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In der duftigen Fliederlaube des Pfarrgartens saßen zwei junge, glückliche Menschen beisammen. Wer sie so gesehen hätte, ihn, den hochgewachsenen Jüngling mit dem weichen, freundlichen Gesicht, den tiefblauen, innigem fast schwärmerisch blickenden Augen und sie, das eben aufgeblühte Mädchen, das vor Lust und Leben förmlich strahlte, würde wol kaum etwas Anderes gedacht haben, als daß Beide ein Paar wären und ein selten schönes dazu. Und die Worte, welche gerade jetzt von den Lippen des holden Kindes kamen und denen der junge Mann mit solchem Entzücken lauschte, hätten dieser Annahme kaum widersprochen, denn es waren Worte der Liebe in ihrer tiefsten, vollsten Bedeutung.

Dennoch wäre die Voraussetzung, daß das achtzehnjährige Herz bereits die Leidenschaft kannte, von welcher der Mund redete, eine irrige gewesen; nicht etwa das eigene Empfinden war durch eine süße, unwiderstehliche Macht hervorgerufen worden, ihre Phantasie hatte sich nur entzündet an dem Geist unsterblicher Dichtung; Julia's Liebeswonne war es, deren Zauber sie umstrickte, daß sie Alles um sich her vergaß, vielleicht sogar den jungen Mann an ihrer Seite, dessen Augen auf ihren lieblichen Zügen ruhten, während sein Ohr jeden Laut ihrer melodischen Stimme zu trinken schien.

Auf seine Bitte hatte sie das Buch genommen, um ihm vorzulesen Es lag auf ihren Knieen; sie hatte sich darüber gebeugt und deshalb lange nicht bemerkt, daß seine Aufmerksamkeit mehr auf sie gerichtet war als auf die Dichtung, die sie so ganz erfüllte. Endlich aber machte sie im Lesen eine Pause, sah zu ihm auf und rief mit glücklichem Lächeln:

»Ach, Clemens, Du Guter, Lieber, wie herrlich, daß durch Dich so viel Schönes über mich gekommen ist!«

»Durch mich?« fragte er.

»Nun ja, Dein Vater hatte all' die wundervollen Bücher in die Acht gethan und verwahrte sie vor mir und meinen Bitten hinter Schloß und Riegel; nun kommst Du und wie ein freundlicher Zauberer giebst Du mir den Schatz zurück.«

»Also mein Vater wehrte Dir das Lesen, Gabriele?« fragte der junge Mann, anscheinend etwas betroffen durch die Entdeckung, daß er Etwas begünstigte, dem sein Vater entgegen war; »aber warum?«

»Ei, er behauptete, die Bücher – ich meine die schönen, Clemens, die Einem das Herz aufjubeln lassen – verdürben die Phantasie so junger Mädchen! Ich sollte dafür seine alten Hauspostillen lesen – und muß doch gähnen, wenn ich nur an sie denke!«

»So hast Du meinem Vater nie vorgelesen?« fragte Clemens.

»O ja, an Sonntagnachmittagen – Klopstocks Messias. Es war langweilig zum Sterben, Clemens! Da hieß es nicht

›O, Romeo, leg' Deinen Namen ab,
Und für den Namen, der Dein Selbst nicht ist,
Nimm meines ganz!‹

sondern:

›Samma stieg indeß von seinem Felsen hernieder,
Also entfloh von dem hohen Euphrates Nebukadnezar!‹«

Sie hatte die ersten Verse mit dem vollen Schmelz der Stimme, die letzten dagegen mit hartem, polterndem Accent gesprochen und fügte nun lachend hinzu:

»Ist's nicht gerade, als ob der Dichter immer die Melodie auf seinen eigenen Namen machte? Klop–stock! Klop–stock! Das klingt genau, als wenn unser Nachbar Schmied seinen Hammer auf den Ambos fallen ließe!«

»Aber Gabriele,« mahnte Clemens etwas ernst, »Du urtheilst rasch und sprichst wie ein Kind – das Du freilich auch noch bist,« schaltete er mit einem begütigenden Lächeln ein, indem er dabei leise seine Hand über ihren dunklen Scheitel gleiten ließ: »Du vermagst die Erhabenheit der Klopstock'schen Muse noch nicht zu verstehen!«

Sie legte in komischem Erschrecken die Hand auf seine Lippen:

»Ach bitte, lieber, guter Clemens: jetzt nicht predigen! Ich meine sonst, vor Deinem Vater zu stehen, der es mir deutlich genug sagt, daß ich viel zu oberflächlich und leichtfertig sei, um Klopstock würdigen zu können! – Weißt Du, Clemens,« setzte sie plötzlich hinzu, als werde sie von ihrem eigenen Einfall überrascht, »ich entdecke jetzt die Verwandtschaft, die Dein Vater mit seinem Lieblingsdichter hat, ihre Namen sind ja fast dieselben: Hartmann klingt genau wie Klopstock!«

Sie stieß die Silben wieder kurz abgebrochen hervor und lachte dabei herzlich über ihre Entdeckung. Der junge Mann dagegen fühlte sich nicht angenehm dadurch berührt, daß sie seinen Vater zum Gegenstand eines Scherzes machte und sagte in halb verweisendem Tone:

»Denke nur immer daran, daß mein Vater noch einen zweiten Namen trägt und diesen seine Richtschnur sein läßt: Lebrecht!«

»Aber das ist ja ganz dasselbe!« lachte das junge Mädchen in seinem Uebermuth hellauf: »Hartmann – Klopstock – Lebrecht – das paßt genau auf einander!«

Clemens war jetzt wirklich etwas gereizt. »Nun, Gabriele, wenn Du nicht von dem Spott lassen kannst, so will auch ich ihn tragen, denn Du weißt ja, daß mein Name der meines Vaters ist.«

»O,« rief sie, »mit Dir ist's ein Anderes: Du bist für mich immer nur der Clemens und das klingt doch, als wenn Musik dabei wäre!«

Sie wiederholte den Namen einmal über's andere mit stets wechselnder Modulation, aber mit so hinreißend lieblichem Ausdruck, daß es für den jungen Mann unmöglich war, der kleinen Zauberin noch länger zu zürnen: er lächelte wieder.

Rasch faßte sie seine beiden Hände, sah ihm freundlich und schelmisch in's Gesicht und sagte: »Nun bist Du mir wieder gut, nicht wahr, Lieber?«

»Ich bin Dir nicht böse, Gabriele, aber es schmerzt mich, daß Du meinen Vater nicht liebst!«

»Wer sagt das?« fragte sie rasch und mit plötzlichem Ernst. »Glaubst Du, wenn ich bisweilen das Scherzen nicht lassen kann, ich hätte darum kein Herz und wüßte nicht, wie gut er ist – wie gut im Grunde auch gegen mich?« fügte sie etwas stockend hinzu. »Sieh, Clemens, ich habe es nicht vergessen, daß meine arme Mutter, als sie auf dem Todtenbette lag und mich als zehnjähriges Kind zurücklassen mußte, zu mir sagte, es wäre nun Niemand auf der Welt, der für mich sorgen würde, wenn es nicht ein Einziger thäte, den sie darum angefleht hätte – und da nannte sie mir den Namen Deines Vaters und befahl mir, stets Alles zu thun, was er wollte, denn sie habe erkannt, daß er der beste von allen Menschen sei, die sie im Leben gekannt. – Und als sie todt war, kam ich in Euer Haus; der Vater sagte, daß ich jetzt seine Tochter sei und unterrichtete mich selbst; und ich wußte recht wohl, daß er es gut mit mir meinte, wenn er auch streng war und es hat mir auch eigentlich nichts bei ihm gefehlt als – nun ja, als daß Du nicht immer da sein konntest, Clemens! Ich merkte das erst recht, wenn Du von der Universität nach Hause kamst und dann Alles so ganz anders bei uns wurde: so hell und so fröhlich! Sonst – das sage ich mir bisweilen – ist's doch gar so still und ernst in dem Pfarrhause. Früher hatte ich noch die Tante, des Vaters Cousine, mit der ich plaudern konnte und die auch meistens Sinn für meine Scherze und Anschläge hatte, aber seit sie so kränklich wurde und in die Stadt zog und der Vater meinte, ich müsse dem Hauswesen nun schon allein vorstehen können, ist's hier sehr einsam geworden und es vergehen oft ganze Wochen, ohne daß ich mit einem andern Menschen als dem Vater, der mich dann noch oft wegen meiner Ausgelassenheit tadelt, oder der alten, mürrischen Liese – wir Drei sind ja die einzigen Bewohner des Pfarrhauses – ein Wort sprechen kann. Da schaue ich denn oft verlangend aus, ob nicht etwa der alte Bote kommen will, der wöchentlich nach der Stadt geht, nur um die Antworten zu hören, die er mir auf meine Commissionen zu bringen hat und die er stets mit einem ›scheenen Kumbelment‹ von den Schlachtern und Krämern begleitet, oder die lahme Guste, welche die mit der Post gekommenen Zeitungen herumträgt. Ich lese diese zwar nicht, aber es unterhält mich doch, wenn mir die Alte hüstelnd entgegenruft: ›Nun, hat's Frölen geschlafen – uch! uch! uch! – und wissen's schon, daß des Schmieds Jochen beim Schulmeister hat Aepfel stehlen wollen – uch! uch! uch! – und dabei in die Kalkgrube gefallen ist, daß das neue Wamms ein großes Loch 'kriegt hat, auf dem der Bakel des Schulmeisters dann noch tüchtig getanzt?‹«

Sie war in ihrer Lebendigkeit aufgesprungen und hatte, vielleicht ohne daß sie es selbst wußte, die Gesten und Geberden des Stadtboten, so wie den Ton der lahmen Guste nachgeahmt, aber so natürlich, daß es Clemens unmöglich war, eine Anwandlung von Heiterkeit zu unterdrücken, wenn er sich auch im nächsten Augenblick mit Bedauern sagen mußte, daß eine geheime Klage in den Worten Gabriele's läge und – daß ihr das Recht zu derselben nicht fehle. Es war so, genau so, wie sie Alles beschrieb: das Pfarrhaus still und öde, das Dorf, an dessen Ausgang es lag, meistens von armen, ungebildeten Menschen bewohnt, die dem jungen Mädchen durchaus keinen Verkehr boten und sein Vater – ein Ehrenmann in der vollsten Bedeutung des Worts, aber karg im Reden und von sehr ernstem, vielfach sogar strengem Sinn; woher sollte da für ein junges, lebensfrisches Geschöpf Das kommen, was seinen fröhlichen Neigungen entsprach?

»Wir wollen jetzt miteinander versuchen, Gabriele,« sagte er in tröstendem Ton, »ob sich in dem alten Hause nicht recht froh und glücklich sein läßt! – Was an mir liegt, soll geschehen, damit Deine Jugend ihr Recht gewinnt,« setzte er gutmüthig hinzu. »Da mein junger Baron mit seinen Eltern auf Reisen gegangen ist, hat der Lehrer auf unbestimmte Zeit Ferien und bis ich auf jenen Posten zurückkehre, denke ich hier zu bleiben und meinen Vater, der, wie Du weißt, in der letzten Zeit etwas kränklich war, in seinem Predigtamt zu unterstützen.«

Sie sah in heller Freude zu ihm auf und klatschte in die kleinen Hände:

»Ja, und wenn das Predigen vorbei ist und ich mich auch um die Wirthschaft drinnen, das Kochen, Plätten, Reinmachen und all' das langweilige Zeug nicht zu bekümmern brauche, sitzen wir wie jetzt miteinander in der Laube und lassen unseren lieben, herrlichen Dichtern das Wort! Clemens – die verstehen das Herz doch noch anders zu packen als Du und Dein Vater –,« schaltete sie mit einem schelmischen Seitenblinzeln ein – »oder wir denken uns etwas besonders Köstliches aus, das wir vornehmen wollen!«

Es war ihm unmöglich, sie in ihrer harmlosen Freude zu stören, vielmehr fühlte er sich gedrungen, ihr noch eine andere lockende Aussicht auf Unterbrechung des einförmigen Lebens zu eröffnen, indem er sagte:

»Und einen Gast werden wir nächstens auch im Hause haben, Gabriele, der uns Allen Unterhaltung verspricht.«

Ein Gast im Pfarrhause! Das war etwas so Ungewohntes, daß sie gespannt und verwundert zu ihm aufsah.

»Der Baron Felix von Goerben, mein Freund, wird in den nächsten Tagen zum Besuch hier eintreffen und ich hoffe, daß es uns gelingen wird, ihn einige Zeit bei uns festzuhalten.«

»Felix von Goerben!« wiederholte sie in einem Ton, der wie ein halbes Erschrecken klang.

Ihm entging das letztere, eben so die helle Röthe, welche einen Moment über ihre Wangen geflogen war und er fuhr eifrig fort:

»Nun, Du mußt Dich seiner erinnern, denn er war schon einmal zu Anfang unserer Universitätszeit, vor ungefähr sieben Jahren, mit mir zum Ferienbesuch hier.«

»Ja, ich weiß es noch recht wohl!« sagte sie und jetzt mußte ihm der Ton befremden, der so auffallend von ihrer frühern Munterkeit abstach.

»Wie, hast Du etwas gegen ihn oder sein Kommen?« fragte er.

Sie nestelte etwas verlegen an ihren Schürzenbändern und sagte dann:

»Ich muß noch daran denken, daß ich mich einmal bis auf's Blut vor ihm geschämt habe.«

»Du?« fragte er verwundert, »aber Du warst ja damals noch ein völliges Kind!«

»Wenn auch! es ist mir darum doch, als wäre es erst heute gewesen und ich weiß noch, daß mir war, als sollte ich an seinem Hohn ersticken.«

»Aber so erzähle doch!« drängte er.

»Weißt Du, Clemens,« begann sie, »ich hatte damals eine Schaar Bauernkinder um mich, die wol ziemlich dumm waren, die mir aber doch helfen konnten, Komödien aufzuführen. Wir spielten nämlich die Märchen nach, die ich in meinen Büchern – ich hatte sie noch von meiner Mama bekommen – gelesen hatte: Aschenbrödel, Schneewittchen und wie sie alle hießen. Ob wir unsere Sachen gut oder schlecht machten, weiß ich nicht, denn es war kein Mensch da, der zusah und es uns gesagt hätte; aber wir waren Alle sehr vergnügt und glücklich dabei und es waren meine besten Stunden, wenn wir in die alte Scheune schlüpfen konnten, wo wir unser Theater eingerichtet hatten. Es wußte Anfangs kein Mensch darum, aber da wollte es das Unglück, daß Ihr Beide, Du und Dein Freund, hinter die Heimlichkeit kamet und uns belauschtet als wir den König Blaubart – es war unser beliebtestes Stück – aufführten. Wir waren fast schon zu Ende, da – nein, Clemens, ich vergesse nie unsern Schrecken, als Ihr plötzlich unter uns tratet und damit der ganzen Geschichte ein Ende machtet! Ich lag gerade vor Blaubart, meinem strengen Gemal, auf den Knieen und flehte ihn um mein Leben, aber er kam mir längst nicht so grausam vor wie Ihr, wenigstens wie Dein Freund, denn Du sprachst doch schnell wieder begütigende Worte, während er fortwährend so unbarmherzig über uns lachte, daß er sich die Seiten halten mußte.«

Sie hatte in Clemens die volle Erinnerung an die Scene geweckt und damit einen heitern Ausdruck in seinen Zügen hervorgerufen.

»Nun, Gabriele, für dies Lachen darfst Du uns nach so langen Jahren nicht mehr böse sein und gewiß würdest Du jetzt selbst mitlachen, wenn Du Alles so vor Dir hättest wie wir es sahen! – Wir hatten durch ein Guckloch Euer Spiel eine Weile verstohlen betrachtet und ich kann Dir jetzt noch sagen, daß Du Deine Sache recht brav machtest und das Entsetzen bei der Entdeckung von Blaubart's Mordthaten sehr gut zur Erscheinung brachtest. Auch die Todesangst, mit der Du die nach Rettung ausschauende Schwester fragtest, ob sie noch die Brüder nicht kommen sähe, war natürlich und herzbewegend. Felix flüsterte mir zu: ›Rasch, laß uns die Brüder vorstellen und im richtigen Moment hervorbrechen!‹ Der Moment kam, vorher aber noch kam Blaubart: mit Gepolter stürzte er hinter einer alten Tonne hervor und – nein, Gabriele, es war nicht anders möglich: als Du mit dem Ausruf vor ihm niedersankst: ›Blaubart, mein Gatte, Dein Anblick ist fürchterlich!‹ verließ uns unsere Fassung! Stelle Dir doch nur noch einmal diesen Blaubart vor – –«

»Es war des Töpfers Hans!« sagte sie und lachte jetzt ebenfalls.

»Wir hatten ihn in einen alten, grauen Fenstervorhang gehüllt und meinten, er stäke darin wie in einer Rüstung; quer über hatte er ein Tuch geschlungen, das seine Mutter Sonntags zu tragen pflegte; das stellte die Schärpe vor –«

»Und das Schönste von Allem,« sagte Clemens, »der ungeheure Bart –«

»Er hatte ihn sich mit Waschblau, das er ebenfalls seiner Mutter weggenommen hatte, gemalt,« fiel Gabriele in voller Fröhlichkeit ein; »er war vollkommen himmelblau und reichte bis an die Stirn hinauf und dann wieder bis an beide Ohren, aber Hans behauptete, das müßte so sein und wenn er sich den Bart nicht malen dürfte wie er wollte, spiele er gar nicht mit. So ließen wir ihn denn gewähren und er zog dann noch die Haare bis zur Nase hernieder, weil das grimmig aussähe.«

Die Vorstellung überwältigte die jungen Leute einen Augenblick mit ihrer Komik; dann aber ward Gabriele wieder ernster und sagte:

»Es folgte aber doch viel Trauer aus dem Spaß und Euer Hohn war noch lange nicht das Schlimmste bei der Sache, denn das Geheimniß war durch Euch einmal verrathen und da war's denn bald mit der ganzen Herrlichkeit vorbei. Dein Vater machte ein verdrießliches Gesicht und erklärte, ich solle die Possen lassen, die zu nichts Gutem führten und – ja, Clemens, mein Bühnenleben ward mit Thränen beschlossen!«

»Die möchte ich Dir freilich beinahe heute noch abbitten!« sagte er mit einem freundlichen Blick, »und ganz gewiß würde Felix dies thun, wenn er die Folgen unserer Rücksichtslosigkeit kennte und sich dabei bittere Vorwürfe machen, daß er je im Leben gegen das Interesse der Schauspielkunst gesündigt hat, denn er ist seitdem ihr leidenschaftlicher Verehrer geworden.«

»Wirklich?« sagte sie und sah mit einem Blick zu Clemens auf, der verrieth, wie angenehm sie diese Bemerkung berührte. »Erzähle mir mehr von Deinem Freunde!« bat sie dann rasch, «damit ich weiß, welche Vorstellung ich mir von ihm machen darf.«

»Nun,« sagte er lächelnd, »ich versprach Dir schon, daß Du Unterhaltung durch ihn haben würdest, denn er ist ein warmer Bewunderer alles Schönen, begeistert für die Werke der Dichter – kurz, ein Mann, der wie Du voll enthusiastischer Neigungen steckt und von dem Du Dir daher alle Nachsicht und selbst Theilnahme für Deine kleinen und großen Schwärmereien versprechen darfst, während ich doch mitunter als der strenge Mahner auftrete.«

»Nein, nein, nicht streng!« unterbrach sie ihn eifrig; »Du bist so grenzenlos gut, Clemens, so gut, daß es mich manchmal drückt und beschämt und ich nicht weiß, wie ich Dir für Alles genug danken soll!«

Er beugte sich rasch vor, als wolle er Etwas erwiedern, bekämpfte dann aber eben so rasch die aufsteigende Bewegung und sagte nun:

»Also wieder zu meinem Freunde, von dem ich Dir nur noch sagen will, daß er die feinste Bildung seines Standes besitzt und zum Theil macht es diese, mehr aber noch das warme Herz, welches er in der Brust trägt und auf dem auch unsere Freundschaft beruht, daß sich so überaus frei und leicht mit ihm verkehren läßt und man im Umgang mit ihm vergißt, wie hoch seine gesellschaftliche Stellung über der eigenen ist. Seine Familie ist nämlich eine der ersten und begütertsten des Landes und er genießt bereits alle Vortheile des Besitzes, da sein Vater früh gestorben ist und die Mutter nur bis zu seiner kürzlich erreichten Volljährigkeit die Güter verwaltet hat.«

»Hat nicht schon Dein Vater in Beziehungen zu dem seinigen gestanden?« fragte Gabriele.

