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Das Casino, der abendliche Versammlungsort der Herren aus der höheren Gesellschaft, strahlte im Licht seiner Glaskronen und war bereits von Gästen ziemlich angefüllt. Während einige derselben in eifriger oder gemüthlicher Unterhaltung begriffen waren, andere sich den Spieltischen zuwandten, schlenderten verschiedene umher, indem sie sich zeitweilig dieser und jener Gruppe anschlossen, oder es damit genug sein ließen, daß sie die Versammlung so wie die Neueintretenden beobachteten. –

Jetzt gerade that sich die Thür des Saales, welche eine Weile geschlossen gewesen war, aufs Neue auf, und ein in jugendlichem Alter stehender Mann von schlankem Wuchs trat über die Schwelle. Das Aeußere desselben war wohl geeignet, einen Blick, der sich etwa zufällig auf ihn gerichtet hatte, für einige Zeit festzuhalten; denn neben der Regelmäßigkeit der Züge frappirte der eigenthümliche Contrast seiner bleichen, wenn auch nicht gerade krankhaften Gesichtsfarbe mit dem fast schwarzen Bart- und Haupthaar und den kaum weniger dunklen Augen, selbst wenn man nicht Zeit gewann, auf den besonderen Ausdruck der letzteren so wie des Antlitzes überhaupt zu achten.

»Sieh da, Wöllnitz!« sagte ein Gast, welcher einige Minuten lang mit einem anderen älteren Herrn, von dem er einige Male »Herr Doctor« angeredet worden war, eine Art lässiger Unterhaltung geführt, dabei aber seine Musterung der Ab- und Zugehenden nicht unterbrochen hatte.

Obgleich der Ausruf dem zuletzt Bezeichneten, der sich gerade zum Weitergehen anschickte, wohl nur noch halb gegolten hatte, drehte dieser sich doch rasch um und fragte mit einem gewissen Interesse:

»Der Assessor Wöllnitz, welcher erst kürzlich an unser Kreisgericht gekommen ist?«

»Derselbe, – mit Vornamen Leo!« bestätigte der Doctor. »Haben Sie vielleicht von ihm reden hören, wenn Sie ihn, wie Ihre Frage andeutet, nicht persönlich kennen?«

Der Herr lächelte.

»Nun ja, meine Frau hat ihn neulich auf einer Visite bei seinem Chef, der unser Verwandter ist, getroffen, und wenn sie nicht über die Jahre der Thorheit wie ich über die der Eifersucht hinaus wäre, so möchte mir der Eindruck bedenklich erscheinen, den der interessante Mann mit den ›Gluthaugen, in denen ein ganzer Roman geschrieben stände,‹ auf sie gemacht hatte.«

Der Doctor lachte.

»Ja, ja, die Frauen können sich immer noch nicht von den romantischen Empfindungen, welche unsere Zeit sonst, Gott sei Dankt so ziemlich abgethan hat, losmachen; sie wittern überall erhabene Schwermuth, unglückliche Liebe und, wie weiß ich, was sonst noch Alles, wo vielleicht nur gestörte Verdauung, verdorbene Milz &c. Blässe und Fieber in die Wangen gebracht haben!«

»Hören Sie auf, Doctor!« rief der Andere in eifriger, wenn auch humoristischer Abwehr. »Ich weiß es schon; für Sie ist das Herz nur eine Muskel, das Gehirn nichts als ein Motor für so und so viele Nervenstränge! Mich bekehren Sie trotz meiner grauen Haare nicht zu Ihrer Theorie; ich behaupte, es giebt Empfindungen, – Leidenschaften sagen wir! – die nur aus der Tiefe des Gemüths kommen und allemal, selbst in ihren Verirrungen den Funken von etwas Göttlichem in sich tragen. Und warum sollten solche Leidenschaften nicht auch in der Welt sein, warum nicht Ebbe und Fluth in unser Leben bringen?«

»Warum nicht?« wiederholte der Arzt ironisch und strich sich behaglich seinen Bart.

Der Andere warf ihm einen Blick zu, in dem sich gute und böse Laune mischten, schüttelte schweigend den Kopf und griff dann rasch nach seinem Hut.

»Wollen Sie nicht noch bleiben, Herr Kammerrath,« sagte der Doctor ruhig, »damit ich Sie mit dem Manne, um den wir Krieg führen, bekannt mache? Vielleicht entpuppt er sich Ihnen in Wirklichkeit zu einem Menschen, wie ihn sich der Romanschreiber erst künstlich zurechtstutzen muß: mit heißem Blut und noch heißerem Herzen!«

»Nein, ich danke!« entgegnete der Kammerrath, bei dem die humoristische Auffassung bereits wieder die Oberhand gewann. »Daß die Menschen, welche aus unserem gewöhnlichen, nüchternen Empfinden heraustreten, so leicht zu finden sind wie die Brombeeren, glaube ich, ehrlich gestanden, auch nicht! Ich gehe in's Theater, – Othello wird heute gegeben, und unser Merwitz spielt den Mohren vortrefflich; – da wenigstens lernt man doch wieder daran denken, daß es noch Dinge in der Welt giebt, die nichts mit Politik und Börsenactien, den Interessen, aus denen sich mehr oder weniger unser Leben zusammenzusetzen pflegt, zu thun haben!«

»Glück zu!« sagte der Doctor, aus dessen Gesicht das spöttische Lächeln noch nicht verschwunden war, indem er aber zugleich dem Bekannten kräftig die Hand schüttelte. »Lassen Sie sich immerhin etwas vorgaukeln; das Theater ist dazu der richtige Ort, – fast so richtig wie in mancher Beziehung das Leben selbst!«

 

Unterdessen war Derjenige, über den sich die Unterhaltung der beiden Herren entsponnen hatte, weiter in den Saal und allmälig bis in die Nähe eines Tisches gekommen, der zum Spiel geordnet, doch aber noch nicht besetzt war. Es waren drei jüngere Herren, der eine in Uniform, die beiden anderen in Civil gekleidet, alle aber offenbar der vornehmeren Gesellschaft angehörend, welchen augenscheinlich das Recht an den bereit gestellten Sesseln zustand, die aber noch zögerten, ihre Plätze einzunehmen, weil ihnen, wie sich aus ihren Worten entnehmen ließ, eine Verlegenheit erwachsen war.

»Es ist klar, Engern kommt heute nicht!« sagte der Officier; »es ist nutzlos, noch länger auf ihn zu warten.«

»Er wird den Dienst bei seinem Prinzen haben!« entgegnete einer der anderen Herren. »Solch' ein Kammerherrenamt legt doch viel gêne auf.«

»Nun, das Schlimmste bleibt für uns,« nahm der Dritte das Wort. »Ein jeu à trois ist meine Passion gar nicht; es bleibt mir immer der Ritt auf einem Pferde mit einem lahmen Bein.«

»Sollte nicht,« begann der erste Sprecher wieder, indem er seine Augen durch den Saal gleiten ließ, »unter den Anwesenden Jemand sein, der uns zur Aushilfe dienen könnte?«

»Ach, nicht daran zu denken!« lautete die Antwort des einen der Genossen. »Einige passen uns, Anderen passen wir nicht. Und es sind ja nicht bloß die Philister,« fuhr er lachend fort, »die sich vor unseren Einsätzen bekreuzen; Knauser giebt's eben überall genug!«

Die Blicke des Officiers hatten jetzt den neuen Gast getroffen, und seine Mienen erhellten sich.

»Aha,« rief er aus, »das war zur guten Stunde! Was gilt's, meine Herren, ich fange den rechten Vogel für uns ein!«

»Wen haben Sie im Sinne?« lautete die rasche Erkundigung.

»Sehen Sie nicht dort den Assessor Wöllnitz? Nun wohl, an dem Manne ist nichts auszusetzen; er tritt wirklich wie ein Cavalier auf!«

»Aber wird er spielen wollen?«

Der Officier lächelte.

»Spielen? der? Nun, meine Herren, unsere Bekanntschaft datirt schon über die Zeit seines Hierseins hinaus; ich traf ihn vor einem Jahr in W. am grünen Tisch, – kurz vorher ehe die Bank ihre Existenz beschließen mußte, – und habe ich je gesehen, was Spielen bedeutet, so erfuhr ich's an ihm. Ich sage Ihnen, schon ihn dabei anzublicken war interessant: jeder Nerv, jede Fiber war in Thätigkeit! Man hatte das Gefühl, als müsse man ihn gleich gänzlich in Feuer aufgehen sehen; und dabei machte es eigentlich gar keinen Unterschied, ob er im Verlieren oder Gewinnen begriffen war. Aber still,« unterbrach er sich selbst, »er beginnt auf uns zu achten; – am besten, ich bringe meine Einladung sofort an ihn heran!«

Damit näherte sich der Redende dem Besprochenen und richtete unter einer leichten Begrüßung sein Wort an ihn. – Obgleich die Zurückgebliebenen die Antwort nicht genau verstanden, ward es ihnen doch rasch ersichtlich, daß die Aufforderung Gehör gefunden hatte; denn nach einer Minute schon kehrte ihr Genosse in Begleitung des Fremden an ihren Tisch zurück.

»Herr Assessor Wöllnitz will uns das Vergnügen machen, an unserer Partie theilzunehmen,« sagte er.

»Vielmehr er ist Ihnen dankbar, meine Herren, für die Unterhaltung, welche sich ihm aufthut!« ergänzte der Genannte artig und erkundigte sich darauf nach dem Spiel, zu welchem die Karten aufgenommen werden sollten.

Die Herren wechselten nur einen kurzen Blick, und einer von ihnen nannte dann den Namen einer ziemlich harmlosen Art, die gerade beliebt war und an den meisten Tischen geübt wurde. Der Officier aber, welcher seinen Mann angeblickt und einen leichten Schatten wie von Enttäuschung über dessen Züge hatte gleiten sehen, fügte rasch und mit einem Lächeln hinzu:

»Ich sehe es Ihnen an, Sie hatten etwas Anderes erwartet!«

»Ich gebe es zu,« sagte Wöllnitz ohne Bedenken. »Das Spiel ist mir nur angenehm, sofern es mich erregt.«

»Ich verstehe,« war die Entgegnung des Officiers, » gagner ou perdre! Leider erlauben die Gesetze der Gesellschaft das offene Hasard nicht; dafür aber ist jenem Spiel leicht eine Wendung zu geben, die Das aus ihm macht, was wir wollen, und diese Wendung, Herr Assessor, gebrauchen wir!«

Wöllnitz beugte leicht den Kopf zum Zeichen des Einverständnisses; seiner weiteren Bemerkung aber kam einer der beiden anderen Herren zuvor, indem er die Aeußerung that:

»Gegen unsere Gewohnheit, die Einsätze in Gold zu machen, werden Sie demnach keinen Einwand haben?«

Wöllnitz ließ ein kurzes, aber nur halblautes Lachen hören.

»Wenn ich spiele, gelten mir Goldstücke und Pfennige gleich viel und gleich wenig, – wie ich eben sagen soll; – rücken Sie also meinetwegen nicht an Ihrem Herkommen.«

Die Herren nahmen ihre Plätze ein, und das Spiel begann. – Wer aber dasselbe auch nur aus der Entfernung beobachtete, – und hätte er auch nicht die vorhergehende Unterhaltung gehört, – konnte bald die Wahrnehmung machen, daß es von der Weise des in den übrigen Theilen des Saales geübten Spieles abwich; denn auf keinem der Tische häuften sich die Goldmünzen zur Seite der Gewinner so wie auf diesem; an keinem auch wurden die Karten mit solcher Hast gegeben und empfangen wie an diesem.

Nicht einer der Spieler indessen legte eine solche Aufregung an den Tag wie der kaum erst gewonnene Gesellschafter, der Assessor Wöllnitz; Niemandes Gesicht zeigte eine solche Spannung, kein Auge rollte und funkelte so unruhig, wenn die Karten ringsum fielen, wie das seinige. Und doch sagte ein Etwas in seinem ganzen Verhalten, daß die Gleichgiltigkeit gegen den Gewinn, welche er vorhin angedeutet hatte, keine erheuchelte war; man fühlte es instinctmäßig, daß die Goldstücke, die ihm in fast ununterbrochener Folge zuflogen, an und für sich selbst keinen Werth in seinen Augen hatten; es war deutlich, daß ihn nur das Fesselnde, was in dem Spiele selbst lag, gefangen nahm.

 

Der Doctor war eine Weile lang aus der Ferne ein Zuschauer des Treibens gewesen und hatte seine Augen dabei vorzugsweis auf Wöllnitz gerichtet; dann schüttelte er den Kopf und murmelte vor sich hin:

»Auch eine Leidenschaft! – Der Kammerrath wenigstens würde es so nennen; ob sie ihn aber in dieser Form hinreißen würde?«

Er wandte sich ab und griff nach einer Zeitung, in deren Lectüre er sich vertiefte, bis er die letzte Seite heruntergelesen hatte; alsdann stand er auf, um heimzukehren.

Einen Blick noch warf er nach dem Tische mit den Spielern. Der Eifer, den sie zeigten, war mittlerweile kein geringerer geworden, und Wöllnitz besonders schien auf der Höhe seiner Stimmung zu sein.

Als er in das Vorzimmer trat, kam ihm ein junges, ärmlich gekleidetes Mädchen entgegen, das hier mit einer Nachricht auf ihn gewartet hatte.

»Wie,« sagte der Doctor etwas ungeduldig, nachdem er die letztere, – es war die Meldung über eine Kranke, – angehört hatte, »die Mutter hat nach mir verlangt, und Sie haben mich nicht auf der Stelle geholt?«

Die Antwort wurde in einem verlegenen Ton gegeben und lief darauf hinaus, daß das Mädchen nicht gewagt hatte, den Arzt aus dem Saale und von seiner Unterhaltung abrufen zu lassen, worauf dieser nur noch etwas von »Dummheiten« murmelte und sich dann rasch gegen einen gerade vorübereilenden Kellner wandte, um mit diesem seine Rechnung abzumachen.

»Gehen Sie nur einstweilen voran, Julie,« rief er, während er seine Börse zog, dem Mädchen noch über seine Schulter hinweg zu, »und sagen Sie der Mutter, daß ich in zehn Minuten bei ihr sein würde.«

Die Beauftragte ging, ohne bemerkt zu haben, daß sie für einen Moment, – allerdings nur für einen so kurzen, als ein Paar Augen brauchten, um mit einem raschen, erregten Blick über ihre Gestalt zu gleiten, – der Gegenstand einer besonderen Aufmerksamkeit gewesen war, wie es denn auch dem Doctor entging, wie das von ihm Gesprochene, wenigstens der Name, mit dem er das junge Mädchen angeredet, das Ohr eines Dritten in einer Weise berührt hatte, daß derselbe ihm unwillkürlich jene Musterung folgen ließ.

Indessen stand das Resultat der letzteren offenbar nicht im Einklang mit der Wirkung, die der vorhin gehörte Name geübt hatte; denn wenn der Fremde, – und derselbe war kein anderer als derselbe Assessor Wöllnitz, den der Doctor so eben noch am Spieltisch verlassen hatte, – bei seinem Klange leicht zusammengezuckt war, so verrieth er jetzt durch nichts, daß das Mädchen selbst irgend einen Eindruck auf ihn mache. Vielmehr kehrte er sich hastig ab und griff nach seinem Hute in der nämlichen Secunde, als der Doctor, der mit seinem kurzen Zahlungsgeschäft fertig geworden war, ein Gleiches that.!

»Wie, Sie gehen auch?« fragte der Letztere, als er seinen Nebenmann erkannte.

»Ja, Herr Doctor!« sagte der Angeredete kurz, wenn auch durchaus nicht unhöflich. Der Doctor richtete einen schnellen Blick auf ihn, erwiderte aber nichts; erst als Beide auf der Straße waren, ließ er die kleine Zurückhaltung fahren und machte sich durch den Ausruf Luft:

»Soll ich ehrlich sein, so hat mich sobald nichts so in Verwunderung gesetzt, als daß Sie jetzt an meiner Seite gehen! Sagen Sie, Herr Assessor, bedürfen Sie denn gar keiner Abkühlung, ich meine des sogenannten Temperaments, des Spieleifers? Als ich vor fünf Minuten das Zimmer verließ, waren Sie so engagirt, daß ich dachte, unter Stunden würden Sie nicht aufhören.«

»Es ist meine Art so,« entgegnete Wöllnitz; und, etwas gefälliger sprechend, setzte er gleich darauf hinzu: »Nennen Sie es meinetwegen eine Caprice, daß ich meistens das Vergnügen dann abbreche, wenn es für Andere kaum auf dem Gipfel angelangt ist; – es erscheint mir dann plötzlich schaal; – und so war es mir denn auch vorhin nur ein erwünschter Zufall, daß noch ein verspäteter Gast, gerade der Herr, den die anderen bisher vergeblich erwartet hatten, in den Saal trat; ihm konnte ich damit meine Karten übergeben. Für den Augenblick ekelt mich nun das Spiel an.«

»Hm, hm!« machte der Doctor, und trotz des ungewissen Lichts, das in den Straßen herrschte, richtete er unwillkürlich sein Auge auf das Antlitz seines Begleiters, als erschiene ihm der Zustand desselben krankhaft, und als wolle er eine Diagnose stellen; doch kam es zu keiner weiteren Aeußerung über diesen Punkt; denn man hatte inzwischen die Straßenecke erreicht, wo er abbiegen mußte, um zu seiner Patientin zu gelangen.

»Sie gehen dorthin?« fragte Wöllnitz, als er inne ward, daß der Doctor sich von ihm trennen wollte.

»Ja, in das Armenviertel,« entgegnete der Doctor, und fügte dann noch ein Wort von einer Kranken bei, zu der er beschieden worden sei.

»Ah, ich erinnere mich, die Mutter des Mädchens, das Sie Julie nannten,« rief Wöllnitz, die Worte eigenthümlich kurz sprechend. »Und dürftig sind die Leute? Nun –«

Er machte eine Secunden lange Pause, holte dann hastig seine Börse hervor und versuchte, dieselbe in die Hand des Doctors zu drücken.

»Bitte, nehmen Sie das mit; – es wird Ihnen keine zu große Mühe sein, – und geben Sie es der Kranken, – meinetwegen auch jener Julie selbst.«

»Aber was, in's Himmels Namen, fällt Ihnen ein?« brach es bei dem Doctor aus; »so pflegt man nicht zu geben und soviel auf einmal ebenfalls nicht!« – Er durfte dies sagen; denn der ihm aufgedrungene Beutel wog schwer. »Auch war es,« fügte der Arzt hinzu, »bei meiner Bemerkung wahrhaftig auf keine Bettelei abgesehen!«

»Ich weiß, ich weiß,« entgegnete Wöllnitz hastig; »aber seien Sie freundlich gegen meine – Grille, Herr Doctor, daß ich mich meines Spielgewinns auf diese Art entledigen mußte.«

»Aha,« sagte der Doctor im humoristischen Tone, während er aber zugleich das Geld nahm, »nicht etwa aus mildem Herzen, sondern aus Laune thun Sie Ihr Gutes.«

»Aus mildem Herzen? Nein wahrhaftig nicht!« rief Wöllnitz auflachend. »Höchstens läßt sich sagen, daß mir die Erinnerung mitgespielt habe an eine Geschichte, die ich einmal hörte, oder vielmehr an eine sehr schöne Dame, die ihre Heldin war, und die genau so hieß wie Ihr Schützling. Daß ich aber ein ›Gutes‹ an ihren Namen knüpfte, war gerade des Contrastes wegen, – und darum sprach ich von einer Grille; – denn jene Dame, – aber mein Gott, Herr Doctor, was kümmern uns denn Geschichten! Und, – nun ja, und Sie haben Eile Vergeben Sie, daß ich Sie aufhielt und – gute Nacht!«

Damit grüßte er noch flüchtig und wandte sich schnellen Schritts, um an der nächsten Straßenecke zu verschwinden, während der Doctor langsam, aber kopfschüttelnd seinen Weg fortsetzte.

 

Mochte der Letztere aber für sich noch einige Betrachtungen über das wunderliche Wesen des jungen Mannes anstellen, so wurden im Saale hinter dem so rasch Davongeeilten her noch verschiedene Bemerkungen laut, die sich auf ihn bezogen.

»Was in aller Welt mochte den Assessor packen, daß er mitten im Gefecht und noch dazu mitten im besten Glück das Gewehr fortwarf?« fragte der Officier.

Einer der übrigen jungen Männer, – von den anderen als Forstjunker angeredet, während der dritte den Titel Legationssecretair führte, – erklärte, daß er schon Aehnliches bei Wöllnitz erlebt habe; sei er einen Moment im richtigsten high spirit gewesen, könne seine Stimmung plötzlich umschlagen fast wie bei einer Dame, die Launen habe.

