah ihre Bewegung; er trat ihr einen Schritt näher und faßte ihre Hand.

»Clotilde!« – Es kam nur das einzige Wort über seine Lippen, aber Trost, Frage, Bitte, Alles, was seine Lippen ihr zu sagen, was ihre Ohren von ihm zu hören lange gedürstet hatten, lag in ihm! Dennoch wehrte sie ihn ab.

»Nicht Das jetzt, nicht Das!« sagte sie. »Ich habe zu Furchtbares erlebt – und mein Vater ist elend! Ich muß zu ihm, vielleicht tröstet ihn Ihr Gelöbniß.«

Er sagte kein Wort mehr; ihre Hände berührten sich nicht einmal wieder, als sie in der nächsten Minute schieden, aber einem Blick, der sich in den seinen heftete, konnte sie nicht wehren, und derselbe ließ ihn vergessen, daß jener einzige Anruf, den er gewagt, keine Antwort gefunden hatte.

 

Brachte Clotilde eine Tröstung mit, so sollte ihr eine andere entgegengebracht werden, als sie heimkehrte. Der Arzt war da gewesen und hatte den Zustand des Freiherrn für nicht bedenklich erklärt, wenigstens nicht für den Fall, daß es gelänge, ihn in vollständiger Ruhe zu erhalten, ihn vor jeder Aufregung und Gemüthserschütterung zu bewahren.

Auch die Sprache sei wiedergekehrt, wenn er auch sonst eine gewisse Betäubung oder Starrheit noch nicht überwunden habe, sagte ihr der Diener, welcher sie in dem Vorhause mit seinem Bericht empfangen hatte.

Sie hatte sich nach dem kurzen Gespräch schon von ihm abgewandt, um in das Zimmer des Vaters zu treten, als sie noch einmal ihren Schritt anhielt.

»Wo ist mein Bruder?« fragte sie, »hat er inzwischen meinen Vater gesehen, oder nach ihm gefragt?«

»Der Herr Lieutenant ist ausgegangen, gleich nach dem gnädigen Fräulein,« entgegnete der Diener.

»Wie?« fragte Clotilde, und um ihren befremdeten Ton, dessen sie selbst inne ward, zu erklären, fügte sie rasch hinzu: »Er war doch erst eben von seiner Reise heimgekehrt und nicht – nicht ganz wohl, denke ich.«

»O,« beruhigte der Diener, »der Herr Lieutenant schien ganz heiter zu sein. Ich kam gerade dazu, als ihm ein Fremder, ich meine, es war ein Dienstmann, einen Zettel gab, den las er und lachte hell auf. ›Nun, so oder so‹, sagte er dabei, ›der Tanz ist für mich bestellt!‹ Dann nickte er dem Boten nur zu und ging in sein Zimmer; gleich darauf sah ich ihn fortgehen.«

Legte Clotilde der Erzählung des Bedienten auch nicht so viel Wichtigkeit bei, daß sie sich Mühe gab, sich das Unverständliche oder gar Ungereimte in derselben zurecht zu legen, so regte sich doch ein unbehagliches, beklemmendes Gefühl in ihr, daß Egon eben in dieser Stunde das Haus verlassen hatte, und sie ertheilte daher die Weisung, daß man es ihr sofort melden solle, wenn er zurückgekehrt sei. Damit aber trat sie in das Gemach des Vaters, um ihm den Erfolg ihrer Sendung zu melden.

Ach, aber die Starrheit, von der schon der Diener geredet hatte – sie wollte auch nicht weichen als Clotilde in der nächsten Minute am Lager des Freiherrn kniete! Nur die Versicherung, die Sonner gegeben hatte, daß die Welt nicht zur Mitwisserin von Egon's Vergehen gemacht werden sollte, schien etwas erleichternd auf ihn zu wirken – im Uebrigen blieb er offenbar unempfindlich gegen Alles, was die Tochter zur Milderung von Egon's Schuld anzuführen wagte.

»So lange ich nicht weiß, wie schwer sein Verbrechen wiegt, so lange ist er mein Sohn nicht!« sagte er nur, und wie Clotilde auch ihre Hoffnung, ja ihre Zuversicht betonte, daß bald ein mildes Verzeihen und Vergessen jene Stunde bedecken werde – er schüttelte stets finster und schweigend den Kopf.