»Ja; er war sein Lehrer und später sein Freund. Aeußerlich ist er indessen stets unabhängig von dem Baron und seiner Familie geblieben und hat selbst keine Stelle auf den Goerben'schen Gütern, deren beste ihm offen gestanden hätte, angenommen, indem er es vorzog, Pfarrer der Gemeinde zu werden, in der schon sein Vater und Großvater als Seelenhirten gewirkt haben.«

Gabriele hatte sich zurückgelehnt und ihr Auge sinnend über das alte, etwas unfreundliche Gemäuer gleiten lassen. –

»Also drei Generationen haben hier von Anfang bis zu Ende fortgedauert! Ich glaube doch, ich wäre dreimal gestorben, wenn's immer dasselbe Einerlei geblieben wäre!«

Es lief ein Schatten über das schöne Gesicht des jungen Mannes und indem er leise ihre Hand faßte und an sich zog, öffnete er die Lippen, um Etwas zu sagen. In dem Augenblick aber rief eine etwas strenge Stimme den Namen »Gabriele!« und aufblickend sahen Beide die Gestalt eines Mannes vom Hause her auf sich zukommen.

Es war der alte Pastor Hartmann – und ehe sie sich erheben konnten, um ihm entgegenzugehen, stand er schon vor ihnen und wandte sich an das junge Mädchen:

»Du hast meinen Auftrag vergessen, Gabriele, in das Haus des Schäfertoni den Wein zu schicken, welchen ich der kranken Frau zur Stärkung versprochen hatte. Es wird jetzt vom Dorf danach geschickt. Beeile Dich, Deine Nachlässigkeit gut zu machen und entschuldige sie vor den Leuten!«

Gabriele's Wangen waren in einem Nu wie mit Blut übergossen worden; verwirrt stammelte sie eine Bitte um Vergebung und flog dann in's Haus, um die Versäumniß zu sühnen.

Der Vater ließ seine Augen über das Buch gleiten, aus dem Gabriele zuerst gelesen hatte und das noch auf dem Tische lag; dann sagte er zu seinem Sohne:

»Ich kann es kaum gut heißen, Clemens, daß Du dem Mädchen Vorschub leistest in ihren Träumereien und phantastischen Gelüsten; sie soll für's Leben erzogen werden und das verlangt etwas Anderes.«

»Aber sie ist noch so jung, Vater!« wagte Clemens einzureden.

»Eben darum!« schnitt der Alte kurz ab – »gerade die Jugend giebt dem Menschen die Richtung.«

Wußte Clemens, daß sein Vater keinen Widerspruch liebte, oder zog er aus einem andern Grunde vor, zu schweigen – genug, er sagte kein weiteres Wort, als er mit dem alten Mann in's Haus zurückkehrte.

 

Der nächste Tag schon brachte den Besuch des Barons Felix, dessen äußere Erscheinung mit der Beschreibung, die Clemens von ihm gemacht hatte, harmonirte: er war vornehin und elegant, ohne das geringste Standesbewußtsein herauszukehren und wenn seine Züge nicht entschieden regelmäßig genannt werden konnten – »Clemens ist viel schöner!« sagte sich Gabriele im Stillen – so fesselten sie doch auf der Stelle durch ihren geistigen Ausdruck.

Clemens empfing den Freund mit offener Freude, der alte Hartmann mit einer Herzlichkeit, die bei seinem sonst so ernsten, gehaltenen Wesen überraschen durfte; Gabriele dagegen war im Anfang ein wenig befangen – etwas von den Erinnerungen an die Blaubartsscene mochte ihr noch im Wege sein – fand aber dem feinen und höflichen jungen Manne gegenüber rasch ihre Ungezwungenheit wieder und mit großer Befriedigung erkannte sie bald, daß ein Zug von Sympathie, auf den schon Clemens hingewiesen hatte, zwischen ihr und dem neuen Bekannten bestand. Er verehrte die Dichter, die sie so glühend liebte, und wußte schöne Stellen aus ihren Werken, welche sie fast auswendig konnte, zu recitiren. Was aber noch mehr war: er konnte ihr erzählen, welche Wirkung die Dichtungen übten, wenn sie auf der Bühne volles Leben gewannen und mit athemloser Spannung hörte sie zu, wenn er vom Theater sprach, das ihr Fuß noch nie betreten hatte, während er durch allabendliche Besuche heimisch in demselben war. Wie klopfte ihr Herz, wie glänzte ihr Auge, wenn er die Namen hervorragender Künstler nannte, bei ihrer Auffassung, ihrem Spiel verweilte!

»Wenn ich das Alles so höre,« sagte sie einst nach einer derartigen Unterhaltung, »muß ich an die Märchen denken, die ich als Kind las und in denen von einer glänzenden, wunderbaren Welt stand, die mitten in der wirklichen war, nur daß sie durch einen breiten, tiefen Strom von dieser geschieden ward.«

»Ah,« entgegnete Felix lächelnd, »Sie stellen sich unter dem Reich der Kunst eine Art ›Insel der Glückseligen‹ vor! Nicht übel – poetisch mindestens! Nur möchte in Wirklichkeit der Genuß des Zauberlandes weniger bei Denen sein, die auf der Insel selbst wohnen, als bei Denen, die sich ihre Wunder von ferne zeigen lassen.«

Der Blick, den Gabriele zu dem jungen Manne aufschlug, sagte, daß sie seine Meinung nicht völlig verstand, doch äußerte sie keine weitere Frage. Zu Clemens sagte dagegen an diesem Tage noch der Baron:

»Ich möchte es Gabrielen gönnen, daß sie einmal Etwas von der Kunst, von der Welt, die sie so zauberhaft dünkt, zu sehen bekäme. Offenbar entspricht die Entsagung, welche ihr hier aufgelegt ist, ihrer Natur nicht.«

»Wol aber mag sie dazu dienen, ihr Herz dem Glück offen zu erhalten, das jedes echte Weib darin erkennen wird,« sagte Clemens, »daß eine eigene kleine Welt, die Welt des Hauses, auf ihr Wirken angewiesen ist.«

»Nun spricht – nimm es mir nicht übel, Clemens! – wieder einmal ein klein wenig der Philister aus Dir,« rief Felix scherzend, »oder soll ich lieber sagen: der Pastor, dem die Welt da draußen ein Sodom und Gomorrha ist und der meint, Gabriele müsse verderben, wenn sie dieselbe nur mit einem Fuße betritt!«

»Du verstehst mich nicht, Felix!« sagte der junge Prediger sanft und ohne alle Empfindlichkeit.

 

In den nächsten Tagen war große Aufregung im Dorf, die selbst bis in's stille Pfarrhaus drang. Die Zeitungsguste erzählte es hier dem jungen Fräulein zuerst, daß eine ganze Bande von Komödienspielern mit einem großen Wagen, der ein Leinwanddach trage, ihren Einzug gehalten habe und daß noch an demselben Abend der Spectakel, den sie machen wollten, losgehen sollte. Der Bauer Humke habe seine Scheune hergegeben und da werde nun gesägt und gehämmert und allerlei wunderlich bemaltes Geräth aufgestellt, daß man bald in einer Stube, bald in einem Wald zu sein glaube, kurz, man wisse nicht, was noch Alles passiren würde!

Gabriele verschwieg in der Stube nicht, was sie in der Küche gehört hatte und nicht lange danach fand die Nachricht Bestätigung, denn durch einen seltsam geschminkten und aufgeputzten Burschen ward unter Kratzfüßen und gereimten Redensarten ein gedruckter Zettel von Haus zu Haus und endlich auch in die Pfarrwohnung getragen, auf dem zu lesen war, daß mit hoher, obrigkeitlicher Erlaubniß am heutigen Abend von der Gesellschaft des unterzeichneten Schauspieldirectors einem verehrten, kunstliebenden Publikum in dem »Theater des Orts«: Griseldis, romantisches Schauspiel in fünf Acten von Fr. Halm vorgeführt werden solle.

Felix hatte das Blatt in die Hand genommen und las der Gesellschaft die Ankündigung vor, wobei wol kaum Jemand beachtete, daß Gabriele mit fast athemloser Aufmerksamkeit zuhörte.

»Nun, ich denke, den Tribut sind wir Alle Thalien schuldig, daß wir ihr auch im dörflichen Tempel unsere Huldigung bringen und vor Allem – ihr einen neuen, begeisterten Anfänger zuführen!« schloß er mit einem lächelnden Hinweis auf Gabriele.

Der Pastor, auf den er unwillkürlich zuerst geblickt hatte, machte eine abwehrende Bewegung: »Ich halte mich aus Grundsatz fern von jeder Komödie, mag sie in hohem oder niedrigem Stil gehalten sein!«

»Aber Sie haben nichts gegen unsern Theaterbesuch einzuwenden?« fragte der junge Mann freundlich aber doch wie überzeugt, daß er keinem Einwand begegnen würde.

Gabriele dagegen zitterte, daß sie wenigstens von dem Verbot getroffen sein würde, glühte dann aber in heller Freude auf, als ihr Pflegevater erklärte, daß er das Vergnügen der jungen Leute nicht stören wolle. Daß sie lediglich der Rücksicht auf den Gast die Erlaubniß verdankte, konnte sie sich nicht verhehlen und derselbe erntete für seine Vermittelung einen so dankbaren Blick aus ihren dunklen Augen, daß er fast darüber erröthete.

Der Theaterbesuch war also beschlossen und als der Abend kam – Gabriele hatte ihn in ihrer Ungeduld kaum erwarten können – machte sich die kleine Gesellschaft aus dem Pfarrhause nach der Scheune auf den Weg, deren Inneres in Bühne und bänkereichen Zuschauerraum metamorphosirt worden war. Als den vornehmsten Gästen wurden ihnen von den Bauern bereitwillig die besten Plätze eingeräumt, und dicht vor dem Vorhang sitzend erwartete Gabriele mit klopfendem Herzen den Anfang des Stücks, während Clemens hier und da ein Wort mit Bekannten wechselte und auch der Baron seine Aufmerksamkeit einstweilen noch auf das ländliche Publicum gerichtet hielt.

Endlich gab der dünne Ton eines Glöckchens das Zeichen; der Vorhang rollte auf und das Stück ging in Scene.

Es war Alles recht ärmlich, recht mangelhaft, von den Leistungen der Schauspieler, bis herab zu der decorativen Ausstattung der kleinen Bühne, und es gehörte schon ein wenig verwöhntes Auge, oder – ein großer Reichthum von Phantasie dazu, um nur einigermaßen die Illusion festhalten zu können, um das Ganze nicht allzu erbärmlich zu finden. Höchstens konnte die Schauspielerin, welche die Griseldis gab, einen geringen Grad von Interesse erregen, denn sie zeigte wenigstens Spuren von Talent und es blieb zu erkennen, daß ihr doch eine richtige Auffassung ihrer Rolle vorgeschwebt hatte. Zugleich aber machte auch sie sich so vieler Verstöße schuldig, daß sie selbst sehr nachsichtige Beurtheiler – und solche zu sein hatten Clemens und Felix sich vorgenommen – nicht befriedigen und noch weniger für die Mängel der Uebrigen entschädigen konnte.

»Meinst Du nicht, daß wir gehen?« fragte Clemens seinen Freund leise, als einige Acte glücklich heruntergespielt waren.

Dieser nickte und wandte sich dann gegen Gabriele, die Beide zufällig eine Weile unbeachtet gelassen hatten, um auch ihre Zustimmung einzuholen, hielt aber fast betroffen seine Frage zurück, als er ihre glänzenden Blicke, die vor Aufregung gerötheten Wangen und die in fiebernder Spannung leise geöffneten Lippen wahrnahm.

»Ihnen gefällt das Stück – oder die Ausführung?« fragte er rasch.

Ihre leuchtenden Augen kehrten sich ihm zu.

»Es ist Alles so wunderbar!« sagte sie mit dem Ausdruck eines glücklichen Kindes und doch auch wieder mit einem Blick, als habe sich plötzlich eine neue Welt vor ihr aufgethan.

Er sah einige Augenblicke lächelnd und schweigend in ihr schönes Gesicht; dann wandte er sich zu Clemens zurück und sagte:

»Es hilft nicht, Clemens, wir müssen still halten – es wäre wie eine Sünde, wollten wir jetzt durch ihre Träume fahren!«

Auch Clemens blickte jetzt hinüber zu Gabriele, aber sie hatte ihr Antlitz bereits wieder der Bühne zugekehrt und es gelang ihm nicht, ihre Aufmerksamkeit abzulenken, einen ihrer glänzenden Blicke zu erhaschen.

 

Die Vorstellung war beendigt, die Gesellschaft in's Pfarrhaus zurückgekehrt; aber das Gesehene und Gehörte blieb noch eine Weile Gegenstand ihrer Unterhaltung. Clemens hatte sich entschieden gelangweilt und meinte, derartige Darstellungen könnten nur als eine Herabwürdigung der Kunst gelten und der Gebildete solle sich eigentlich fern von ihnen halten; eine Ansicht, welcher der Vater beipflichtete, indem er sogar noch einen Schritt weiter ging, und die ganze Schauspielkunst als eine untergeordnete bezeichnete. Felix dagegen redete der letztern eifrig das Wort und behauptete, sie dürfe in gewissem Sinn eben so heilig gelten wie jede andere Kunst und solle nicht verachtet werden, wenn sie sich auch in noch so unvollkommener Gestalt zeige, wie z. B. am heutigen Abend, wenn nur das schwächste Streben in idealer Richtung zu erkennen bleibe.

»An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! heißt es,« fügte er lächelnd hinzu, »und wer weiß, ob nicht die geringste Anregung, die von ihr ausgeht, der kleinste Funke, der von der Bühne herab in ein begeisterungsfähiges Herz fällt, in diesem zur mächtigen Lohe wächst!«

Er hatte bei den Worten an Gabriele gedacht, bei der heute Abend offenbar auch solch' ein Funke gezündet hatte, und sah sich nun unwillkürlich nach ihr um; aber sie hatte sich ihrer wirthschaftlichen Obliegenheiten erinnern müssen und daher schon vor einer Weile das Zimmer verlassen.

Das Gespräch kam jetzt auf den Inhalt des gesehenen Stückes. Clemens griff den poetischen Werth desselben an, Felix vertheidigte das Drama und lobte namentlich seine Bühnengerechtigkeit, während der alte Hartmann, der überhaupt keine besondere Vorliebe für die neuere Literatur besaß und deshalb wenig in ihr bewandert war, sich damit begnügte, bisweilen leise den Kopf zu schütteln, wenn diese oder jene Stelle ausführlicher besprochen wurde und dabei etwas von Ueberspanntheit und Unnatur zu murmeln.

Felix wollte eine seiner Behauptungen durch Anführung eigener Worte der Heldin belegen, konnte sich aber nicht mehr genau auf dieselben besinnen und Clemens' Gedächtniß zeigte die nämliche Lücke – da trat, während sie sich vergeblich besannen, Gabriele wieder in's Zimmer und Clemens rief aus:

»Ich wette, daß Gabriele uns sagen kann, was wir wissen möchten, denn in ihrer Erinnerung haftet fast Alles, was sie einmal gehört hat!«

Felix theilte ihr kurz mit, um was es sich handelte und fügte die lächelnde Frage hinzu: »Getrauen Sie sich, die Worte wiederzugeben, wie Sie dieselben heute Abend gehört haben?«

Galt ihr nun dies als eine Aufforderung, in die Aktion der Schauspielerin einzutreten, oder riß sie der eigene unbewußte Impuls hin – genug, das junge Mädchen stand vor den überraschten Männern plötzlich da in der Haltung des demüthig-frommen Weibes; der eben noch so frische, fröhliche Ausdruck ihres Gesichts war der des tiefsten Duldens geworden, die glänzenden Augen blickten trüb' und es lag in ihnen der ganze Jammer eines gebrochenen Herzens.

Und nun kamen die Worte über ihre Lippen, die Griseldis, das grausam gemarterte Weib, zu ihrem Gatten spricht:

»Ich streck' die Arme aus, Dich zu umfangen
Sie bleiben leer; mein Auge sucht nach Deinem,
Und Du verbirgst Dein Antlitz meinem Blick!
Ja, Du hast Recht – zu was den Kummer mehren
Und steigern zur Verzweiflung finst'ren Gram?
Wir müssen scheiden – sei's denn rasch gethan!«

Es war dieselbe Rede, die sie vorhin aus dem Munde der Schauspielerin gehört hatte, kein Wort mehr, keins weniger, dennoch – war es dieselbe? war nicht jeder Laut ein anderer geworden und drang jetzt erschütternd zum Herzen, während er vorhin kaum die oberflächlichste Theilnahme erregt hatte? – Es ist wahr: ein Anklang dieses Tons hatte in der Stimme der Schauspielerin gelegen, etwas von diesem Spiel der Geberden war von ihr angedeutet gewesen – aber wer hatte das Mädchen gelehrt ihr »Lebewohl – lebwohl mein Parcival!« mit diesem weichen, vibrirenden Schmerz auszusprechen? von wem hatte sie es, daß sie so, gerade so in unsäglichem Schmerz die Hände wand und sie zuletzt in Demuth und Ergebung zusammenfaltete?

Fast athemlos sahen und hörten die beiden jungen Männer ihr zu und selbst die Miene des alten Hartmann zeigte Ueberraschung, die aber allmälig in einen tiefen, gedankenvollen Ernst überging. Er war es auch, der zuerst wieder ablenkte und das junge Mädchen zu unterbrechen wagte:

»Laß jetzt nur, Gabriele!« sagte er, als sie in ihrem Vortrag eine kurze Pause machte, »die Probe ist schon genügend.«

Seine Stimme war ruhig und ernst, wenn auch nicht streng, wirkte aber auf Gabriele, als wäre sie plötzlich aus einem Traum erweckt worden. Sie zuckte zusammen und deckte dann beide Hände über das Gesicht.

»Geh' jetzt zur Ruhe, Kind!« fuhr der Alte fort; »Du weißt, ich liebe es nicht, daß Du Dich lange irgend einer Aufregung überläßt, sie wirkt immer störend auf die Erfüllung unserer Pflichten ein. – Es ist spät – unser Gast wird wie wir Alle die Ruhe wünschen!«

Gabriele widersprach mit keiner Silbe. Sie hatte den Kopf gesenkt, als der alte Hartmann sprach, und es war nicht zu unterscheiden, ob eine Verlegenheit über sie gekommen, oder ob sie noch von dem Geist ihrer Rolle befangen war, als sie jetzt, ohne die Augen noch einmal aufzuschlagen, einen Gutenachtgruß hauchte und dann aus dem Zimmer verschwand.