»Eine etwas excentrische Natur ist er wohl jedenfalls,« nahm der junge Diplomat das Wort, »trotz seines noblen Chics.«

»Excentrisch, – ja wohl, es mag der rechte Ausdruck sein, mischte sich der für Wöllnitz eingetretene Kammerherr in das Gespräch. »In seinen Augen liegt bisweilen etwas, daß man glauben könnte, der Mann könne unter Umständen einen Todtschlag begehen, oder sonst etwas ganz Außergewöhnliches thun.«

»Wie ein Actenwurm wenigstens sieht er nicht aus,« bemerkte der Officier, sich den Schnurrbart streichend, »und das könnte ihm allenfalls zur Empfehlung gereichen. Aufrichtig gestanden, ich habe mich schon oft gefragt, wie unser Freund eigentlich in seine Carrière gekommen ist.«

»Nun, was das betrifft, so hängt er auch wohl recht lose mit ihr zusammen,« lachte der Legationssecretair. »Ich fing neulich die Aeußerung eines seiner Collegen auf, die andeutete, daß auch in Bezug auf Wöllnitz Verhalten im Dienst Licht und Schatten wechseln; zu Zeiten fanatisch eifrig, – und dann allerdings ein vorzüglicher Arbeiter, – läßt er darauf wieder die Dinge treiben, wie sie nun eben gehen wollen.«

»Für den Ministertisch scheint er sich demnach nicht vorzubereiten.«

»Nun, Jeder nach seinem Belieben und nach seiner Qualification,« entgegnete der Officier. »Uns, ich meine unserer Gesellschaft, dürfen die Talente genügen, die Wöllnitz unbestritten hat; er weiß zu leben und zu unterhalten und – braucht sich seine Sparpfennige nicht erst zu sammeln!«

Damit war das Gespräch über den Bekannten geschlossen, und die Herren kehrten zu ihrem Spiel zurück.

 

Unterdessen war Wöllnitz durch die Straßen geeilt und in seiner Wohnung angelangt, ohne daß aber damit die Aufregung, welche sich seines Wesens bemächtigt hatte, von ihm gewichen wäre. Wie dieselbe in der Hast seiner Bewegungen lag, – er setzte auch hier sein Wandern fort, indem er rastlos hin und her durch das Zimmer schritt, so sprachen die zuckenden Muskeln seines Gesichts, die düster zusammengezogenen Augenbrauen davon, daß er mit Empfindungen kämpfe, deren er nicht Herr zu werden vermochte.

»Ewig diese Erinnerungen!« murmelte er endlich, indem er die Arme, fest verschränkt, gegen die Brust preßte, – »und ich ewig ihr Narr! Was ist ein Name? Ein Schall, ein Nichts! Und doch regt er Alles auf, Alles! – Gott sei Dank nur, daß ich es gelernt habe, sie zu hassen; ich würde sonst anfangen müssen, mich selbst zu hassen oder zu verachten! Dennoch aber –«

Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar, das seinen Scheitel bedeckte, und warf sich dann in einen Sessel.

»O, ich verzweifle an mir selbst; was ich auch beginne, es bringt mir nicht Ruhe und Vergessen ein! Gäbe es nur ein Etwas, das ich zur Schranke aufrichten könnte zwischen mir und ihr für alle Zeit!«

* * *

Die Spielpartie, welche die bisher nur oberflächlich mit einander bekannt gewesenen, jungen Männer vereinigt hatte, sollte nicht ohne Folgen bleiben; denn man fand sich von dem Abend an häufiger zusammen, indem man dem Zufall, der sich von selbst bietenden Gelegenheit durch Verabredung zu manchem gemeinschaftlichen Unternehmen zu Hilfe kam. Von einem intimeren Verhältniß war hierbei allerdings nicht die Rede, wie ein solches von keiner Seite gesucht oder gefordert wurde; man wollte sich einfach amüsiren, sich heitere Stunden schaffen, und wer deshalb die beste Laune zeigte, galt für den besten Gesellschafter.

Wöllnitz hatte unter den Genossen den Ruhm, daß er allen Anschlägen beitrat, ja, daß er zu den meisten selbst den Ton angab; und daß ihm z. B. kein Ritt zu wild, kein Wein zu feurig, keine nächtliche Schwärmerei zu langdauernd war, verschaffte ihm unter den Genossen den Namen eines Cavaliers von echtester Farbe und Façon.

Wie hätte aber auch Jemand seinen vollsten Antheil an all diesen Unterhaltungen bezweifeln sollen; sprudelte er doch meistens über von Witz und Laune und übermüthigen Einfällen! Wirklich, es war nichts da, was es den Bekannten verrieth, wieviel es ihn etwa gekostet hatte, um in die Stimmung, welche er ihnen zeigte, hineinzukommen, das ihnen den Gedanken eingab, ob er nicht vielleicht erst eines verzweifelten Anlaufs bedurft hatte, um so viel lustiges Wesen entwickeln zu können!

Die Jahreszeit war noch schön und lud vielfach zum Aufenthalt im Freien ein, und da an einem dieser Tage wieder einmal die Frage: »Womit unterhalten wir uns?« aufgeworfen ward, ein größeres Unternehmen aber aus irgend einem Grunde gerade nicht auszuführen war, so kam man überein, den Nachmittag in einem unfern der Stadt auf der halben Höhe eines Berges gelegenen und als Besuchsort der feinen Welt sehr beliebten Kaffeehause zuzubringen.

Die mit Blumen und Kübelgewächsen besetzte Terrasse, welche sich vor dem Gebäude hinzog, und auf der die Gäste sich zu gruppiren pflegten, war noch ziemlich leer, als die Gesellschaft der Herren anlangte, und dieselben unterhielten sich nun damit, nachdem sie an einem der Tische Platz genommen hatten, ihre Bemerkungen über die nach ihnen anlangenden Personen auszutauschen, bei denen ihnen allerdings Zeit und Weile nicht lang wurden, die aber das Ohr der Betroffenen wohl nicht immer angenehm berührt haben würden, da sie meistens ihre Pointe in einem Witze hatten, der nicht gerade stets harmlos zu nennen war.

War aber der Ton des Gesprächs somit von einer gewissen Leichtfertigkeit nicht ganz frei geblieben, so waren die Anmerkungen, welche fielen, als nach einiger Zeit zwei Damen, eine ältere und eine jüngere, auf der Terrasse erschienen und in nicht sehr großer Entfernung von den Herren ihren Sitz wählten, im ersten Moment wenigstens ohne die Zuthat jener piquanten Würze.

»Ah,« sagte der Officier mit einer Art Respect; »die schöne Hellbach mit ihrer Mutter.«

»Fräulein Katharina!« fiel der Forstjunker nicht ohne enthusiastische Betonung ein. »In der That, es war Zeit, daß sich einmal eine Gestalt wie die ihre auf der Bildfläche zeigte, – ich fing bereits an, die Rundschau abgestanden zu finden. Sie kennen doch, Wöllnitz, unsere bellissima, oder muß ich Sie erst aufmerksam machen auf die superbe Erscheinung?«

Leo schüttelte leicht den Kopf, ohne denselben jedoch umzuwenden.

»Ich traf bereits einige Male mit der Dame, die Sie nannten, zusammen, und ich erinnere mich jetzt auch, daß es mir durch den Sinn gegangen ist, man könnte dieselbe schön finden.«

»Man könnte, – es ist Ihnen durch den Sinn gegangen! Mann, haben Sie denn überhaupt noch Sinne, daß Sie das so ruhig aussprechen können, fast als wenn Sie die Bemerkung zum Besten geben wollten, Sie hätten dieser Tage einige Partien Piquet gespielt, und Sie erinnerten sich, dabei ein paar Louisd'or gewonnen oder verloren zu haben.«

»Lassen Sie ihn gehen, Banner,« sagte der Legationssecretair lachend. »Haben Sie es nicht bemerkt, daß Wöllnitz sich darauf capricirt, wo nicht taub und blind und ein Verächter, so doch mindestens feuerfest den Schönen gegenüber zu sein?«

Leo zuckte die Achseln, ohne dabei etwas zu sagen; in seinen Mienen mochte man aber leicht lesen, daß ihm diese Wendung des Gesprächs nicht angenehm war.

»Fast möchte man Sie allerdings in diesem Fall um Ihre Unempfindlichkeit beneiden,« setzte der Legationssecretair gleich darauf hinzu. »Daß die Hellbach einfach schön ist, möchte noch sein; es giebt Damen, die ihr in dieser Hinsicht nicht nachstehen; womit sie einen aber alterirt, einem das Blut förmlich in Wallung zu bringen weiß, das ist die Miene, welche sie annimmt, sobald man es sich beikommen läßt, ihr wie anderen ihres Geschlechts seine Huldigungen darzubringen. Unbedingt als ob sie das kränke, was diesen schmeichelt. Ihre abwehrende Art, ihre Haltung provocirt geradezu, reizt einen auf.«

»Ja, das ist wahr,« bestätigte der Officier, »sie versteht es, einen teufelmäßig zu ärgern, wenn sie alle Versuche, sich ihr zu nähern, so kurzweg und stolz zu Schanden werden läßt.«

»Ach, gehen Sie, Holdern, und Sie auch, Eisleben!« rief Banner, bei dem der Wein, welchem die Herren zugesprochen hatten, nicht mehr ohne Wirkung geblieben war. »Ihr versteht es Beide nicht, wie die Dame genommen sein will! Der Artigkeiten und Süßigkeiten, die Ihr vorbringt, hat sie ohne Zweifel so viele gekostet, daß man sich wundern müßte, wenn sie ihr nicht nachgerade schaal schmecken sollten. Was wollen Sie; man kommt weiter bei ihr, wenn man etwas kecker zu Werke geht und die Sammethandschuhe einmal bei Seite läßt.«

»Versuchen Sie's!« sagte Eisleben ironisch.

»Das will ich!« rief der Aufgeforderte, und in einer Anwandlung plötzlichen Selbstvertrauens erhob er sich rasch.

»Und ich vermesse mich, meine Herren,« fuhr er fort, »die Dame vor Ihren Augen mindestens in eine angelegentliche Conversation zu verwickeln!«

Damit verließ er den Tisch seiner Genossen und ging leichten und zuversichtlichen Schrittes dem Platze zu, wo die beiden Damen saßen.

Die ältere derselben hatte eine Arbeit hervorgezogen, mit der sie sich beschäftigt zeigte, als der Forstjunker an sie herantrat; die Tochter dagegen hatte ihre Handschuhe nicht abgelegt und hielt nur ihren Schirm, mit dessen Spitze sie nachlässig Figuren in den Sand zeichnete. Etwas verwundert blickte sie auf, als Banners: »Ihr Diener, meine gnädige Frau und gnädiges Fräulein!« an ihr Ohr schlug. Zwar erwiderte sie gleich der Mutter seine Begrüßung, aber nur obenhin und so, daß die Regel der Höflichkeit nicht geradezu verletzt erscheinen konnte, und wandte sich dann wieder ihrer spielenden Unterhaltung zu, als setze sie voraus, daß jene Worte nur im Vorübergehen gesprochen seien, und daß der Herr seinen Weg sogleich fortsetzen werde.

So leicht war Herr von Banner jedoch nicht abzuschütteln. Er lehnte sich unbefangen gegen einen Baum, der unmittelbar neben dem Sitze der beiden Damen stand, pflückte sich ein Blatt von einem der niederhängenden Zweige und wirbelte dasselbe in behaglicher Tändelei zwischen den Fingern.

»Charmant, daß man hier mit den Damen zusammen trifft,« begann er eine weitere Unterhaltung anzuknüpfen. »Ich, versichere Sie, ich sagte gleich zu meinen Freunden, den Herren eben, die Sie dort sehen, sie dürften nicht hoffen, daß mir ihre Gesellschaft noch länger genehm sein würde; ich gravitirte jetzt nach einem andern Pole hin!«

Die ältere Dame rückte unruhig auf ihrem Sitze und warf einen etwas ängstlichen Blick auf ihre Tochter, als wisse sie voraus, wie dieselbe einem derartigen Annäherungsversuche antworten würde. In der That, Katharina's große, ernste Augen richteten sich nicht gerade freundlich auf den Sprecher, und kalt sagte sie:

»Es möchte dennoch in Ihrem Interesse liegen, Herr Forstjunker von Banner, wenn Sie dem Kreise Ihrer Freunde treu blieben – weil dort Ihre Anwesenheit sicher gern gesehen wird!«

Die Abweisung, welche schon an und für sich in den Worten lag, und die durch den Ton, den sie ihnen gab, – sie hatte z. B. das »dort« leicht marquirt, – noch bedeutend verstärkt wurde, blieb kaum mißzuverstehen; dennoch gab der Forstjunker, der sich in diesem Augenblicke zu einer ihm sonst nicht immer zu Gebote stehenden Kühnheit hinaufgeschraubt hatte, sein Spiel noch nicht ganz verloren.

»O nun, ich denke nicht, daß ich so rasch unentbehrlich werden dürfte,« gab er mit forcirter Kaltblütigkeit zur Antwort, um dann rasch hinzuzusetzen: »Da Sie aber einmal von Freunden sprechen, mein gnädiges Fräulein, so bringen Sie mich, – und ich bin Ihnen dankbar für diese Erinnerung, – auf einen Abwesenden, den ich unbedingt zu den letzteren zähle, und der das Glück hat, ihr Verwandter zu sein, den Referendar von Felsen.«

Die Pause, welche er nach der Nennung dieses Namens eintreten ließ, war so kurz, daß er vielleicht die ablehnende Bewegung Katharinas nicht bemerkte; jedenfalls gewährte er ihr nicht die Zeit zu einer wirklichen Entgegnung, denn er selbst setzte sofort hinzu:

»Ich reise in diesen Tagen nach M…, auf kurze Zeit nur, werde aber jedenfalls dort mit Felsen zusammentreffen und müßte dann wie ein armer Sünder vor ihm stehen, wenn ich mir nicht zuvor Grüße, Aufträge, oder was Ihnen immer gefallen mag, mein gnädiges Fräulein, von Ihnen geholt hätte.«

Katharinas Miene und Haltung war während der Worte nahezu streng geworden.

»Ich stehe nur in sehr geringer Verbindung mit Herrn von Felsen,« sagte sie, »wenn derselbe immerhin mit meiner Familie verwandt ist, und ich sehe auch keinen Grund zur Anknüpfung irgend welcher näheren Beziehungen; ich muß Ihnen also entschieden für jede Vermittlung danken, Herr von Banner!«

Sie hatte sich, noch als sie sprach, von ihrem Sitze erhoben und machte jetzt eine Verbeugung gegen den Forstjunker, als nähme sie ohne Frage an, daß die Unterhaltung nun ihr Ende erreicht habe; zugleich aber wandte sie sich gegen ihre Mutter und sagte:

»Du findest gewiß wie ich, liebe Mann, daß es anfängt, kühl zu werden; jedenfalls wird es das Beste sein, wenn wir jetzt die Terrasse mit dem Pavillon vertauschen.«

»Wenn Du meinst, mein Kind,« sagte die Mutter etwas gedrückt, nachdem sie schon vorher, als sähe sie das Folgende kommen, ihre Arbeit zusammengelegt hatte, »und wenn Du es wünschest, so laß uns gehen. – Sie entschuldigen uns gewiß, Herr von Banner.«

In ihrer Gutmüthigkeit hatte sie es sich nicht versagen können, noch diese kleine Freundlichkeit an den von der Tochter so herbe zurückgewiesenen jungen Mann zu richten.

Für diesen letzteren selbst freilich waren ihre Worte nur eine sehr schwache Versüßung der bitteren Arzenei, die er in diesem Augenblicke kosten mußte; denn der Wink, welchen ihm die schöne Katharina selbst gegeben hatte, war zu deutlich gewesen, als daß es sich nur irgend noch mit der guten Lebensart vertragen haben würde, wenn er den Damen seine fernere Begleitung aufgedrungen hätte. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als die stolze Verabschiedung der Tochter und die etwas mitleidigere der Mutter mit einigen in der Eile zusammengerafften Phrasen zu beantworten und dann unter möglichst behaupteter Gelassenheit seinen Rückzug anzutreten.

»Warst Du nicht ein Wenig zu streng, mein Kind?« sagte die Mutter halblaut und sanft vorwurfsvoll zu der Tochter, als sie an dem Arme derselben dem bezeichneten Pavillon zuschritt.

»Nein, Mama,« entgegnete Katharina kurz; »Herr von Banner gehört der sogenannten jeunesse dorée an, und Du weißt, wie ich über das Treiben und die Grundsätze ihrer Genossen denke. Schon eine bloße Artigkeit dieser Herren gilt mir fast als eine Art Beleidigung, eine Demüthigung; gegen offenbare Zudringlichkeit aber habe ich mich mit aller Kraft zu schützen, seit der Vater uns nicht mehr zur Seite geht!«

»Ja, es ist wahr,« sagte die Mutter traurig, »er ließ nichts Unrechtes an uns herankommen; ich bin zu schwach, um so für Dich einzutreten, wie ich wohl müßte.«

»Es sollte kein Vorwurf sein, liebe Mama,« entgegnete Katharina und drückte den Arm der kleinen Frau liebevoll an sich, »gewiß nicht! Ja, vielleicht liebte ich Dich nicht einmal so, wenn Deine Weichheit und Milde weniger groß wäre. Und vielleicht auch – vielleicht wäre ich selbst froh,« fügte sie stockend und halb leise hinzu, »wäre ich glücklich, wenn ich nicht immer zu einer solchen Abwehr gezwungen bliebe!«

»Du brauchst aber auch nicht alle unsere jungen Männer mit demselben Maaße zu messen,« begann die Mutter, den Gedanken, welcher ihr in den Worten der Tochter zu liegen schien, aufgreifend. »Ich könnte ebenfalls nicht sagen, daß mir das Wesen von Jedem gefiele, oder daß es mir in meiner Jugend gefallen haben würde; aber gewiß giebt es doch auch heut zu Tage manche Männer, die einen interessiren dürften! Erwähntest Du doch selbst neulich, – ich glaube, es war nach der Soirée bei dem Gerichtspräsidenten, – Du hättest lange keine so anregende Unterhaltung gefunden wie durch die Bekanntschaft mit einem Assessor, – wie hieß er doch gleich? – Wöllnitz meine ich?!«

Ein leises, fast unmerkliches Zucken war durch das Gesicht der schönen Katharina geglitten, und für einen kurzen Moment preßten sich ihre Lippen fest auf einander.

»Nun ja, ich sprach ihn dort und noch an einigen andern Orten; ihm lag es allerdings fern, mir gefallen zu wollen!«

Fast war es, als habe eine leise Bitterkeit im Ton ihrer Worte gelegen, doch mußte dies der Mutter entgangen sein, denn sie nickte nur und fuhr unbefangen fort:

»Ja, und Du rühmtest es an ihm, daß er Dir auch nicht eine der gewöhnlichen Redensarten geboten habe; Du nanntest ihn geistreich und bemerktest nur, Du habest nicht von dem Gedanken loskommen können, daß der Mann etwas in sich trage, vielleicht nur als einen Zug oder Hang des Gemüths, was ihn noch zu keinem wirklichen Glück habe kommen lassen.«

»Sagte ich das?« entgegnete Katharina, ohne ganz eine gewisse Erregtheit unterdrücken zu können, die in ihrer Stimme lag; »nun, dann war mein Gedanke an sich wohl thöricht, oder jedenfalls versteht er es selbst am besten, mit seiner Schwermuth fertig zu werden; sahst Du ihn nicht unter Jenen, die Herr von Banner seine Genossen nennt?«

»War er bei denen?« fragte die Mutter etwas betroffen, setzte aber gleich entschuldigend hinzu: »wenigstens ist ihm aber doch keine Zudringlichkeit, oder wie Du es nennen willst, Schuld zu geben!«

»Nein,« sagte Katharina; »vielmehr er verrieth durch keine Zeichen, daß er unsere Anwesenheit beachtete. Aber laß uns setzt von anderen Dingen reden, liebe Mama!«

 

Unterdessen kehrte der Forstjunker zu der Gruppe der anderen Herren zurück, die von ihrem Tische aus gespannt auf den Ausgang des Unternehmens geachtet hatten. Zwar, die gesprochenen Worte zu verstehen, war ihnen der Entfernung wegen nicht möglich gewesen; immerhin aber hatten sie sehr bald erkennen können, daß die Aufnahme, welche Banner fand, keine günstige war, und nachdem sie vor wenigen Minuten wahrgenommen, daß die Damen sich erhoben und ihrem unglücklichen Freund den Abschied ertheilt hatten, wußten sie, ohne daß die geärgerte und verblüffte Miene des Letzteren ihnen dies erst zu sagen brauchte, daß die Form des Lebewohls keine sehr verbindliche gewesen war.

Mit nur kaum unterdrücktem Gelächter und gänzlich unverhohlenem Spott wurde der geschlagene Ritter empfangen, und war bei diesem der Humor ohnehin schon getrübt, so brachten ihn die Witzworte der unbarmherzigen Genossen, die hageldicht fielen, zu völliger Gereiztheit. Anstatt deshalb gute Miene zum bösen Spiel zu machen und in die Heiterkeit der Uebrigen einzustimmen, kehrte er den empfindlich Getroffenen, den Beleidigten heraus und schilderte den Uebermuth und die Anmaaßung der Dame in einer Weise, daß man glauben konnte, dieselbe habe die in unverfänglichster Form zu Tage tretende Höflichkeit eines Cavaliers nur benutzt, um ihr eine wohlberechnete, das Maaß alles Erlaubten übersteigende Kränkung folgen zu lassen, eine Kränkung, die nicht allein seiner, des Forstjunkers, Person, die einem jeden der Herren galt, welche durch die Geselligkeit mit dem stolzen Fräulein in Berührung kamen.

Und mochte nun Banners Erregung ihn halb unbewußt zu dieser Darstellung verleitet haben, oder mochte er den kleinen Vorgang absichtlich etwas entstellen, um ihn zur Parteisache zu machen, – genug, die gewünschte Wirkung war schnell erreicht; man lachte bald nicht mehr so laut auf seine Kosten; man übte seine Pfeile nicht mehr so ausschließlich an ihm; man fing an, selbst Verdruß über die schöne Katharina zu empfinden, einem gewissen Unmuth, der in Jedem angeregt worden war, freien Lauf zu lassen. Man kam auf die frühere Unterhaltung über sie zurück, und wie der Officier damals schon geäußert hatte, daß sie es verstände, »einen teufelmäßig zu ärgern,« so gab bald der Eine, bald der Andere eine Geschichte zum Besten, wie sie ihm selbst oder einem Dritten bei dieser und jener Gelegenheit mitgespielt habe.