Der Eintritt des Dieners machte endlich dem traurigen Zwiegespräch ein Ende.

Er gab Clotilden ein Zeichen, das ihr sofort verrieth, er habe ihr etwas Besonderes mitzutheilen und erschreckend gewahrte sie sein verstörtes Gesicht.

Und als sie dann – den Vater hatte sie unter einem flüchtigen Vorwand verlassen – heraustrat, da wuchs ihr Erschrecken, denn sie sah draußen fremde Gesichter, eine Menge, und auf allen lag derselbe seltsame, unheilverkündende Ausdruck! – Man brauchte es ihr kaum erst zu sagen, sie wußte es jetzt selbst schon, daß man gekommen war, um sie vorzubereiten auf eine Kunde, ihr zu sagen, daß etwas Grauenhaftes, Entsetzliches geschehen war.

»Was ist es? sprecht es aus, um Gotteswillen!« stammelte sie mit bleichen Lippen. In der nächsten Secunde wußte sie es.

Egon, ihr Bruder, war in das Haus zurückgekehrt; aber er war herein getragen worden als ein todter Mann, als eine Leiche, die man draußen in dem Lusthölzchen, das an den Garten des Hauses stieß, mit zerschmettertem Kopfe gefunden hatte, das abgeschossene Pistol noch in der krampfhaft zusammengepreßten Hand. – Spaziergänger hatten dort im hellen Mondschein an einer offenen Stelle den Körper liegen sehen und durch ihr Rufen jene Anderen herbeigezogen, die da wußten, welchem Hause, welcher Familie er zu übergeben war.

Was aber die Thatsachen verriethen, das flüsterten sich Alle zu, die an die Stätte des Unglücks gekommen waren, und Alle, die von demselben hörten sagten es laut: »Der Mord ist nicht von fremder Hand verübt – die des Todten selbst hat ihn vollzogen!«

Und wenn Fremde dies sagten, halb in Entsetzen, halb in Theilnahme – drinnen im Hause des Todes, im dichtverhängten Gemach, wo ein Kranker lag, da murmelten es die Lippen eines alten, verzweifelnden Mannes: »Egon hat den Tod gesucht!« immer und immer wieder, und dazwischen klang es: »Ich habe ihm den Weg gewiesen!«

Und welche Trostesworte, welche Beschwichtigungen der Mund der weinenden Tochter versuchte, sie erstickten alle und alle in seinem und ihrem Jammer!

 

In allen Kreisen machte der Selbstmord des Lieutenants von Kalden natürlich großes Aufsehen, wenn es auch Viele gab, die jetzt erklärten, daß sie ihn einer desperaten Handlung schon seit längerer Zeit fähig gehalten hätten. Schilderten sie dabei namentlich das Benehmen in seinen letzten Tagen als ein seltsam aufgeregtes und unstätes, so fand diese Bemerkung ihre Bestätigung durch eine Aeußerung des Kalden'schen Rechtsanwalts. Derselbe sagte aus, daß Egon bei seiner letzten Anwesenheit in H. einen fast krankhaften Drang gezeigt habe, mit den Geschäften rasch fertig zu werden, wie es ihm selbst dann noch eine Weile ärgerlich gewesen, daß er abgereist sei, bevor die glückliche Erledigung der betreffenden Angelegenheit in allen Punkten habe festgestellt werden können. –

Es war nur zu klar: Egon hatte die That mit vollem Vorbedacht unternommen, sich dann aber in sein Ende förmlich hineingestürzt!

Wie man aber die Motive dieser That deutete, wie man über Egon's Neigung zum Spiel, zu gewagten Wetten und anderen sogenannten noblen Passionen sprach – es drang kaum zu den Ohren der Seinigen. Während die Welt über das Ereigniß verhandelte und es dann halb vergaß, lebten sie in der strengsten Abgeschiedenheit, in die kaum ein Laut von jener Welt hineindrang.