Die beiden jungen Männer hatten nicht gewagt, den Worten des Pastors etwas entgegenzusetzen; er hielt sie mit seinem offenbaren Willen, daß kein Aufheben von der Scene gemacht werden sollte, gebannt; als die Thür sich aber hinter Gabriele geschlossen hatte, brach das Entzücken zuerst bei Felix aus:

»Aber das war wie ein Wunder vor unseren Augen!« rief er, »eine Offenbarung des Genius!«

Der alte Hartmann legte ihm die Hand auf den Arm:

»Lassen Sie sich nicht fortreißen von Ihrem Enthusiasmus, mein junger Freund – am wenigsten gegen Gabriele selbst! Was Ihnen Genuß gewährte, ist mir eine bange Sorge und ich bitte Sie: vergrößern Sie nicht die Gefahr, in der das Mädchen schwebt!«

»Eine Gefahr?« fragte Felix verwundert.

»Ja!« sagte der alte Mann fest. »Es ist immer bedenklich, wenn nicht geradezu ein Unglück, mit einer sogenannten idealen Natur begabt zu sein – und ich fürchte, eine solche steckt in Gabriele.«

Felix konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und wußte im ersten Augenblick nicht recht, wie er dem Alten begegnen sollte; Clemens dagegen sagte mit innigem Ton:

»Ihr Enthusiasmus – nenne ihn immerhin ihre Genialität! – kann aber auch zum Guten, in die natürliche Bahn gelenkt und dann zum freundlichen Segen für uns Alle werden, Vater!«

Der Pastor schüttelte den Kopf. »Ich suche ihre Besonderheiten niederzuhalten wie und wo ich kann,« sagte er.

»Aber darin liegt – zürnen Sie mir nicht, mein verehrter Freund! – eine Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst, von dem das junge Mädchen offenbar angehaucht worden ist!« rief Felix lebhaft.

»Ihnen mag das so erscheinen,« sagte der Pastor ruhig; »ich werde in Ihren Augen – und ohne Zweifel auch in denen der Welt als ein trockener, kalter Pedant dastehen, wenn ich so rede. Vielleicht aber begreifen Sie dennoch meine Anschauung, wenn ich Ihnen den Grund derselben enthülle.

Ich hatte, bevor ich Clemens' Mutter kennen lernte, ein anderes Mädchen lieb und hoffte, sie die Meine zu nennen. Ich wußte, daß unsre Naturen verschieden waren, aber vielleicht zog mich gerade ihre sprühende Lebendigkeit, ihre bewegliche Phantasie zu ihr hin. Wir hatten unser Gelöbniß getauscht; da wollte es das Schicksal, daß sie mit einem jungen Musicus bekannt wurde, der sich von ihrer wunderschönen Stimme entzückt zeigte und ihr vorspiegelte, sie sei gleich ihm selbst für den Künstlerberuf erschaffen und es erwarte sie an seiner Seite ein Leben voll Ehre und Ruhm. Sie widerstand der Lockung nicht, löste die Verbindung mit mir und ward sein Weib. – – Was hilft es, daß ich Ihnen die Folgen ausmale? Es war kurzer Glanz – langes Elend! Sie verlor im ersten Wochenbett ihre Stimme, der Mann konnte mit seinem Talent nicht durchdringen, ward gereizt, verbittert, endlich schwermüthig. Von Stufe zu Stufe war's mit Beiden heruntergegangen bis in die bittertste Armuth hinein. Endlich starb der Mann und sie blieb mir dem letztgeborenen ihrer Kinder – die anderen waren der Reihe nach hingesiecht – zurück. Der Gram machte, daß es auch mit ihr bald an Ende war, und da – auf dem Sterbebette – habe ich sie noch einmal gesehen. Sie rief mich zu sich, klagte in bitterer Reue um ihr verlorenes Leben und übergab mir ihr Kind, das sie mir mit den Worten auf die Seele band, ich solle es bewahren vor dem Schicksal seiner unglücklichen Mutter. Ich aber – – nun ich denke, ich brauche es nicht weiter zu erklären, weshalb ich Alles thue, um Gabriele davor zu schützen, daß die ihr angeerbte Natur nicht zum Fluch für sie werde.«

Selbst für Clemens waren manche Einzelheiten der Erzählung neu gewesen und daß sie ihn ergriffen hatten, verrieth die Bewegung mit der er seines Vaters Hand erfaßte und drückte. Auf Felix dagegen schien das Gehörte kaum den erwarteten Eindruck zu machen, doch sagte er nichts und spielte nur nachlässig mit Gegenständen, die auf dem Tische lagen.

Als aber der Alte, der sich den Erinnerungen nicht weiter hingeben zu wollen schien, nach einer kleinen Weile ausgestanden war und mit einem Gute Nacht! an die beiden jungen Leute das Zimmer verlassen hatte, rief er:

»Deinen Vater in allen Ehren, Clemens, aber seine Gründe, weshalb das Genie in Gabriele erstickt werden soll, kann ich nicht billigen. Weil ein Gut bei dem Einen nicht gedeiht – soll es darum einen Andern gar nicht in die Hände gegeben werden? Sprich, Clemens, weißt Du kein Mittel, Deinen Vater umzustimmen, damit zunächst Gabriele ihre Schwingen etwas freier regen darf?«

»Nein, Felix,« sagte Clemens ernst; »mein Vater ist bis in seine kleinsten Eigenthümlichkeiten herab ein in sich geschlossener Charakter und seine Grundsätze sind so in einander gefügt wie die Steine eines Baues. Mir aber kann es am wenigsten einfallen, an ihnen rütteln zu wollen, weil seine Anschauungen im tiefsten Grunde die meinigen sind.«

»Du, Clemens?« rief Felix in offenem Erstaunen, »auch Du blind und taub für die geheiligte Macht des Schönen?«

Mit tiefem, innigem Blick wandte Clemens seine Augen auf der Freund.

»Nein, Felix, wahrlich nicht! aber vielleicht offenbart sie sich mir nur in anderer Weise als Dir.«

»Aber ich sah doch, wie Du gleich mir entzückt warst von Gabriele's geradezu wunderbarer Leistung, als sie uns vorhin die Griseldis vorspielte!« fuhr Felix eifrig fort.

Ueber die Wangen des jungen Mannes flog ein fast mädchenhaftes Erröthen und er lächelte einen Augenblick wie traumverloren vor sich hin; dann aber legte er seine Hand auf des Freundes Arm und sagte:

»Warum soll ich Dir nicht gestehen, daß mein Entzücken einen andern Grund hatte, etwas Anderm galt als das Deine? – Du sahst in Gabriele bei jener Scene eine Künstlerin, mir offenbarte sie sich als das Weib, das einer grenzenlosen Hingebung, der tiefsten und reinsten Liebe fähig ist.«

Betroffen fast blickte der junge Mann den Redenden an.

»Und diese Liebe,« sagte er, »glaubst Du wirklich, daß Ihr eigenes, ich möchte sagen, ihr persönliches Herz aus ihr redete und – und daß es zu Dir sprach?«

»Nicht ganz so, Felix; ich weiß, noch redete sie wie im Traum, ihrer selbst kaum bewußt, denn ist nicht jede wahrhafte Mädchenseele eine verschwiegene, geheimnisvolle Knospe? Auf den Moment des Erschließens aber harre ich und, mein Freund, ich wage zu hoffen, daß die Blüthe sich für mich entfalten wird.«

»Du und Gabriele?!« rief Felix, der seine Ueberraschung nicht verhehlen konnte; »verzeih' mir, Clemens, daß ich daran nie gedacht habe, aber wahrhaftig, es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Euch Beide für einander auszuwählen! – An meinem persönlichen Antheil wirst Du darum nicht zweifeln,« setzte er dann rasch hinzu, als erinnere er sich, daß für den Freund etwas Verletzendes in seiner Aeußerung liegen könne.

»Gewiß nicht!« sagte Clemens einfach und herzlich.

Beide schwiegen einen Augenblick; dann that Felix wie aus einer Art Verlegenheit heraus die Frage:

»Weiß Dein Vater um Deine Neigung?«

»Er ahnt sie, denn das Herz seines Sohnes ist ihm nie fremd gewesen,« entgegnete Clemens.

»Und Du hoffst auf seine Zustimmung?«

»Mein Vater liebt Gabriele trotz seiner Strenge wie sein eigenes Kind, und da er auch mich lieb hat, so hoffe ich, daß er sie mir geben, ihr Glück an meiner Seite gesichert halten wird.«

Felix wußte nicht viel mehr hinzuzusetzen, Clemens hatte nicht das Bedürfniß noch viel zu sagen und so trennten sich die beiden jungen Männer bald von einander. Keiner von ihnen fand aber schnell die erwartete Ruhe, wenn es auch ungleiche Gefühle waren, die Beide erregten. Clemens berauschte sich noch in der Erinnerung an Gabrielen's glänzenden Blicken und ihn umgaukelten Bilder einer glückseligen Zukunft; dagegen hatte Felix mit einer Mißstimmung zu kämpfen, die sich seiner, er wußte selbst nicht recht wie, bemächtigt hatte. Von Neid, von persönlicher Eifersucht gegen den Freund sprach er sich frei, denn wie viel Interesse er auch dem schönen, begabten Mädchen gewidmet hatte, daß dasselbe sein Herz bereichern könne, war ihm nie eingefallen. Dennoch – er leugnete sich das nicht ab – mißgönnte er Gabriele dem Freunde und hielt er sich auch stets aufs Neue vor, wie gut, wie liebenswerth Clemens sei – immer wieder kam er auf das Resultat zurück: »Es ist ein Act des Blödsinns, wenn die Beiden sich heirathen!«

 

Als Felix am andern Morgen zum Frühstück erschien, wurden ihm Briefe eingehändigt, die von der lahmen Guste, der Zeitungsträgerin, für ihn gebracht worden waren und in deren Lectüre er sich eine Zeitlang vertiefte.

Als er sich später eine Weile mit Clemens allein fand, sagte er:

»Weißt Du, daß ich durch die Mittheilungen, welche ich empfing, sofort wieder an unsere gestrige Unterredung erinnert worden bin? Wüßte ich nicht um Deine Pläne und Lebensziele, würde ich Dir jetzt wol in aller Form einen Antrag gestellt haben.«

»Nun?« fragte Clemens einigermaßen gespannt.

»Es ist mir der Tod des Pfarrers Wilde in Gelsungen – Du weißt, der Ort ist eine Görben'sche Patronatsstelle – angezeigt worden und ohne Deine Geständnisse würde ich sicher auf denselben Gedanken gekommen sein wie die Mutter, welche mir vorschlägt, Dir die Pfarre anzubieten.«

»Aber Felix,« rief Clemens in hoher Erregung und ergriff die Hand des Freundes, »sagt Dir denn nicht Dein Herz, daß Du – wenn Du mich überhaupt des Antrags werth hältst – mir damit den Weg zu meinem schönsten Ziele bahnen würdest?«

»Wie?« entgegnete Felix erstaunt, und fügte, als wenn er Clemens zur Besinnung bringen wollte, nur das eine Wort »Gabriele!« hinzu.

»An sie denke ich!« sagte Clemens warm; »ich hätte ihr dann ja ein Heim zu bieten!«

»Aber in Gelsungen!« rief Felix jetzt beinahe entsetzt. »Bedenke, Clemens, Gelsungen ist ein einsames, abgelegenes Haidedorf, die Bevölkerung arm, unwissend und – wie ich mich noch vor wenigen Monaten bei einem Besuche zu meinem Mißbehagen überzeugen mußte – ziemlich verwildert. Du wärst freilich wol gerade der rechte Mann für den Ort, da Du es liebst, im Schweiß Deines Angesichts zu pflügen, aber Gabriele! Clemens, Mensch, Freund, sage Dir doch, daß es unmöglich ist, sie nach Gelsungen zu führen!«

»Ich würde sie zunächst in mein Haus führen,« sagte Clemens ernst. »Bedarf denn das Weib außer ihm eine Stätte zum Wirken und Glücklichsein?«

»Wie?« rief Felix mit aufsteigendem Unmuth; »so ganz und gar für Dich soll Gabriele leben, in den engen Grenzen sich glücklich fühlen? Zürne mir nicht, Clemens, aber das Verlangen scheint mir egoistisch!«

Clemens sah dem Freunde ruhig und klar in die Augen. »Die Liebe darf viel fordern, wenn sie daneben selbst Alles giebt!« sagte er und in seinen Blicken mochte der Andere lesen, daß er mit diesem »Alles« sein ganzes eigenes Leben, Fühlen und Denken begriff.

Dennoch schüttelte Felix den Kopf und schien wenig von seinen Bedenken zu verlieren. Daß ihm die Stelle offen stände, sagte er dem Freunde; doch machte er es zur Bedingung, daß Clemens, bevor er sich für die Annahme entschiede, selbst nach Gelsungen reise, um den Ort zu sehen und alle Verhältnisse zu prüfen und zu diesem Versprechen war der junge Mann auf der Stelle bereit.

Felix reiste noch an demselben Tage ab. Der Inhalt der empfangenen Briefe bot Gründe genug für seine Heimkehr; doch mochte auch das Unbehagen, welches seit dem gestrigen Tag über ihn gekommen war, zur Beschleunigung derselben beigetragen haben. Er konnte oder wollte es sich selbst nicht klar machen, weshalb er nicht ganz so freundlich wie sonst mit dem alten und jungen Hartmann zu verkehren, noch weniger aber Gabriele gegenüber den richtigen Ton zu finden vermochte. Als beim Abschied ihre Hand einen Augenblick in der seinen lag, mußte er daran denken, daß dieselbe beim nächsten Wiedersehen wahrscheinlich den goldenen Ring tragen würde, der sie für immer an die Sphäre des Gewöhnlichen ketten sollte und in einem Gefühl des Mitleids mit dem jungen genialen Wesen wandte er sich ab.

 

Ein Brief des Barons, den er noch vor seiner Abreise aus dem Pfarrhause geschrieben, hatte die Gemeindeältesten von Gelsungen auf Clemens' Eintreffen vorbereitet und sie angewiesen, in ihm ihren wahrscheinlichen neuen Prediger zu sehen. So fand der Letztere sich einige Tage später bereits erwartet und konnte sich von nächster und kundigster Hand sofort ein Licht über alle Zustände und Verhältnisse aufstecken lassen.

Was er erfuhr, klang nicht sehr erfreulich und stimmte zu der eigenen Wahrnehmung, als er eine direkte Berührung mit den Dorfleuten, namentlich der untern Classe derselben, suchte. Felix hatte Recht gehabt, wenn er von Gelsungen als einem ziemlich armseligen, verkümmerten Neste sprach, das für einen verwöhnten oder auch nur gebildeten Geist und Geschmack wenig Reiz haben konnte. Es war ein abgelegener Besitz der Goerben'schen Familie, die sich bisher wenig um ihn gekümmert hatte, so daß allmälig eine Reihe immer schreiender gewordener Mißstände entstanden war.

Clemens wußte in den ersten Stunden, daß seine Pflichten schwer sein, daß sich Berge von Arbeit vor ihm aufthürmen würden. Aber er hätte nicht Clemens Hartmann, nicht der Sohn seines Vaters sein müssen, wenn ihn diese Aussicht abgeschreckt, wenn es ihn nicht geradezu gelockt und mit heiligem Eifer erfüllt hätte, an dieser verwahrlosten Stätte ein Diener Gottes und der Menschen sein zu dürfen!

Seine Seele versenkte sich so in den künftigen Beruf, daß er in diesen Stunden selbst an die Geliebte kaum dachte und erst, als er die Räume des Pfarrhauses betrat, aus dem der frühere Bewohner vor Kurzem zur letzten Ruhe hinausgetragen worden war, stieg ihr liebliches Bild wieder vor ihm auf. Er sah sie im Geist an dieser Stätte schalten und walten und ein verklärter Ausdruck flog über seine Züge.

 

Nach mehrtägiger Abwesenheit trat Clemens, Gabriele suchend, in den Pfarrgarten. Er traf sie in der bekannten Laube, konnte indessen nahe herantreten, ohne von ihr bemerkt zu werden. Neben ihr lag eine weibliche Arbeit, doch ruhte die Beschäftigung in diesem Augenblick, denn sie las eifrig in einem Buche.

Als er ihren Namen rief, blickte sie auf und sofort breitete sich ein helles Lächeln über ihr Gesicht.

»Clemens, wie gut, daß Du wieder da bist!« sagte sie erfreut, »nun werde ich gewiß an nichts mehr zu denken brauchen, was mich beunruhigt!«

»Nun, hast Du denn das bisher gethan?« fragte er lächelnd, »es war dies sonst eben Deine Sache nicht, Gabriele!«

»Ach ja!« sagte sie und fuhr mit der Hand über die Stirn, »ich weiß auch nicht, woher all' die dummen Gedanken kamen, noch was sie wollen, denn klug bin ich selber nicht aus ihnen geworden. Aber laß das jetzt,« fuhr sie rasch fort, »und laß uns mit einander plaudern! Zuerst muß ich wissen, was Du erlebt hast.«

Clemens war ihr Verlangen erwünscht; er schilderte zunächst seine Reise, kam dann auf den Ort und seine Bewohner und theilte ihr zuletzt mit, daß er entschlossen sei, die ihm von Felix angetragene dortige Pfarrstelle anzunehmen. Ein heftiges Erschrecken malte sich in ihren kindlichen Zügen.

»Wie, Clemens, Du gehst fort und ich soll wieder das alte Leben und die alte Langeweile haben? Das ist,« sie kämpfte mit ihren Thränen, »das ist sehr unfreundlich gegen mich, denn Du versprachst mir doch erst neulich, daß nun Alles anders werden sollte!«

Er lächelte und zog ihre Hand, die er während ihres Sprechens gefaßt hatte, höher hinauf, daß sie auf seinem Herzen zu liegen kam.

»Gabriele, könntest – möchtest Du den Gedanken fassen, meine Genossin in dem Berufe zu werden, dem ich meine Kräfte widmen will? Willst Du an meiner Seite stehen, wenn ich Licht und Leben zu wecken suche, wo Beides verkümmert und verdunkelt ist?«

»Wer, ich – ich sollte Dir dabei helfen können? Du scherzest, Clemens!«

»Nein, Gabriele, ich frage Dich im tiefsten, heiligsten Ernst!«

Sie überhörte die Betonung, dachte nicht an die Bedeutung seiner Worte, denn ihre bewegliche Phantasie war erregt worden und sofort ließ sie dieser, wie es ihre Art war, den Zügel schießen.

»Ich als Vorbild Deiner Dorfleute, wol gar als Lehrerin ihrer Kinder!« rief sie lachend. »Clemens, ich danke Dir für Deine gute Meinung von meinen Fähigkeiten, aber ich fürchte, sie hält nicht Stich! Muß ich mich doch selbst vor der alten Lise schämen, wenn ich bald Dies, bald Jenes vergessen und überdies noch hundert Dinge verkehrt gemacht habe! Den Kuchen z. B., den ich Dir zu Deiner Rückkehr backen wollte, habe ich verbrannt, daß ich's nur gestehe, und an den Braten, den ich beim Schlachter bestellen sollte, nicht wieder gedacht: so wird, fürchte ich, unser Mittagstisch kärglich genug sein – willst Du nun, daß Deine Jugend das Wirthschaften von mir lernen soll? – Und was die Wissenschaften betrifft – Clemens, ich habe die Zahlen in der Geschichte und die französischen Vocabeln, welche ich bei Deinem Vater lernen sollte, nicht behalten können, und darum – –«

Er sah ein, daß auf diesem Wege nichts mit ihr anzufangen war, daß er ihre übermüthige Laune besiegen mußte, bevor sie lernen würde, ihn zu verstehen, so unterbrach er sie mit einem freundlichen, aber ernsten: »Hör' nur auf, Gabriele!« und nahm dann, wie um nach einem andern Faden für die Unterhaltung zu suchen, das Buch aus, welches sie vorhin fortgelegt hatte. Es war eine Sammlung neuer Dramen, die ihm zum Theil bekannt waren.