Wöllnitz allein hatte bisher nicht viel Stoff in das Gespräch getragen. Waren seine persönlichen Begegnungen mit Katharina seinen eigenen Andeutungen nach nicht von einem besonders tiefen Eindruck begleitet gewesen, so konnte er sich doch auch keines Worts aus ihrem Munde erinnern, das ihm Mißfallen erregt, oder ihn gar beleidigt hätte, vielmehr war es ihm jetzt, als habe etwas Besänftigendes, etwas, das ihm wohl that, in ihrer kühlen Ruhe gelegen; und in dem Gefühl versuchte er es sogar, ein Wort zu ihrer Vertheidigung in die immer aufgeregter werdenden Debatten einzumischen.

Er wurde aber mit demselben nicht gehört, und da es vielleicht auch nicht seine ernstliche Absicht gewesen war, als Katharinas Ritter aufzutreten, so ließ er dem Urtheil über sie bald freien Lauf und zuckte wohl selbst einmal die Achsel, wenn ein besonderer Zug von der Geringschätzung, die sie der Männerwelt gegenüber an den Tag legte, berichtet wurde.

Die Wirkung des Weins, mit dem zuerst Banner seinen Aerger hinunterzuspielen begonnen hatte, und dem darauf auch von den Uebrigen fleißiger zugesprochen worden war, fing allmälig an, sich in die Stimmung zu mischen, und so kam es, daß Leo, nachdem das angeschlagene Gespräch immer noch seinen Fortgang gefunden hatte, zuletzt ausrief:

»Nun, meine Herren, machen wir der Sache ein Ende! Der Beleidigte hat das Recht zu strafen, sogar einer Dame gegenüber, – selbstverständlich innerhalb der Grenzen, aus denen der Cavalier nicht heraustritt. Wer sich also von Fräulein Katharina Hellbach gekränkt fühlt, der schaffe sich Genugthuung.«

»Er hat Recht, Wöllnitz hat Recht!« tönte es von allen Seiten durcheinander. »Wir wollen der Dame heimzahlen und einmal tanzen, wie sie bläst! Wir werden sie zwingen, aus ihrer Sprödigkeit herauszutreten!«

»Nun aber, wie?« rief Wöllnitz halblachend aus. »In geschlossener Phalanx können wir unsere Gegnerin denn doch nicht angreifen.«

»Nein, Einer für Alle!« entgegnete der Forstjunker ganz aufgeregt. »Hören Sie meinen Vorschlag: Wir werfen das Loos unter uns, wer zuerst zum Kampf gegen die Dame vorschreiten soll; der, welchen es trifft, erhält die Aufgabe, sich ihre Gunst zu erobern, und die Verpflichtung, seinen Erfolg durch irgend einen eclatanten Act, einen thatsächlichen Beweis vor unsere Augen zu bringen.«

»Bravo!« rief Holdern, und: »Die Idee ist nicht übel!« stimmte der Legationssecretair lachend ein. Zugleich aber berührte der Letztere leicht Leo's Arm und sagte rasch:

»Nein, kein seriöses Gesicht, Wöllnitz, und keine Einwendung! Ich bürge Ihnen mit meiner Erfahrung, die Sache giebt einen capitalen Scherz, und, jedes Ding zu einem Scherz zu machen, ist ja die beste Parole, die es in der Welt giebt.«

Hatte der Legationssecretair Recht gehabt, wenn er in Leo's Augen ein aufkeimendes Mißbehagen wahrzunehmen glaubte, so war es ihm wenigstens gelungen, dasselbe auf der Stelle durch seine Anmahnung zu beseitigen; wie von einem plötzlichen Windstoß ergriffen, schlug seine Stimmung in der Secunde um.

»Ja wohl,« rief er aus, »sich Alles, das ganze Leben so zurecht zu legen, daß es nur noch Stoff zum Lachen giebt, das ist die rechte Philosophie! Ein Abenteuer also, ein Lustspiel.«

Währenddeß hatte der Officier bereits eifrig ein Papier zertheilt, um die Glücksnummern herzustellen.

»Loosen Sie jetzt, meine Herren,« rief er aus, »es gilt die erste Rolle in dem Stück.«

Alle nahmen ihren Papierstreifen in die Hand und: »Wöllnitz ist der Held des Spiels geworden, der Gewinner!« tönte es nach einer momentanen Pause durcheinander.

Leo warf das Loos, welches er gezogen hatte, auf den Tisch. »Was soll ich thun?« fragte er.

»Nun einfach, was Banner sagte,« entgegnete Eisleben; »der Dame die Cour machen, oder was immer beginnen, bis Sie irgend einen Tribut, der Ihnen Sieg verbürgt, von ihr fordern dürfen.«

»Bis, – bis!« fiel Holdern etwas ungeduldig ein. «Alles muß Ziel und Grenze haben, auch die Zeit, und damit uns das Warten nicht langweilig wird, so setzen wir einen Termin, bis zu welchem Wöllnitz entweder gewonnen haben, oder wo er seine Niederlage gestehen muß! Je schneller der Sieg, desto ehrenvoller natürlich; aber drei Wochen, denke ich, gestehen wir unserem Freund für seinen Minnedienst zu. Nicht wahr, meine Herren?«

»Angenommen!« riefen die Gefragten, während Leo nur das Wort »Minnedienst!« hervorstieß in einer Weise, als überkäme ihn ein plötzlicher Widerwille.

Eisleben legte ihm lachend die Hand auf die Schulter.

»Halten Sie es mit dem Schmachten, wie Sie wollen, Freund, greifen Sie überhaupt Ihr Werk an, wie sie mögen. Daß wir Ihnen völlig freie Bahn geben, Ihren Mitteln und Wegen nicht nachspüren wollen, werden Ihnen die anderen Herren so bereitwillig und feierlich geloben wie ich selbst.«

Die Zusicherung wurde ohne Weiteres ertheilt; dann aber sagte Eisleben noch:

»Nun, Ihr Herren, keine Speise darf zu lange auf der Tafel stehen, sonst verliert sie ihre piquante Würze, – daher lassen Sie uns nun noch einmal auf gut Glück für unseren Freund anstoßen und dann – schweigen, bis die Zeit der Enthüllungen gekommen ist.«

Auch dieser Vorschlag fand eine bereitwillige Aufnahme.

Neue Flaschen wurden rasch gefordert und gebracht, und die Gläser an einander gestoßen. Ein fernes Klingen erreichte noch Katharina's Ohr, als sie mit ihrer Mutter von dem Pavillon aus den Heimweg antrat und festen, ruhigen Schritts den Abhang herabkam, auf dessen Höhe die vier Herren zechten.

* * *

Das Unbehagen, welches bei Leo in der Regel auf das Beisammensein mit den neu gewonnenen Genossen folgte, blieb auch diesmal nicht aus, ja, es war vielleicht noch stärker als gewöhnlich, und in einem Augenblick fragte er sich sogar allen Ernstes, ob das Treiben, dem er sich in der letzten Zeit hingegeben hatte, seiner würdig sei. Er war nahe daran, es erbärmlich zu finden, daß er sich selbst preisgab, sein Leben niederziehen ließ; aber schnell ergriff ihn wieder eine bittere Verstimmung, ein dumpfer Groll gegen das Schicksal, gegen Die, welche ihn dazu gebracht hatten, daß er so lebte wie er es that. Sie trugen die Verantwortung; für ihn kam es jetzt nur darauf an, daß er vergaß. Warum denn die Farçe nicht mitmachen, so lange sie noch irgend einen Reiz behielt, eine Art Betäubung hervorrufen konnte? Hörte das auf, so schüttelte man sie ab und begann und ersann etwas Anderes.

Der Einzelheiten der gestrigen Unterhaltung gedachte er nicht weiter, als daß er sie zu den tollen Eingebungen des Augenblicks zählte; auch die Verabredung wegen jenes schönen Mädchens rückte er sich in das Licht dieser Betrachtung. Von Ernst war ja nicht viel bei der Sache; im Ernst konnte es ihm nicht einfallen und nicht zugemuthet werden, an die Eroberung einer Dame zu denken. Dennoch aber konnte er nicht verhindern, daß ihn ein peinliches Gefühl ergriff, so oft seine Gedanken auf diesen Punct zurückkamen. Es war doch wohl ein Schritt über die Grenze, von der er selbst gesprochen, hinaus gethan und ein Unrecht gegen das Fräulein, welches ihn wenigstens nie beleidigt hatte, begangen worden. So viel an ihm lag, wollte er dies Verschulden ungeschehen machen und sich jeder Annäherung an Katharina Hellbach enthalten.

Er blieb auch diesem Vorsatz treu, als ihn in der nächsten Zeit der Zufall ein- oder zweimal mit der jungen Dame zusammenführte, und wenn sie etwa unter verborgener Spannung auf sein Benehmen achtete, wenn ihre Augen in Momenten, wo es Niemand sehen konnte, zu ihm hinüberglitten, so mußte sie sich bald sagen, daß er ihre Begegnung nicht suchte, ja, daß er es mied, in der ungezwungenen Weise, wie es früher bisweilen geschehen war, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Durfte sie sich aber damit noch einen Zweifel gestatten, daß das Empfinden, welches sie ihm eingeflößt hatte, einer entschiedenen Abneigung gleich kam?

Es blieb ihr nur die Frage übrig, ob sie ihn durch ihr Benehmen, den Stolz und die Kälte, die ihr so oft zum Vorwurf gemacht worden waren, zurückgestoßen hatte; ob nicht etwa die Herbheit, zu der sie von Anderen so oft gezwungen gewesen, unbemerkt und unbewußt zu einem Zuge ihres ganzen Wesens geworden war, so daß auch Derjenige sich von ihr verletzt fühlen mußte, den sie nicht zurückstoßen wollte. Ein schmerzlich-bitteres Empfinden begleitete diese Frage.

War aber das Verhalten Leo's eine Folge jener halbreuigen Stunde gewesen, so hatten die Betrachtungen, die ihm damals wider seinen Willen gekommen waren, vielleicht eben so wider seinen Willen oder wenigstens doch ohne sein klares Bewußtsein noch in anderer Weise eine Nachwirkung gefunden, wenn es nicht eben nur auf den Zufall zurückzuführen blieb, daß er in dieser Zeit wieder einmal einen Anfall von dem fanatischen Arbeitseifer hatte, dessen der Legationssecretair in jener ersten Unterhaltung erwähnt hatte.

Die Gesellschaft der Freunde, die Theilnahme an ihren Vergnügungen stand in den nächsten Wochen nicht mehr oben an. Er kam seltener mit den Herren zusammen; und dem Umstande wohl war es auch hauptsächlich zuzuschreiben, daß die Verschwörung, welche man neulich gegen die schöne Katharina eingegangen war, so ziemlich unerwähnt blieb, und Leo kaum in den Fall kam, die Stachelreden der Bekannten von sich abschütteln zu müssen, während ihm diese trotz des gelobten vorläufigen Schweigens bei täglichem Beisammensein schwerlich in der Weise erspart geblieben sein würden.

 

Man befand sich in der dritten Woche nach jenem Vorfall auf dem Kaffeehause, als Leo eines Morgens die Einladung zu einer Soirée bei seinem Vorgesetzten, dem Chef des Kreisgerichts, welche am folgenden Tage stattfinden und den Geburtstag des Letzteren verherrlichen sollte, empfing. Der Ueberbringer derselben war der achtjährige Sohn des Directors gewesen, und Leo hatte bereits seine Antwort an das betreffende Billet ertheilt, als ihm einfiel, daß er seinem Vorstand ein Actenstück zuzusenden habe, das er gern so bald wie möglich in dessen Händen gewußt hätte. Er rief deshalb den Kleinen, der schon in der Thür war, noch einmal an und fragte ihn, ob er auf der Stelle nach Hause zurückkehren würde.

»Ja!« entgegnete der Knabe.

»Nun, dann könntest Du schon ein paar Minuten warten,« meinte Leo, »während ich noch einige Zeilen auf ein Papier schreibe, das ich Dir mitgeben möchte, nicht wahr?«

»J – ja!« sagte der Kleine wieder, diesmal aber etwas kleinlaut und mit einem Blick nach dem Fenster.

»Ei, auf die Straße und zu Deinem Ball- oder Murmelspiel zurück kommst Du noch zeitig genug!« sagte Leo, der das Zögern des Knaben zu verstehen glaubte, mit einem Lächeln. »Sieh nur, wie heftig es in diesem Augenblick regnet.«

»Das ist's gerade!« platzte der kleine Bursche mit zusammengerafftem Muthe heraus: »Paul steht unten und wird nun ganz naß.«

»Wer ist Paul?« fragte Leo.

»O, mein bester Freund, – Paul Leftler! Er hat mich begleitet und wartet vor der Thür, bis ich wiederkomme.«

»Nun dann mach's kurz und hole Deinen besten Freund herauf,« entschied Leo rasch. »Bis ihr hier seid, habe ich meine Arbeit schon halb gethan.«

Der Kleine sprang schnell hinaus und kam nach einer Minute mit dem Cameraden zurück. Leo war schon im vollen Schreiben und kehrte sich daher nur flüchtig nach seinen jungen Gästen um, indem er ihnen Platz zu nehmen gebot, wie er sich denn weiter nicht um sie kümmerte, noch auf ihre im halben Flüsterton geführte Unterhaltung achtete, bis er die Feder niederlegte.

Erst als er vom Stuhle aufstand, bemerkte er, daß die Knaben sich nicht gesetzt hatten, vielleicht weil ihnen ihre Discussion zu wichtig, und jeder von ihnen zu eifrig gewesen war, um an Ausruhen denken zu mögen. Er selbst hörte nur noch, daß Fritz, der Sohn des Directors, in etwas ärgerlichem Ton und so laut, daß die Unterhaltung damit schon den Charakter des Geheimnißvollen verlor, zu seinem Freunde sagte:

»Oho, prahlen ist leicht, und Du prahlst jetzt.«

»Nein, ich prahle nicht; ich kann's, wenn ich will!« gab Paul mit großer Bestimmtheit zurück.

»Was willst Du aber können?« warf jetzt Leo sein Wort in das Gespräch.

Paul, der den fremden Herrn noch nicht kannte, wurde über die unerwartete Einmischung desselben etwas verlegen und blickte einen Augenblick nicht auf, während Fritz als der Dreistere ausrief:

»Denken Sie, er will von der Stelle aus, wo wir stehen, bis in die Ecke Ihrer Stube springen können.«

Damit deutete er auf einen Winkel des Zimmers, der durch eine hier aufgestellte sehr schöne Gypsstatue, eine Darstellung der Göttin Fortuna, geziert war, wie es denn wahrscheinlich sein konnte, daß gerade diese die Aufmerksamkeit der Knaben auf sich gezogen und dann in Paul die gymnastischen Ideen angeregt hatte.

»Bis in die Ecke!« setzte Fritz seiner Erklärung noch einmal halb höhnend hinzu, »das kann er nicht.«

»Ja wohl, – ich kann's!« versicherte aber Paul beleidigt.

»Nun, so zeig' es,« rief Leo aus, »wenn Du ein rechter Bursche bist! Nur ein Tropf verspricht etwas, das er nicht leisten kann.«

Es war ein Sporn gewesen, der in den Worten gelegen hatte, und sie selbst waren kaum zu Ende gesprochen, und nur halb erst hatten sie Pauls Ohr erreicht, da war das Werk, zu dem sie ihn auffordern sollten, schon gethan.

Die Augen des großen und des kleinen Zuschauers hatten nicht einmal den Bewegungen des jugendlichen Turners folgen können, so rasch hatte derselbe erst einen kurzen Anlauf genommen und dann den Leib zu dem Sprunge gebogen, der ihn über die fast vollständige Breite des geräumigen Zimmers hinwegtragen sollte. Und Paul war kein Tropf und kein Prahler gewesen; er hatte geleistet, was er versprochen; genau bis zu dem vorher bezeichneten Punct hatte ihn der Schwung, den er sich gegeben, getragen; aber leider lächelte das Schicksal nicht zu seinem Triumph, sondern verkümmerte ihm denselben in einer grausamen Weise.

War es, daß er wirklich nahe daran gewesen war, etwas Unmögliches thun zu wollen, und hatte er die äußersten Anstrengungen machen müssen, um sein Ziel zu erreichen, so daß ihn die Kräfte im Augenblick des Sieges verließen, und er nach irgend einem Halt greifen mußte, oder kam irgend ein Ungeschick in's Spiel, – es war nicht mehr zu entscheiden; jedenfalls aber griffen seine Hände in dem Moment, als seine Füße den Boden wieder erreichten, nach einer Stütze. Sie fanden dieselbe, aber nur für eine Secunde; denn alsdann gab der Gegenstand, an den er sich unbewußt geklammert hatte, nach; das Postament, auf dem die vorerwähnte Statue stand, gerieth in's Schwanken, eine weitere Secunde noch, – ein dumpfes, unheilverkündendes Geräusch, und zu tausend Trümmern zerschellt lag die prächtige Gestalt der Fortuna auf dem Boden.

Ein Schreckensruf drang aus dem Munde der beiden Knaben, während der kleine Unglücksstifter zugleich bleich geworden war. Leo allein blickte kaltblütig auf die Scherben nieder.

»So geht's Einem, wenn man sein Spiel gewonnen zu haben glaubt!« sagte er nur ruhig.

Der Knabe verstand ihn offenbar nicht recht; sein Gesicht aber war wieder flammendroth geworden.

»Sind, – sind Sie sehr böse?« fragte er.

»Worüber?« lachte Leo. »Daß mein Glück in Trümmern liegt? Tröste Dich Kleiner; Andere haben schon Aehnliches an mir gethan,– nur mit noch mehr gutem Willen.«

»Gewollt habe ich es gewiß nicht!« stotterte Paul, dem die Thränen in's Auge traten.

»Und Sie selbst haben ihm ja auch das Springen erlaubt!« sagte jetzt Fritz, der ein Wort für seinen Freund einlegen zu müssen glaubte.

»Richtig, mein Bursche!« rief Leo. »Im Grunde sind wir es immer selbst, die Ohrfeigen vom Schicksal verdienen, wenn wir nicht vorher ausgerechnet hatten, was kommen konnte! – Nun, wir wollen jetzt nicht weiter an den Schaden denken; geht nur nach Hause und laßt Eure Kreisel tanzen.«

»O ja, Paul, wollen wir? Komm' mit!« sagte Fritz.

Paul jedoch war noch etwas schwermüthig; er schüttelte den Kopf. »Die Tante erlaubt es mir doch nicht,« sagte er; »ich muß immer erst arbeiten und die letzte Aufgabe fertig haben, ehe ich spielen darf.«

»Die Tante? Wer ist denn Deine Tante?« fragte Leo.

»O, das ist die Tochter seiner Großmutter!« nahm Fritz für seinen gedrückten Cameraden das Wort; »sie heißen Hellbach, und Paul ist bei ihnen, weil seine Eltern auf dem Lande wohnen, wo keine gute Schule ist. Paul muß hier sehr fleißig sein,« setzte er im halbbedauernden Tone hinzu; »meine Mutter ist nicht so streng.«

»O, meine Großmutter auch nicht!« entgegnete Paul; »aber das hilft nun doch nicht.«

»Ah, also die Tante erzieht Dich?« fragte Leo belustigt wieder. »Tante Katharina, nicht wahr? Und vor ihr hast Du Furcht?«

Paul drehte sein Mützchen zwischen den Händen. »Bisweilen!« sagte er ernsthaft.

»Nun, dann war's wohl gut, daß Dir Dein Malheur in einem fremden Hause zugestoßen ist,« sagte Leo lachend; »Du brauchst ihr jetzt nichts zu sagen.«

Der Kleine sah den Sprechenden mit großen Augen an.

»Sagen muß ich's ihr doch.«

»O, Paul, – Du, das thäte ich nicht!« rief Fritz dazwischen. »Was geht denn Deine Tante es an, was hier passirt ist?«

»Das ist einerlei!« beharrte Paul aber; »Tante Katharina muß immer Alles erfahren, und böse wird sie auch eigentlich nur, wenn man ihr etwas verheimlicht hat.«

Leo zuckte die Achseln.

»Nun, das mache, wie Du willst! Sollte sie Dir aber die Lehre geben, mein Kleiner, daß Du auf ein ander Mal Deine Sprünge nicht zu weit nehmen darfst, so versuche, ob Du ihr folgen kannst! Und nun lebt wohl, Ihr Buben.«

Er öffnete die Thür, und die Knaben, obwohl sie ihn einen Augenblick mit großen Augen angeblickt hatten, lachten ihm doch freundlich zu und sprangen dann, vergnügt, daß ihnen kein schlimmeres Unwetter erwachsen war, die Treppe hinab. –

 

Wenn aber Leo nach einer halben Stunde, als ihm die Trümmern der Statue aus den Augen geräumt worden waren, kaum noch an seinen Verlust dachte, so hatte Paul zu dieser Zeit noch eine schwere Aufgabe zu erfüllen; er stand vor seiner Tante und berichtete ihr, was in dem Zimmer des fremden Herrn, – den Namen desselben hatte Fritz ihm ganz richtig genannt, – geschehen war.

Katharina sah ernst und ein Wenig unzufrieden aus.

»Gewiß bist Du recht unvorsichtig gewesen, Paul!« sagte sie.

»Ich weiß es nicht, Tante,« entgegnete Paul kleinlaut. »Der Herr Wöllnitz sagte davon nichts.«

»Nun, gleichgiltig wird er aber gewiß nicht über den Verlust gewesen sein!« meinte Katharina.