Clotilde hatte einen schwer kranken Mann zu pflegen, krank an Körper wie an Seele, denn der eine Tag hatte die Kraft des Freiherrn in der Wurzel gebrochen. War sein Bewußtsein auch nicht getrübt, so war er doch in ein vollständiges Brüten versunken, dem ihn alle Mühe der Tochter, ihre zärtlichste, liebevollste Sorge nicht mehr zu entreißen vermochte. Er sprach nicht länger über das Unglück oder die Schuld des Sohnes, er erhob keine lauten Anklagen mehr gegen Egon oder sich selbst, aber Clotilde erkannte und wußte es nur zu gut, daß all' sein Denken, Fühlen und Sinnen nur auf den einen Punkt gerichtet war!

Alle Theilnahmbeweise, jeden Einfluß, der etwa von außen versucht ward, wies er zurück, und wenn er überhaupt nur selten ein Wort äußerte, so war es noch seltener, daß er irgend einer Mittheilung, mochte sie nun absichtlich an ihn gerichtet sein, oder durch Zufall an ihn gelangen, ein Zeichen der Beachtung widmete.

Ein einziges Mal nur – es war einige Wochen nach Egon's Tode – geschah es, daß er Antheil, und sogar einen ziemlich erregten, zeigte, bei einer Veranlassung, die allerdings auch von der ganzen Umgebung als eine sehr betrübende anerkannt wurde. – Es war nämlich in seiner Gegenwart von einem Todesfall gesprochen worden, der ein junges Mädchen, eben jenes schöne Käthchen, die Tochter des Kalden'schen Försters, deren in dem Gespräch zwischen dem Freiherrn und Egon jüngst noch Erwähnung geschehen war, betroffen hatte. Da war er plötzlich aus seiner Lethargie aufgeschreckt und hatte gefragt, was die Ursache ihres Todes gewesen sei; auf die Entgegnung aber, es bleibe kaum zu bezweifeln, daß die Untreue ihres Verlobten, Rodewald, der sie schnöde und plötzlich verlassen, um in die weite Welt zu gehen, ihr das Herz gebrochen habe, war seine herbe Erwiederung gewesen:

»Dann sagt dem Förster von mir, daß es Väter giebt, die unglücklicher sind als er! Weiß er, was es heißt, sein Kind selbst in den Tod gejagt zu haben?«

Wochen und Monate vergingen in derselben öden Schwermuth für den Baron, in demselben trostlosen Einerlei für Clotilde, die mit dem Vater auf den Rath des Arztes längst die städtische Wohnung aufgegeben hatte und in die ländliche Einsamkeit des Gutes zurückgekehrt war, wo der Kranke von Störungen allerdings mehr gesichert werden konnte, wo aber kaum ein freundlicher Moment das schwere Amt der Pflege erleichterte. Dennoch litt Clotilde es nicht, daß man ihretwegen ein Zeichen des Bedauerns äußerte, und wies es entschieden zurück, wenn man etwa von ihr verlangte, sie solle sich mehr Schonung gönnen, die Pflege des Vaters wenigstens mit Anderen theilen.

»Hat mein Vater denn noch ein anderes Kind?« konnte sie fragen, »und darf ich vergessen, daß mir der Platz an seine Seite gewiesen ist?«

 

Und ähnlich wie diese Worte waren die anderen, welche sie zu Sonner sprach, als sie ihn zum ersten Mal nach Egon's Tode wiedersah. Es war in dem Zimmer, welches einst das der Mutter gewesen und dann ihrer Erinnerung geweiht geblieben war; dort hatte sie ihn empfangen, dort auch angehört, was er ihr zu sagen hatte.

»›Treu dem Stamm!‹ ist der alte Wahlspruch der Kalben. Einst lehnte ich mich gegen seine Bedeutung auf, seit dieser Stamm aber morsch und gebrochen ist, ist er mir heilig geworden. Ich kann, ich darf jetzt nichts anderes sein, als die Tochter eines alten, unglücklichen Mannes!«

Er hatte nicht widersprochen; er hatte nur ihre Hand an seine Lippen geführt und sie eine Weile stumm angeblickt, dann aber hatte er leise gesagt:

»Leben Sie wohl, Clotilde, so lange, bis Gott es fügt, daß wir uns wiedersehen!«

Darauf war er gegangen.