»Du hast gelesen?« fragte er.

»Ach ja, Clemens, und mich gar gut dabei unterhalten! Es ist ein Buch, das Dein Freund auf seinem Zimmer vergessen hat; ich steckte es bei, als ich mich vorhin daran machen wollte, die Wäsche auszubessern, und dachte mir, bei der Arbeit könnte ich wol ab und an einen Blick hineinwerfen. Hernach aber habe ich die letztere ganz vergessen, weil mir stets im Sinne lag, wie sich wol Alles anschauen und anhören würde, wenn es in Wirklichkeit so vor sich ginge, wie es dort auf den Blättern steht.«

»Nun?« fragte er in halber Zerstreuung und blickte, aber ohne auf die Worte zu achten, in das Buch.

Sie hatte sich leicht an seine Schulter gelehnt und auch ihre Augen glitten über die Zeilen.

»Ja, da steht's!« sagte sie dann halb lachend. »›Ich fordre Dich‹ – es ist nämlich der Liebhaber, welcher so spricht, Clemens –, ›von der Welt, von Gott zum Eigenthum, denn hier innen steht's geschrieben, daß Du selbst nicht vermagst, Dich mir zu entziehen, daß Du mein bist!‹ – Ich habe die Worte wol sechsmal nachgesprochen,« fuhr sie lebhaft fort, »und doch den Ton nicht finden können, der das Mädchen, welches er liebt, gewinnen dürfte; weißt Du, es klingt immer so herrisch und gewaltsam.«

Ein eigenthümliches Feuer loderte in den Augen des jungen Mannes auf; er faßte Gabriele's beide Hände und wiederholte die eben von ihr gehörten Worte – aber mit einem Ausdruck, der diese selben Worte zu verwandeln schien.

»Clemens!« rief sie erstaunt und wußte selbst nicht, weshalb sie sich von dem unaussprechlich weichen, innigen Ton seiner Stimme durchschauert fühlte.

»O,« fuhr er fort, »muß ich es Dir denn erst mit den Worten eines mittelmäßigen Dichters sagen, daß auch mein Herz in dem Verlangen nach einem einzigen Besitz glüht und zittert? Weißt Du nicht, Gabriele – und mußt es doch wissen! – daß ich Dich mein eigen nennen möchte für alle Zeit?«

Es war unverkennbar, daß die plötzliche Enthüllung wie ein Schreck über sie kam.

»Laß mich, Clemens, laß mich!« rief sie fast angstvoll.

Sein Blick ward unruhig.

»Wie,« sagte er, »sollte mein Glaube mich betrogen haben? Aber nein, nein, Dein Kindermund kann nicht lügen! Hat er mir nicht tausendmal gesagt, daß Du mich lieber hättest als Jemand in der Welt? Ist das anders geworden, Gabriele?«

Sie schüttelte den Kopf; ihr Gesicht war jetzt ernst und traurig geworden.

»Nein, Clemens, ich spreche noch so; aber etwas ist doch anders geworden, denn ein fremdes, seltsames Gefühl – ich sagte Dir schon davon – ist in mir aufgewacht und treibt mich zu etwas, das ich doch nicht nennen kann, wenn ich auch Tage und Nächte hindurch darüber gesonnen habe. Und auch in diesem Augenblick peinigt es mich, daß ich fast zu Dir selbst sprechen möchte: Hilf mir, Clemens!«

Sie hatte ihre Augen wie ein Rath und Trost suchendes Kind zu ihm aufgeschlagen – er selbst aber sog gerade aus ihren Kinderaugen in dieser Minute Beruhigung. Er faßte ihre beiden Hände und sagte mit seiner herzgewinnenden Stimme:

»Wir verstehen oft unser eigenes Herz nicht, bis ein anderes Herz es uns deutet. Frage Dich, Gabriele, ob es umsonst war, daß Du gerade von mir seine Deutung verlangtest!«

Fast heftig machte sie sich von ihm los.

»Nein, nein, es ist nicht Das! Die Stimme in mir warnt mich beinahe vor Dir, denn wenn sie ruft, so ist es mir immer, als legte sich eine Hand kalt auf mein Herz!«

»Du bist aufgeregt, Gabriele,« sagte er und blickte auf ihre Wangen, die sich fieberhaft rötheten, in ihre Augen, welche einen unruhigen, verwirrten Blick annahmen, »und ich sehe ein, daß es jetzt nicht Zeit und Stunde ist, von Dem zu sprechen, was mir die Seele erfüllt – später dann!«

Obgleich sein Ton von jeglichem Vorwurf frei war, lag doch etwas wie Trauer in ihm und dieselbe mußte auch sie berühren, denn sie brach plötzlich in Thränen aus und rief:

»Ja, später, Clemens! Aber mir ist, als würden wir Beide keine Freude haben durch Das, was wir uns dann sagen werden!«

Er sagte nichts mehr und stumm schritten Beide nach einer Weile dem Hause zu. Eine tiefe Niedergeschlagenheit hatte sich des jungen Mannes bemächtigt, denn waren nicht seine Hoffnungen, die noch vor einer Stunde in vollster, schönster Blüthe gestanden hatten, mit einem Schlage geknickt? Suchte er auch noch an der eigenen Erklärung, die sie verworfen hatte, festzuhalten, suchte er sich einzureden, daß jenes Gefühl, von dem sie geredet, nichts Anderes sei, als das Erwachen des Weibes in ihrer Brust – daß sein Ziel sich nicht so leicht erreichen lasse, wie er geträumt; daß es ihm für den Augenblick in unbestimmte Ferne gerückt war, mußte er sich dennoch sagen.

Wer aber machte ihm überhaupt klar, was mit Gabriele vorgegangen war, die er nie zuvor in einer ähnlichen Stimmung gesehen hatte, wie in dieser Stunde? Wie er sie seit ihren Kindertagen in seinem Herzen getragen hatte, so war ihm nie ein Zweifel an ihrer Liebe gekommen, da sie ihm in ihrer Unschuld tausend Beweise derselben gegeben hatte – und nun stand er doch vor einem Räthsel und sollte kämpfen mit einem Phantom, vielleicht nur einer Phantasie, einer Grille, die ihrem überspannten Köpfchen entsprungen war!

Obgleich er aber seinem Entschluß, in Sanftmuth und Geduld zu harren, treu blieb, obgleich er Alles that, um sich in Gabriele's Vertrauen zu behaupten, dessen er zum endlichen Sieg bedurfte, er konnte doch nicht verhindern, daß sie ihm von diesem Tage an scheu und ängstlich auswich, sich vor jedem Beisammensein mit ihm zu fürchten schien, und mit tiefem Schmerz erkannte er, daß das frühere schöne Verhältniß zerstört war.

Dem Vater gab sie daneben durch ihre häufige Zerstreutheit und Lässigkeit in ihrer Pflichterfüllung nicht selten Anlaß zu ernster Rüge, die sie nicht wie früher in heiterm Jugendübermuth hinnahm, vor der sie vielmehr in schmerzlicher Demuth das Haupt beugte, ohne daß eben damit eine Aenderung ihres Wesens bewirkt worden wäre. Kurz, mit jedem Tage ward das Beisammensein der drei Menschen für Alle ein peinlicheres und bedrückenderes; und leicht war man daher geneigt, einen Fingerzeig in der Bitte einer Cousine in der Stadt, welche früher dem Pfarrer den Haushalt geführt hatte, zu finden. Die alte Dame meldete nämlich, daß sie krank sei, und sprach den dringenden Wunsch aus, Gabriele, deren treue Pflegerin sie einst selbst gewesen war, eine Zeitlang bei sich zu haben.

Ein Aufenthalt in der Stadt war etwas, das der Pastor dem jungen Mädchen früher nicht zugestanden hätte, da er die dortigen Zerstreuungen für sie fürchtete, in dem gegenwärtigen Augenblick erschien ihre Entfernung aber für Alle zu wohlthätig, der Kranken war überdies ihre Bitte kaum abzuschlagen, und so reiste Gabriele denn schon in kürzester Frist nach der Hauptstadt.

 

Wenige Wochen nach Gabriele's Abreise schon trat Clemens, der sich inzwischen von seinen früheren Verhältnissen gelöst hatte, sein Amt in Gelsungen an. Nahm er auch nicht die volle Freudigkeit mit hinüber, die ihn bei der ersten Aussicht auf den neuen Wirkungskreis erfüllt hatte – seinen Muth, seinen Eifer konnte die Enttäuschung seines Herzens nicht schmälern, und so stand er denn bald tröstend, helfend, strafend und belehrend als ein echter Priester inmitten seiner Gemeinde.

Von Gabriele hatte er seit ihrer Trennung kaum wieder etwas gehört, denn bei der Eigenthümlichkeit seiner Stellung zu ihr, die das größte Zartgefühl von ihm forderte, hatte er es nicht gewagt, an sie zu schreiben, sich mit Gewalt den Weg zu ihrem Herzen zu bahnen. Wenn er sich aber sagte, daß er die Lenkung Gott zu überlassen habe, hatte er sich zugleich gelobt, daß seine eigenen Angelegenheiten für jetzt in den Hintergrund treten sollten, er den sehnsüchtigen Gedanken an die Geliebte nicht die Herrschaft über sich geben wollte.

Ach, aber doch beschäftigten ihn diese Gedanken mehr, als er sich selbst gestehen mochte und waren wol auch der Grund, daß er mit eifriger Hast nach einem Briefe griff, der ihm eines Tages – es war etwa einen Monat, nachdem er Gabriele zuletzt gesehen – gebracht ward und den er auf der Stelle als von seinem Freunde Felix kommend, erkannte. Lebte Felix nicht in derselben Stadt mit Gabriele und konnte er sie nicht gesprochen, Kunde von ihr zu bringen haben?

Der Anfang des Schreibens entsprach indessen nicht seiner Erwartung, denn er betraf rein geschäftliche Dinge, die allerdings von Wichtigkeit für Clemens waren, ihn in diesem Augenblick aber doch nur zu einer halben Aufmerksamkeit bewegen konnten. Als suchten seine Augen etwas Anderes, irrten sie über die ferneren Zeilen des Briefes und es flimmerte vor ihnen, als sie in der That den Namen Gabriele entdeckten.

Erließ einstweilen alles Vorhergehende ruhen, um zuerst zu lesen, was Felix von ihr zu sagen hatte.

»Die Freundschaft für Dich,« schrieb der junge Baron, »so wie das Interesse für Deine schöne Pflegeschwester – verzeih', daß ich nur auf diese Weise Dein Verhältniß zu Gabriele bezeichne! – legen mir die Pflicht auf, Dir Etwas mitzutheilen, von dem ich freilich nicht glauben darf, daß es Dir willkommen ist, da unsere Anschauungen in dieser Beziehung auseinander gehen. –

Ich war einige Wochen verreist weshalb ich auch noch nicht Gelegenheit gehabt hatte, Gabriele in der Stadt zu sehen – und kam gerade rechtzeitig zurück, um die unvergleichliche S., die hier einige Vorstellungen gab, auf unserer Bühne bewundern zu können. So sehr meine Augen an der Künstlerin hingen, glitten sie doch in einem Moment zufällig von ihr ab und so bemerkte ich in einer der vorderen Logen die Gestalt eines jungen Mädchens, das mit vorgebeugtem Körper und, wie es schien, zurückgehaltenem Athem jedes Wort, jede Bewegung der S. förmlich in sich aufzusaugen schien. Ich erkannte sofort Gabriele und mit halbem Lächeln gedachte ich des Enthusiasmus, den ihr damals schon jene Dorfkomödianten eingeflößt und der nun in der That einen würdigern Gegenstand gefunden hatte. Hätte die S. nicht gespielt, ich würde mich wol noch länger über ihr Entzücken amüsirt haben, aber so wandte ich mein Auge einstweilen wieder der Bühne zu und suchte Gabriele's Blick im Zwischenact zu begegnen.

So wie indessen der Vorhang fiel, war sie von der Logenbrüstung verschwunden und trotz alles Spähens konnte ich sie nicht mehr entdecken. Ich glaubte schon, sie habe das Theater verlassen, allein sie mußte sich nur in den Hintergrund der Loge zurückgezogen oder hinter einem Pfeiler versteckt gehalten haben, denn so wie das Spiel wieder begann, sah ich sie auf's Neue an ihrem Platze und ganz wie früher versunken in Das, was sie sah und hörte. Es gelang mir auch jetzt nicht, einen Blick von ihr aufzufangen, eben so wenig aber, ihr beim Verlassen des Theaters zu begegnen: als wenn mit dem Fallen des Vorhangs ihre eigene Existenz aufgehoben wäre, blieb sie meinen Augen entschwunden.

Ich nahm mir vor, das Recht alter Bekanntschaft zu benutzen und sie in ihrer Wohnung aufzusuchen, mußte es mir aber doch gefallen lassen, daß ich – und zwar in eigenthümlicher Weise – erst durch einen Dritten wieder mit Gabriele in Berührung kam. Zwei Tage nach jener Theatervorstellung suchte mich nämlich Herr von Meining, unser Intendant, auf, der mir persönlich befreundet ist, um mir zu erzählen, daß eine junge Dame bei ihm gewesen sei und ihm ihren Entschluß mitgetheilt habe, aufs Theater zu gehen, da es ihr heiliger und unerschütterlicher Vorsatz geworden sei, sich der Kunst zu widmen.

Da sie bei der Erzählung, wie ihr der erste Impuls gekommen, meiner erwähnt, des Bekanntwerdens mit mir gedacht hatte, so fühlte Herr von Meining sich veranlaßt, mit mir über sie zu reden, seinem Entzücken über die junge Kunstnovize – Du weißt nun schon, daß es keine Andere als Gabriele war – Ausdruck zu geben. So groß wie ihre Schönheit, meinte er, sei ihr Talent, das er sofort geprüft habe und das ihr eine brillante Zukunft, der Welt aber eine Künstlerin ersten Ranges verheiße. Was ihn aber noch mehr als dies Alles bewegen würde, sich ihrer mit voller Kraft anzunehmen, das sei das ganze inspirirte Wesen des jungen Mädchens, dessen Stirn – das war der Ausdruck des Intendanten – schon von dem Weihekuß der Kunst berührt erscheine und das dabei eine Klarheit und Festigkeit des Willens zeige, die bei einem so jugendlichen Geschöpf in Erstaunen setzen könne, wenn man sich nicht eben sagen wolle, daß für den echten Genius keine Schranken, keine niederen Hemmnisse existirten. –

Gabriele hatte Herrn von Meining nicht verhehlt, daß sie bei den Ihren auf Widerstand stoßen würde, wie er aber selbst die Ueberzeugung gewonnen hatte, daß sie sich durch denselben nicht beirren lassen würde, so wünschte er ihr wie auch Euch, Dir und Deinem Vater, das Schmerzliche eines vergeblichen Kampfes zu ersparen und deshalb ging er mich an um mein Fürwort. Und nun ich, lieber Clemens – was soll ich Dir noch sagen, seitdem ich selbst Gabriele gesprochen, mich an ihrem Feuer gleichfalls entzündet habe? Erinnere Dich, was ich von ihr prophezeite, daß ich ihr ein idealeres Loos bestimmt hielt, als – –«

Clemens las nicht weiter; er ließ das Blatt sinken und preßte beide Hände wie in heftigem Schmerz gegen seine Stirn. Was kümmerte es ihn noch, zu erfahren, wie der Freund über Gabriele's Entschluß dachte, wie er die ganze Sache zu übergolden suchte? Ihm war es übergenug, zu wissen, daß sie sich seiner Hand, der Hand, die sie zu führen und leiten strebte, entziehen wollte, um allein ihren Weg zu wandeln, und daß Schatten und Dunkel auf diesem Wege lagen!

 

Noch in derselben Stunde reiste er ab, denn nun wich jede Rücksicht, die ihn von Gabriele fern gehalten hatte, nun war es an ihm, sie von ihrem Irrthum zu lösen, wenn die Erlösung noch möglich war! Aber nicht er allein, auch sein Vater hatte heilige Rechte an das Mädchen, das sagte er sich, und darum sah ihn die alte Pfarrwohnung zunächst wieder, ehe sein Weg weiter ging.

Zu seiner Bekümmerniß fand er den Vater krank und – für den Augenblick wenigstens – körperlich gebrochen; und schon nach den ersten Worten wußte Clemens, daß die Nachricht, welche ihn selbst so erschüttert, keinen geringen Antheil an dem Zustand hatte, in welchem er den alten Mann sah.

»Da, lies den Brief!« rief dieser, als er den Sohn kaum begrüßt hatte, und reichte ihm ein Schreiben von Gabriele's eigener Hand.

Clemens durchflog die Zeilen, die er ganz in dem Geist geschrieben fand, von dem er das Mädchen nach Felix' Schilderung erfüllt wußte. Bescheiden aber ruhig sagte sie dem Pflegevater, daß ihr nach langem Umhertappen und Suchen nach einem verborgenen Ziel plötzlich Licht und Erkenntniß geworden sei. Sie habe ihren Beruf nicht erwählt, er sei ihr wie von höherer Hand zugewiesen worden, sie bat nicht um Erlaubniß, ihm folgen zu dürfen, sie verlangte nur seinen Segen für den Weg, den sie gehen müsse; und wenn sie aussprach, wie ihr wol bewußt sei, daß die Ihren Kummer statt Freude über die an ihr geschehene Wandlung empfinden würden und sie dies offenbar selbst betrübt machte, so lag doch in ihren Worten, daß sie jenen Kummer als etwas Unabänderliches ansah, ohne daß sie sich im Geringsten von einem Gefühl der Schuld bedrückt fühlte.

»Nun, was sagst Du?« fragte der Alte und richtete seine Augen, über denen sich die weißen Brauen in hartem Zorn zusammengezogen hatten, auf den Sohn, der schweigend und mit gesenktem Haupt den Brief zusammenfaltete.

»Das arme Kind!« sagte Clemens leise.

»Sie ist eine Wahnsinnige!« brauste der Vater auf, »und thöricht und wahnsinnig schelte ich mich selbst, daß ich sie aus meiner Zucht fortließ; dafür straft mich nun der Himmel, daß er mich elend darniederwirft, wo ich jede Kraft der Seele, so wie jedes Glied des Körpers anspannen möchte zu ihrer Rettung!«

Clemens theilte dem Vater mit, daß er selbst auf dem Wege zu Gabriele sei; er fügte hinzu:

»Giebt es irgend eine Macht, die mit ihr, mit ihrem Entschluß in den Kampf treten darf, so ist es die Liebe – und in diesem Zeichen hoffe ich noch zu siegen, Vater!«

Der Alte schüttelte heftig den Kopf. »Nicht Liebe ist hier am Platz, sondern Strenge und, wenn's sein muß, Gewalt!« rief er.