»Das nicht!« gab Paul zu; »und es ist auch recht schlimm, daß er nun unglücklich bleiben muß; aber ich konnte doch wahrhaftig nichts dafür.«

Der Knabe sah in diesem Augenblick so betrübt aus, schien die Schwere des Unfalls so tief zu empfinden, daß Katharina ein beruhigendes Wort aussprechen zu dürfen glaubte.

»Nun Paul,« tröstete sie, »unglücklich nennt man sich nicht gleich, wenn einem etwas zerbrochen ist, und darum, hoffe ich, wird Herr Wöllnitz es auch nicht darüber werden«

»Ja, aber Tante, er hat doch gesagt, daß ihm nun sein ganzes Glück zertrümmert worden sei!« vertheidigte jetzt wiederum Paul seine Meinung.

»O, Paul, er wird so nicht gesprochen haben!« rief Katharina ungläubig.

»Ganz gewiß, Tante Katharina,« versetzte jedoch der Knabe eifrig, »er sagte das! Und es war sehr gut von ihm, nicht wahr, daß er darum doch nicht böse auf mich war! Was meinst Du, wollen wir ihm nicht etwas wiedergeben? Wir könnten es ja für meine Sparbüchse kaufen.«

Katharina hatte bei der Versicherung des Knaben, daß Wöllnitz einen so überaus hohen Werth auf sein vernichtetes Eigenthum gelegt haben sollte, halb verwundert und befremdet den Kopf geschüttelt, bei den letzten Worten desselben fuhr sie ihm jedoch beschwichtigend mit der Hand über die Locken und sagte:

»Laß nur gut sein, Paul! Ich werde schon mit Herrn Wöllnitz über die Sache sprechen.« –

 

Was Katharina dem Knaben in dieser Stunde als ihr Vorhaben bezeichnet hatte, das erschien ihr auch später und vor sich selbst als eine Aufgabe, der sie sich, – mochte sie ihr angenehm sein oder nicht, – auf keine Weise entziehen durfte. Und allerdings schwer ward es ihr, sich Wöllnitz, dessen auffällige Zurückhaltung sie in der letzten Zeit so gekränkt hatte, zu nähern, selbst irgend eine Beziehung zu ihm gelten zu lassen und gar aufzusuchen; dennoch aber, wäre es nicht noch viel schwerer, ja nahezu unerträglich für sie gewesen, eine Verbindlichkeit gegen ihn fortbestehen, es sich ruhig gefallen zu lassen, daß er ihrem Neffen die ganze Verantwortlichkeit für den angerichteten Schaden schenkte?

Nein, sie war es allein ihrem Stolze schuldig, die Sache zur Sprache zu bringen, und darum mußte es ihr schon Recht sein, daß ihr der Zufall bereits so bald Gelegenheit bot, die peinliche Unterredung abzumachen, und sie hatte sich zu freuen, daß sie ihrem ersten Impulse, der sie geneigt gemacht, die auch an sie ergangene Einladung zu der Soiree des Gerichtsdirectors abzulehnen, nicht gefolgt war; denn jetzt durfte sie einer Begegnung mit Wöllnitz, den sie gewiß war, dort zu treffen, nicht ausweichen.

Als Katharina am folgenden Abend in dem vollen Glanz ihrer von einer geschmackvollen Toilette gehobenen Schönheit in den Ballsaal trat, da mochte es schwer werden, an dem Verhalten der Herren ihr gegenüber zu erkennen, daß sie nicht nach wie vor alle gefesselt halten sollte, da heute wie immer ein Jeder in ihre Nähe zu kommen suchte, um sich ihr in irgend einer Art diensteifrig zu erweisen, und schon zufrieden schien, wenn er sich nicht als ein geradezu Abgewiesener zurückzuziehen brauchte. Es war klar, ihre Herrschaft in der Gesellschaft war noch unbestritten, und es gab vielleicht nur Einen an dieser Stelle, welcher sich derselben entzog und ihre Nähe nicht suchte, sondern ihr, wie es kürzlich stets geschehen war, offenbar aus dem Wege ging, und dieser Eine – war Wöllnitz.

Katharina ertappte sich selbst mehrmals dabei, daß ihr Herz zu pochen begann, daß die Gluth der Erregung in ihre Wangen stieg, wenn es einen Augenblick scheinen konnte, als würde er jetzt an sie herantreten und sie anreden; und dann wieder, wenn sie ihn gleichgiltig vorüberschreiten sah, ergriff sie eine zornige Aufwallung halb gegen ihn und halb gegen sich selbst. Es war aber das Alles einerlei, sie mußte mit ihm sprechen, und jetzt war dies eine noch um so viel zwingendere Nothwendigkeit geworden.

Sie wählte einen Moment, wo er, ziemlich entfernt von der übrigen Gesellschaft und mit der Betrachtung eines Bildes beschäftigt, neben der Thür eines Seitencabinets stand; dann trat sie an ihn heran.

»Es hat mir sehr Leid gethan, Herr Assessor Wöllnitz,« sagte sie, »daß Sie durch Jemand von den Meinigen einen Verlust erlitten haben.«

Leo hatte so wenig wieder an den gestrigen Vorfall zurückgedacht, daß ihn Katharinas Ansprache förmlich überraschte, und er sich dieselbe im ersten Moment kaum klar machen konnte.

»Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein,« erwiderte er, »daß ich mir Ihre Worte nicht sofort zu deuten verstehe; eines Verlustes, auf welchen dieselben hinzuweisen scheinen, bin ich mir nicht bewußt.«

Nach den Aeußerungen Pauls, die ihr allerdings nicht völlig verständlich gewesen waren, welche aber doch kaum etwas Anderes annehmen ließen, als daß Wöllnitz wirklich großen Werth auf die zertrümmerte Statue gelegt hatte, mußte es ihr scheinen, als suche er aus leidiger Höflichkeit die Sache zu ignoriren.

»Zum Glück hat mein Neffe mir mit voller Aufrichtigkeit erzählt, welchen Schaden er bei Ihnen angestiftet hat, Herr Assessor!« sagte sie mit einiger Entschiedenheit.

»Ah!« entgegnete er in einem Tone, der verrathen konnte, daß ihm in diesem Augenblick erst ein Licht aufging; »Sie sprechen von der verunglückten Fortuna! Ich versichere Sie, mein Fräulein, dieselbe war nicht Ihres Bedauerns noch der Worte, welche über sie verloren werden könnten, werth! Erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit statt dessen für etwas Anderes in Anspruch zu nehmen, – für dies Bild z. B., das einen Sonnenuntergang mit seinen verschiedenen Reflexen recht gut wiedergiebt.«

Es ward ihr klar, er wollte auch gegen sie so großmüthig sein, wie er es gegen Paul gewesen war; aber etwas in ihrer tiefsten Seele lehnte sich gegen eine solche Großmuth auf.

»Entschuldigen Sie mich, Herr Assessor,« begann sie auf's Neue, »daß ich nicht vermag, eine mir erwachsene Verpflichtung, – und selbstverständlich gelten mein Neffe und ich in diesem Falle für eine Person, – ungelöst zu lassen, nicht wenigstens den Versuch zu machen, ob der Verlust zu ersetzen ist.«

Er blickte rasch und gereizt empor, dann verneigte er sich.

»Vergeben Sie mir, mein Fräulein; es kam mir einen Augenblick der Gedanke, Sie könnten über den materiellen Werth der Statue mit mir sprechen wollen!« sagte er kalt.

Katharinas feine Lippen preßten sich einen Moment lang zusammen, ehe sie entgegnete:

»Dann möchte ich, Sie selbst gäben mir eine Andeutung, wie ich von dem drückenden Gefühl, zu dem ich mich Ihnen gegenüber bekennen muß, frei werden kann.«

Durch seine Züge ging ein leichtes Zucken, – ein Rest vielleicht der eben hervorgetretenen Gereiztheit.

»Ich verstehe, ich soll Sie um etwas bitten, mein Fräulein, um eine Gnade! Gleich jener Fee im Märchen gewähren Sie dem Sterblichen die Freiheit eines Wunsches; was er begehrt, soll ihm werden; nicht wahr, Fräulein Katharina?«

Ganz genau vermochte Katharina sich den Ton, in welchem Wöllnitz sprach, nicht zu deuten; fast klang etwas wie eine geheime Feindseeligkeit aus demselben; dennoch besann sie sich keinen Augenblick, sondern sagte:

»Es würde mich freuen, Herr Assessor, wenn ich die Erfüllung eines Wunsches als die Ausgleichung unserer Rechnung ansehen dürfte.«

Vielleicht hatten die Worte nicht ganz so herbe klingen sollen, wie sie es thaten; vielleicht war nur die innere Unsicherheit Schuld, daß sie so und nicht anders herauskamen; jedenfalls aber diente ihr Ton nicht dazu, den Aerger, welcher sich Leo's bemeistert hatte, zu dämpfen. Er sah sie an; ihre Augen blickten ihm stolz und ruhig entgegen, während ihre Hand halb lässig mit dem Strauße spielte, den sie trug. Die Bewegung der schlanken Finger leitete ihn zur Beachtung dieses Straußes, und in der That mochte derselbe seine Aufmerksamkeit verdienen, da er als ein Muster geschmackvoller Anordnung gepriesen werden konnte.

Leo's Bewunderung schien jedoch hauptsächlich einer Rose zu gelten, die den Mittelpunct bildete; denn einen Moment lang blickte er starr auf die Blume hin, einen Moment, – und dann trat ein plötzliches Lächeln in seine Züge.

Ein Gedanke war ihm in dieser Stunde gekommen, die Erinnerung an eine Unterhaltung, die er vor etwa drei Wochen mit seinen Freunden gehabt, so wie an eine Verpflichtung, die er damals auf sich genommen hatte: bei der schönen Katharina um ein Zeichen ihrer Gunst zu werben. Eine Bitte wollte sie ihm in diesem Augenblick gewähren; er durfte fordern! Ein weiteres Besinnen schenkte er sich.

»Dem Erdensohn für sein zertrümmertes Glück eine Gabe der Fee!« sagte er; »Fräulein Katharina, ich bitte Sie um die Rose aus Ihrer Hand.«

Befremdet, erschrocken fast, trat sie einen Schritt zurück.

»Mein Herr, – Herr Assessor Wöllnitz!«

Er war noch nicht zum vollen Bewußtsein gelangt über das, was er in diesem Augenblick that; den Vorwurf, daß er unedel war, machte er sich noch nicht; er empfand nur Bitterkeit darüber, daß sie seine Bitte abschlug.

»Sie haben natürlich das Recht, das Aequivalent zu verweigern!« sagte er kalt, indem er sich verbeugte und nun auch seinerseits zurücktrat.

Ein peinliches Gefühl ergriff sie; sie wußte es, daß sie auf dem Puncte stand, ihn zu verletzen, und etwas in ihr verbot ihr, ihm so zu begegnen, wie sie jedem Anderen begegnet sein würde.

»Wenn Ihnen diese Rose so viel schöner scheint als der Flor unserer Wirthin,« sagte sie, indem sie dabei leicht auf die blumengefüllten Gefäße deutete, welche die Frau vom Hause zum Vergnügen ihrer Gäste hatte aufstellen lassen, »so sei es, – hier ist sie.«

Damit lösten ihre Finger die Rose aus der Mitte der anderen Blumen, und in der nächsten Secunde lag sie in seiner Hand.

In dem nämlichen Moment aber, wo er die Gabe empfing, wich die böse Bezauberung von ihm; er fand es unehrenhaft, ja erbärmlich, daß er auf diese Weise das Siegeszeichen erworben hatte, und, gedemüthigt vor sich selbst wie vor Katharina, griff er hastig nach ihrer Hand, um sie an seine Lippen zu ziehen. Ein heißer Blick lag dabei in seinen Augen, ein Blick, der dem stolzen Mädchen das Blut zum Herzen trieb; denn eine stumme, aber flehende Bitte lag unverkennbar in ihm ausgesprochen. Ihr Athem stockte einen Augenblick. Wußte sie von seiner Schuld, konnte sie ahnen, daß diese Bitte nur von seiner Scham kam, die Vergebung von ihr heischte?

Katharina wußte sich zu beherrschen, und er ward nicht gewahr, daß die feinen Fingerspitzen, die er gefaßt hatte, bebten; wohl aber entzog sie ihm dieselben jetzt rasch und wandte sich dann mit einer stummen Verneigung ab, um zu der Gesellschaft zurückzukehren.

Leo behielt nicht Zeit, ihrer Erscheinung nachzusehen, nicht einmal, um vollständig wieder seiner selbst Herr zu werden, bevor sich ihm eine höchst peinliche Wahrnehmung aufdrängte. Die eben vorgegangene Scene hatte, wenigstens in ihrer letzten Hälfte, einen Zeugen gehabt, den unwillkommensten« den es geben konnte; denn Derjenige, dessen Augen der schönen Katharina einen lächelnden Blick nachsandten und sich dann mit nicht mißzuverstehendem Ausdruck auf die Rose richteten, die der Empfänger noch in der Hand trug, war Eisleben.

»Lassen Sie mich den Ersten sein, der Ihnen seine Achtung vor Ihren Leistungen bezeigt, Wöllnitz!« sagte er lachend. »Ich kam gerade à propos, – durch die Thür jenes Cabinets, – um es mit leibhaften Augen zu sehen, wie Sie Ihr Siegespfund erbeuteten. Sie dürfen sich also für Ihren Erfolg auf mein Zeugniß berufen, und ich will es beschwören, daß Sie die Rose nicht etwa aus einer beliebigen Vase entführt, sondern wirklich und wahrhaftig von der Hand unserer schönen Gegnerin errungen haben.«

Leo biß sich unmuthig auf die Lippen.

»Sie irren, Freund, es war Scherz, um den es sich handelte; ich darf die Rose nicht als Siegeszeichen betrachten. Ich wünsche auch nicht, daß unsere Freunde den kleinen Zwischenfall erführen, – um keinen Preis! Lieber bekenne ich, das Spiel, auf das ich eingegangen war, Fräulein Hellbach gegenüber vollständig verloren zu haben. Sprechen Sie immerhin aus, ich hätte den Kampf ruhmlos aufgegeben.«

Um den Mund des jungen Diplomaten spielte ein feines Lächeln.

»Seien Sie unbesorgt, Wöllnitz, ich verspreche Ihnen, daß die Neckereien und die Combinationen unserer Freunde Sie nicht stören sollen.«

In der nächsten Stunde bereits wurden der Officier und der Forstjunker von Eisleben in Kenntniß gesetzt, daß die neuliche Verschwörung gegen die schöne Katharina eine sehr piquante Historie eingeleitet haben dürfte, indem Wöllnitz offenbar »hineingefallen« sei und ein wirkliches Engagement mit der stolzen Dame angeknüpft habe; was weiter folgen würde, müsse allerdings erwartet werden. Zugleich aber schrieb er ihnen genau ihre Rollen vor und machte aufs Neue strenge Zurückhaltung und discrete Vermeidung jeder unzeitigen Bemerkung zur allgemeinen Pflicht, »damit die Fäden der Verwicklung sich sauber abspinnen und lösen dürften,« wie er sich lächelnd ausdrückte.

»Tappen wir mit plumpen Händen hinein,« setzte er hinzu, »so verderben wir unserem Freund leicht seinen Einschlag und das ganze Gewebe, uns aber – das Vergnügen.«

Ja, das Vergnügen, den Spaß, den man von der Sache haben wollte, – ihm war man die vollste Schonung schuldig! Das sahen auch die anderen Herren ein, und so gewann Eisleben leicht ihr Versprechen, daß sie verstohlene Beobachter bleiben und es Wöllnitz nicht zeigen wollten, wie viel sie von seinem Verhältniß zu der schönen Hellbach wußten. –

 

Katharina und Leo sprachen sich an diesem Abend nicht wieder. Sie wußte es ihm Dank, daß er sich ihr nicht mehr näherte; denn sie war in ihrer Sicherheit erschüttert. Zum ersten Mal in ihrem Leben vielleicht fühlte sie sich ihrer Haltung beraubt, hatte sie mit einer sich immer aufs Neue aufwerfenden Frage, mit einem Räthsel zu kämpfen.

»Welche Bedeutung legte Wöllnitz der Rose bei, die er von ihr verlangt hatte? Und vor Allem, was hatte jener seltsam bittende Blick sagen sollen?«

Immer wieder tauchten seine heißen, dunklen Augen vor ihr auf, so oft ihr nur das Gewirr des Festes einen Moment des Besinnens ließ; und dann später in der Nacht, als sie allein war und nicht schlafen konnte, da mühte sie sich erst recht ab, die stumme Sprache dieser Augen zu verstehen. Etwas wie ein Vorwurf hatte ganz sichtbar auch in ihnen gelegen. Galt derselbe ihrer Härte, ihrem unnahbaren Wesen? Hatte sie ihn damit gekränkt? Es mußte wohl so sein – Wußte sie ja doch, daß sie absichtlich ein bitteres Empfinden gegen ihn festgehalten hatte. Nun jedoch suchte sie das Letztere vergebens bei sich, und darum, tröstete sie sich, würde wohl auch Wöllnitz nicht wieder das Recht haben, sie so eigenthümlich anzublicken, in seine Blicke die Forderung zu legen, daß sie ihn nicht von sich stoßen solle durch ihre Schroffheit.

Auch Leo's Gedanken beschäftigten sich nach der Heimkehr von der Soirée mit dem Vorfall des Abends. Er zürnte sich noch um sein Vergehen gegen Katharina; er fragte sich, wie er dasselbe sühnen könne, und die Antwort, welche er sich gab, war, daß er sich noch strenger als bisher ihren Wegen fern zu halten habe. Nur so, meinte er, könne er hoffen, des peinlichen Bewußtseins, welches er ihr gegenüber auf sich geladen hatte, allmälig Herr zu werden.

 

War Leo aber somit entschlossen, keine weiteren Beziehungen zu dem schönen Mädchen aufkommen zu lassen, einer gewissen Verbindung mit einem Gliede ihrer Familie, ihrem kleinen Neffen nämlich, vermochte er nicht ganz auszuweichen. Paul hatte es in seinem Kindersinn als eine That großen Edelmuths aufgefaßt, daß Herr Wöllnitz ihm den Verlust seiner Statue nicht als Schuld beigemessen hatte; und daß er so ganz straflos ausgegangen war, stimmte sein Gemüth zu entschiedener Dankbarkeit, so daß Leo, wenn er dem Knaben zufällig auf der Straße begegnete, der lebhaftesten Begrüßung desselben gewiß sein konnte.

Anfangs freilich mußte er sich auf die Person des Kleinen besinnen, wenn dieser so höflich sein Mützchen vor ihm zog und ihn dabei so herzensfröhlich anlachte; dann aber ward ihm derselbe bekannter, und zuletzt hatte ihn Pauls Freundlichkeit bis zu dem Grade besiegt, daß er nicht an ihm vorüberzuschreiten pflegte, ohne ihm irgend ein Wort, mochte es auch nur ein kurzes oder scherzendes sein, gegönnt zu haben.

War eben der Knabe nicht wenig stolz über diese Auszeichnung, so traf es sich gar eines Tages so glücklich, daß er auch eine Anzahl von Genossen zu Zeugen seines vertraulichen Verhältnisses mit einem Erwachsenen machen konnte; denn er befand sich gerade im Spiel mit einem Haufen von Cameraden auf einem offenen Platz in der Vorstadt, als er Leo's ansichtig ward, der mit ein paar Begleitern von der Gegend des Feldes her auf ihn zugeschritten kam.

Die Herren waren offenbar auf der Jagd gewesen; das bewiesen neben den Anzügen, welche sie trugen, ihre Gewehre so wie die Hunde, die mehrere von ihnen an einer Leine mit sich führten.

»Seht, der da ist der Herr Assessor Wöllnitz, den ich sehr gut kenne!« verkündigte Paul seinen Gefährten, indem er dabei auf den stattlichsten der Jäger deutete; »ich werde ihm, wenn er näher kommt, guten Abend sagen, und Ihr sollt dann hören, daß er mit mir spricht.«

Von Leo war es sehr wenig bemerkt worden, daß sich eine kleine Gruppe gebildet hatte, die ihn aufmerksam betrachtete, als er die Entfernung zwischen sich und ihr verringerte; denn er befand sich im Gespräch mit seinen Begleitern, bis er dann bald darauf auch noch einen Augenblick stehen blieb, um sich von den letzteren zu verabschieden, da sie an der Stelle ihren Weg nach einer anderen Richtung hin fortzusetzen hatten.

Wenige Schritte, die er selbst dann allein weiter machte, brachten ihn nun aber in die Nähe der Knaben, und diesen Augenblick glaubte Paul nicht vorübergehen lassen zu dürfen, ohne seine Begrüßung anzubringen.

»Guten Abend!« rief er vergnügt und schwenkte sein Mützchen.

Leo mußte indessen in dieser Minute zerstreut sein; denn er that nichts, als daß er zur Erwiderung nickte, und sah kaum nach seinem kleinen Freunde hin, so daß dieser schon im Begriff stand, sich über die unerwartete Nichtbeachtung erschrocken und verlegen zurückzuziehen, während die Spottlust der Cameraden bereits deutlich in deren Mienen und in einzelnen Tönen hervortrat.

Mit einem Male aber schien dem Dahinschreitenden die Besinnung oder wenigstens die Erinnerung an etwas Vergessenes zu kommen; denn er hielt im Gange inne und blickte zuerst auf seinen Weg zurück, als hoffe er auf ihm noch Jemanden von den Bekannten zu sehen, und dann fiel sein Auge auf Paul, den er offenbar in diesem Augenblick erst erkannte.