 

Das Nächste, was Clotilde von Sonner hörte, war, daß er sein ganzes Streben, seine volle Thätigkeit, einer Sache gewidmet hatte, die zu groß war, als daß persönliche Angelegenheiten, Freude und Kümmerniß des eigenen Herzens nicht vor ihr hätten zurücktreten sollen. Der Krieg mit einem großen Nachbarvolke war ausgebrochen, und wer selbst nicht zu den Fahnen eilen konnte, wer sein Blut dem Vaterlande nicht weihen durfte, der opferte ihm daheim sein Gut und seine Kräfte. Ein Funke von der allgemeinen Begeisterung war damals wol in jedes Herz gefallen, zu Denen aber, in deren Brust diese mit der edelsten Flamme glühte, die selbstvergessen waren in ihrer Hingebung, unermüdlich in ihrer Sorge, gehörte Sonner. Er stand an der Spitze des Vereins, welcher sich in seinem Wohnort wie in unzähligen anderen Städten für die Linderung der Kriegsschäden gebildet hatte; seine Thätigkeit aber erstreckte sich weit über das enge Gebiet der nächsten Umgebung hinaus, und es war eine der wenigen Freuden in Clotilden's trübem Leben, wenn sie von der Anerkennung hörte, die man allgemein seiner aufopfernden Thätigkeit zollte.

Nicht lange aber, so drang die Kunde zu ihr, daß Sonner das bisherige Feld derselben mit einem größern vertauscht habe: unter Beurlaubung von seinem richterlichen Amt war er nach dem Kriegsschauplatz geeilt, um dort in noch umfassenderer und tiefer eingreifender Weise wirksam zu sein – und im stillen Gebet für ihn wie für sich selbst falteten sich ihre Hände.

 

Und wieder vergingen Monate trübe und still und doch in beständiger nagender Sorge und Aufregung, die ihre Wangen bleich machte. –Da sollte ein Augenblick kommen, vor dem die ganze lange und bange Zeit schwinden mußte wie ein Hauch!

Ein Fremder, so meldete man ihr eines Tages, als sie am Ruhebette des Vaters saß, wünsche sie zu sprechen, und als sie hinaus und in das bezeichnete Zimmer trat, da stand der Mann vor ihr, den ihre Gedanken wachend und träumend nicht verlassen hatten.

»Albert!« schrie sie auf in freudigem Schreck, »Sie gesund wieder vor mir? – O, mein Gott, wie danke ich dir!« setzte sie murmelnd hinzu.

Ihre schmalen Hände ruhten in den seinen, ihre Blicke ruhten in denen, die sie innig und liebevoll anschaueten.

»Sie haben Schweres getragen – Schwereres vielleicht als ich,« sagte er nach einer Pause bewegt, »dennoch gilt meine erste Frage Ihrem Vater – wie ist sein Zustand?«

Sie schüttelte traurig den Kopf.

»Es ist kaum besser geworden, sein Gemüth ist trübe geblieben; nur seine Stimmung ist jetzt weich, aber gerade das ängstigt mich, denn ich meine, so wird die Seele, die sich vom Irdischen losringt.«

Sie suchte die Thränen zurückzudrängen, Sonner aber sagte rasch:

»Clotilde, ich muß Ihren Vater sehen – werden Sie ihn bewegen können, mich vor sich zu lassen?«

Sie sah ihn halberschrocken an.

»Er sieht nie einen Fremden, und – ich habe nie gewagt, Ihren Namen vor ihm auszusprechen!« fügte sie mit stockender Stimme hinzu.

»Nennen Sie auch jetzt diesen Namen nicht,« entgegnete er. »Sagen Sie ihm, ein Fremder brächte ihm das letzte Wort eines Sterbenden! Vertrauen Sie mir,« bat er, als er ihren angstvollen Blick bemerkte: »Niemand als ich kann dies Wort ihm sagen, und doch hilft es vielleicht seinem Gemüth zum Frieden.«

Clotilde wagte keine weitere Einrede und ging in das Zimmer, aus dem sie getreten war, zurück, um gleich darauf mit der Antwort wiederzukehren:

»Ich that, wie Sie verlangten; der Vater ist bereit, die Mittheilung zu hören.«

Dann ließ sie die Schwelle frei – mit ihm zugleich vor den Vater zu treten, vermochte sie nicht.