»Wer giebt sie uns über Gabriele?« fragte Clemens trübe. »Das Gesetz erkennt unsere Rechte an sie nicht an und wenn sie selbst sich von uns losreißen will – wir können sie nicht halten!«

»Nun denn, so baue ich auf die Noth, die sie zwingen wird!« entgegnete der Alte. »So thöricht Gabriele ist, das wird sie begreifen, daß sie ohne äußere Mittel ihren Weg nicht machen kann, und von meinem Vermögen – daß sie selber blutarm ist, braucht ihr nicht erst gesagt zu werden – soll sie kein Pfennig auf demselben unterstützen, das schwöre ich ihr!«

»Auch hierin ist vorgesorgt,« entgegnete Clemens mit dem Ton trauriger Resignation; »gehört sie uns nicht mehr an, so tritt sie in den Schutz Anderer,« und damit zeigte er auf den mitgebrachten Brief von Felix, an dessen noch später von Clemens gelesenem Schluß dieser hinzufügte, daß Herr von Meining als begeisterter Freund und Beschützer der Kunst sich bereit erklärt habe, die Sorge für Gabriele's Ausbildung zu tragen, das Mädchen, welches ihm eine ungewöhnliche Zuneigung eingeflößt habe, überhaupt ganz in seinen Schutz zu nehmen, wenn die Familie es demselben nicht streitig machen wolle.

Der Alte hatte bei der Auseinandersetzung sein Gesicht der Wand zugekehrt; er erwiederte nichts weiter als: »Wol, so mag sie ihnen angehören – meine Tochter ist sie nicht mehr von dem Augenblick an, wo sie die Breter betritt!«

Bekümmerter noch als Clemens zu dem Vater gekommen war, verließ er ihn. Zwei Tage später trat er auf's Neue an das Bett des Greises und der Ausdruck tiefster Niedergeschlagenheit auf seinem Gesicht sagte dem Letztern schon, was der Erfolg seiner Reise gewesen war.

»Es war vergebens, sie beharrt bei ihrem Willen?« fragte ihn der Vater entgegen.

»Ja, es war Alles umsonst; ich bringe Gabriele nicht zurück,« sagte Clemens, »sie bleibt bei ihrem Entschluß.«

»Nun, so wird der Herr selbst ihren Trotz strafen!« rief der Alte, »und sie züchtigen, daß sie Zucht und Gottesfurcht, die ich sie gelehrt, verleugnen will, um eine Gauklerin zu werden! Ich aber spreche noch einmal: Wenn Dich ein Glied ärgert – –«

»Halt ein, Vater!« bat Clemens, »nenne sie auch nicht trotzig, nicht verderbt – sie ist nur eingefangen in einen Bann, bestrickt von einem Zauber, den wir nicht lösen können! Was ich auch zu ihr sagte, wie ich bat, flehte, warnte – und ich redete für Dich und für mich, Vater, in dem Geist der Liebe und der Strenge – es rührte wol an ihr Herz, aber nicht an ihren Willen. ›Ich kann nicht anders, Clemens, glaube mir, ich muß der Stimme folgen, die mich ruft!‹ war Alles, was sie mir und zuweilen unter heißen Thränen, antwortete.«

»Und warfst Du ihr nicht die Eitelkeit ihres Herzens vor?« fragte der Alte, »zeigtest Du ihr nicht, wie falsch und hohl die Götzen seien, vor denen sie knieen wollte?«

»Ich that das, oder doch ähnlich so, wie Du es meinst; aber, Vater, ich selbst konnte nicht mehr glauben, daß thörichte Ruhmsucht sie verlockt hatte, als sie mir klar und ruhig sagte, daß sie nichts Anderes denke, als wie sie der Kunst würdig dienen wolle, daß sie nur begehre, den Saum ihres Gewandes zu fassen – so waren ihre Worte – um einzig und ewig ihr in die Augen sehen zu können, unbekümmert, ob sie damit von der Menge unbeachtet im Dunkel bleibe. – Und als ich dann das irdische Wesen der Kunst hervorhob, als ich ihre blinde Vergötterung sündhaft nennen wollte, da richtete sie sich wie im Zorn hoch auf und sagte, sie glaube nicht fester, daß Gott in jedem seiner Werke groß, als daß auch die Kunst von ihm gegeben und heilig sei.«

Das Blut stieg dem alten Mann bis in die Schläfen.

»Ist das noch das Kind, das ich erzogen habe?« sagte er bitter.

»Ja, Du hast Recht, Vater,« sagte Clemens traurig, »es ist eine seltsame Wandlung mit Gabriele vorgegangen – kannte doch selbst ich sie kaum wieder! Statt mit der frühern Schüchternheit des Kindes trat sie mir in der sichern Haltung der Frau entgegen; alles Unklare, Träumerische war abgestreift und jedes Wort erschien eingegeben von einem klaren, festen Willen. Sie selbst war sich all' dessen wol bewußt und sagte, sie habe sich in dem Moment, welcher sie über ihre Bestimmung klar gemacht – und der sei gewesen, als sie jene Künstlerin auf der Bühne gesehen – mit einem Male als eine Andere gefühlt, und eine eigene, wunderbare Kraft habe sie durchdrungen.«

»Und in welcher Weise bist Du von ihr geschieden?« fragte der Alte nach einer Pause.

Clemens senkte das Haupt. »Ueber das Eine laß mich schweigen, Vater – weiß ich doch selbst kaum, wie es gewesen ist. Ich weiß nur, daß, als Alles erschöpft war, was ich sagen konnte und meine Seele von der bittersten Qual gepackt wurde, sie mich noch einmal mit einem Blick ansah, vor dem alles andere Denken schmolz, daß nur noch eine unsägliche Trauer übrig blieb und ich mich dann losriß.«

Der Alte reichte seinem Sohn die Hand; die Schonung für ihn ließ ihn jedes herbe Wort, das er etwa noch auf den Lippen hatte, unterdrücken.

»Wir werden es lernen, Gabriele aus unserm Leben auszustreichen,« sagte er nur.

Clemens vermochte nicht zu antworten.


»Glücklich noch einen Platz erobert!« rief ein junger Officier, dessen Schultern die Epaulettes offenbar noch nicht lange schmückten, einem ältern zu, indem er sein Billet triumphirend emporhielt. »Der Kassirer behauptete, es wäre das letzte, das er zu vergeben habe, das Haus sei ausverkauft!«

»Ist das hier aber ein Schwindel mit der Gärtner!« sagte der Angeredete halb spöttisch, während beide Herren mit raschen Schritten dem Theater zugingen. »Seit vorgestern bin ich bei der Garnison und noch auf keinen Kameraden gestoßen, ohne daß das erste Wort gewesen wäre: ›Waren Sie schon bei der Gärtner? Mein Gott, Sie haben die Gärtner noch nicht gesehen?‹ Ist denn wirklich etwas an ihr, Oscar?«

»Meiner Meinung nach haben wir noch keine solche Künstlerin auf unseren Bretern gehabt,« sagte der jugendliche Lieutenant mit der Wichtigkeit eines erfahrenen Kunstkritikus, die den ältern Begleiter augenscheinlich ergötzte; zu einer Entgegnung oder Bemerkung gelangte dieser jedoch nicht, da man in diesem Augenblick das Ziel erreicht hatte.

Im Sperrsitz dagegen, wo Beide ihre Plätze neben einander hatten, begann der Aeltere, der seinem eigenen Aussehen nach fremd in der Stadt war, von Neuem:

»Nun aber, Oscar, da Sie selbst die Gärtner für ein solches Phänomen halten – wie erklären Sie es, daß die Welt nicht mehr von dieser Größe weiß, daß ihr Name noch kaum zu meinem Ohr gedrungen war, während ich doch auch nicht im Scythenland gelebt habe?«

»Ei, ihr Ruhm ist noch jung; es sind kaum ein paar Jahre, seit sie die Bühne betreten hat. Aber warten Sie nur noch kurze Zeit und Sie werden kaum Jemand finden, der nicht von ihr weiß und sie nicht bewundert! In hiesiger Stadt interessirt man sich übrigens doppelt für sie, weil sie gerade von hier aus ihre Laufbahn angetreten hat, wenn sie auch jetzt auf unserer Bühne zum ersten Mal als Gast erscheint.«

»Wie so?« fragte der Andere etwas verwundert.

»Ja, es ist bekannt, daß der frühere Intendant, ein Herr von Meining, welcher vor einem Jahr starb, die jetzige Künstlerin gewissermaßen erfunden und Alles daran gesetzt hat, sie auf die Bühne zu bringen. Man sagt, sie verdanke ihm ihre ganze Ausbildung und es ist daher zu bedauern, daß er nun ihre Triumphe nicht mehr erlebt.«

Das Haus hatte sich mittlerweile mehr und mehr gefüllt und die Aufmerksamkeit der beiden Herren ward bald durch diese, bald durch jene Erscheinung in Anspruch genommen, wobei der jüngere Officier dem ältern, dem er sich auf Grund einer Familienbekanntschaft als Cicerone angeschlossen hatte, manchen Namen nannte und zugleich durch kurze Bemerkungen erläuterte.

»Wen grüßen Sie denn da?« fragte der Letztgenannte, dessen im Uebrigen nicht unschönes Gesicht verrieth, daß er das Leben bereits ganz anders kennen gelernt und genossen hatte, als sein jugendlicher Begleiter, der gerade in diesem Augenblick mit einem Herrn in der ersten Logenreihe ein Erkennungszeichen wechselte.

»Es ist der Baron von Goerben; er gehört einer der vornehmsten und reichsten Familien des Landes an,« antwortete der Lieutenant; und lächelnd fügte er hinzu:

»Der darf nie fehlen, wenn die Gärtner spielt, denn von all' ihren warmen Verehrern ist er der wärmste.«

»Hm – so! Am Ende auch der glücklichste?«

Die Augen des jungen Mannes blickten einen Moment wie verwundert zu dem Frager auf.

»Ah, Sie meinen etwas Anderes, als ich sagen wollte: an eine Verehrung im gewöhnlichen Sinn dürfen Sie nicht denken! Der Baron schwärmt, wie allgemein bekannt ist, überhaupt für's Theater und ist begeistert für die Kunst.«

Ein sarkastischer Zug spielte um die Lippen des Andern.

»Guter Junge!« sagte er wie mitleidig.

Ton und Wort trafen den Jüngern gleich einer Beleidigung; ein helles Roth stieg in seinen Wangen auf.

»Ach, Sie dürfen mich nicht für so unschuldig halten, Bennett!« rief er, »aber Jeder kann es Ihnen sagen, daß Baron Felix für ein Muster in der Moral gilt: tugendhaft bis zum Exceß! Und was die Gärtner betrifft, so weiß man nur zu gut, daß es mit ihr eben so ist –sie nimmt nicht die geringste Huldigung an.«

»Pah!« sagte der Aeltere lachend.

»St! St!« tönte es in diesem Augenblick in der Nähe und die Augen der Officiere folgten denen des Publicums, denn der Vorhang war aufgezogen.

Schon der erste Auftritt – es ward Schiller's »Jungfrau von Orleans« gegeben – führte die Gärtner an die Bühne. Sie ward mit lebhaftem Applaus begrüßt und der junge Officier erlebte die Genugthuung, daß sein Begleiter einen Ausruf der Ueberraschung beim Anblick der Gefeierten nicht zurückhalten konnte.

»Nun?« fragte er leise und lächelte befriedigt, als der Andere eben so leise antwortete:

»In der That, die Erscheinung ist brillant!«

In lautloser Stille verfolgte das ganze Haus das Spiel der Schauspielerin, in einer Stille, die nur zuweilen unterbrochen ward durch einen plötzlich ausbrechenden Sturm des Beifalls, für den sie aber kaum mit einem Augenzucken dankte, und der dann eben so rasch wieder in sich selbst verstummte.

Auch die beiden Officiere waren – Jeder in seiner Weise – so gefesselt, daß es einen Moment ihren Unwillen erregte, als sich eine Weile nach Beginn der Vorstellung ein Zuspätgekommener Bahn durch die Reihen der Sitze brach und mit halblaut gemurmelter Entschuldigung über die Störung den einzigen noch unbesetzten Platz in ihrer Nähe einnahm.

Dem Anschein nach war es ein Mann von ländlicher Herkunft, vielleicht ein Lehrer oder ein Geistlicher, der sich weiter nicht um seine Nachbarn kümmerte, vielmehr seine volle Aufmerksamkeit der Bühne zuwandte und bald so regungslos saß, daß diese ihn gleichfalls vergaßen, bis der ältere Officier zufällig bemerkte, daß der Fremde wie in Verzückung oder Geistesabwesenheit nach der Bühne starrte, daß aber seine Blicke, sie mochte reden oder schweigen, immer nur an der Person der Künstlerin hingen. Er stieß seinen Gefährten leise an und flüsterte lächelnd:

»Sehen Sie sich dies naive Gotteswort vom Lande einmal an, Oscar! Ich wette, dem sind die Musen bis so weit unbekannte Größen gewesen und er weiß nun nicht, ob er sie den himmlischen oder höllischen Geistern beigesellen soll!«

Bald aber dachten Beide nicht mehr an den seltsamen Zuschauer, denn das Spiel der Gärtner steigerte sich in jedem Act, steigerte sich bis zu einem Grade, daß das Publikum den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Kunst nahezu vergessen konnte. Schien doch für sie selbst ein solcher Unterschied kaum noch zu bestehen, denn wie sie die Illusion zu erregen wußte, als sähe man die Gestalt leibhaft vor sich, die der Dichtergeist erschaffen, so war es, als schöpfe sie doch nur aus ihrem eigenen Innern, wenn sie bald im Ton flammender Begeisterung, bald mit dem ergreifenden Laut der brechenden Kraft und des Sterbens sprach.

Und doch – so sehr die Künstlerin mit ihrer Rolle verschmolz – einen Moment gab es, wo sie etwas außer derselben Liegendes zu berühren schien, wo ihre Augen, die zufällig über das Publicum geglitten waren, sich plötzlich weit öffneten und eine Secunde lang in einer Richtung gebannt blieben, während etwas wie ein Erbeben durch ihre Glieder lief. –

Die Secunde aber ging vorüber und die Wenigsten hatten es bemerkt, daß eine fremde Erregung über die Künstlerin gekommen, daß ihr Antlitz unter dem künstlichen Weiß, das auf ihren Wangen lag, noch mehr erbleicht war, raffte sie sich doch sofort wieder auf und meisterhaft war es, wie sie in den folgenden Scenen das Ringen der Jungfrau mit der Schwäche ihres Herzens und den Sieg über dieselbe zur Erscheinung brachte.

Der Vorhang war gefallen und hatte sich wieder und wieder heben müssen, da die Menge nicht aufhören konnte, der Künstlerin ihren Beifall zu bezeugen, so daß diese sich endlich weigerte, dem Hervorruf zu folgen. Nun eilte Alles dem Ausgang zu, in solcher Hast, daß Manche in dem Gedränge zurückbleiben mußten, und da auch die beiden Officiere unter diesen waren, so fanden sie noch Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch.

»Nun, was sagen Sie, Bennett?« war die erste Frage des Jüngern, »ist die Gärtner nicht göttlich? Habe ich oder hat das Publikum übertrieben?«

»Es wäre Frevel, das behaupten zu wollen,« entgegnete der Angeredete, »ich bin entzückt, hingerissen, bezaubert, was Sie wollen, und darum vor allen Dingen: geben Sie mir Mittel und Wege an, wie ich ihr selbst alles Dies ausdrücken kann!«

Der junge Officier sah seinen Begleiter an, als verstände er seine Meinung nicht recht. »Wie – Sie wollten – –?«

»Zu ihr natürlich!« fiel Bennett halb ungeduldig ein. »Glauben Sie, daß es die erste Theaterbekanntschaft ist, die ich cultivire?«

»Ja, aber die Gärtner! Ich sagte Ihnen schon, daß in keiner Weise an sie heranzukommen ist; sie empfängt gar keine Besuche!«

Bennett schien wieder einen »guten Jungen« auf den Lippen zu haben, doch waren Beide in diesem Augenblick zu einer Gruppe von Officieren gelangt und der junge Lieutenant rief:

»Lassen Sie es sich von den Kameraden sagen, wenn Sie es mir nicht glauben wollen, daß die Gärtner völlig unnahbar ist! Kann sich Einer rühmen, daß sie nur mit einem Lächeln, einem Blick Notiz von ihm genommen hätte?«

»Wahr ist es, sie scheint unbesiegbar bleiben zu wollen!« gab Einer oder der Andere zu. Bennett überflog die Versammelten mit einem spöttischen Blick und sagte:

»Sie sind Krieger, meine Herren, und wissen nicht, daß sich jede Festung endlich ergeben muß? Auf die Kunst der Belagerung nur kommt es an!«

Und dann, als wachse sein Uebermuth an dem Zweifel, den er auf den Gesichtern las und der sich auch wol in halblauten Aeußerungen kund gab, fügte er hinzu:

»Ei, ei, meine Herren, so zaghaft? Es scheint, Sie könnten mich in einiger Hinsicht als Lehrmeister gebrauchen! Eh bien, erlauben Sie mir, Ihnen in Champagner Unternehmungsgeist zuzutrinken! Ich habe den Keller meines Wirths bereits geprüft und vortrefflich gefunden: ich bitte, meine Herren, seien Sie meine Gäste!«

Das Wort fand Anklang und lachend und lärmend folgte die Schaar ihrem Führer.

 

Es war eine Stunde nach der Vorstellung. Gabriele hatte sich ihrer Bühnengewänder entledigt und befand sich in einfacher Hauskleidung. Unruhig schritt sie durch den eleganten Salon – ihre Wohnung war das erste Hôtel der Stadt – und blickte oft gespannt nach der Thür, wenn sich draußen Schritte hören ließen, als harre sie, daß Jemand eintreten würde, um dann mit einem Seufzer ihre Wanderung fortzusetzen, wenn sie sah, daß sie sich wieder getäuscht hatte.

Endlich vernahm sie Schritte, die nicht wieder verhallten, wol aber einen Augenblick vor ihrer Thür anhielten, als zögere der Kommende noch, einzutreten. Unwillkürlich eilte sie dem Letztern entgegen, blieb dann aber wieder stehen, während eine hohe Gluth über ihre Wangen, ein Zittern durch ihren ganzen Körper lief.

Die Thür öffnete sich jetzt und »Clemens!« tönte es von ihren Lippen.

Ja, es war Clemens, der vor ihr stand, aber nicht mehr derselbe Clemens, mit dem sie – o, wie so oft! – in der Laube des Pfarrgartens gesessen hatte, und dessen heiter-freundliches Wesen einst Licht und Luft für ihr junges Leben gewesen war: der Mann, auf welchem ihre Blicke ruhten, hatte jeden Schimmer der frühern Jünglingsnatur abgestreift, sein Gesicht trug jetzt andere Züge als die weichen, schönen von ehedem. Es war Gabriele, als könne in den drei Jahren kaum ein Lächeln über dasselbe geglitten sein, so ernst war es geworden, ja es erschien ihr fast wie das seines Vaters, das sie zuweilen hart genannt hatte, aber es war hagerer und trug nicht wie jenes den Ausdruck ruhiger Festigkeit – dafür waren die tiefliegenden Augen zu heiß.

Sie hatte ihm beide Hände entgegengestreckt; er aber ergriff sie nicht und traurig ließ sie die Arme sinken.

»Clemens,« sagte sie, »verweigerst Du mir Dein Willkommen und bist doch gekommen, mich wiederzusehen?«

»Ja, Gabriele,« sagte er, und seinem Ton hörte sie es an, daß sich die Worte mühsam aus seiner Brust rangen: »Ich bin gekommen, um Dich zu sehen und um – nun fühle ich doch, daß ich es nimmer gedurft hätte.«

Sie faltete die Hände über der Brust und sah ihn an mit dem Ausdruck der Angst eines flehenden Kindes.