»Sieh da, Kleiner,« sagte er, »gut, daß wir uns treffen! Willst Du mir einen Dienst erweisen?«

»Gern!« rief Paul eifrig und stolz unter einem raschen Seitenblick auf seine Cameraden. »Sagen Sie mir nur, was ich für Sie thun soll.«

»Nun,« sagte Leo, »so laufe dem Herrn, welcher so eben in jenes Haus ging, nach, und sage ihm, – aber nein,« unterbrach er sich gerade so rasch wie er bisher gesprochen hatte, »es ist doch besser, ich spreche selbst mit ihm; denn es kommt auf eine Verabredung an! Allein den Hund hier hältst Du mir, bis ich zurückkehre, nicht wahr?«

»Gewiß!« rief Paul, ganz glücklich über den Vertrauensposten, welcher ihm zugewiesen ward, und ergriff mit beiden kleinen Fäusten die Leine.

»So ist's Recht!« sagte Leo noch lächelnd, »halt' nur brav fest.«

Damit wandte er sich rasch, um dem Gefährten, – es war Herr von Eisleben gewesen, – nachzueilen.

Paul erlebte die Genugthuung, daß die kurze Unterredung, welche er mit dem vornehm aussehenden Herrn geführt, den kleinen Cameraden wirklich imponirt hatte, und einen nicht geringeren Triumph bereitete ihm die Wahrnehmung, daß sie ihn jetzt um sein Hüteramt beneideten.

Die Empfindungen jedoch, die er auf ihren Gesichtern las, und welche er mit einer aus Stolz und Herablassung gemischten Miene beantwortete, sollten nicht lange stumm bleiben.

»Laß mich den Hund halten!« forderte bald einer der Knaben und faßte an die Leine.

Entschieden indessen wehrte Paul ab.

»Habt Ihr s nicht gehört, was der Herr Wöllnitz zu mir gesagt hat? Ich leide nicht, daß Jemand von Euch das Thier anrührt?«

Der abschlägige Bescheid und die bestimmte Sprache wirkten aufregend.

»Hoho, das wollen wir doch sehen!« und: »Nun gerade!« rief bald hier, bald da eine Stimme aus der Schaar, und alsbald rückte eine Angriffscolonne gegen Paul vor, um ihn zu zwingen, den Hund los zu lassen.

Der Knabe hielt sich jedoch tapfer, und es wollte Niemandem gelingen, ihn zum Nachgeben zu bringen, oder ihm die Leine zu entreißen.

»Wißt Ihr was? Wir wollen Schlächter Meier's Sultan auf den fremden Hund hetzen; die Beiden sollen miteinander kämpfen!« rief mit einem Male einer der Buben, und mit Jubel ward der Vorschlag angenommen.

»Ja, ja, das wollen wir thun!« hieß es, »und Paul mag dann zusehen, ob er seinen Hund noch festhalten kann! Sultan soll uns helfen!«

Paul, der etwas ängstlich aussah, erklärte, daß das schlecht und noch dazu ein unehrliches Spiel sein würde; aber sein Protest ward nicht gehört; vielmehr stürmte ein wilder Haufe sofort nach der nahen Schlächterwohnung, um den vierfüßigen Bundesgenossen herbeizuholen. Zum Unglück für den armen Jagdhund und seinen kleinen Beschützer gelang es nur zu schnell, die Kette, welche den mächtigen Sultan, den Bullenbeißer des Schlächters, an sein Häuschen gefesselt hielt, zu lösen, und unter wüthendem Gebell stürzte in der nächsten Minute das gewaltige Thier auf den Kampfplatz.

»Hetz, hetz, Sultan!« hatten die Knaben jubelnd und schadenfroh geschrien.

Der unvorsichtige Ruf aber verstummte in ihrem Munde, und erschrocken und ängstlich drängten sie sich selbst flüchtend zurück, als sie nun das Ungethüm über sein Opfer herfallen und ihm das furchtbare Gebiß in den Nacken setzen sahen.

Paul allein blieb muthig; die Angst um seinen Schützling ließ ihn die eigene Furcht vor dem bösartigen Thiere, dem er sonst nicht nahe zu kommen wagte, vollständig vergessen; er warf sich über Sultan hin und suchte ihn mit aller Kraft seiner Arme und Hände von dem wehrlosen Jagdhund loszureißen Was er aber dabei erreichte, war zunächst, daß er sich selbst zum Gegenstand von dessen Wuth machte; denn sofort kehrten sich die Zähne des Feindes auch gegen seine eigene kleine Person.

Paul schrie wohl auf, als er den scharfen Biß an seiner Wange fühlte; aber der Gedanke an Flucht kam ihm keinen Augenblick, und nach wie vor suchte er, den laut heulenden Jagdhund mit seinem Leibe zu decken.

Der Schreck der übrigen Knaben war indessen, als sie das Blut ihres Cameraden fließen sahen, aufs Höchste gestiegen; statt ihm aber zu Hilfe zu kommen, stoben sie in ihrer Verwirrung nach allen Seiten auseinander, wobei ihre Angst nur das Gute behielt, daß die von ihr ausgepreßten Schreie wirkliche Retter herbeiführten.

Vor allen übrigen war Leo zur Stelle; derselbe hatte gerade seine Besprechung mit Eisleben beendigt und war aus dessen Hause getreten, als ihn die durcheinander lärmenden Stimmen, vermischt mit dem Hundegebell, aufmerksam machten und ihn dann rasch auf den Platz führten, wo Paul so unerschrocken kämpfte.

Seine energische Hand war die erste, welche Sultan packte und ihn zwang, sein Opfer fahren zu lassen, worauf derselbe dann alsbald von anderen Hinzugekommenen völlig unschädlich gemacht und wieder an seine Kette gelegt wurde.

»Hier ist Ihr Hund wieder; ich habe ihn nicht losgelassen,« sagte Paul, sobald er nur ein Wenig zu Athem gekommen war, und seine blauen Augen blickten den erwachsenen Freund dabei triumphirend und treuherzig zugleich an.

»Du bist tapfer genug gewesen!« gab Leo beifällig zu. »Dafür bist Du nun aber selbst verwundet,« setzte er sofort in besorgterem Tone hinzu.

»Ja,« sagte Paul, dem diese Thatsache gewiß sehr unlieb zu sein schien, vielleicht weil er in diesem Augenblick noch keine heftigen Schmerzen fühlte; »sehen Sie nur das viele Blut!«

Und damit hielt er sein kleines Taschentuch empor, das er herausgezogen hatte, um es gegen die Wunde zu drücken.

Einige Frauen, die mittlerweile herzugekommen waren, erboten sich jetzt mitleidig, den Knaben in ihre Pflege zu nehmen, und Leo ließ es geschehen, daß er in ein Haus geführt, und ihm das Blut abgewaschen wurde, behielt ihn aber dabei selbst an der Hand, da es ihm nun nicht anders einfiel, als daß er ihn nach Hause zu geleiten habe, ohne damit länger als einen Augenblick bei dem Gedanken zu verweilen, daß es Katharinas Wohnung sei, die er zu betreten im Begriff stand. – Katharina's, die er, zu vermeiden, sich so entschieden vorgesetzt hatte.

»Die Großmutter ist vielleicht nicht zu Hause; aber was wird Tante Katharina sagen, wenn sie sieht, daß ich ein Tuch um den Kopf trage, und wie ich geblutet habe?« rief Paul, als Beide auf dem Wege waren, offenbar weniger aus Fürsorge für die Empfindung der Seinigen als im Vorgenuß der Wichtigkeit, welche die nächste Viertelstunde seiner eigenen Person einbringen mußte.

Leo dagegen ward durch die Bemerkung daran erinnert, daß es ihm vorgezeichnet sein dürfte, die Angehörigen des Knaben, um ihnen den Schreck zu ersparen, auf sein Erscheinen vorzubereiten, und aus diesem Grunde ließ er Paul, als die Hellbach'sche Wohnung erreicht war, unten an der Treppe warten, um zuvor allein hineinzugehen.

Wie Paul richtig vermuthet hatte, war Frau Hellbach nicht daheim« dafür trat Katharina, den Ausdruck eines leichten Erstaunens auf ihrem schönen Gesicht, dem Gast, der ihr gemeldet worden war, entgegen. Ihr die Veranlassung seines Kommens zu erklären, machte sie ihm indessen nicht schwer, wie sie denn keinen Augenblick die Herrschaft über ihre Haltung verlor, ihn durch kein Jammern, keinen Aufschrei unterbrach, als er ihr den Unfall, welcher ihren Neffen betroffen hatte, mittheilte.

»Es freut mich, daß Paul selbst keine Schuld hat, über den Unverstand der Gassenbuben brauchen wir uns nicht zu erzürnen!« war so ziemlich Alles, was sie sagte.

Auch als Paul darauf herbeigerufen worden war, machte sie nicht viel Worte. »Mein kleiner Paul,« sagte sie nun in unwillkürlich zärtlichem Tone, indem sie sich niederbeugte und ihn küßte, um dann sofort, als der Knabe, von ihrem Mitleiden weich gemacht, oder auch im beginnenden Schmerz der Wunde in Thränen ausbrach, mahnend hinzuzusetzen: »Ich glaube gewiß, Paul, daß ein Bursche, der Muth hat, nicht viel darnach frägt, wenn ihm etwas Weh thut!«

Die Wirkung der Worte war, daß Paul sein Weinen auf der Stelle unterdrückte und nur noch zu seiner Entschuldigung stotterte, Sultans Zähne seien viel größer gewesen als die seines Eichhörnchens, das ihn neulich in den Finger gebissen habe, eine Behauptung, gegen die sich Nichts einwenden ließ, um so viel weniger, als das von Neuem heftig aus der Wunde quellende Blut deutlich verrieth, wie arg der böse Hund dem Kleinen mitgespielt hatte.

In der That zeigte sich die Verletzung, als Katharina den Verband, welcher dem Knaben in der Eile angelegt worden war, abhob, so erheblich, daß es geboten schien, den Rath eines Arztes einzuholen; und auf die einfachste Weise machte es sich wiederum, daß Leo die Herbeischaffung des Letzteren übernahm, eben so natürlich aber auch, daß er vor dem Fortgehen um die Erlaubniß bat, noch wieder nach dem kleinen Patienten sehen zu dürfen, der sich die Verwundung gewissermaaßen in seinem Dienst zugezogen hatte.

Daß in Katharinas Stimme, als sie ihm die Entgegnung gab, ein ganz leises Beben lag, überhörte Leo; er vernahm nur, daß sie ihm die Wiederkehr erlaubte, während sie zugleich dem Knaben, der durchaus Tag und Stunde des angekündigten neuen Besuchs wissen wollte, seine Forderung verwies.

»Ja, aber ich fürchte nur, daß Herr Wöllnitz sonst Alles wieder vergißt!« meinte Paul etwas kleinlaut. »Die Großmutter sagte neulich selbst, große Leute vergessen leichter etwas als Kinder.«

Unwillkürlich lachte Leo laut auf. »Ohne Sorge, Kleiner, gestachelt braucht mein Gedächtniß nicht zu werden!« sagte er. »Das Vergessen lerne ich erst noch.«

War es Katharina auch fast, als hätten seine Worte noch eine tiefere Bedeutung, so behielt sie doch nicht Zeit, viel über dieselben nachzudenken; denn nach Leos Verabschiedung hatte sie vollauf mit dem Knaben zu thun, dessen Schmerzen stärker geworden waren, und dem ihre Sorgfalt gewidmet bleiben mußte, bis der Arzt kam. Aus dem Munde des Letzteren ward denn allerdings ihr und der inzwischen heimgekehrten Mutter die Beruhigung zu Theil, daß Pauls Verletzung nicht bedenklicher Art sei und sicher in kurzer Zeit heilen würde; jedoch machte er dabei aufmerksame Pflege zur Bedingung und verlangte, daß der Kleine vorläufig als ein vollständig Kranker behandelt werden solle.

So kam es denn auch, daß Leo, als er am nächsten Tage wieder vorsprach, seinen kleinen Freund auf dem Bette liegend fand, während Katharina neben ihm saß.

Paul fieberte und litt an der Wunde, doch schien die Tante es in besonderer Weise zu verstehen, seine Unruhe zu beschwichtigen; denn sobald sie nur in ihrem ruhigen, gelassenen Tone mit ihm sprach, hörte der kleine Körper auf, sich umher zu wälzen, und mit besänftigtem Ausdruck hefteten sich die Augen des Kindes auf ihre Züge.

Leo nahm dies schon wahr, während er noch in einiger Entfernung mit der Mutter sprach, wie er denn auch einige Bruchstücke des Märchens auffing, das sie ihm gerade erzählte, und wissen konnte, daß es das von der schönen Else war, der Hirtentochter, die es verstand, alle Schmerzen und Leiden in der Welt durch ihre Berührung zu heilen. Sobald er seine eigene Unterhaltung beendigen konnte, näherte er sich.

Katharina unterbrach ihre Erzählung, als Leo an das Lager herantrat; sie stand auf, um ihn zu begrüßen, und entzog damit dem Knaben auch ihre Hand, die auf der sein Haupt umgebenden Binde geruht hatte. Letzteres war dem kleinen Kranken offenbar besonders unangenehm; denn er haschte nach ihren Fingern, als ob er sie festhalten wollte, und ein Ausdruck von Unbehagen prägte sich dabei auf seinem Gesicht aus, welcher der Freudenbezeigung über das Wiedersehen seines Gönners entschieden einigen Eintrag that.

»Hast Du viele Schmerzen?« erkundigte sich Leo, indem er dem Patienten die Hand reichte.

»Ja, eigentlich wohl,« entgegnete Paul; »aber wenn Tante Katharina mit mir spricht, lange nicht so arg.«

Leo lächelte, sagte indessen nichts und sah nur zu, wie Katharina dem Knaben, der leise an ihrem Kleide gezupft hatte, die Hand wieder auf den Kopf legte.

»Er meint, daß ihm das Linderung bringt!« sagte sie dabei wie entschuldigend zu dem Gaste.

Leo nickte.

»Paul ist klug,« sagte er mit demselben Lächeln, das er vorhin schon gezeigt hatte. –

Ehe dann aber noch etwas Weiteres gesprochen werden konnte, rief Paul, dem ein Gefühl sagen mochte, daß er in diesem Augenblick als die Hauptperson galt und das Wort nehmen durfte:

»Tante Katharina, warum hieß die Hirtentochter doch nur Else?«

»Nun aber, Paul, doch wohl darum, weil man ihr diesen Namen einmal gegeben hatte!« entgegnete Katharina lachend.

»Ja,« fuhr aber Paul ernsthaft fort, »warum nannte man sie nicht Katharina? Es hätte dann gar kein Märchen zu sein brauchen; denn was sie konnte, kannst Du auch.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Alles Leid heilen, Paul?«

»Ja, ganz gewiß!« erklärte Paul ganz bestimmt, »und Du legst einem auch gerade so die Hand auf, wie sie es machte!«

»Ach, so geh!« schalt sie, lachend und zugleich etwas verlegen über das naive Geplauder des Kindes, das der Gast hören mußte.

Leos Spottlust hätte sie jedoch nicht zu fürchten gehabt; der Blick seiner dunklen Augen war eigenthümlich ernst geworden, und so fühlte sie ihn auch auf ihren Zügen ruhen; doch that er weiter keine Aeußerung und nahm erst wieder thätigen Antheil an der Unterhaltung, als dieselbe sich einem andern Gegenstande zuwendete.

Es war von diesem Tage an zu einer Art Gewohnheit geworden, daß Leo täglich in das Hellbach'sche Hans kam, um nach dem Kranken zu sehen, wie die ostensible Erklärung für seine Besuche lautete, und wie er es sich selbst vorsagte, wenn die Stunde schlug, wo er seit einer Reihe von Tagen neben Katharina an des Kranken Lager zu sein pflegte.

Er hatte sie gebeten, sich nicht durch sein Kommen stören zu lassen, sich nicht zu unterbrechen, wenn sie mit Paul spreche; und so saß er oft still neben den Beiden, bis ihre Erzählung beendigt war und die Unterhaltung zwischen ihnen Allen gewechselt wurde, und, – mochte es nun sein, daß sie nur ihr Wort an den Knaben richtete, mochte sie sich zu ihm selbst wenden – immer regte sie ein eigenes Empfinden, vielmehr ein Aufhören des gewohnten Empfindens in ihm an, lernte er durch sie etwas kennen, was er bisher nicht gefunden und nicht gekannt hatte: Ruhe in ihrer tiefsten, wohlthuendsten Bedeutung.

Doch aber machte er sich selbst das Alles kaum klar; er dachte wenig darüber nach, warum es ihn Tag für Tag zu Katharina zog, weshalb er seine innerste Natur als eine andere fühlte, wenn er sich bei ihr befand, – er begnügte sich damit, daß es so war. –

 

Pauls Wunde besserte sich mittlerweile ziemlich rasch; von eigentlichem Kranksein an derselben war bald nicht mehr die Rede, und als Leo eines Tages, – es war kaum zwei Wochen nach jenem Ereigniß mit dem Hunde, zum Besuch in's Haus kam, wurde ihm die Mittheilung gemacht, daß der Patient zum ersten Male wieder in's Freie gelassen worden und in dem Augenblick auf einer Spazirfahrt mit seiner Großmutter begriffen sei. Wenn er sich auch über diese Nachricht freuen mußte, so war dieselbe doch nicht im Stande, ein gewißes Mißbehagen, das sich in dem gleichen Augenblick in ihm regte, aufzuheben; sofort nämlich hatte er daran denken müssen, daß ihn Katharina unter den Umständen, und weil sie allein war, heute vielleicht nicht empfangen würde. Indessen, – gewagt sollte die Bitte, seinen Besuch anzunehmen, jedenfalls werden, dazu war er nach kurzer Ueberlegung entschlossen, und gerade stand er im Begriff, seine Meldung auszusprechen, als sich die Thür des Wohnzimmers öffnete, und Katharina selbst auf der Schwelle erschien.

Als sie ihn erblickte, machte sie eine Bewegung, die unwillkürlich und auf eine gewisse innere Ueberraschung zurückzuführen sein mochte, die er aber dahin deutete, daß ihr sein Erscheinen unangenehm war, und sie sich vor ihm zurückziehen wollte. Etwas empfindlich rief er aus:

»Ich habe es schon erkannt, mein gnädiges Fräulein, daß ich mich als einen Unwillkommenen zu betrachten habe; Sie brauchen das Wort kaum erst auszusprechen, daß ich mich zurückziehen soll!«

Sie erröthete leicht, lachte aber zugleich und sagte:

»Ihre Voraussetzung trifft nicht ganz zu; denn für einen Augenblick wenigstens, bitte ich Sie doch, hereinzukommen; so lange nur, bis ich ein Stück Ihres Besitzes wieder in Ihre Hände gelegt habe, ein kleines Eigenthum, das Ihnen von einigem Werth sein dürfte, und das Sie vielleicht für verloren halten.«

Leo wußte auf der Stelle, daß sie von einem goldnen Crayon sprach, den er seit einigen Tagen vermißte, wie ihm denn einfiel, daß er denselben hier zuletzt im Hause gebraucht hatte, ohne sich dessen bisher bewußt gewesen zu sein. Da ihm aber ihre Aufforderung zum Eintreten nicht dringend genug erscheinen wollte, und seine Laune einmal getrübt war, so verzichtete er lieber ganz auf das eben noch gewünschte Beisammensein mit ihr und versicherte, daß er den fraglichen Gegenstand gerade so gut an jedem anderen Tage als dem heutigen, wo er lästig zu sein fürchten müsse, in Empfang nehmen könne.

Sie drängte ihn nicht; ihre ruhige Haltung veränderte sich keinen Augenblick; sie sagte einfach:

»Nun wohl, so wird meine Mutter Ihnen den Crayon aufheben!«

Etwas lag in den kurzen Worten, das ihm auffiel und ihm eine unwillkürliche Frage in den Mund gab.

»Ihre Mutter! Habe ich Sie etwa verletzt, daß Sie meine Angelegenheiten von sich weisen?«

»O, nein,« entgegnete sie mit flüchtigem Lächeln, »aber – nun, mich werden Sie vorläufig hier nicht mehr finden.«

»Wie?« fragte er, während sein Inneres von einer Art Schreck ergriffen wurde, »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie uns verlassen werden?«

»Daß ich verreise – ja!« sagte sie; und als er nicht gleich etwas entgegnete, fuhr sie fort: »die Veranlassung ist plötzlich gekommen und nöthigt mich, schon morgen aufzubrechen.«

»Morgen!« – Er sagte nur dies eine Wort; aber er war damit, ohne es selbst zu wissen, mechanisch fast, in das Zimmer getreten; er dachte sich, wie es sein möchte, wenn er sie nicht mehr sehen, ihre ruhige Stimme nicht länger hören würde.

»Und wie lange bleiben Sie fort?« stieß er dann mit einer gewissen Hast hervor.

»Ich weiß es nicht,« versetzte sie; »sobald ich vermag, kehre ich zurück; aber ich darf vorläufig nicht an mich selbst denken. Eine Verwandte ruft mich zu sich, – sie ist unglücklich, gerade erst geschieden von einem Gatten, der ihrer unwürdig war; mich verlangt sie zur Stütze, und ich meine, ich darf mich ihr nicht entziehen, bevor sie neue Kräfte für das Leben gewonnen hat.«

In großer Unruhe war Leo hin und her durch das Zimmer geschritten, während sie sprach; jetzt blieb er vor ihr stehen und rief aus:

»Sie blicken nur nach der einen Seite; nur an die Verwandte denken Sie, ihr opfern Sie alle Sorge und alle Pflege und achten nicht darauf, wer hier bleibt und Sie entbehren soll!«

Befremdet und nahezu betroffen über den unerwarteten Vorwurf, blickte sie ihn an. Ein Etwas in ihr zwang sie jedoch zur Vertheidigung.