 

Das Gemach, in welches Sonner trat, war halb verdunkelt, und so währte es einige Secunden, ehe er die Züge des kranken Mannes genau unterscheiden konnte, dann aber empfand er den Anblick im innersten Herzen; er wußte in diesem Augenblick, daß die Tage, vielleicht die Stunden des Freiherrn gezählt waren!

In demselben Moment aber wußte auch der Alte, wer vor ihm stand. Eine Blutwelle stieg bis unter das weiße Haar hinauf, und er machte eine Bewegung, als ob er sich mit seiner letzten Kraft aufrichten wollte, aber seine Ohnmacht bewältigte ihn, daß er in seinen Sitz zurücksank

»Einen Fremden sollte ich sehen« – murmelte er – »wer weiß all' das Entsetzliche so wie dieser!«

Sonner war ehrerbietig dicht an das Lager des Freiherrn getreten, und als wenn er die letzten Worte nicht gehört hätte, sagte er mit seiner tiefen, weichen Stimme:

»Lassen Sie es gelten, Herr von Kalden, daß ich vor Sie trete, als hätten wir uns nie gesehen, daß ich zu Ihnen rede, als reichte keine gemeinsame Erinnerung an irgend eine Stunde Ihres und meines Lebens zurück! – Ich stehe hier vor Ihnen mit einer Botschaft von einem Todten – darum bitte ich Sie, stimmen Sie Ihr Herz zur Milde, denn es handelt sich um eine Vergebung!«

»Vergeben? ich soll vergeben?« entgegnete der Alte, welcher sich inzwischen gesammelt hatte, »ist das nicht seltsam? – Aber reden Sie!«

»Als ich drüben im fremden Lande weilte,« begann Sonner mit klarem, ruhigem Ton, »und es mein Amt war, den Verwundeten und Kranken beizustehen, die Sterbenden, wenn es sein konnte, zu trösten, hat mir mancher Mund sein heiligstes Geheimniß anvertraut, oder mir auch mit dem letzten Hauch gebeichtet gleich einem Priester, und so habe ich manches Vermächtniß empfangen, das ich zu erfüllen gelobte.

Einmal in einem Lazareth – es war kurz nach einer der blutigsten Schlachten – wurde ich zu einem Sterbenden geführt, von dem man mir sagte, daß er sich durch eine beispiellose, aber geradezu verwegene Tapferkeit ausgezeichnet habe. Ich fand ihn gräßlich verstümmelt auf seinem Lager – seine Qualen mußten furchtbar sein, dennoch ertrug er sie ohne Jammern und Stöhnen.

Als ich zu ihm trat, nannte er mich bei meinem Namen und sagte mir, da ich ihn nicht kannte, den seinigen: er hieß Rodewald.«

»Rodewald, mein früherer Verwalter?« rief der Freiherr mit einem Anflug von Theilnahme.

»Derselbe!« entgegnete Sonner nun, und fuhr dann fort: »Als ich ihm mein Mitleid zeigte, lachte er kurz und wild auf und sagte: ›O, wenn es nur die Stümpfe wären, die schmerzten‹ – ein Arm und ein Bein waren ihm von einer Granate weggerissen worden – ›so ließe sich's aushalten! Aber hier sitzt es, hier!‹ und damit faßte er wüthend nach seiner Brust und schüttelte sie.

Ich merkte bald, daß den Armen ein Geheimniß, eine Schuld drückte, und sprach daher in anderer Weise mit ihm, als bisher; und so kam's, daß er mich an seinem Lager festhielt und mir endlich gestand, was ihm das Sterben schwer machte.

»Wie aber mein Ohr seine Worte vernahm, so ist es mein Mund, der sie Ihnen bringt, denn Ihnen, Herr Baron, gehört die Beichte des Sterbenden.«

»Mir?« flüsterte der Freiherr und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, daß Rodewald je unehrlich gewesen ist. Seine Rechnungen stimmten stets auf das Genaueste. Ich war nie unzufrieden mit ihm, als da er so rasch und rücksichtslos seine Stelle verließ.«

»Wir kommen damit zu dem Ernst – lassen Sie mich sagen, dem furchtbaren Ernst der Sache!« entgegnete Sonner. – »Von niedriger Gesinnung war Rodewald jedenfalls nicht – eine Veruntreuung lag nicht auf seinem Gewissen, wol aber eine schwere That, zu der ihn wüthender Haß hingerissen hatte.«

Die Augen des Kranken hefteten sich fragend auf den Erzähler.