»Hast Du – hat Dein Vater mir noch nicht verziehen, Clemens? Ich habe Euch wieder und wieder geschrieben seit – seit ich von Euch ging, aber Ihr habt nicht geantwortet.«

»Nein, Gabriele,« entgegnete er. »Wie mein Vater ist, wie er denkt, weißt Du, und ich – ich hatte ja nach Vergessen zu ringen!«

» Müssen wir vergessen, Clemens?«

Sie sagte das mit der ergreifenden Innigkeit, die sie in ihre Worte zu legen vermochte, und o, wie Viele hatten den Zauber derselben schon empfunden! Seine Antwort war, daß er sich einen Moment von ihr abwandte, dann sagte er:

»Als Du mich damals verließest, nahm ich mir vor, ein Mann zu sein und meinen Schmerz zu besiegen, indem ich einzig meinem Beruf lebte. Drei Jahre habe ich gekämpft und gerungen mit der Erinnerung an Dich; ich habe gearbeitet Tag und Nacht in Sorgen und Mühen um meine Gemeinde; ich habe gelehrt, gestraft, Bürden aller Art auf mich genommen, um Herr über mein Herz zu werden. Endlich war ich so weit, daß ich an Dich zu denken vermochte ohne nagenden Schmerz, daß ich mir einreden konnte: Triumph, Du hast nun überwunden! Da kam die Nachricht zu mir, daß Du hier seiest; Dein Name, Dein Lob war auf allen Lippen; ich aber glaubte, ich dürfe jetzt wagen, Dich wiederzusehen, wäre vielleicht im Stande, mich ruhig Deiner Kunst freuen zu können, ja, ich sagte zu mir, ich müsse die Prüfung auf mich nehmen, um mir selbst zu beweisen, daß mein Sieg ein vollkommener sei. Ach, ich erkannte nicht, daß sich die Sehnsucht, das heiße Verlangen nach Dir nur künstlich versteckte, daß es dies allein war, was mich zu Dir trieb! In dem Augenblick, wo ich Dich sah, wußte ich, daß die ganze Arbeit dieser Jahre eine verlorene gewesen ist – mir ist, als hätte ich Dich erst heute verloren.«

Eine unsäglich schmerzliche Rührung spiegelte sich in Gabriele's Augen.

»Clemens,« sagte sie weich, »muß ich Dich lehren, daß wir etwas Anderes im Leben zu suchen haben als persönliches Glück?«

Seine Augen öffneten sich weit. »Bist auch Du nicht glücklich, Gabriele?«

Ein wunderbares Lächeln glitt über ihre Züge.

»Frage den Dichter, wenn er schafft, den Bildhauer, wenn er meißelt, oder den Maler, wenn er seine Farben auf die Leinwand trägt, ob sein eigenes Leben ihm noch gehört, ob es ihm noch etwas bedeutet. Und so wie es ihnen ist, so ist es mir: im Dienst der Kunst erlischt das eigene Schicksal! Aber wenn durch mich volles, warmes Leben gewinnt, was dem Dichter als glänzende Lichtgestalt vorgeschwebt hat; wenn die Blicke der Menge vor Lust glänzen, vor Rührung feucht werden, dann schwillt mir das Herz hoch auf: ich weiß dann, daß auch ich gewirkt habe für die Unsterblichkeit, nicht für die des kleinen Ich, sondern für die des Schönen, des Ideals und, Clemens – ich trachte dann nach nichts mehr, was die Welt noch bieten kann!«

Ihre Wangen hatten sich geröthet, ihre Augen blitzten in Begeisterung, als sie sprach; aus seinen Zügen aber wich nicht der schmerzliche Ausdruck.

»Du kannst so reden, Gabriele,« sagte er, »Dir wird es leicht gemacht, Dein Leben, Dein Alles an ein einziges Streben zu setzen, denn Du hattest ihm das Herz nicht zum Opfer zu bringen!«

»Wer sagt das, Clemens?«

Leise, fast wie von Geisterhauch geflüstert, klangen die Worte, und doch waren sie mächtig genug, um sein ganzes Innere leidenschaftlich aufzuregen.

»Gabriele,« rief er, »rede! Um Deiner und meiner Seligkeit willen sprich! Wenn Dein Herz je für mich schlug, so verleugne es nicht in dieser Stunde!«

Sie erhob wie abwehrend die Hand.

»Still, Clemens, still! Seine Kämpfe sind niedergerungen in jenen Tagen des Erwachens, die mir mit einem Mal all' mein Fühlen, aber auch mein Wollen klar machten. Ich habe damals über mein Leben für alle Zeit entschieden«

»O, Gabriele,« rief er, »dem Ruhm konntest Du die Liebe opfern! – Allein die Liebe, sie ließ sich nicht tödten, das lese ich in Deinen Augen, in jedem Zuge Deines Angesichts! Ich aber habe in diesem einzigen Augenblick ein heiliges Recht auf Dich gewonnen und werde es mir nimmer wieder entreißen lassen!«

Erschreckt von seiner heftigen Erregung trat sie zurück.

»Besinne Dich, Clemens, unsere Wege liegen weit, weit auseinander!«

»Ich weiß es, und es war nicht meine geringste Qual, daß ich keine Macht hatte, Dich den Gefahren des Deinen zu entreißen! – – Nun aber führe ich Dich den reinern Weg – von dieser Stunde an lasse ich Dich nicht mehr! Weißt Du noch, daß die Worte lauteten: ›Von der Welt, von Gott selbst fordere ich Dich zum Eigenthum!‹ Weißt Du es noch, Gabriele?«

Diesmal bewältigten sie jene Worte, mit welch' glühender Wärme sie auch gesprochen wurden, nicht mehr.

»Täusche Dich nicht, Clemens,« sagte sie, »was uns damals trennte, steht auch jetzt zwischen uns! Mein Leben hat nur eine Gebieterin und das bleibt die Kunst«

Er fühlte, daß die Kälte, mit der sie sprach, nur eine angenommene war, und aller Muth, alle Hoffnungsseligkeit einer frühern, glücklichen Zeit lebten in seiner Seele auf.

»Gabriele,« sagte er innig, »es ist so süß, Denen, die man liebt, ein Paradies zu bereiten!«

Das war die weiche Stimme, die sie immer so geliebt hatte und die in dieser Minute im innersten Herzen wiederhallte – und doch mußte sich dies Herz gegen ihren Klang verschließen! – Einen Augenblick preßten sich die Hände, in die ihr Haupt gesunken war, noch fester gegen ihr Gesicht und ein Zittern lief durch ihren Körper, dann aber ließ sie die Arme langsam sinken und sagte mit gewaltsamer Ruhe, die ihre Stimme fast hart machte:

»Ein solches Paradies ist nicht für mich, Clemens; ich kann es nicht bereiten, nicht in ihm wohnen, es ist vergebens, mich mit seinem Zauber zu locken!«

Er zuckte zusammen wie von einem heftigen Schmerz ergriffen und seine Züge wurden bleich.

»Gabriele,« rief er, »die Natur des Weibes liegt nicht in Dir oder – Du verleugnest sie und frevelst gegen das heiligste Gesetz der Menschheit!«

Ihre Augen blickten ihn ruhig, fast groß an.

»Ein Gesetz gilt nie für Alle, Clemens, mag man sich ihm auch nur auf eigene Gefahr entziehen! Ich – ich trage die Gefahr, trage es auch, daß Du mir Frevel Schuld giebst. Deine Worte ändern nichts in mir; darum ein Mal noch und zum letzten Mal: Laß ab von mir!«

Der Ton ihrer Rede sagte ihm mehr noch als diese selbst, daß er nichts mehr zu hoffen habe.

»Verloren –verloren!« murmelte er und wandte sich im bittersten Weh von ihr. – –

Nach einer Pause trat er noch ein Mal an sie heran und sagte mit mühsam errungener Fassung:

»Du hast in dieser Stunde das Loos geworfen über Dich und über mich: so sei es denn, Gabriele! – Wir müssen scheiden, ich begreife das jetzt, und auch, daß wir uns im Leben nicht wiedersehen dürfen.«

Ihre Festigkeit schmolz in ausbrechenden Thränen für einen Augenblick dahin.

»Vergieb mir Clemens, und denke an mich, wenn es sein kann, ohne Groll!«

»Wie ich an Dich denken werde, weiß ich jetzt nicht,« sagte er, »wie ich überhaupt jetzt kaum zu denken vermag. Ich fühle nur, daß es unmöglich ist, das Leben so wieder zu beginnen, wie es vordem war, und mir ist sogar, als wenn es später nicht mehr so todt in meiner Brust sein würde; ich muß nur erst einen Entschluß für die Zukunft fassen. Ich glaube auch, ich kann dann wieder für Dich beten.«

»Ja, bete – bete für mich,« rief sie erschüttert, »wie ich für Dich beten werde!«

Sie wollte auf ihn zueilen, seine Hände ergreifen; er aber wehrte sie fast ängstlich ab und sagte:

»Laß mich, Gabriele – ich kann nicht mehr! Es muß nun Alles zwischen uns zu Ende sein – Alles!«

Dann, ohne sich noch einmal umzusehen, ohne ihr einen Gruß, ein Lebewohl zuzuwinken, schritt er aus dem Zimmer. Sie aber sank zusammen in Schmerz und Thränen.

 

Es war nur wenige Tage später, als Baron Felix zu Gabriele in's Zimmer trat. So abgesondert sie sich sonst hielt – der junge Officier hatte in dieser Beziehung nicht übertrieben – diesem einen bewährten und zartsinnigen Freunde hatte sie den Zutritt nicht geweigert, wie er der Einzige war, mit dem sie auch über ihre persönlichen Verhältnisse sprach. Kannte er ja doch all' ihre früheren Verhältnisse und konnte daher selbst das Unausgesprochene verstehen! –

Heute verriethen ihr seine Mienen sofort, daß er ihr Etwas zu sagen habe, und ihre besorgte Frage war, was es sei, das ihn zu ihr führe.

»Ich bringe Ihnen einen letzten Gruß, ein Lebewohl von Clemens,« sagte er. »Er geht in den nächsten Tagen als Missionär nach einer südafrikanischen Station. Der Entschluß ist ihm plötzlich gekommen.«

Einen Moment stand sie regungslos, dann sagte sie leise, als spräche sie zu sich selbst:

»So tief und weit mußte die Trennung sein?!«

Er begriff Alles; er beugte sich auf ihre Hand nieder, zog sie an seine Lippen und sagte:

»Gönnen Sie es ihm, daß er auf seine Weise den Frieden sucht! Auch ihn mögen Sterne leiten, gleich wie Sie Ihren Sternen gefolgt sind!«

Sie drückte seine Hand, den Blick aber, der sich dankbar für den Trost zu ihm erheben wollte, verschleierten Thränen.

Wie krank und wund im Herzen Gabriele sich in dieser Zeit fühlen mochte – die Menschen ahnten von alledem nichts, denn ihrem Beruf entzog sie sich nicht; vor der Welt war sie nur die begeisterte, zur Begeisterung hinreißende Künstlerin und als solcher huldigte ihr bei jedem Auftreten das Publicum aller Stände. – Aber auch außerhalb der Bühne drängte man sich nach ihr, denn ihre Persönlichkeit galt für so anziehend, daß man wie nach einer Auszeichnung danach trachtete, mit Fräulein Gärtner in irgend eine Beziehung zu kommen. Daß es dabei auch an Zudringlichkeiten nicht fehlte, durfte nicht überraschen, aber bewundern mußte man, wie Gabriele diese von sich abzuwehren verstand, wie sie namentlich der Herrenwelt, deren Versuche, ihr zu huldigen, häufig genug an Unverschämtheit streiften, eine Haltung zeigte, welche auch die Kühnsten von der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen überzeugen mußte.

Hatten aber auch ihre Mittel bereits gewirkt und ihre Verehrer begriffen – wie dies die Aeußerungen des jungen Officiers bewiesen daß sie ihr Entzücken in Schranken zu halten hatten, so sah sie sich auf's Neue solch' unerwünschten Huldigungen ausgesetzt, seitdem Bennett in den Kreis der Kameraden getreten war. Wieder regneten die üblichen Spenden von Sträußen, mit denen man sogar Pretiosen bei ihr einzuschmuggeln suchte, von Gedichten und bald in zarter, bald in kühnerer Sprache geschriebenen Briefchen, deren Unterschrift auch schnell genug den Schreiber nannte; und wieder hatte Gabriele die Augen offen zu halten, daß jede dieser Gaben an den Absender als ein beschämendes Zeichen kalter Geringschätzung zurückgelangte.

Aber mit alledem scheuchte sie Bennett nicht von sich, vielmehr reizte sie ihn nur, sich ihr mit seiner Person auf die verschiedenste Art in den Weg zu stellen, um sie zu zwingen, ihm die so stolz versagte Beachtung zuzuwenden. Gabriele indessen täuschte sich so wenig über den Charakter seiner Werbungen, wie es Jeder hätte thun können, der Bennett kannte, und wie namentlich die Kameraden, welche jene Champagnerfête mit ihm gefeiert hatten, über denselben klar waren.

» Qui vivra, verra!« hatte er den Letzteren damals beim späten Auseinandergehen zugerufen, und nicht unschwer ließ sich das übermüthige Wort dahin deuten, daß er sich vermessen hatte, ihnen seinen Sieg über die schöne Künstlerin vor Augen zu stellen, nachdem sie ihn vielleicht durch Zweifel an seiner Allgewalt zu dem Schwur gestachelt hatten. –

Von dem Tage an sah Gabriele sich von seinen Aufmerksamkeiten verfolgt und dieselben hielten sich bald so wenig in den Grenzen ritterlicher Artigkeit, daß sie zu der schroffsten Abweisung ihre Zuflucht nahm und z. B. seinen Gruß nicht mehr erwiederte, wenn er ihr auf der Straße begegnete

Natürlich brauchte Bennett nun nicht mehr für den Spott zu sorgen; die Kameraden rächten sich dafür, daß er sich Anfangs ihnen Allen überlegen gedünkt hatte! Was Wunder, daß sein Aerger mit jedem Tage bitterer ward? Galt es ja doch nicht allein seinem Erfolg bei der spröden Schauspielerin, sondern auch seinem ganzen Ansehen bei den Kameraden. Beides konnte nur noch durch einen glücklichen Coup gerettet werden.

 

Der letzte Act der heutigen Vorstellung im Theater – einer der letzten ihres Gastspiels – war vorüber. Gabriele hatte sich in ihr Ankleidezimmer zurückgezogen, um das schimmernde Costüm der Bühne mit dem gewöhnlichen Anzuge zu vertauschen und sich für die Heimfahrt bereit zu machen; doch fehlten ihr dabei heute die gewandten Hände ihrer Jungfer, da dieselbe über unerträgliche Kopfschmerzen geklagt hatte und deshalb von der gutmüthigen Herrin schon während eines Zwischenactes nach Hause gesandt worden war. Sie selbst bediente sich dafür der Hülfe einer Theatergarderobière, welche sich indessen auffallend ungeschickt erwies und nicht allein sehr langsam bei dem Ankleiden war, sondern auch bald dies, bald das Stück der Garderobe verlegt hatte, dessen Wiedersuchen dann ebenfalls das Fertigwerden verzögerte.

Weit später als sonst trat Gabriele daher aus ihrem Zimmer und durchschritt nun eilig den Corridor, um von hier nach einem Seitenausgang des Theaters zu gelangen, welchen die Schauspieler für sich benutzten und vor dem auch, wenn sie die Wege nicht zu Fuß machten, ihre Wagen vorfuhren.

»Ist mein Wagen bereit?« fragte sie den ihr begegnenden Theaterdiener, und diensteifrig eilte dieser hinaus, um nachzusehen oder den Befehl zum Vorfahren zu ertheilen.

Nach einigen Minuten kehrte er jedoch mit etwas verlegenem Gesicht zurück und meldete, daß der Wagen da gewesen, aber bereits wieder fortgefahren sei.

»Nun, wie ist das möglich?« rief Gabriele.

»Das fragte ich auch!« entgegnete der Mann naiv, »und da sagte mir der Diener einer Herrschaft, der zufällig zurückgeblieben war, der Kutscher habe ihm beim Wegfahren erzählt, er brauche nicht zu warten denn seine Dame hätte ihm soeben sagen lassen, daß sie in einer andern Equipage – in der des Herrn Baron von Goerben, glaube ich – nach Hause fahren würde.«

»Aber das ist unbegreiflich oder – unerhört!« rief Gabriele, die in dem Augenblick noch nicht zu übersehen vermochte, ob ein bloßes Mißverständniß zu Grunde lag, oder ob man ihr einen übel genug angebrachten Possen hatte spielen wollen.

Neigte sie sich indessen der ersten Auffassung zu und suchte sich zu beruhigen, so erregte es ihr ein höchst unangenehmes Gefühl, als in diesem Augenblick durch eine Nebenthür, welche den Corridor in Verbindung mit dem Vorhause und so zugleich mit dem Hauptausgang setzte, ein Herr trat; denn dieser Herr, der sie augenscheinlich suchte, war Bennett.

»Mein Fräulein,« redete er sie an, »ich höre soeben von einem Mißgeschick, das Sie betroffen hat, und beeile mich, Ihnen meine Dienste anzubieten!«

»Ich danke Ihnen, mein Herr, unterbrach sie ihn kühl abweisend, »ich bedarf Ihrer Dienste nicht, da der Theaterdiener hier, so viel als nöthig ist, für mich sorgen kann! – Sie werden mir rasch einen andern Wagen besorgen!« wandte sie sich dann an den letztern.

»Die Wagen sind alle fort, Fräulein Gärtner,« sagte der Diener bedenklich, »und es möchte so schnell – –«

»Nun gut, so gehe ich zu Fuß,« unterbrach sie ihn kurz.

»Es liegt fußhoher Schnee, mein Fräulein,« sagte Bennett lächelnd, »auf den Ihre Fußbekleidung« – er deutete auf die weißen Atlasschuhe, welche sie noch trug – »offenbar nicht eingerichtet ist. Zudem aber würde es sich Ihnen von selbst verbieten, den weiten Weg bis zu Ihrer Wohnung zu dieser Zeit allein zu wagen und ich Sie deshalb zu bitten haben, sich in diesem Fall meine Begleitung gefallen zu lassen.«

»Ich ersuche Sie, mein Herr,« entgegnete Gabriele stolz, »mir keine Vorschriften für mein Verhalten aufzudrängen!«

»Nur eine einfache Lösung der kleinen Verlegenheit ist's, die ich Ihnen biete,« entgegnete Bennett, ohne sich im Geringsten aus der Fassung bringen zu lassen. »Die Wagen sind, wie der Theaterdiener bemerkte, fort – bis auf einen, den ich für mich selbst reservirte, weil ich noch die Soirèe eines außerhalb der Stadt wohnenden Gastgebers besuchen wollte. Indessen – die Soirèe mag warten! Haben Sie die Gnade, sich meines Wagens zu bedienen und erlauben Sie mir nur, Sie bis dahin zu führen!«

Er bot ihr seinen Arm, aber unwillkürlich wich Gabriele einen Schritt zurück und ihre Blicke suchten in aufsteigender Aengstlichkeit umher. Der ganze Corridor war indessen von Menschen leer, selbst der Theaterdiener hatte sich – sei es nun zufällig, oder durch einen Wink Bennett's dazu aufgefordert – zurückgezogen und sie sah sich mit dem Manne, den sie als ihren Verfolger betrachtete, allein.