»Mich halten jetzt keine andere Pflichten,« entgegnete sie; »Paul ist hergestellt; er geht in die Ferien, und auch die Mutter schickt sich zu einem längeren Aufenthalt bei meiner Schwester an.«

»Paul und die Mutter!« rief Leo ungeduldig. »Fragen Sie nicht darnach, Katharina,« – es war das erste Mal, daß er sie bei ihrem Namen nannte, – »was Andere von Ihnen fordern?«

Ein geheimes Beben ergriff sie; aber sie hätte sich nie verziehen, wenn sie dasselbe verrathen hätte.

»Darf noch sonst Jemand etwas von mir fordern?« sagte sie und versuchte, ihn anzublicken.

»Ja, fordern – verlangen!« entgegnete er in leidenschaftlicher Aufregung, »in so fern ein Mensch das Recht hat, von einem andern zu begehren, daß er ihn nicht elend werden läßt!«

»Ein Mensch von dem andern,« – sprach sie ihm nach, jetzt kaum noch im Stande, ihre Bewegung zu verbergen.

»Ich von Ihnen, Katharina!« rief er und faßte ihre Hand. »Gehen Sie nicht fort,« bat er mit plötzlicher Weichheit »Es ist so viel, als ob ich Ihnen sagte: mein Heil hängt an Ihrem Bleiben.«

Katharinas Wangen wurden bleich bei seinen Worten. Sie hätte gern die Blicke von ihm abgewandt, von seinen Augen, die schon einmal gerade so bittend und so flehend zu ihr aufgeschlagen gewesen waren; aber dann konnte sie nicht anders; sie mußte hineinschauen in diese geheimnißvollen, dunklen Augen, bis ihre eigenen sich weit und leuchtend geöffnet hatten.

»Wöllnitz,« sagte sie, »sprechen Sie aus der Ueberzeugung Ihres Herzens, daß Ihr Heil bei mir liegt, und es Ihnen nur aus meiner Hand kommen kann?«

»Ja, Katharina,« entgegnete er, und sein Wort klang so ernst, als ob er einen Schwur leistete; »wenn je im Leben etwas klar und wahr in mir gewesen ist, so ist es das Gefühl dieser Stunde, das mir sagt: dein Leben wird zu einem verlorenen werden, wenn du es nicht an Katharinas Seite leben darfst.«

»Nun,« erwiderte sie, und ein strahlender Glanz glitt über ihre Züge, »so sei es denn, wie Sie fordern, und möge Gott mir helfen, daß ich Ihre Hoffnung wahr mache! Ich nehme die Pflicht auf mich, für Ihr Glück zu sorgen, Ihr Heil zu werden, Leo!«

Er preßte sie nicht ungestüm und überwältigt in seine Arme, er jubelte nicht lauten Tones; aber es lebte in diesem Augenblick etwas in ihm auf, das ihn zwang, seine Knie vor ihr zu beugen und ihre Hände unter innigen und dankbaren Küssen an seine Lippen zu ziehen. Eine kurze Weile ließ sie ihn gewähren und lächelte still und glücklich auf ihn herab; dann aber richtete sie ihn leise auf und sagte:

»Knieen dürfen Sie nicht mehr vor mir, wenn wir uns wiedersehen, von dieser Stunde an stehen und gehen wir nebeneinander.«

»Ja, Katharina,« rief er, »und ich glaube, Ihre Hand versteht es, die Dornen auf dem Wege zu mildern, die ihre Stacheln so vielfach an meinem Herzen prüften.«

 

Als Leo nach einer Weile Katharinas Wohnung verließ, als er sich allein auf der Straße fand, mußte er sich an Stirn und Schläfen greifen, um sich zu vergewissern, es sei kein Traum, was er so eben erlebt, und der ihm erzählte, daß ein Wort aus seinem und ihrem Munde das schöne Mädchen zu seiner Verlobten gemacht habe. – Als er vor einer Stunde jenes Haus betreten hatte, war er fern von dem Entschluß gewesen, um Katharina zu werben, ja fern von der Vorstellung, daß sie je sein werden könne, – und nun hatte ein einziger Moment Alles umgewandelt, was vorhin gewesen war, und ihn selbst in eine ganz neue Bahn geschleudert. –

Vor sich selbst lehnte er es indessen nahezu ab, daß er eine That eigenen Entschlusses, freier Selbstbestimmung vollzogen habe; es sei eine Fügung, ein Eingriff des Schicksals gewesen, daß Alles so habe kommen müssen, sagte er sich. Er selbst, – liebte er Katharina? Nein! So oft er sich diese Frage vorlegte, so oft gab er sich diese Antwort. Vielleicht, nein gewiß hätte er sie geliebt, wäre jene Andere nicht gewesen, die er nun haßte. Sie hatte sein Herz vergiftet, daß es nicht mehr lieben konnte, selbst Die nicht, welche sicher zehnfach höheren Werth besaß, und hätte noch etwas seinen Groll gegen sie, die Ungetreue, erhöhen können, so wäre es gerade dies gewesen; denn Katharina würde sein ganzes Innere ausgefüllt haben, wenn er sie zuvor gekannt hätte. –

Er gestand sich das Alles, er rief sich ihr Wesen zurück und fragte sich dann, was ohne sie, ohne den Einfluß ihrer klaren, in sich gefesteten Persönlichkeit aus seinem Leben geworden sein würde, und er wiederholte sich, was er ihr gesagt hatte: ein verlorenes!

Ja, es war so, und er selbst wollte es so annehmen; ein guter Genius hatte ihm Katharina entgegengeführt und ihm in dem entscheidenden Moment die Augen geöffnet, daß er erkennen mußte, wie ihm Alles, was noch an Ruhe, Friede, Glück für ihn auf der Welt zu finden war, nur durch sie kommen konnte. – In seinem Herzen empfand er seit langer Zeit zum ersten Mal wieder ein Gefühl, das der Dankbarkeit gegen das Geschick gleich kam.

 

Noch mehr im Einklang mit ihrem ganzen Selbst befand sich jedoch Katharina. Zwar war auch für sie der Moment, welcher sie zu Leo's Braut gemacht hatte, ein überraschender gewesen, aber sie mit etwas Niegedachtem und Niegeahnten gleichsam überwältigt hatte er sie nicht; vielmehr war es ihr jetzt, als habe die Gewißheit lange in ihrer Seele gelegen, daß sie ihm und er ihr auch äußerlich angehören müßte, so lange als sie die Gewißheit gehabt hatte, daß ihr Wesen für die Ergänzung des seinigen bestimmt sei, und sie vermögen würde, das Verlangen, das Sehnen dieses unruhigen Herzens zu stillen. Sie hatte jetzt nur ihre Berufung empfangen, als er sein Glück, – sein Heil, wie er es nannte, – von ihr gefordert, und sie ihm verheißen hatte, daß ihr Leben, jede Minute desselben, ihm gewidmet sein sollte.

Eine wunderbare Kraft und Freudigkeit durchdrang sie und erhob ihre Seele. Wer sie jetzt gesehen hätte, würde es schwer geglaubt haben, sie sei dieselbe Katharina, deren Herbigkeit so oft verletzend hervorgetreten war, die so oft Zweifel erregt hatte, ob ihre Natur überhaupt irgend einer Hingebung, ob sie nicht vielmehr nur dazu fähig sei, um ihr den Ruhm einer hoheitsvollen Unantastbarkeit und Unnahbarkeit zu sichern. Der Stolz, den früher so Viele auf ihrem Antlitz ausgeprägt gesehen hatten, war zurückgetreten vor einem andern Gefühl, das jetzt seinen Widerschein fand auf ihren Zügen und dieselben so leuchtend und weich erscheinen ließ, wie sie zuvor vielleicht noch von Niemandem erblickt worden waren.

Ihr Ausdruck mußte auch der Mutter auffallen; denn Frau Hellbach rief bei ihrer Heimkehr aus, als sie ihre Tochter ansah, und noch ehe diese gesprochen hatte:

»Katharina, Du verkündest mir etwas Freudiges, ein Glück, das uns widerfahren ist!«

»Eine Freude, ein Glück!« sagte Katharina; »ja, Mutter, nenne es so, daß ich Wöllnitz' Verlobte geworden bin!«

Die Farbe auf den Wangen der erstaunten Frau kam und ging in einem Augenblick.

»Also doch!« war Alles, was sie hervorbringen konnte.

Katharina überhörte das Aengstliche, Beklommene, was in dem Ton der Mutter lag; sie umfaßte dieselbe und blickte ihr mit freudiger Zuversicht in die Augen.

»Nicht wahr, es mußte so kommen; Du wußtest das auch Mutter?« versetzte sie.

»Ich, – ich mußte es zuweilen denken, er könne Dir mehr bedeuten als irgend ein Anderer,« stotterte die Mutter. »Aber dann sagte ich mir, Dein Herz hatte noch nie gesprochen, und –«

Sie kam nicht weiter; denn Katharina unterbrach sie: »Und ich hätte wohl überhaupt eigentlich nicht das in der Brust, was die Menschen ein Herz nennen!« rief sie lächelnd. »Mütterchen, es stand geschrieben: einmal sollte auch meine Stunde kommen!« fügte sie ernster hinzu. »Du aber, gieb dieser Stunde Deinen Segen; denn es ist die beste, die Dein Kind noch gelebt hat!«

Darauf vermochte nun Frau Hellbach nichts Anderes zu thun, als daß sie in Thränen ausbrach und sich an die Brust der Tochter warf, indem sie dieselbe mit beiden Armen umschlang.

»Wenn Du es so willst, Katharina,« schluchzte sie, »so wird es ja auch gut sein, und es kommt nicht in Betracht, ob ich meine ängstlichen Gedanken habe. Sag' mir nur noch das Eine, daß Du ganz gewiß glücklich werden wirst.«

»Ich?« fragte Katharina, »nun, das nebenher sicher auch. Was aber das Meiste gilt: Leo glaubt, daß ihm sein Glück nur durch mich kommen kann, – und, Mutter,« setzte sie hinzu mit einem Lächeln, das geradezu lieblich war, »ich selbst glaube nichts Anderes mehr, als was er glaubt!«

Ein selbstständiges Auftreten, ein entschiedenes Eingreifen in die Entschlüsse Anderer war nie Frau Hellbachs Sache gewesen, und am wenigsten hatte sie ein solches von jeher ihrer Tochter gegenüber geübt, da sie sich ganz und gar in die Voraussetzung hineingelebt hatte, Niemand wisse sein eigenes Geschick so zu steuern und zu lenken wie Katharina; deshalb kamen ihr vielleicht zum erstenmale ernstliche Bedenken über einen Weg, den diese gehen wollte. Dennoch wagte sie nicht, ihre Zweifel klar auszusprechen, den Eindruck, welchen die Person des von der Tochter erwählten Mannes auf sie gemacht hatte, unverhüllt wiederzugeben, und so sagte sie nur halbschüchtern:

»Ich würde mich vor einem Menschen fürchten, Katharina, der einen so dunklen Blick hat wie Wöllnitz. Meinst Du nicht auch, daß schwere Schicksale hinter ihm liegen müssen, und macht es Dich nicht irre, daß er nie über dieselben spricht?«

Katharina schüttelte den Kopf; der Ausdruck von Zuversicht wich nicht aus ihren Zügen, er war nur vielleicht etwas ernster, zugleich aber jedenfalls noch gehobener geworden.

»Die Liebe, Mutter, die wahre, tiefe, kennt keine Furcht, – und so habe ich keine Furcht vor Leo, noch auch vor den Geheimnissen seiner Vergangenheit. Will er den Schleier von ihnen heben, so ist mir seine Beichte willkommen, schweigt er, so fordre ich sie nicht; denn ich habe kein Recht an das, was für ihn selbst abgethan ist!«

»Und wenn er vor Dir schon einmal eine Andere geliebt hat, durch die er unglücklich geworden ist?« wagte die Mutter noch zu fragen und erschrak dann selbst darüber, daß ihr fast unwillkürlich das Wort, der Gedanke, welcher sich ihr durch den Sinn gedrängt hatte, entschlüpft war.

Die Ruhe in Katharinas Zügen veränderte sich jedoch nicht.

»Und wenn es so wäre!« sagte sie »Es kann sein, daß sein Herz schon einmal gekränkt und verrathen worden ist; aber dann ist es an mir, es höher zu achten, als Andere es gethan haben, Liebe gegen Liebe zu setzen!«

»Und so weißt Du sicher, – zürne mir nicht, wenn ich so frage, – daß er Dich ganz so liebt, wie Du es nun immer fordern kannst, Katharina?«

»Mutter,« rief Katharina etwas stolz, »Dein Wort kränkt ihn wie mich. Sollte ihm meine Person gerade nur gut genug sein, um von ihm geheirathet zu werden, weil sie ihm zufällig in den Weg gekommen ist?«

»Vergieb mir!« bat die Mutter; »es war thöricht; wie hättest Du ihm Deine Liebe schenken sollen, wenn es nicht in Erwiderung der seinigen gewesen wäre! Und Du liebst ihn sehr, nicht wahr, Katharina?«

»Ja, Mutter!«

Sie antwortete nur das eine Wort; aber sie sprach es in so tiefem, innigen Ton, daß Frau Hellbach wissen konnte, kein Mensch in der Welt bedeute ihrer Tochter so viel, oder werde ihr je das gelten können, was der Mann ihr war, dem sie ihre Hand gelobt hatte.

Eine Weile sah sie stille vor sich hin; ihre Gedanken beschäftigten sich mit der Zeit, wo sie etwas Aehnliches gefühlt und gethan, wo sie Katharinas Vater versprochen hatte, die Seine zu werden. Sie unterließ auch nicht, der Tochter von jener Stunde, in der sie selbst einst Braut geworden war, zu erzählen, und sagte dazu:

»Es ist nur seltsam, daß es bei uns Beiden auf so verschiedene Art zugehen mußte. Ich wußte eigentlich gar nicht, daß ich Deinen Vater liebte, und würde gewiß noch lange so hingelebt haben, wenn er mir nicht von seiner Neigung gesprochen hätte, während Du gewiß von Anfang an Dein Herz gekannt, und es gefühlt hast, daß Wöllnitz Dir lieber war als ein Mensch sonst!«

Katharina lächelte, sah aber dabei ernst aus, wie ihre Gedanken zugleich ernst und glücklich waren.

»Nicht von Anfang an,« sagte sie, »aber in einem Augenblick, Mutter, enthüllte sich mir das Alles; in dem Augenblick, als er meine Rose nahm, und sein Blick noch etwas Anderes von mir begehrte.«

 

Vor der Welt war das neue Verhältniß zwischen Leo und Katharina noch nicht in sein Recht eingesetzt worden, da der Schleier des Geheimnisses dasselbe noch so lange umgeben sollte, bis die nächsten Verwandten der Braut – Leo hatte keine Angehörigen – von der geschlossenen Verlobung in Kenntniß gesetzt worden waren, und so gebot sich eine gewisse Zurückhaltung, namentlich aber eine Einschränkung des Beisammenseins von selbst.

Leo jedoch war bei seiner reizbaren Natur oft ungeduldig darüber, daß er nicht immer ungestört neben der Braut verweilen durfte, wenn sich etwa wieder die alten wilden Empfindungen in seiner Brust zu regen begannen, und es ihn dann zu ihr trieb. Es vermochte seinen Verdruß, seinen Zorn zu erregen, daß sie für Fremde, für gleichgiltige Personen Aufmerksamkeiten, Rücksichten beobachten wollte, die er allein für sich forderte.

Dagegen beruhigte und befriedigte es ihn manchmal wunderbar, wenn er nur neben ihr sitzen und den Ton ihrer tiefen, schönen Stimme vernehmen konnte, mochte er nun die Rede mit ihr tauschen, oder nur schweigend ihren Worten lauschen. Nicht selten geschah es alsdann, daß er ihre Hand nahm und sie sich gegen die Stirn preßte, als sollte sie da etwas kühlen. »Paul hat es mich gelehrt,« sagte er bisweilen dazu, »und ich gebe ihm Recht; Ihre Hand besitzt etwas von einer magischen Kraft!« –

Katharina lächelte dann nur« – sie begehrte aber keine anderen, keine stürmischen Beweise seiner Neigung, deren sie bei ihrer festen, glücklichen Ueberzeugung nicht bedurfte.

Sie lächelte auch zu den oft etwas herrischen Ansprüchen, die er an ihre Person stellte. »Laß ihn immerhin viel von mir fordern,« sagte sie zu der Mutter, wenn diese etwa hie und da eine leise Andeutung wagte, daß ihr Wöllnitz allzu egoistisch erscheine, – »mich macht es glücklich, wenn ich stets wieder einem neuen Verlangen von seiner Seite begegne, – ich fühle es dann um so tiefer, daß unser Dasein verbunden ist.«

 

Da die bisherige Geheimhaltung des Verlöbnisses mancherlei Peinliches auch für Katharina gehabt hatte, wie denn überhaupt jedes Verstecken und Verbergen ihrer Natur in hohem Grade widerstrebte, so galt es ihr einer Befreiung gleich, als man den Entschluß fassen konnte, der Welt die Kunde von jenem Verhältniß nicht länger vorzuenthalten. Mit inniger Genugthuung dachte sie daran, daß sie Leo, wenn er das nächste Mal zu ihr kommen würde, offen als ihren Verlobten werde behandeln dürfen, und so richteten sich ihre Erwartungen mit einem Verlangen, das ihrer Natur sonst kaum eigen war, auf den folgenden Tag, indem derselbe ihr dies Glück verhieß, während ihr der heutige noch eine Entbehrung auflegte, indem Leo wegen einer Amtshandlung nach einem an der Grenze des ziemlich ausgedehnten Kreisbezirks belegenen Ort hatte reisen müssen, und sie somit bis morgen von dem geliebten Manne getrennt blieb.n

War sie jedoch vielleicht Anfangs ein klein Wenig betrübt über die einstweilige Trennung gewesen, so sollte sie noch im Laufe des Tages Gelegenheit bekommen, Leos Abwesenheit als einen nahezu glücklichen Umstand zu betrachten; denn bei dem eigenen Unbehagen, welches ihr durch das Erscheinen eines unerwarteten und wenig willkommenen Gastes bereitet wurde, mußte sie sich sagen, wie wenig Toleranz derselbe erst bei Leo gefunden haben würde, wie sie denn ihren Verlobten hinlänglich zu kennen glaubte, um zu wissen, daß die neue Bekanntschaft kaum Gnade vor seinen Augen gefunden haben dürfte.

Der Referendar von Felsen nämlich, der einst Veranlassung zu einer Bemerkung Katharinas gegen den Forstjunker von Banner gewesen war, und dessen Verwandschaft, – er nannte sich den Sohn einer Schwester ihres Vaters, – sie allerdings nicht ableugnen konnte, hatte seinen Aufenthalt in der Stadt benutzt, um einen Besuch bei der Cousine und ihrer Mutter an denselben zu knüpfen, und er war der Gast, welchen sie bei der Letzteren traf, als sie, von einem Gange zurückkehrend, ahnungslos ins Zimmer trat. Hatte nun schon damals in ihrer Aeußerung über den jungen Mann eine gewisse Andeutung gelegen, daß ihr seine Person nicht sympathisch sei, so mochte man nahezu eine Art Abneigung gegen dieselbe bei ihr vermuthen, als sie ihm in diesem Augenblick gegenüberstand und seinen Gruß entgegennehmen mußte.

Und in der That, wenn Katharina nie Gefallen an dem Auftreten ihres Vetters gefunden hatte, sollte ihr seine Anwesenheit in diesem Augenblick bei ihrem hochgespannten Gemüth nicht eine doppelt unangenehme sein? Schon die erste Anrede, mit der er hervorzutreten wagte, verletzte ihr vornehmes Empfinden.

»Ei, Katharina!« rief er aus, »bin sehr erfreut, wirklich colossal, Dich wiederzusehen! Ist lange, seit wir uns nicht sahen, – ein Jahr oder auch so und so viel darüber. Bist aber nicht häßlicher geworden in der Zeit, – gewiß nicht häßlicher. Es ist zum Todschießen, daß Du nicht wie andere Mädchen bist, und daß es Einem nichts hilft, nach Dir zu seufzen und sich Dir zu Füßen zu legen! Der Teufel soll mich holen, wenn ich sonst Deinetwegen nicht noch zum schmachtenden Seladon würde, haha!«

»Die Verwandlung würde sich allerdings nicht lohnen,« entgegnete Katharina, »und Dir selbst außerdem wohl eben so unmöglich scheinen wie jede Veränderung Deiner Natur überhaupt.«

»Haha, da haben wir's,« lachte Felsen laut auf; »wieder ein Stachel nach Deiner Art, eine Spitze. Nun ja, ein Tugendheld bin ich freilich nicht; aber, was willst Du Mädchen? glaubst Du etwa, ich sei schlimmer als hundert Andere? Blicke nur einmal auf die Welt, die Dich hier umgiebt.«

Katharina erhob unwillkürlich abwehrend ihre Hand und versetzte:

»Laß nur, Ferdinand, ich bitte Dich, laß. Ich blicke gern weg von Dem, was mir nicht gefällt, was aber zu ändern nicht in meiner Macht steht.«

»Das ist nun einmal wieder Katharina, wie sie leibt und lebt!« rief er gut gelaunt. »Aber Du hast Recht, Mädchen; Jeder in seiner Weise geblieben und Jeden in seiner Weise gelassen! Wie z. B., – nämlich ich und meine Freunde, – ein Bischen burschikos, ein Bischen libertin, wenn Du so willst, und Du, – nun ja, – ein Bischen ernst, ein Bischen streng, vor allen Dingen aber, – und dies nicht ein Bischen, Katharina, – stolz und spröde gegen Jeden, der Dir an die Räder Deines Wagens kommt. Habe ich nicht Recht, meine schöne Cousine?«

Katharina wandte ihr Haupt weg; die Sprache des Vetters war ihr so widrig, daß sie nicht auf dieselbe zu antworten vermochte. Er bemerkte dies und rief halb gutmüthig:

»Nein, werde nicht böse. Ich wollte Dir keinen Aerger bereiten, wahrhaftig nicht, nicht einmal einen Vorwurf machen, – im Gegentheil. Weißt Du, daß es mir, da ich nun doch Deine Gunst nicht erlangen kann, manchmal Spaß macht, wenn Du auch Andere ablaufen läßt? Ja, ich parire sogar darauf, daß Du dies thun werdest!«

»Ferdinand!« rief sie, und ihr Ton war mahnend und unmuthig zugleich.