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte er matt; »wen konnte Rodewald hassen?«

»Einen Mann, der ihm die Liebe eines Mädchens geraubt hatte,« erwiederte Sonner. »Lassen Sie mich kurz sein, Herr Baron!

Jener Rodewald war von einer leidenschaftlichen Liebe zu einem schönen, jungen Mädchen, der Tochter Ihres Försters erfüllt, und sie ward seine Braut. Sein Glück war aber von kurzer Dauer; er entdeckte, daß er einen Nebenbuhler in ihrer Gunst habe – seine treue Liebe sah er verschmäht und verrathen! – Ich habe ihn in seinen letzten Stunden über seine Empfindungen sprechen hören und vermag mir daher vorzustellen, wie sie zu jener Zeit in ihm gewüthet haben – er selbst sagte, es habe ein Höllengeist in seiner Brust gewohnt, und von dem sei ihm eingegeben worden, was er thun solle. – ›Ich mußte, ich wollte den Mörder meines Glücks vor meiner Kugel haben‹, sagte er, ›aber als ich ihn forderte, verlachte er mich – er war der Herr, ich der Diener ich sah es, ich mußte andere Wege gehen!‹«

Der Freiherr zuckte zusammen. »Weiter, weiter!« preßte er krampfhaft hervor.

Sonner stockte einen Augenblick.

»Herr Baron, in diesen Tagen unseligen Leidens führte ein unglücklicher Zufall Rodewald zur Stelle, als ein verhängnißvoller Augenblick die Sinne eines Andern verwirrte, daß er etwas that, was er nimmer gewollt hatte. – Rodewald war der Einzige, der den Fliehenden erkannte – der Haß sieht scharf! – Wenn er schwieg, so war es, weil sein Geheimniß der Rache dienen sollte. – Am Tage daraus erhielt sein Feind einen Brief von ihm, der ihm die Wahl ließ, entweder das Brandmal der Unehre zu tragen, das er ihm ohne Bedenken und ohne Gnade anheften würde vor der Welt, oder sich mit ihm zu schießen in der nämlichen Stunde noch – draußen im Walde – ohne Zeugen.

Das furchtbare Duell ward angenommen. – Beim Licht des Mondes traf man sich. Die Sache wurde kurz besprochen – die Schüsse sollten zugleich fallen – dann standen die beiden Feinde sich auf sechs Schritte gegenüber.«

Sonner hielt mitleidig inne. Jedes Glied des Freiherrn bebte wie vom Fieber geschüttelt, das Gesicht war von seinen Händen bedeckt.

»Das Ende!« murmelte er, kaum noch vernehmlich, »das Ende!«

»Herr Baron,« fuhr Sonner fort, »der Eine lag eine Sekunde später in seinem Blut; der Andere war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben, aber wie von dem bösen Geist, der ihn bisher besessen hatte, verfolgt, floh er von dannen.

Er blieb unstät, obgleich kein Verdacht ihn traf, seine Spur nicht verfolgt ward, bis der Krieg ausbrach. – Fand er dann eine kurze Zeit Vergessenheit – auf dem Sterbebette erwachte die Erinnerung auf's Neue mit aller Kraft und zugleich sein Gewissen, auf dem die That wie ein Mord lastete.«

»O, o!« stöhnte der Freiherr, »so lag sie auf meiner Seele, Stunden und Tage und Monate hindurch!«

Sonner schwieg einige Minuten, um die erste Erschütterung des alten Mannes ausklingen zu lassen, dann fuhr er mit leiser Stimme fort:

»Menschlichem Urtheil und Empfinden nach hat Rodewald seine Schuld schwer genug gebüßt durch seine Reue, die ihn zu überwältigen drohte, als er Thatsachen erfuhr, die er vorher nicht gekannt hatte, die ihn aber seinen Feind milder beurtheilen lehrten. Nicht nach ihm hatte derselbe die Liebe des schönen Käthchen's gewonnen; das Herz des armen Kindes hatte ihm vielmehr einzig gehört, schon seit Jahren, und nur der Vater war zwischen die thörichte Neigung seiner Tochter und des vornehmen Cavaliers getreten, indem er die Erstere gezwungen hatte, dem Verwalter, der nichts von dem Verhältniß ahnte, ihre Hand zu geben. Hat der Förster aber eine kurze Zeit glauben dürfen, das Mädchen zur Vernunft gebracht zu haben, so ist der Wahn bald auf die traurigste Weise zu Schanden geworden. Ein Wiedersehen, ein zürnendes Wort des Geliebten, der Käthchen natürlich dem Verwalter nicht gönnte, hat genügt, um die alte Leidenschaft neu zu entflammen und sie auch dem schmählich getäuschten Verlobten zu offenbaren. Die Folge war der Bruch des Verhältnisses und – die weitere Entwickelung des Trauerspiels, in welches auch das Schicksal jenes unglücklichen Mädchens verflochten war – sie hat den Geliebten nicht zu überleben vermocht.«

»Ich darf sie nicht bedauern!« flüsterte der Freiherr, »ihr mag wohl sein!«

Einen Augenblick noch hielt Sonner inne, dann aber sagte er:

»Und welches Wort haben Sie für den unseligen Mann, der sich zu Ihren Füßen hingeschleppt haben würde, um sich dort Vergebung zu erflehen, wenn der Tod ihn nicht gehindert hätte? In dem Augenblick noch, als er vor seinen ewigen Richter treten sollte, dachte er an den Einen, den er als seinen obersten Richter auf Erden erkannte, und in seine erkaltende Hand habe ich ihm verheißen, daß ich statt seiner vor dem Vater des Mannes stehen wollte, der durch seine Hand fiel.«

Zwei Arme legten sich in diesem Augenblick um den Nacken des Freiherrn. Leise war Clotilde herangekommen und mit thränenüberströmtem Gesicht beugte sie sich zu ihm hinab:

»Ich habe Alles angehört,« flüsterte sie – »ich fühlte, daß ich es durfte. Und nun, Vater, vergieb ihm die Schuld, die Du vergeben kannst, damit auch Dir, damit allen Schuldigern vergeben werde!«

Einige Secunden lang blieb Alles still; dann aber hörte man die zitternde Stimme des Freiherrn:

»Mein einziger Sohn ist durch ihn getödtet – aber ich darf ihm nicht fluchen, wie ich mir geflucht habe – – er mag in Frieden ruhen!«

»Amen!« sagte Sonner erschüttert

Der Alte lehnte das Haupt zurück, während Clotilde an seinen Knieen niedersank und seine Hände mit ihren Küssen und Thränen bedeckte. – Eine Weile lag er still und mit geschlossenen Augen; dann öffnete er diese weit und sah um sich her, aber sein Blick, der Ausdruck seiner Züge war verändert; es war, als hätten die wenigen Minuten zu einer Verklärung genügt.

»Vergeben« – lispelten seine Lippen, »Alles ist vergeben, auch zwischen Egon und mir; – versöhnt wir Beide durch Den, der edler war als wir.«

Mit einem stummen Winke streckte er die Hand aus – Sonner legte die seinige hinein.

»Sie haben unsere Ehre gerettet – meine letzte Ruhe bereitet; aller Wahn hört auf – mein Segen – –«; die Worte brachen ab; er konnte nicht weiter sprechen – und auch die Hände, die er erhoben hatte, als sollten sie zwei Häupter berühren, gehorchten nicht mehr seinem Willen – sie sanken herab.

»Vater, Vater! – Albert, um Gotteswillen, was ist das?« fragte Clotilde angstvoll und beugte sich über die zusammensinkende Gestalt.

Sonner lehnte den Greis sanft zurück und schloß ihm die Augen.

»Er hat vollendet!« sagte er leise.

»So danke ich dir mein Gott im Himmels,« rief Clotilde unter Thränen, indem sie auf die Kniee sank, »daß Du ihm zuvor Deinen Friedenshauch sandtest!«

Sonner aber umfaßte die Weinende und hob sie zu sich empor.

»Deines Vaters letztes Wort, Clotilde, legt Dich an meine Brust, ich fühle, ich weiß es – dort ist fortan Deine Stätte!«

 


 


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