Zwar lag in seinem gegenwärtigen Anerbieten nichts, was sie hätte verletzen, oder auch nur beunruhigen können, denn wie ein bloßer Zufall dasselbe herbeigeführt zu haben schien, so war seine Artigkeit keine andere, als ein jeder höflicher Herr sie gegen eine Dame in ihrer Lage geübt haben würde. Dennoch sträubte sich Alles in ihr, dieselbe anzunehmen, und als wenn plötzlich eine Ahnung in ihr aufstiege, daß das Ganze die Wirkung eines fein angelegten Spiels sei, sagte sie:

»Haben Sie sich Mühe gegeben, einen Triumph über mich zu gewinnen, so betrachten sie dieselbe als verloren; ich werde eher jeden Beistand annehmen als den Ihren!«

Der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich; das einschmeichelnde Lächeln wich einem drohenden Blick seines Auges;

»Thun Sie es auf Ihre Gefahr!« sagte er halblaut, aber rauh. »Es wäre eine Insulte für mich und ich würde sie auf der Stelle rächen!«

Für einen Moment war sie eingeschüchtert und besann sich, was sie thun sollte. Er sah das und ließ ihr nicht Zeit zur Ueberlegung, denn er wußte, daß er keine Minute verlieren durfte, wenn er mit seinem Erfolg vor den Augen der Kameraden glänzen wollte. Rasch und entschlossen bemächtigte er sich ihres Arms, indem er ihre Hand so fest hielt, daß es ihr unmöglich wurde, ihr denselben wieder zu entreißen und eben so rasch zog er sie der Thür zu, die Beide von dem noch im Vorhause befindlichen Publicum trennte. Ehe Gabriele sich fassen konnte, sah sie sich dieser Menge – es waren größtentheils Officiere – gegenüber und in demselben Augenblick bog sich ihr Begleiter dicht an ihr Ohr und flüsterte:

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihnen kein Haar gekrümmt werden, kein Wort Sie kränken soll, wenn Sie sich ruhig an den Wagen führen lassen!«

In dem Moment, als die Thür von Bennett geräuschvoll aufgerissen worden, war jedes Gespräch unter den hier Versammelten verstummt und jeder Blick wandte sich nach der Erscheinung der Künstlerin am Arm Bennett's, der sich – das sahen noch Alle – vertraulich gegen sie geneigt hatte und lächelnd mit ihr plauderte.

Ja, Bennett lächelte, denn Niemand sollte ahnen, durch welche Drohung er ihr Widerstreben bezwang, er selbst aber durfte triumphiren, denn seine Kameraden erblickten das Schauspiel vor Augen, das er ihnen verbeißen hatte.

»Wahrhaftig, er hat nicht geprahlt; die Gärtner zeigt sich an ihrem Arm!«

»Teufelskerl, der Bennett!« flüsterte es in seiner Nähe.

Gabriele hörte die Worte; in einem einzigen Augenblick war ihr klar, daß sie das Opfer einer Büberei werden sollte und ihre letzte Kraft zusammennehmend, ohne dabei noch an Bennett's Drohung zu denken, riß sie sich von ihm los und rief:

»Der Herr fügt mir eine Beleidigung zu – wer ist ritterlich genug, ihm das zu wehren?!«

Die Worte waren noch nicht ausgesprochen, so theilten sich die Gruppen vor ihr und ehe sich noch irgend eine Hand zu ihrem Schutze hatte rühren können, stand ein Herr an ihrer Seite, dem Alle Platz machten, weil Jedem die vornehme Erscheinung imponirte.

»Ich bitte um Ihren Arm, Fräulein Gärtner,« sagte Baron Goerben – denn er war es – »Ihr eigener Wagen wartet vor der Thür, da sich ein vorgefallener Irrthum,« er betonte das Wort scharf, »noch früh genug aufgeklärt hat.«

In der Secunde, als Gabriele den Schützer an ihrer Seite wußte, wankte sie und fühlte sich einer Ohnmacht nahe; zugleich aber lag schon ihr Arm in dem seinigen.

Bennett knirschte; er sah sich der Lächerlichkeit preisgegeben und um sich vor ihr zu retten, sagte er zu Goerben:

»Wer giebt Ihnen das Recht, mein Herr, hier als Tugendwächter aufzutreten? Bis Sie mir das documentiren, nenne ich Ihr Benehmen eine unerlaubte Dreistigkeit!«

»Zuerst werden Sie mir gestatten müssen die Dame zu geleiten,« sagte Felix kalt, »nachher stehe ich zu Ihren Diensten.«

Darauf führte er Gabriele durch die überraschte, aber schweigende Menge dem Wagen zu, wo sich ihr beim Einsteigen zwei andere Hände diensteifrig entgegenstreckten. Es waren die ihrer Gesellschaftsdame, welche mitgekommen war, um Gabriele abzuholen und deren Schutz Felix letztere nun sicher überlassen konnte. – Er selbst kehrte dann noch für einige Minuten in das Theater zurück.

Was Gabriele später aus dem Munde der Gesellschafterin über jenes anscheinende Mißverständniß erfuhr, was sie sich selbst zusammenreimte, steigerte ihre Ahnung, daß die falsche Weisung an den Kutscher von keinem Andern als von Bennett selbst ausgegangen war, fast zur Gewißheit und eben so klar war es ihr, daß das Unwohlsein des Kammermädchens, die Ungeschicklichkeit der Garderobière mit seinem Vorhaben zusammenhing, daß Alles sich auf eine von ihm angelegte Intrigue zurückführen ließ und daß wiederum der Zweck derselben kein anderer gewesen war, als ihren Ruf in den Augen des Publikums zu compromittiren. Daß er den Streich nicht bis zu Ende hatte durchführen können, verdankte sie nur dem Dazwischentreten des Baron Goerben!

Von diesem letzten sagte ihr dann noch die Gesellschafterin, daß er schon eine Weile vor Beendigung der Vorstellung in das Haus gekommen sei – wie es ihr geschienen, in besonders erregter Stimmung – und daß er gegen sie geäußert habe, er wolle Gabrielen's Rückkehr hier erwarten, da er sie noch am heutigen Abend sprechen müsse. Als er dann den Wagen gehört habe, sei er hinausgeeilt, sie zu empfangen, gleich darauf aber mit einer gewissen Bestürzung zurückgekehrt, um ihr in kurzen Worten mitzutheilen, daß Fräulein Gärtner durch irgend ein Mißverständniß – wenn nicht etwas Schlimmeres – im Theater zurückgehalten worden sei und sie zu bitten, mit ihm zu fahren, da er dem Kutscher befohlen habe, auf der Stelle umzukehren.

In all' ihrer Aufregung vergaß Gabriele nicht, dem Freunde im Stillen für seine stille, zarte Fürsorge zu danken.

 

Am andern Tage wußte es die ganze Stadt, daß in der Frühe des Morgens eine Begegnung zwischen dem Baron Felix von Goerben und dem Lieutenant von Bennett stattgefunden hatte und eben so war es kein Geheimniß, daß die von dem letztern gegen die Schauspielerin Gabriele Gärtner ausgeübte Insolenz der Grund derselben gewesen war.

Es zeigte sich dabei, wie groß und allgemein die Achtung war, in welcher der junge Edelmann stand; denn Niemandem fiel es ein, Glossen über sein Auftreten zu machen, vielmehr pries man die echte Ritterlichkeit seines Benehmens, während fast Jeder dem übermüthigen Officier die erhaltene Züchtigung – die Kugel des Gegners hatte ihm die eine Schulter nicht unerheblich verletzt – laut oder im Stillen gönnte.

Auch zu Gabriele war die Kunde von dem Duell gedrungen und hatte die Aufregung, in die sie der gestrige Vorfall versetzt, auf den höchsten Grad gebracht.

In diesem Zustand noch fand sie Felix, der am Abend dieses Tages – Gabriele war glücklicherweise von ihrer Kunst nicht in Anspruch genommen – zu ihr kam. Sie streckte ihm wie zum Dank beide Hände entgegen, dann aber brach sie in leidenschaftliches Weinen aus.

Er suchte die Sache leicht zu nehmen und sie zu beruhigen und verwahrte sich eifrig dagegen, daß er etwas Großes gethan, sein Leben, wie sie meine, in die Schanze geschlagen habe.

»So gefährlich und so tragisch pflegen solche Duelle selten zu werden,« sagte er halb scherzend, »und ich habe deshalb auch keinen Augenblick gefürchtet, daß das Ende meiner Tage gekommen sein könnte. Dagegen hatte ich allerdings den guten Willen, meinem Gegner einen gesunden Aderlaß beizubringen und ich denke, Ihre christliche Milde geht nicht so weit, daß Sie allzu großes Erbarmen über diese Cur empfänden. Daß sie geholfen hat und Sie in Zukunft vor ihrem Beleidiger sicher sein werden, hoffe ich, Ihnen versprechen zu dürfen.«

War es dem Baron nun aber auch gelungen, diesen einen Eindruck bei Gabriele abzuschwächen – ihr eine ruhige, gefaßte Stimmung zurückzugeben, vermochte er nicht. Der Vorfall des gestrigen Abends hatte sie einer Erschütterung preisgegeben, die all' seinem Zureden nicht weichen wollte und der Muth, welcher sie durch so manche Schwierigkeit ihres Berufs, ihrer Stellung sicher hindurchgeleitet hatte, schien ihr für den Augenblick ganz zu versagen.

»Sind wir Schauspieler denn vogelfrei, daß sich jeder mit seinen Angriffen an uns und unsern Ruf heranwagen darf? Schützt uns der strengste Wandel, die sorgfältigste Hut unserer Ehre nicht vor Beleidigung und Mißachtung?«

Er suchte sie zu begütigen; er stellte ihr vor, daß sie von dem frechen Benehmen eines Einzelnen nicht auf den allgemeinen Standpunkt schließen dürfe, daß vielmehr die echte Bewunderung der Kunst – und die sei doch Gottlob genugsam in der Welt vertreten – auch eine Hochstellung ihrer Priester und Priesterinnen in sich begreife.

Sie aber schüttelte nur traurig den Kopf.

»Mir selbst ist die Kunst heilig,« sagte sie, »und darum glaubte ich auch in ein Heiligthum zu treten, als ich mich ihrem Dienst widmete; seitdem aber – – o, wie oft habe ich es erfahren müssen, wie schnöde die Welt von diesem Heiligthum denkt; und wäre mir nie sonst die Erkenntniß gekommen, so wüßte ich jetzt, daß sie uns ausschließt von ihrer Sitte und ihrem Gesetz! Jener Officier – würde er sich gegen das ärmste Bürgermädchen erlaubt haben, was er der Schauspielerin zu bieten wagte? Sie deckt der Schild der allgemeinen bürgerlichen Moral – ich bin nicht sicher, wenn meine Schutzpatronin selber ihren hehren Mantel über mich breitet!«

Sie hatte sich auf ein Ruhebett sinken lassen und drückte ihr Gesicht gegen die Polster. –

Felix machte einige Gänge durch's Zimmer, als kämpfe er mit einem Entschlusse, dann blieb er vor ihr stehen und faßte ihre Hand:

»Gabriele,« sagte er, »wollen Sie in dieser Stunde Etwas hören, mir auf Etwas antworten, was ich Ihnen zu sagen habe, was mich schon gestern zu Ihnen trieb? Der Augenblick mag schlecht gewählt sein, aber ich kann Sie so nicht lassen, in Ihrer Erschütterung nicht ohne eine Erklärung von Ihnen scheiden, denn vielleicht sehen Sie in ihr zugleich den Weg, auf dem sich jede Noth und jede Verwirrung von selbst löst.«

Sie blickte ihm fragend und aufmerksam in's Gesicht.

»Sie sind mir theuer geworden, Gabriele,« sagte er, »theurer, als ich mir Anfangs selbst gestehen wollte und prüfe ich mein Leben, so wird mir klar, daß die Kunst, die Liebe zu ihr stets seinen schönsten Inhalt ausgemacht hat, daß ich sein Glück für die Zukunft nicht sicherer begründen kann, als wenn ich mich innig und unauflöslich mit ihr verbinde. Sie, Gabriele, sind mir als die schönste, die würdigste Vertreterin der Kunst erschienen, so habe ich Sie lieben lernen, so ist mir die Vereinigung mit Ihnen ein Ziel geworden, das des höchsten Strebens werth ist und so frage ich Sie denn: Wollen Sie mich zu Ihrem Gatten annehmen, Gabriele?«

Ihre Augen öffneten sich weit – so viel Beweise ihr der Baron von seiner Zuneigung, seiner Freundschaft gegeben – diesen Antrag hatte sie nicht erwartet!

»Baron Felix, ist es möglich?« stammelte sie fast – »bedenken Sie Alles! unsere Stellung – –«

Er lächelte.

»Fürchten Sie, daß die blinde Liebesleidenschaft eines Jünglings aus mir rede, daß Sie mich vor mir selbst zu warnen haben? Ich spreche mit klarem, durchdachten Entschluß, Gabriele, und darum fordern Sie auch nicht, daß ich Ihnen darlege, wie ich über das Meinen und Urtheilen der Welt denke, wie ihm entgegen treten würde, wenn es sich wider mich kehren sollte! Reichen Sie mir Ihre Hand und Sie werden erfahren, daß ich auch Sie zu schützen wissen werde.«

Die Vorstellung, unter seinem Schutze zu stehen, einen edlen, geachteten Mann zur Stütze zu haben, mit einem Schlage emporgehoben zu sein über alle Anfechtung und Gemeinheit, durchzitterte sie für einen Moment als ein Wonnegefühl. Dann aber kam ein anderer Gedanke mit einem Erschrecken über sie.

»Wird er Dich der Kunst nicht entreißen wollen, wenn er Dich begehrt?« fragte sie sich leise und laut sagte sie: »Sie verlangen Treue und Hingebung von mir – wissen Sie auch, wem ich diese zuerst gelobt habe?«

»Ich weiß es,« sagte er warm, »und nimmer kann es mir einfallen, Sie der Kunst rauben zu wollen! Ihr Beruf wird Ihnen aber erlauben, mir Das zu gewähren, was ich von Ihnen fordere!«

Ihre Augen leuchteten auf.

»Sie schrecken also nicht davor zurück, eine Schauspielerin Ihre Gattin zu nennen?« sagte sie.

»Eine Künstlerin wird mein Weib und vor der Welt, in der Gesellschaft, überall, wohin ich Sie führen werde, als solches anerkannt sein; mein Name aber wird Kraft genug behalten, Sie zu beschützen, auch für die Zeiten, wo Ihr Künstlername an seine Stelle tritt.«

»Wie?« fragte Gabriele, der seine Worte nicht sogleich völlig klar waren.

»Nun,« sagte er, »offen und ehrlich soll Alles zwischen uns beredet werden und darum verhehle ich Ihnen nicht, daß sich gewissermaßen eine Theilung Ihrer Persönlichkeit zu vollziehen hat, so daß Sie außerhalb der Bühne den Titel einer Baronin von Goerben tragen, während Ihr bisheriger Name nach wie vor die Künstlerin bezeichnet.«

Eine tiefe Bitterkeit bemächtigte sich für einen Moment des ganzen Innern der Schauspielerin.

»Ach, ich verstehe Sie jetzt,« rief sie: »Der vornehme Name würde doch entehrt werden, wenn eine Priesterin der Kunst ihn trüge!«

»Ah, Sie dürfen das nicht so auffassen,« bat er freundlich und eifrig, »es ist nicht um mich persönlich, aber – – Sie kennen die Welt nicht so wie ich, Gabriele – diese einzige Concession bin ich den Forderungen meines Standes schuldig! Kann es Ihnen schwer werden, den Namen noch weiter zu führen, unter dem Sie Beifall und Ruhm erworben haben und gewiß noch viele Lorbeeren pflücken werden?«

»Nein, gewiß nicht!« sagte Gabriele und es gelang ihr, der schmerzlichen Aufwallung Herr zu werden, gleich wie sie sich rasch zu voller Klarheit des Entschlusses durchgerungen hatte. Sie reichte dem Baron die Hand.

»Ich bin Ihnen dankbar, Herr von Goerben,« sagte sie; »dankbar für den Antrag, durch den Sie mich ehrten, dankbar auch dafür, daß Sie mir zu gleicher Zeit die Augen öffneten, über Das, was mir zu thun bleibt: daß ich auf Ihre Hand verzichten muß.«

»Wie, Gabriele, wäre es möglich?« rief er bestürzt, »gilt meine Liebe, gilt Alles, was ich Ihnen zu bieten habe, nichts gegen diese eine Bedingung? wiegt es den hohlen Klang eines Namens nicht auf?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was eine Kleinigkeit scheint, ist oft von schwerer Bedeutung – der kleine Riß hat mich in einen tiefen Spalt zwischen uns blicken lassen und der Spalt, mein Freund, ist nicht zu überbrücken. – Sie lieben die Kunst, weil sie Ihr Leben schmückt, Sie sind ihr ein freundlicher Mäcen, während ich – aber wozu Ihnen noch einmal schildern, wie ich zu ihr stehe? Sie würden mich doch nie ganz verstehen und begreifen können!«

»Aber, Gabriele, diese Vorstellungen sind thöricht!« unterbrach er sie fast ungeduldig, »sie können nicht die Antwort sein auf meine Werbung!«

»Doch sind sie es,« entgegnete sie ruhig. »Denken Sie über ihren Sinn nach, wenn Sie allein sind und Sie werden finden, daß ich Recht habe, wenn ich Ihnen sage: zu einem Paar sind wir nicht bestimmt –der Boden, auf welchem wir wandeln wollten, würde sich unseren Füßen entziehen.«

Er wollte Einwendungen machen, sie beschwören, einer andern Auffassung des Verhältnisses Raum zu geben – aber sie bat ihn ruhig und fest, nicht weiter in sie zu dringen. Er sah, daß das Gespräch in ihrem gegenwärtigen Zustand, den er noch der vorhergegangenen Aufregung zuschrieb, sie peinigte und wenn ihn auch die Hoffnung nicht verließ, sie doch noch zu gewinnen, für den Augenblick gab er jeden Versuch der Ueberredung auf.

Als Gabriele allein war, athmete sie eine Weile tief und schwer; ihr Kopf sank auf die Brust nieder und der Ausdruck ihrer Züge verrieth, daß trübe Gedanken sie beherrschten, daß die Erinnerung an manchen Kampf, manches harte Ringen durch ihre Seele zog. –

Allmälig aber richtete sie sich empor aus ihrer Versunkenheit, ihr Haupt hob sich und endlich stand sie da, jetzt, wo sie mit sich allein war, wie sie wol oft auf der Bühne gestanden hatte, wenn sie vor den Augen der Zuschauer von einer begeisterten Regung erfüllt und hingerissen ward.