Er jedoch achtete nicht auf ihren Anruf; er war viel zu sehr in Eifer gerathen, als daß er ihn hätte verstehen sollen.

»Auf Ehre,« fuhr er lebhaft fort, »es ist« wie ich sage. Neulich noch habe ich vorausgesagt« was Du thun und lassen würdest. Du sollst die ganze Geschichte erfahren.«

»Katharina hört es nicht gern, daß und wie man von ihr spricht,« fiel hier die Mutter ein, welche gleich ihrer Tochter unter der Redeweise des Vetters litt und den Indiscreten zum Schweigen bringen wollte.

»Oho, es soll ihr schon gefallen, was ich ihr erzählen will,« entgegnete Felsen lachend und unbeirrt; »denn es bildet ja ihren eigenen Triumph. Da war also vor vier oder fünf Wochen einer meiner Freunde von hier, der Forstjunker von Banner nämlich, bei mir, und natürlich plauderten wir über hundert und tausend Dinge, zumeist aber über das Thema, was Cavalieren von gutem Ton immer am interessantesten sein sollte: die Damen, und Du kannst denken, Katharina, daß ich nach Dir fragte, und daß er von Dir sprach. Du hattest ihn just etwas unglimpflich behandelt,« fuhr er lachend fort, »und so kam es wohl, daß sich seine Galle noch nicht ganz wieder verloren hatte, und er es für eine Art gemeinschaftlicher Sache und Pflicht für alle Herren erklärte, sich zu Dir auf den Kriegsfuß zu stellen, so lange Du nicht wenigstens einen von ihnen erhört hättest. Als ich ihm meine Meinung sagte, daß bis dahin immer noch viel Wasser den Strom hinabfließen würde, da Du einmal nicht leicht zu schmelzen wärest, ging er erst recht in's Zeug, und so bekam ich zu hören, daß sich eine totale Verschwörung gegen Dich gebildet hat, Katharina.«

»Eine Verschwörung?« sagte sie verächtlich und hob ihren schönen Kopf stolz empor.

»Ja,« entgegnete er, »indem sich nämlich – aber sage mir erst, kennst Du wirklich einen Assessor Wöllnitz?«

»Und was ist mit ihm?« fragte Katharina, der es unangenehm war, des Verlobten an dieser Stelle und aus diesem Munde erwähnen zu hören, etwas herbe. »Warum nennst Du hier seinen Namen?«

»Siehst Du?« lachte Felsen, »er gilt Dir soviel wie die Andern alle; nicht einmal nennen hören magst Du ihn. Nun also, dieser Wöllnitz hat neulich mit drei anderen Herren, Banner unter ihnen, geradezu geloost, wer von ihnen die avant-garde bilden, mit anderen Worten, wer es unternehmen sollte, Dich zum Capituliren zu bringen, mindestens aber doch ein eclatantes Zeichen Deiner Gunst, ein Siegespfand, oder was weiß ich, zu erobern!«

»Wöllnitz – Banner – die Andern? weiter!« sagte Katharina.

»Haha, wie Du bleich wirst!« lachte Felsen. »Es darf Dir wirklich kein Verdruß sein, Mädchen; freue Dich, daß Du sie mit ihrer Frechheit, – und ein Wenig frech hatten sie's angefangen, wer will's leugnen, – heimgeschickt hast. Ich sagte es Banner gleich: ›Glaubt nicht, daß Ihr so mit meiner Cousine zum Ziele kommt. Ihr werdet tüchtig abgeführt werden, wo Ihr düpiren wollt.‹ – ›Ein Wöllnitz ist der Mann danach, das fertig zu bringen, was er unternimmt!‹ rief er; ›er wird ihre Sprödigkeit schon besiegen.‹ – ›Und er wird's nicht,‹ schrie ich dann dagegen. Und so stritten wir hin und her, bis wir überein kamen, ich sollte von dem Ablauf des Handels, der zu einem bestimmten Termin entschieden sein mußte, Kenntniß haben, vielmehr nur der Sieg sollte direct verkündet werden, so ward ausgemacht, während Schweigen als die Anzeige ihrer Niederlage zu gelten habe; und ich setzte zwanzig Flaschen Champagner ein, die ich zahlen wollte, wenn und sobald ich jene Meldung bekäme. Natürlich ist mein Champagner nicht abgefordert worden; man hat sich sehr kleinlaut geduckt, und Dir habe ich nun allerschönstens zu danken, Katharina, daß Du mir zum ausbündigsten Triumph verholfen hast. Der Sect mag dafür herzlich gern fließen, wenn ich Banner und seine Gefährten mit meinem Spott geißele; sie werden heute noch meinen Humor weidlich fühlen.«

Es war bereits etwas dunkel im Zimmer geworden, und Katharina stand so, daß Felsen ihr nicht in's Gesicht blicken, nicht wahrnehmen konnte, wie aschfahl dasselbe in wenigen Minuten geworden war. Ihre Stimme aber wußte sie zu beherrschen, so daß er kaum etwas Anderes aus ihrem Tone heraushören konnte als einen gewissen stolzen Unwillen, und nun mit dem Ausdruck dieses Gefühls sagte sie:

»Du verstehst es vielleicht nicht, Ferdinand, daß es mich beschimpfen muß, wenn Späße und Wetten an meinen Namen geknüpft werden; wenigstens aber laß die Bitte gelten, kein Wort mehr über jenen schmachvollen Handel zu reden, weder mit mir noch mit den – den Andern,« – sie betonte das Wort mit einer gewissen Verachtung, »von denen ich Keinem ein Recht gegeben habe, mich in meiner Ehre zu kränken.«

»Aber, Cousine« um Gotteswillen,« fiel Felsen ganz bestürzt ein, »wer redet denn von Deiner Ehre, wer will sie kränken? Es war ja wahrhaftig nur ein Scherz, vielleicht ein etwas übermüthiger, wie er aber oft unter Herren vorfällt, und wie gleichfalls solche Wetten schon vorgekommen sind.«

»Schon gut!« schnitt Katharina ab. »Es ist nun genug von diesem ›Scherz‹ gesprochen worden; der Ernst dürfte jetzt mehr am Platze sein.«

»Ja gewiß, Katharina hat das Richtige gesagt,« mischte sich nun die Mutter ein, welche in Todesangst ihre Hände um einander gewunden hatte; »wir wollen von anderen Dingen sprechen, es giebt bessere Stoffe für die Unterhaltung.«

Es widersprach ihr Niemand; aber der bessere Stoff wollte sich trotzdem nicht finden, und das Gespräch, einmal so jäh abgebrochen, nicht wieder in Fluß kommen. Felsen schlug wohl noch dies und das Thema an, und Frau Hellbach suchte ihn dabei zu unterstützen; aber wie man deutlich merkte, daß sie sich einen peinlichen Zwang anthat, so war auch in ihm durch jenen unverhohlenen Ausbruch der Entrüstung, die er bei Katharina hervorgerufen hatte, die gute Laune zu sehr gestört worden, als daß es ihm noch wieder recht behaglich in der Gesellschaft seiner Verwandten hätte werden können. Er stand bald auf, um sich zu verabschieden, und weder Mutter noch Tochter vermochten ein Wort hervorzubringen, das ihn zu längerem Bleiben genöthigt hätte. Katharina hatte überhaupt nicht wieder gesprochen, seit mit ihrer Entgegnung jenes erste Gespräch abgeschnitten worden war.

Als Felsen ihr zum Lebewohl die Hand reichte, sagte er gutmüthig:

»Du bist mir böse, Katharina?«

Sie schüttelte den Kopf: »Das wäre thöricht, Ferdinand; denn von Felonie bist Du frei geblieben, – ich darf Dir nicht zürnen.«

»Nun, Gottlob,« erwiderte er und athmete erleichtert auf, »so ist wohl Alles vergessen, wenn wir uns wiedersehen?«

Als er gegangen war, ging Frau Hellbach auf ihre Tochter zu und legte angstvoll ihre beiden Hände um deren Nacken.

»Katharina!« war Alles, was sie sagen konnte.

»Ich will ihn erst hören, Mutter!« sagte Katharina.

»Und er kommt erst morgen zurück!« rief die Mutter, in ihrer Bekümmerniß tief seufzend.

»Die Zeit vergeht wohl auch!« entgegnete Katharina.

 

Und die Zeit verging wirklich; eine Stunde nach der anderen verrann, bis die kam, in der Katharina ihren Verlobten, welcher heute vor aller Welt so genannt werden sollte, erwarten durfte. –

Sie stand am Fenster, als sie ihn in's Haus treten sah, – die Mutter hatte sie gebeten, sie allein zu lassen, – und stand auch noch dort, als er die Thür öffnete, um in der hastigen Weise, die ihm eigen war, die Schwelle zu überschreiten; sie kam ihm nicht entgegen, sie rührte sich nicht. Als er seine Blicke auf sie richtete« stutzte er.

»Katharina,« rief er aus, »was ist das? – dies mein Empfang – und heute

Ihr Haupt neigte sich nun leicht: »Er mag anders ausfallen, als Sie ihn erwartet hatten; aber Sie wissen es, ich verstehe keine Maske zu tragen, nicht einmal einen Augenblick.«

Er faßte sich unwillkürlich nach der Stirn; ihre Worte, das Sie, welches sie plötzlich wieder gebrauchte, – Alles verwirrte ihn.

»Mein Gott, hier ist etwas vorgefallen, während ich fort war. Katharina, was ist geschehen?«

»Geschehen? o, nicht viel, – Nichts, wenn Sie so wollen; aber vielleicht ist früher etwas geschehen, das mich betraf, und das ich erst jetzt begriffen habe.«

»Katharina, soll ich noch lange gemartert werden?« rief er ungeduldig aus, als sie einen Moment inne hielt.

»Nein,« entgegnete sie entschlossen, »die Sache kann recht kurz abgehandelt werden; ich habe nur wenig zu sagen. Eigentlich läßt sich Alles in eine Frage hineinlegen, und diese will ich jetzt thun. Hören Sie zu, und antworten Sie mir, wenn Sie können. Nein, – einer anderen Entgegnung bedarf es nicht; denn sie werde ich verstehen, ohne daß Sie die Lippen öffnen.«

Er machte eine Bewegung, als ob er stürmisch einreden wollte; ein Wink ihrer Hand aber legte ihm Schweigen auf; dann sprach sie weiter.

»Bin ich je einmal zwischen Ihnen und Ihren Freunden der Gegenstand einer Wette gewesen, – vielmehr, haben Sie, Sie persönlich, die Ihnen durch ein Loos zugefallene Verpflichtung auf sich genommen, mich zu ›erobern,‹ wie es ja wohl in Ihrer Kunstsprache heißt, mit einem Zeichen Ihres Triumphs vor jenen sogenannten Freunden aufzutreten?«

Er ward bleich und trat einen Schritt zurück.

»Katharina!« rief er erschrocken.

»So, – das war die Antwort, – ich wußte es, daß Sie nicht ›nein‹ sagen könnten,« versetzte sie und preßte die Lippen zusammen.«

Er hatte sich in dieser Secunde einigermaaßen gesammelt.

»Was man Ihnen auch hinterbracht haben mag,« rief er lebhaft, »Sie können nicht Alles wissen, – der Zusammenhang, die Umstände dürften einiges entschuldigen, Ihre Auffassung mildern.«

Sie streckte die Hand gegen ihn aus, als ob sie seinen weiteren Erklärungen wehren wollte.

»Sie können die Thatsache nicht leugnen, und wie ich diese aufzufassen habe, vermag kein Mensch mir vorzuschreiben. Es macht dabei nichts aus, ob ein einzelner Umstand so oder so ist.«

»Sie sind streng und hart, Katharina,« sagte er vorwurfsvoll.

»Streng und hart,« wiederholte sie bitter, »so nennt mich Der, welcher mich mit Täuschungen umstrickt hat, bis ich nahe daran war, mich zu verlieren, – wegzuwerfen!«

»Katharina!« brauste er auf.

Sie sah ihn mit ihren ernsten Augen kalt, fast finster an.

»Was ist ein Dasein werth, dem die heiligsten Stützen entzogen sind? Und soll ich jetzt etwa noch Vertrauen zu Ihnen haben; soll ich glauben, daß wir Beide Eins zu dem Anderen gehören? Eine Farçe, die Sie aufführen halfen, hat Sie zu mir geführt!«

»Nein, Katharina, nein!« rief er lebhaft aus, »wie groß auch mein Unrecht sein mag, – die Worte, welche ich zu Ihnen sprach, als ich um ihre Hand bat, waren keine Lüge. Ich fühlte es, wie ich es in diesem Augenblick fühle, daß ich damit nach einer Rettung für mich selbst griff. Sie sollen mich verstehen lernen – ich will in diesem Augenblick Alles sagen. – Ich war elend im Herzen, – machtlos, selbst mit diesem Elend fertig zu werden; denn ein Weib hatte mich betrogen, ein Weib, das sich mir so schmachvoll entzogen, wie ich es glühend geliebt hatte. Warum soll ich Ihnen noch die Geschichte erzählen? – Sie verließ mich und gab sich einem Anderen. – Ich haßte sie darum, – ich schwöre Ihnen zu, daß ich es that; aber mich selbst haßte ich noch mehr, weil ich dennoch nicht vermochte, sie zu vergessen und ihr Andenken unter Gleichgiltigkeit zu begraben. Und war auch Zorn und Groll an die Stelle der Liebe getreten, jeder Blutstropfen wallte dennoch siedend in mir auf, sobald nur etwas in mir ihren Namen, ihr Bild zurückrief; und daß jeder Tag, jede Stunde fast solche Erinnerungen weckte, das, – o das hätte mich wahnsinnig machen können. – Da, Katharina, lernte ich Sie kennen, – Ihr Wesen that mir wunderbar wohl. Ich lernte es verstehen, daß sich von jeher Unseelige, Verlorene zu einem Heiligenbilde flüchteten, und daß dies sie erlösen konnte. Um meine Erlösung war es mir zu thun, als ich um Sie warb. Und als Sie sich dann mir zuwandten, als ich an Ihrer Seite gehen durfte, da lernte ich zugleich immer fester glauben, daß sich ein solches Wunder, das Wunder der Gnade, auch an mir vollziehen könne. – Nun aber, Katharina, – wollen Sie es mir noch sagen, daß es Sie erniedrigt, und daß Sie sich wegwerfen, wenn Sie es auf sich nehmen, mich mit dem Leben zu versöhnen, mein Herz von der Verbitterung heilen, die Andere über dasselbe gebracht haben?«

Er war wärmer und wärmer geworden, als er zu ihr sprach, seine Stimme hatte die ganze Eindringlichkeit des Tones erreicht, deren er fähig war; dennoch hatte Katharina sich abgekehrt, während er redete. Ob sie es sich und ihm immerhin gesagt hatte, daß sie nicht mehr an seine Liebe glaubte, so war es ihr doch in dieser Minute, als sei ein zweischneidiges Schwert durch ihre Seele gegangen; denn eins hatte sie sich bei ihren eigenen Worten nicht klar gemacht, und dies Eine gerade war nun feste, unumstößliche Gewißheit für sie geworden: Leo liebte eine Andere! – Ja, eine Andere, dasselbe Weib, das ihn verrathen, und von dem er ihr gesagt hatte, – wie er es vielleicht wirklich selbst glaubte, – daß er es haßte. Kannte er sein eigenes Herz nicht, – sie kannte es jetzt.

Eine unbeschreibliche Bitterkeit bemächtigte sich ihres ganzen Empfindens, und als sie sich die Frage vorlegte: »Was will, was begehrt er von Dir?« da war ihre Antwort: »Nichts, als daß Du ihm freundlich Deine Theilnahme zeigst an dem, was er sein Unglück nennt, und daß Du ihn sanftmüthig tröstest.«

Sie durfte in dem Augenblick nicht auf ihre volle Herrschaft über sich bauen, und darum sollte er ihr Gesicht nicht sehen, nicht wahrnehmen, wenn es vielleicht in ihren Zügen zuckte.

Nach einer Weile hatte sie sich so weit gefaßt, daß sie zu antworten vermochte; klang ihre Stimme auch kalt, so war sie doch ruhig.

»Es ist wohl unnöthig, noch weiter von mir zu reden,« sagte sie; »Sie haben Ihr eigenes Geschick im Auge und nur dies, – und so denke ich, wird es Ihnen nicht schwer werden, es von dem meinigen zu trennen.«

»Eine Trennung?« rief er aus, »so sollen wir wirklich von einander geschieden sein, Katharina?«

Sie sah ihn stolz an.

»Dachten Sie das anders? Es wird wohl leicht, jedenfalls irgendwo in der Welt ein besserer Trost, als ich Ihnen von dieser Stunde an bieten könnte, für Sie zu finden sein.«

Er preßte die Zähne fest zusammen; in seiner Brust arbeitete es heftig.

»Wohlan, es sei, – was ich kaum je im Leben gethan habe, will ich thun; ich will mich demüthigen. Weil ich Sie gekränkt, verletzt habe, so beuge ich mich jetzt vor Ihnen, Katharina! Mit diesen Worten bitte ich Sie um Vergebung; werden Sie mir Ihre Hand weigern, wenn die meine Versöhnung sucht?«

Ein bitteres Lächeln zuckte in ihren Zügen auf.

»Worte können die Kluft, welche uns scheidet, nicht ausfüllen, Leo, und es wäre ein bloßes Wort, wenn ich jetzt zu Ihnen sagte: Ich vergebe Ihnen.«

»Gut, ich verstehe,« erwiderte er und trat finster zurück; »Sie kennen kein anderes Gefühl als Ihren Stolz, – ich werde keinen Versuch mehr machen, die Strafe, welche Sie über mich verhängt haben, von mir abzuwenden. Werde nun mit mir, was mag! Sie freilich, Katharina, werden sich immer stark genug fühlen, um die Verantwortlichkeit für diese Stunde zu tragen.«

Sie stimmte dem bitteren Wort weder zu, noch wies sie dasselbe zurück; sie schwieg, und als er noch ausrief: »Das also war das Ende?!« kam einfach ein »Ja« über ihre Lippen.

Er verbeugte sich darauf wie vor einer Fremden, und sie neigte auch nur stumm das Haupt. – Eine Secunde später waren sie geschieden; die Hände hatten sie sich nicht mehr gereicht. –

 

Katharina blickte Leo nicht nach, als er von ihr ging; es kam ihr auch keinen Moment der Gedanke, daß sie ihn zurückrufen solle: es war so, wie es sein mußte, und wie es nach den Enthüllungen und den Erörterungen der letzten Stunde nicht anders kommen konnte. Fortan mit dem Manne zu leben, der sie so tödlich verwundet hatte, war eine Unmöglichkeit geworden. –

So vollständig fest und klar sie aber auch in ihrem Geiste war, – Eins konnte sie dennoch nicht hindern, daß ein Zittern, eine innere Unsicherheit sie befiel, so oft sie sich die Frage vorlegte, – und zu ihrer eigenen Marter mußte sie dies wieder und wieder thun, –was geworden wäre, wenn er jetzt zu ihr gesprochen hätte: »Katharina« was auch geschehen sein mag, – Du bist es doch, die ich liebe, Du und keine Andere!« – Ob sie dann noch unfähig gewesen sein würde, ihm seine erste Beleidigung, jenen Vorgang mit der Rose zu vergeben? Aber es war ja überflüssig, solchen Gedanken nachzugehen; die Thatsache war und blieb ja eben die, daß er das nicht sagen konnte.

Der Mutter gegenüber, welche ihrer Bekümmerniß über das traurige Ereigniß vor der Tochter kein Hehl hatte, zeigte sie sich gefaßt.

»Ich gehöre nicht zu den Naturen,« sagte sie, »die zerbrechen, wenn ihre Hoffnungen geknickt werden. Es läßt sich auch leben, ohne daß man gerade glücklich ist, und Du wirst schon sehen, daß ich mein Dasein darum, daß mir diese Enttäuschung geworden ist, für kein verlorenes achten werde.«

Bei alledem leugnete sie nicht, daß sie eines Heilmittels bedürfe, einer äußeren Hilfe vielleicht nur, um ihr Gemüth vollständig wieder aufzurichten, und als die Mutter darauf meinte, eine zeitweilige Entfernung, ein Wechsel von Ort und Umgebung möge am besten dazu dienen, war sie sofort bereit, auf den Vorschlag derselben einzugehen und die früher beabsichtigte Reise jetzt noch zur Ausführung zu bringen. Fühlte sie ja doch auch schon eine Erleichterung bei dem Gedanken allein, daß ihr so vorerst keine weitere Begegnung mit Leo bevorstehen würde, – und so verließ sie bereits in den nächsten Tagen die Stätte, wo ihr Glück vor Kurzem erst erblüht war, und wo man es wieder vernichtet hatte.