Ihre Augen glänzten und über ihre Lippen drang es halblaut:

»War die Kunst würdig, daß ich ihr meine Liebe opferte, so ist sie auch werth, daß ich ihretwegen alles Andere hingebe, Alles ertrage! Ich will fortan keine Heimat, keinen Frieden, kein Glück suchen als nur in ihr!«

*

Wieder waren drei Jahre über Gabriele's Haupt dahingegangen. Die Voraussagung jenes jungen Officiers hatte sich erfüllt: sie glänzte jetzt als heller Stern am Künstlerhimmel, ihr Name war überall ein hochgefeierter geworden. Was sie gelebt, gelitten und erfahren – es hatte ihrem Wesen die Reife, ihrer Künstlerschaft die Vollendung gebracht; was aber ihrem Spiel das Besondere, Eigenartige gab, war, daß ihr ganzes Selbst in ihrer Kunst aufging, daß jede Rolle bis in ihre kleinste Nuancirung hinein von demselben durchdrungen war. Es waren stets eigene seelische Freuden und Schmerzen, die sie auf der Bühne zur Erscheinung brachte; ihr eigenes begeistertes Herz jubelte in den Tönen hochfliegender Wonne, ihre eigene Seele zitterte in todeswunden Schmerzen, ihr eigenes Innere rang in den Qualen und Stürmen der Leidenschaft. –

Es gab einzelne unter ihren Beurtheilern, welche ein solch' völliges Hingeben der Persönlichkeit tadelten, welche behaupteten, es entspräche nicht der eigentlichen Kunstregel, der höchsten Höhe ästhetischer Begriffe; Andere wieder – hauptsächlich ihre Kunstgenossen – schüttelten bedenklich den Kopf und sagten:

»Es ist unmöglich, daß die Gärtner in dieser Richtung beharrt: sie muß sich aufreiben, ihr Wesen zerstören, wenn sie es nicht von ihrer künstlerischen Aufgabe zu trennen weiß, sich so gänzlich mit ihrer Rolle identificirt!«

Doch aber – die Kritiker vergaßen ihren Tadel, die Bedenklichen ihr Kopfschütteln, in den Momenten, wo sie die Gärtner vor Augen hatten und fühlten sich wie alle Uebrigen hingerissen von dem Zauber ihrer Gestaltungskraft, der Gewalt unmittelbarsten Lebens. – Man sagte sich: ihr Spiel ist etwas nie Dagewesenes, ein unicum!

 

Es war in dieser Zeit ihrer unausgesetzten Triumphe, als Gabriele – sie hatte jetzt ein Engagement an einer der ersten Bühnen Deutschlands – von einer ihrer glänzendsten Rollen, in denen sie das Publicum geradezu entzündete, in ihre Wohnung zurückgekehrt war. Erschöpft, wie sie es jetzt nach jeder Vorstellung war, lag sie auf ihrem Ruhebett; dennoch schien sie zu kämpfen mit aufregenden Gedanken und Vorstellungen, denn sie wandte sich an ihre Gesellschafterin mit der Bitte, ihr etwas vorzulesen. Dieselbe wußte, daß Gabriele sich durch dies Mittel gewöhnlich zerstreuen und beruhigen ließ und eben so war ihr bekannt, welcher Art zu diesem Zweck die Lectüre sein mußte; daher wählte sie aus den ihr zur Hand liegenden Büchern und Journalen irgend einen leichten Stoff, der bis zu einem gewissen Grad anziehen konnte, ohne gerade tiefere Empfindungen anzuregen. –

Die Wirkung schien auch eine gute zu sein, denn Gabriele hörte still zu und ihre Athemzüge, die Anfangs unruhig gewesen waren, wurden allmälig sanfter und gleichmäßiger.

Als der Aufsatz zu Ende gelesen war, blickte die Gesellschafterin nach der Ruhenden, da sie dachte, dieselbe könne eingeschlafen sein; sie sah Gabriele's Auge indessen noch voll auf sich gerichtet und wußte damit, daß ihr Dienst noch nicht zu Ende sei. Mechanisch suchten ihre Augen weiter in den Blättern und eben so mechanisch las sie, was denselben gerade noch begegnete. Es war eine Mittheilung, die unter dem einfachen Titel »Notizen« stand; sie lautete:

»Port Natal in Südafrika. Aus dem Innern geht uns die Nachricht zu, daß der deutsche Missionär C. Hartmann, der als einer der rastlosesten, aufopferndsten Arbeiter seines Berufs bekannt ist, den Anstrengungen desselben in der Station …, der ungesundesten des ganzen Bezirks, im August dieses Jahres erlegen ist.«

Ein Ton, halb ein Seufzen, halb ein Stöhnen, der wie durch ein plötzliches Stocken des Athems abgebrochen ward, drang in das Ohr der Vorleserin. Erschrocken blickte sie auf und sah Gabriele todtenbleich, mit geschlossenen Augen, die Hand krampfhaft auf's Herz gedrückt, daliegen. Der Ruf, den sie unwillkürlich ausstieß, ward von den Lippen der Herrin nicht beantwortet und als sie sich mit Entsetzen über dieselbe neigte, mußte sie sich fragen, ob sie todt sei, denn jede Spur von Leben war aus der kalten, starren Hülle entwichen. –

In der nämlichen Minute noch war das Haus alarmirt und noch keine Viertelstunde war vergangen, ehe Gabriele in den Händen des Arztes war.

Nein, sie war nicht todt – eine tiefe Ohnmacht nur hatte ihre Sinne umfangen: sie kehrte bald wieder zum Bewußtsein zurück und lehnte die Annahme, daß sie krank sei, entschieden ab. Es schien kaum noch ein Grund zur Besorgniß – dennoch aber wich die letztere nicht aus dem Gesicht des Arztes und leise sagte er zu der Gesellschafterin:

»Die Ohnmacht rührte von einem Herzkrampf her; für den Augenblick ist dieser gewichen, aber er kann und wird wiederkehren, wenn Fräulein Gärtner sich nicht mehr schont. Diese ewigen Gemüthsaffectionen, denen sie sich auf der Bühne hingiebt, müssen ihr Nervensystem untergraben!«

Auch der Künstlerin selbst sagte der Arzt, als sie genesen war, was er gegen die Gesellschafterin geäußert hatte und machte ihr die Pflege ihrer Gesundheit zur Pflicht. Aber Gabriele schüttelte nur mit halbem Lächeln den Kopf und sagte:

»Ich darf mich meinem Beruf nicht entziehen – kann ich daran denken, was daraus werden soll?«

 

Sechs Monate später folgte Gabriele der Aufforderung zu einem Gastspiel an der Bühne jener Residenz, die vor Jahren den Anfang ihres Ruhms gesehen hatte und an die sie so viel süß-schmerzliche Erinnerungen knüpften. – Sie zählte in der Stadt noch viel warme Freunde und wer in der ersten Reihe derselben stand, war Baron Felix. – Daß er einstmals um sie geworben, daß sie seine Hand ausgeschlagen, hatte an dem Verhältniß der Freundschaft nichts geändert. Er hatte seine früheren Empfindungen überwunden und ihrer künstlerischen Entfaltung sein volles Interesse bewahrt, sie in ihrer steigenden Berühmtheit mit fast stolzer Freude verfolgt. Sie dagegen wußte, daß sie auf seine stete Ergebenheit rechnen durfte und das Gefühl that der Alleinstehenden wohl.

Felix war der erste, welcher sie bei ihrer Ankunft begrüßte, ihr die Hand zum Willkommen entgegenstreckte. Das freudige Lächeln aber, das seine Züge zuerst belebt hatte, verschwand, als er sie genauer in's Auge faßte: bis in's Herz hinein erschrak er vor der Veränderung, die mit ihr vorgegangen war.

Zwar ihre Erscheinung war so schön wie sonst, ihr Antlitz sogar fast schöner, als er es je gekannt, aber es lag ein Zug, ein Ausdruck in ihm, den es früher nie getragen! Ein fast unirdischer Glanz leuchtete aus ihren dunklen Augen und ihm war, als sei derselbe der Wiederschein einer Flamme, welcher im Innern dieser schönen Hülle an ihrer Zerstörung arbeite.

Seine besorgten Fragen nach ihrem Befinden wies sie indessen lächelnd zurück, indem sie behauptete – wie sie es immer gethan hatte – daß sie von Krankheit und Schwäche fern sei; vollkommen wohl würde sie sich fühlen, fügte sie nach einer kleinen Pause noch hinzu, wenn sie einer Aufgabe ihres Herzens genügt und sich den völligen Frieden derselben an der einzigen Stätte, wo er für sie zu finden sei, gesucht habe. –

Er ahnte, was sie meinte; und als er nach einigen Tagen, die mit ihren Triumphen angefüllt gewesen waren, in die Wohnung Gabriele's trat und hier erfuhr, daß sie sich auf einen Tag von ihren Verpflichtungen gelöst habe, um eine Reise anzutreten – da wußte er, wohin diese Reise sie führte.

 

Der alte Pastor Hartmann saß in seinem stillen Studirzimmer und arbeitete an der Predigt, die er am morgenden Sonntag seiner Gemeinde halten wollte. –

Wer ihn so sah, mußte sich sagen, daß er in diesen letzten Jahren sehr alt geworden war; die früher so aufrechte, straffe Haltung war jetzt gebeugt, das Haar schloßenweiß gebleicht und die Hand, welche an den Blättern schrieb, zitterte merklich. Auch seine Sinne schienen stumpfer geworden zu sein – oder war er mit seinen Gedanken etwa so bei der heiligen Aufgabe, daß er auf nichts achtete, was um ihn her vorging?

Vielleicht konnte man es auch so erklären, daß er das Rollen des eleganten Wagens überhört hatte, welcher die Dorfstraße daherkam und jetzt, von einigen Neugierigen verfolgt, vor dem Pfarrhause hielt. Was seiner Wahrnehmung entging – es erregte um so viel mehr die Verwunderung seiner wenigen Hausgenossen! Eine vornehme, schwarzgekleidete Dame verließ den Wagen und trat in die Wohnung. Niemand kannte sie, hatte sie hier je gesehen und so konnte es auffallen, daß sie, nachdem sie mit bewegter Stimme nach dem Herrn des Hauses gefragt und erfahren hatte, daß er daheim sei, jede Führung ablehnte und sichern Ganges auf die Thür seines Wohnzimmers zuschritt. Es war offenbar, daß sie an dieser Stätte bekannt war.

Leise öffnete die Dame die Thür; der Greis sah und hörte sie nicht.

»Vater!« tönte es plötzlich halblaut und weichen Klanges neben ihm. Er starrte auf und fuhr jäh in die Höhe. Aug' in Auge standen sich Beide nach sechs Jahren gegenüber, aber Keins von ihnen wagte sich im ersten Moment zu regen.

»Vater Hartmann!« klang es noch einmal und noch weicher von ihren Lippen.

Ihre Blicke senkten sich flehender in die seinen, aber diese blieben hart.

»Wer ruft mich noch so? Die Schauspielerin, welche die ganze Welt kennt? Ich kenne sie nicht!«

»Nein, nicht die Schauspielerin; welche die Welt kennt,« sagte sie: »Die zu Dir kommt, ist das Kind, das Du einst aufnahmst und an Deinem Herzen gehalten hast!«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist lange her – was dazwischen liegt –«

»Ist viel Schmerz und Ringen,« fiel sie ein, »so viel ein Leben nur einzuschließen vermag.«

»Noch eins, Gabriele, Du vergissest das – – ein Grab!«

»Ja, ein Grab, Clemens' Grab und über ihm strecke ich die Hand nach Dir aus, die Versöhnung fordert – wirst Du sie zurückweisen, Vater?«

Statt der Antwort sank er in seinen Stuhl zurück und bedeckte sein Gesicht mit den gefurchten Händen, während große Tropfen zwischen seinen Fingern durchrannen.

»Es war mein einziger Sohn!« sagte er mit gebrochenem Laut.

Sie war zu seinen Füßen hingesunken und drückte ihr weinendes Antlitz gegen seine Kniee. Er stieß sie nicht fort, aber er zog sie auch nicht zu sich empor.

»Du hast ihm das Herz gebrochen, Gabriele; mit lächelndem Munde vielleicht!«

»Lächelnd?« sie erhob sich von ihren Knieen: »Kannst Du die Thränen zählen, die ich um ihn geweint habe?«

Zum erstenmal trat ein wärmerer Ausdruck in seine Züge: »So bereuest Du, Gabriele?«

Sie schüttelte leise das Haupt. »Ich bereue nicht; ich vermag es so wenig, wie ich anders handeln konnte als ich that, wie ich ungeschehen machen kann, was Leids daraus entsprang.«

Es entstand eine Pause zwischen ihnen, endlich sagte er:

»Deine Ideale von ehedem, Deine Träume – was ist aus ihnen geworden, Gabriele?«

Sie schwieg einen Augenblick, ehe sie antwortete:

»Was in meinen Vorstellungen Traum war, es ist vielleicht von mir abgefallen; aber die Ideale – sie sind geblieben, Vater, was sie waren, ehe ihr Abglanz sich in meine Seele senkte, was sie sein werden, wenn ich selbst lange aufgehört habe, zu ihnen emporzublicken: unzerstörbare und ewige Sterne! – Trost, Muth, Kraft, Begeisterung – Alles haben sie mir zugestrahlt bis zu dieser Stunde!«

Der alte Mann bedeckte die Augen mit der Hand; sein greises Haupt wiegte sich mehrere Minuten lang hin und her.

»Es mag sein,« sagte er dann, »daß Manches anders ist, als ich es im Leben erkannt habe; ich bin aber zu alt geworden, um das noch zu verstehen.«

»Aber Du zürnst mir nicht mehr?« rief sie von freudiger Hoffnung bewegt, als sie seinem Ton anhörte, daß die starre Rinde seines Herzens zu weichen begann.

Er antwortete nicht gleich; da faßte sie seine Hand und sagte mit wunderbarer Innigkeit:

»Um Clemens willen, der seinen Frieden gefunden hat: schenke auch mir den Frieden! Denke, daß er selbst zu Dir spräche: Segne sie, die ich geliebt habe, Vater!«

Es war nur ein kurzer Augenblick, daß er zauderte – dann aber sanken seine Hände auf das Haupt der Knieenden und er flüsterte:

»Sein Friede sei zwischen uns – Gottes Frieden komme über Dich – stehe auf, Gabriele!«

Sie warf sich an seine Brust und die Thränen, die über ihre Wangen rannen, mischten sich mit denen des Greises.

»Darf ich wieder zu Dir kommen, Vater, darf ich immer kommen, wenn ich über meine Wege gebieten darf?« fragte sie nach einer Weile, als sie ihm Lebewohl zu sagen hatte.

Er sah ihr klar, fast lächelnd in's Gesicht: »Ja, Kind, komme nur! Aber ich denke, Du findest mich bald nicht mehr; ich fühle es, mein Weg geht zu Ende.«

Sie wollte etwas erwiedern, aber die Sprache versagte ihr.

Stumm lehnte sie noch einmal ihr Haupt an seine weißen Haare, küßte seine Wangen, seine Hände und verließ dann das Zimmer.

 

Zwei Tage, nachdem Gabriele von jener Reise zurückgekehrt war, trat sie als Maria Stuart zum letzten Mal vor das Publicum. – Die höchste, herrlichste Entfaltung ihres Talents schien an diesem Abend erreicht zu sein, ihr Genius die letzte Fessel abgestreift zu haben und selbst die gewiegtesten Kunstkenner mußten gestehen, nie etwas Aehnliches auf der Bühne erlebt zu haben. Mit immer steigenderm Antheil, zuletzt in fast athemloser Spannung, hatte man ihr Spiel verfolgt, jedem ihrer Worte gelauscht; selbst die Zeichen des Beifalls wagten sich nicht hervor, bis ihr rührendes Abschiedswort: »Lebt wohl – jetzt hab' ich nichts mehr auf der Erde!« verhallt war. Wie hatte noch der letzte, hinsterbende Hauch ihres Mundes die Seelen erschüttert! wie ergreifend wirkte auch die Bewegung, mit der dabei die Hand der unglückseligen Königin noch einmal nach dem Herzen zuckte, das hienieden so heiß geschlagen, so schmerzlich gelitten hatte!

Man rief begeistert nach Gabriele, als sie kaum die Scene verlassen hatte und ein Theil des Publicums ward fast ungeduldig, als sie dem Ruf nicht folgte, um schon jetzt die ihr bereiteten Huldigungen in Empfang zu nehmen. Die Einsichtigeren dagegen begriffen, daß eine solche Unterbrechung des Stücks seinem Geist wie dem Sinn der Künstlerin entgegen gewesen wäre und forderten zu ruhigem Warten auf, bis die wenigen noch fehlenden Scenen zu Ende gespielt seien. Nur ungern fügte man sich der Mahnung. Nun aber fiel der Vorhang und brausend, überwältigend brach jetzt der Beifallssturm los, forderte das Publicum Gabriele's Erscheinen, um sich selbst in der ihr zugedachten Ovation genug zu thun. Zahllose Kränze, die Fülle von Lorbeeren hielt man bereit, um sie zu überschütten und jedes Auge spannte sich, um die schöne Erscheinung noch einmal in ihrem vollen Glanze zu sehen. –

Die Pause wollte indessen kein Ende nehmen; der Vorhang hatte sich längst wieder gehoben und noch immer ward Gabriele nicht sichtbar. Man ward unruhig, man pochte, man rief stürmischer – da erschien mit offenbar bestürztem Gesicht der Director auf der Bühne, um dem Publicum mitzutheilen, daß Fräulein Gärtner leider nicht im Stande sei, sich zu zeigen, da sie am Schluß ihrer letzten Scene plötzlich von einem heftigen Unwohlsein ergriffen worden sei, das sofortige ärztliche Hülfe verlangt habe. In diesem Augenblick sei die Kranke bereits nach ihrer Wohnung geschafft worden.

Das Erste, was auf diese Erklärung folgte, war lautlose Stille; dann hörte man ein Murmeln, ein wirres Durcheinander von unzähligen Stimmen, denn alle machten ihrer Enttäuschung, ihrem Bedauern Luft. Dazwischen vernahm man auch Zweifel an der Wahrheit des Vorgebrachten, indem Viele geneigt waren, an eine Caprice der Künstlerin zu glauben und die Ansicht an den Satz knüpften: »Launen haben die Schauspieler einmal alle und für solche mag denn auch die Gärtner nicht zu gut sein!«

Wer aber von Allen am meisten durch die Kunde aus dem Munde des Directors betroffen worden, wem das Wort von Gabrielen's Erkrankung wie ein Messerstich in's Herz gedrungen war, das war Felix.

Er allein wußte, daß ihm die schlimmste Bedeutung zu geben war, wenn dem Publicum die volle Wahrheit auch noch einstweilen verhüllt werden sollte.

Mit unruhiger Hast bahnte er sich den Weg durch die Menge sein Ziel war Gabriele's Wohnung. – Niemand hielt ihn auf, als er in ihr Zimmer dringen wollte, Niemand trat ihm in den Weg, als seine Augen die geliebte Gestalt suchten.

Da lag sie auf ihrem Ruhebett, ausgestreckt und bleich, noch in den königlichen Gewändern, die sie auf der Bühne getragen hatte, umringt von ihren erschrockenen, schluchzenden Dienerinnen. Der Arzt, welcher anscheinend Belebungsversuche gemacht hatte, ließ gerade ihre Hand sinken und Felix sah, daß dieselbe schwer am Körper niederfiel.

»Um Gotteswillen, Doctor,« rief er angstvoll, »sprechen Sie! sagen Sie, daß sie nicht todt, daß diese Leblosigkeit nur Schein ist!«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Die Pulse stehen still für immer,« sagte er; »ein Herzkrampf – ich weiß, sie litt daran – hat sie getödtet!«

In tiefem Schmerz sank Felix an dem Lager nieder und preßte sein Angesicht gegen die kalten Hände der Todten. Bedauernd trat auch der Arzt noch einmal heran und blickte in die edlen, verklärten Züge Gabriele's.

»Schade um die Kunst,« sagte er – »die Lücke, welche dieser Tod hinterläßt, wird schwerlich sobald wieder ausgefüllt werden! Schade freilich auch um das junge Leben selbst, das ein so reiches war!«

Felix richtete sich hoch auf – auch seines Blicke hafteten nun an Gabriele's Antlitz:

»Ob wir die Todte beklagen dürfen, weiß ich nicht! Ihr hohes Streben hat hohen Lohn gefunden – was sollte eine Natur wie die ihre nach dem noch auf der Erde? – Den Lorbeer aber, den sie sich errungen und an dem die Thränen ihres Herzens hängen – wir legen ihn ihr auf den Sarg!«

 


 


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