 

Als Leo nach jener Unterredung, welche er mit Katharina gehabt hatte, allein war, zeigten sich alle seine Gedanken und Empfindungen wild durcheinander; was ihm aber am tiefsten ging, und was über alles andere Denken und Fühlen die Oberhand gewann, war sein Groll, der Zorn über sie, die Stolze, Unversöhnliche, von der er so herbe zurückgestoßen worden war. Bittend, flehend fast war er ihr entgegengekommen, die Milde ihrer Hand hatte er fühlen wollen, sie hatte ihm dieselbe zur Versöhnung reichen sollen, und Beides versagte sie ihm, die Tröstung wie die Vergebung. –

Es zwang ihn etwas, sich jedes ihrer kalten, mitleidslosen Worte stets aufs Neue zu wiederholen, und stets aufs Neue flammte es dann bei der Erinnerung heiß in seiner Brust auf. Indessen, – eine gewisse Befriedigung, und war sie auch immerhin eine von bitterer Art, kam damit doch über ihn; denn ward sein eigenes Vergehen gegen sie, wenn er selbst es auch nicht fortleugnen wollte, nicht aufgehoben durch Das, was sie ihm gethan hatte? Ihre eigene Härte machte es, daß er sich von seiner Schuld nahezu befreit fühlen durfte. Dennoch wollte er sie nicht wiedersehen, nie mehr im Leben wo möglich, – darum mußte er fort von hier.

Noch an dem nämlichen Tage hielt er im Sinne des letzten Entschlusses bei seiner dienstlichen Oberbehörde um ein Amt an, das ihn von der Stadt, welche er in den letzten Monaten seinen Wohnort genannt hatte, entfernte, und da zufällig äußere Umstände seinem Gesuche zu Hilfe kamen, so sollte ihm diesmal die Erreichung seines Wunsches leicht werden. Schon in kurzer Zeit langte der Bescheid an, daß ihm die Stellvertretung eines beurlaubten Collegen übertragen worden sei, und er sich unverzüglich nach dem Sitz des betreffenden Gerichts, der Provinzialhauptstadt C., zu begeben habe.

Als Leo das Schreiben, welches jene Verfügung enthielt, las, lachte er grell auf; es war zu seltsam, wie das Schicksal ihm mitspielte. Mußte es ihn jetzt doch wieder nach dem Ort verschlagen, den er aus eigner Wahl nie mit einem Fuß betreten haben würde; denn C. war die Stadt, wo Julie mit dem Manne, welchen sie ihm vorgegezogen hatte, wohnte. Vor Kurzem, vor wenigen Wochen noch, würde er Alles eher gethan, als sich einer Begegnung mit ihr ausgesetzt haben; jetzt aber, – mochte nun durch den neuen Groll, der ihn beherrschte, seine ganze Natur verwandelt sein, – jetzt dachte er anders. In einem gewissen Trotz gegen Katharina, die Welt, sich selbst rief er aus:

»Ich will nicht umsonst gesagt haben, es sei einerlei, was jetzt werde. Weshalb nun noch irgend einer Erfahrung, einem Gefühl, und sei es noch so bitter, ausweichen?«

Sein Entschluß stand fest; mochte es sein, daß er wieder mit Julien zusammen treffe; er wollte nicht ihr, Niemandem wieder, selbst dem Schicksal nicht den Triumph gönnen, ihn elend gemacht zu haben. Und darum unterzog er sich ohne Weiteres, ohne noch irgend einen Versuch zur Abwendung jener Ordre angestellt zu haben, der empfangenen Weisung.

 

Der Wechsel der Umgebung hatte sich in kürzester Frist vollzogen; wenige Wochen nur, und Leo befand sich an seinem Wohnort. Auf die Frage aber, die er sich bisweilen in halber Selbstironie vorlegte, was das Leben jetzt mit ihm anfangen würde, hatte er noch keine Antwort gefunden: – das Leben, – der Zufall, – es war ja einerlei, wie er die Leitung nannte, der er sich einmal gänzlich zu überlassen entschlossen war. Nur daß er dies wollte, daß sein eigenes Eingreifen und Handeln auch in Bezug auf ein Wiedersehen mit Julien ganz aus dem Spiele bleiben sollte, das stand fest, – im Uebrigen wollte er blind das Loos ziehen, welches das Schicksal gerade für ihn bereit hielt, und dann, – ja dann vielleicht dem letzteren danken, wenn es ihm jede Begegnung mit dem einst so geliebten und nun so gehaßten Weibe ersparte.

Bei alledem suchte er sich zu der Ueberzeugung zu zwingen, daß ihn jedes zufällige Ereigniß gelassen finden würde; er sprach es sich hundertmal vor, wie seine Haltung der ungetreuen Geliebten gegenüber sein sollte, wie er sich mit stolzer Gleichgiltigkeit wappnen wollte; er sagte es sich und – konnte es doch nicht hindern, daß sein Herz unruhig zu klopfen begann, wenn hier und da eine Gestalt vor seinen Blicken auftauchte, welche die ihrige sein konnte. –

So lange er in C. war, hatte er sich indessen noch jedesmal getäuscht, so oft er Julie zu sehen geglaubt; weder auf der Straße noch in öffentlichen Localen, noch auch in den verschiedenen Gesellschaften, welchen er sich nicht entziehen gekonnt, war er ihrer bisher ansichtig geworden. Immer noch hatte er es nicht vermocht, nach ihr und den Verhältnissen, in denen sie lebte, zu forschen; endlich aber kam doch eine Frage über seine Lippen, als zufällig einmal in einem Kreise ihres Gatten, des Großhändlers Heller, erwähnt wurde.

»Nun, vor allen Dingen sind die Leute reich, sehr reich,« war die Antwort.

Reich, natürlich. Er selbst war zu der Zeit, als sie wählte, noch nicht im Besitz des Vermögens gewesen, welches ihm nachher durch Erbschaft zugefallen war, deshalb war ihm der Reichere vorgezogen worden. – Dies sagte sich Leo bitter im Stillen, laut aber fragte er weiter:

»Ei, da lebt das Ehepaar ohne Zweifel nach Herzenswunsch und Geschmack, in Glanz und Ueppigkeit?«

Diese Erkundigung wollte man indessen nicht bejahen; vielmehr hieß es, Hellers lebten sehr zurückgezogen, und namentlich sähe man die junge Frau selten, da dieselbe dem Geräusch der Welt etwas abhold zu sein scheine. Leo äußerte alsdann die Vermuthung, daß die Flitterwochen zu süß gewesen sein möchten, als daß man schon im Stande wäre, sich von ihnen zu trennen, und weil sein Sarkasmus dabei nicht deutlich hervortrat, so faßte man die Bemerkung als Ernst auf und hatte nichts gegen sie einzuwenden, da in der That Niemand einen Grund wußte, weshalb die Heller'sche Ehe nach einjähriger Dauer nicht noch gerade so glücklich wie in den wirklichen Flitterwochen hätte sein sollen. –

Leo aber war nun mit seiner Nachfrage zu Ende; was nützte es ihm, wenn er sich noch mehr von Julien erzählen ließ?

 

Die Spannung des Empfindens, mit welcher Leo nach C. gekommen war, begann bereits nachzulassen, das alte Bedürfniß nach Aufregung sich dagegen wieder zu regen, als sich ein Vorfall ereignete, der schon in so fern die äußere Gleichförmigkeit seiner Tage unterbrach, als er sich durch eine Art Abenteuer« in welches er selbst hineingezogen ward, einleitete.

Die Wohnung, die er sich gewählt hatte, lag etwas außerhalb der Stadt, und er mußte, um zu ihr zu gelangen, eine Gegend kreuzen, die erst angebaut wurde und daher noch ziemlich öde war, ja, die sogar in dem Rufe stand, daß sie von verdächtigem Gesindel besucht würde, so daß man es kaum für gerathen hielt, dieselbe allein in der Dunkelheit zu passiren.

Wenn es ihm nun auch nie eingefallen war, irgend eine Besorgniß für sich selbst aus diesem Gerede zu schöpfen, wie denn seine Person auch wirklich bis dahin stets unangefochten geblieben war, so sollte er doch eines Abends in eclatanter Weise an den gefährlichen Charakter der Gegend erinnert werden, indem er nämlich beim Nachhausekommen von der Seite her, wo die halbfertigen Gebäude standen, in Zorn und Heftigkeit hervorgestoßene Töne vernahm. Nur eines Augenblicks Besinnen brauchte es, um ihm die, Ueberzeugung zu geben, es solle hier an Jemandem ein Gewaltact, vielleicht ein Ueberfall begangen werden, und, ohne noch einen zweiten Augenblick mit Zögern zu verlieren, eilte er den Stimmen nach. In einer Minute schon hatten ihn dieselben an die richtige Stelle geleitet, und hier sah er denn sofort, um was es sich handelte, und konnte sich sagen, wie rechtzeitig sein Erscheinen gewesen war.

Zwei Kerle, offenbar Strolche von der schlimmsten Art, hatten einen Herrn gepackt und versuchten, ihm etwas zu entreißen, während dieser sein Eigenthum mit dem Aufgebot aller ihm gebliebenen Kraft vertheidigte. Ob die letztere jedoch noch lange vorgehalten hätte, erschien fraglich; an ein vollständig gutes Ende jedoch wäre wohl kaum zu denken gewesen, wenn der glückliche Zufall nicht noch einen Helfer zur Stelle geschafft hätte, während Leos thätiges Eingreifen nun allerdings nicht mehr zur Nothwendigkeit wurde; denn so wie sie nur die hastigen Schritte eines Nahenden hörten, ergriffen die beiden Vagabunden die Flucht, und ihr Opfer konnte aus der Mauerecke, in welche sie dasselbe zum Zweck der bequemeren Beraubung hineingedrückt hatten, etwas zerzaust zwar, aber doch frei und an seinem Körper unbeschädigt hervortreten. So weit Leo in dem ungewissen Schein des Viertelmondes erkennen konnte, war es ein Mann in mittlerem Lebensalter und von ziemlich starkem Körperbau.

»Gottlob!« rief er, sich schüttelnd, »daß mir die Hilfe kam! Ihnen danke ich es, mein Herr, daß meine Glieder heil geblieben sind, und ich auch meine Brieftasche behalten habe. Um die paar hundert Thaler, die sie enthielt, hätte es sein mögen; aber für die Papiere hätte ich mich wohl mit den Patronen herumgeschlagen, so lange ich meinen Athem noch hatte. Ich bin Ihnen außerordentlich verpflichtet.«

Leo murmelte einige Worte, um den Dank, den er, als zu wohlfeil erworben, nicht annehmen wollte, von sich abzulehnen, und forschte dann mit dem einem Juristen natürlichen Interesse nach den näheren Umständen des Ueberfalls, die eine Handhabe zur weiteren Verfolgung und Entdeckung der Flüchtigen zu geben vermöchten.

Der Unbekannte ertheilte ihm den verlangten Bescheid und lieh dann seiner Aufregung noch einmal wieder Worte:

»Die Schelme!« sagte er. »Wäre ihnen der Streich gelungen, so hätten sie mir arges Malheur bereitet Ich wäre dann z. B. kaum im Stande gewesen, den Auftrag eines Frankfurter Hauses genau nach dem Wortlaut eines in der Brieftasche enthaltenen Schreibens auszuführen, und es fragt sich, ob dadurch nicht jenem Geschäft ein sehr empfindlicher Schaden erwachsen wäre. Und dann diese Verdrießlichkeit für mich selbst; – denn, wie Sie wissen werden, Promptheit ist in der Geschäftswelt Alles, mein Herr!«

Leo nickte zu den Auseinandersetzungen des Fremden, an dessen Seite er seinen Weg fortsetzte, nur halbzerstreut; ihn kümmerten die Aufträge, welche das eine Haus dem anderen ertheilte, die Vortheile und die Verlegenheiten in der Geschäftswelt herzlich wenig, und wohl nur, um nicht ganz stumm zu bleiben, that er in halb mechanischer Anknüpfung an die Reden seines Begleiters die Frage:

»Sie sind Kaufmann, mein Herr?«

»Gewiß!« war die in halbverwundertem Ton gegebene Antwort. »Ich meinte, Sie müßten mich kennen oder doch wenigstens meinen Namen schon gehört haben; mein Name ist nämlich Heller; Heller und Compagnie heißt die Firma, deren Chef Sie in mir sehen.«

Ohne daß er es wußte, war Leo zusammengezuckt. Der Mann also, neben dem er ging, der ihm so eben noch für seine Rettung aus Räuberhänden gedankt, war derselbe, welcher an ihm selbst einen Raub begangen, an den er Juliens Hand verloren hatte! Er ballte die Hände in der Dunkelheit krampfhaft zusammen.

»O ja, Sie haben Recht, – ich kannte Ihren Namen,« versetzte er dann.

»Dachte mir's!« warf der Andere hin,, ohne jedoch in den Ton irgend einer Aufgeblasenheit zu fallen, vielmehr mit einer gewissen Gleichmüthigkeit, als handle es sich um etwas Selbstverständliches. »Nun aber zu der Frage meinerseits,« fuhr er fort, »an welche Adresse ich eigentlich meine Dankesworte zu richten hatte.«

»Ich bin der Assessor Wöllnitz,« sagte Leo kurz.

»Wöllnitz?« wiederholte der Andere langsam, um dann rasch hinzuzusetzen: »Mit der Firma Wöllnitz in Hamburg stehe ich in Geschäftsverbindung, – sind Sie etwa ein Sohn des Hauses, Herr Assessor?«

»Nein,« entgegnete Leo, »jener Wöllnitz ist nur ein Verwandter; mein Vater war Beamter in N.«

»Ei, in N.!« rief Herr Heller. »Beziehungen knüpfen sich doch überall. Ich habe diese selbst zu N., so wenig der Ort auch mit meinen Interessen, – der Handel dort besitzt nämlich durchaus keine Bedeutung, – zu thun hat. Sonst aber, – ich hatte früher einen Verwandten in N., einen Vetter, der nachher mein Schwiegervater geworden ist, den vor einem halben Jahre verstorbenen Stadtprediger Keller nämlich. Sicher kannten Sie die Familie, wenn Sie aus demselben Wohnort sind.«

»O ja,« erwiderte Leo, »damit haben Sie es allerdings getroffen. Wenn Sie z. B. zufällig statt des Schwiegersohnes ein Fremder wären, würden Sie sich bei mir über alle Personen des Hauses unterrichten können.«

»Sehen Sie, das wollte ich hören,« sagte Heller; »denn dann kennen Sie ohne Zweifel auch meine Frau, die einzige Tochter des Vetters?«

Die Frage war mehr in dem Ton einer augenblicklich angeregten Neugier als dem irgend einer Dringlichkeit gesprochen; auf Leo aber hatte sie, – vielleicht gerade wegen ihrer Gelassenheit, – eine Wirkung, daß er die Zähne zusammenbeißen mußte.

»Sicher, – ja, wir kennen uns!« preßte er dann hervor; »wir theilen sogar viele Erinnerungen!«

»Natürlich, – kann mir's ohne Versicherung denken,« antwortete Heller. »Ein kleiner Ort, – Jugendbekanntschaft, – Bälle, – Ausfahrten, – Musik und dergleichen mehr«

»In der That, Sie rathen gut, Herr Heller,« sagte Leo mit verhaltener Bitterkeit. »Es fragt sich nur, ob Ihre Frau Gemahlin noch gern an jene einstigen Vergnügungen, die wir theilten, zurückdenken mag.«

Heller zuckte die Achseln. »Nun, was das betrifft, meine Frau hat jetzt allerdings einen anderen Geschmack gewonnen; nicht, als wenn ich das tadelte, im Gegentheil. – Indessen, was ich sagen wollte, ihre Bekannten aus früherer Zeit wird sie bei alledem gern wiedersehen. Sie natürlich eingeschlossen, Herr Assessor.«

»Ich wage das kaum zu hoffen,« bemerkte Leo. »Bei dem veränderten Geschmack Ihrer Gemahlin, den Sie selbst bestätigen, wird die Erinnerung an den einstigen Zeitvertreib,« – er betonte das Wort flüchtig, – »schwerlich noch Interesse für sie haben.«

»Nun das käme auf eine Probe an,« meinte Heller unbefangen. »Jedenfalls werden Sie mir erlauben, Sie in mein Haus einzuführen.«

Unwillkürlich hob Leo die Hand, als ob er etwas von sich abwehren wollte, und zugleich öffneten sich seine Lippen zu einem ablehnenden Wort. Sein Begleiter ließ ihn dasselbe jedoch nicht aussprechen.

»Was kann es Natürlicheres geben,« versetzte er, »als daß Sie mich begleiten, und zwar so wie wir hier mit einander gehen? Mein Haus ist kaum fünfzig Schritt von hier.«

Einen Augenblick noch wollte Leo protestiren auf die Gefahr hin, Heller mit einer Unhöflichkeit zu nahe zu treten; denn was kümmerten ihn in dieser Minute die Formen. Dann aber ging mit einem Male eine jener Wandelungen durch seinen Sinn, denen derselbe so oft unterworfen war, und die er selten zu beherrschen vermochte: ein nahezu wildes, rachedurstiges Gefühl ergriff ihn. Wie wäre es, wenn er jetzt in dieser Minute, in der vollen Erregung, welche die Erinnerung an die treuvergessene Geliebte über ihn gebracht hatte, vor sie hinträte, geleitet von dem Manne, um den er von ihr verrathen worden war? War es nicht etwas, das ihn reizen, eine Genugthuung, die er sich gönnen durfte? –

Rasch, wie der Gedanke ihm gekommen, war auch sein Entschluß gefaßt:

»Es sei so,« sagte er, »ich gehe mit Ihnen.« –

 

Durfte schon das äußere Ansehn der Heller'schen Villa durch ihre elegante Bauart die Aufmerksamkeit jedes Vorübergehenden fesseln, und galt dieselbe für eine der schönsten Wohnungen der Stadt, so konnte sich gleicher Weise ein Jeder, welcher in ihre inneren Räume trat, nichts Anderes sagen, als daß der Besitzer ein reicher Mann sein müsse; denn die ganze Einrichtung war von einer in die Augen fallenden Pracht. Ein ganz vornehmer Geschmack hätte vielleicht hie und da allerdings etwas auszusetzen gefunden, und statt einer völlig wohlthuenden Harmonie eine gewisse Vorliebe für ausgesprochenen Prunk erkannt; jedenfalls aber lag etwas Solides in dem letzteren, welches beinahe wieder mit ihm aussöhnen konnte. Leichter Tand und Flitter hatten nirgends eine Stätte gefunden, Alles war ächt, gediegen und stattlich, von den marmornen Stufen der Treppen an, die zu den oberen Räumen emporführten, bis zu jedem Schmuck und jeder Verzierung, welche zur allgemeinen Ausstattung diente. Man durfte es sich gestehen: Der, welcher sich diese Umgebung geschaffen, hatte dies im vollen Behagen eines sicheren, wohlbegründeten Besitzes gethan, und dabei mochte man es dann vielleicht zu entschuldigen finden, daß zugleich etwas von der Absicht durchleuchtete, durch den zur Schau getragenen Glanz zur Verherrlichung seines Namens beizutragen, des Namens, welcher zu gleicher Zeit derjenige der alten bewährten, durch das ganze Land bekannten Firma war: Heller & Co!

Leo hatte jedoch wenig Sinn für die mehr oder minder kostbare Ausstattung des Hauses, in welches er mit seinem Begleiter eingetreten war; sein Auge haftete an keinem der Gegenstände um ihn her, sondern richtete sich nur auf die Eingänge der verschiedenen Gemächer, an denen sie nacheinander vorübergingen, und die einzige, ihn in diesem Augenblick beschäftigende Frage war die, welche Thür sich in der nächsten Minute für ihn aufthun würde.

»Hier sind wir am Ziel, dem Boudoir meiner Frau,« sagte Heller nach einer kurzen Wanderung; und gerade wollte er einen Schritt zurückthun, um dem Gast den Vortritt in das Zimmer zu lassen, als sich unerwartet eine Thür an der gegenüberliegenden Seite des Corridors öffnete, und ein Herr von anständigem, wenn auch nicht gerade vornehmen Ansehen rasch aus derselben hervortrat.

Er hielt sein Auge auf Heller gerichtet, und es war leicht zu erkennen, daß er demselben etwas zu sagen hatte, wie denn auch der Letztere sofort gewahr ward, daß ihm irgend ein Anliegen vorgetragen werden sollte; denn er rief dem Näherkommenden, ehe ihn derselbe noch völlig erreicht hatte, zu:

»Nun, Herr Berger, – Sie haben mich in meinem Zimmer gesucht, wie ich sehe; ist Ihre Meldung eine dringende?«

»Ich glaube fast, Herr Heller,« erwiderte der Angeredete mit einem halbverlegenen Seitenblick auf den Fremden.

»Ich verstehe, man hat Ansprüche an Sie, Herr Heller, – ich muß fürchten, daß ich störe,« nahm Leo das Wort und machte zugleich eine Bewegung, als ob er sich zurückziehen wollte.

Heller, dem der Dritte fast zu derselben Zeit ein paar Worte zugeflüstert hatte, hielt ihn jedoch zurück.

»Bewahre,« sagte er, »ich darf nicht zugeben, daß Sie mein Haus so verlassen, – wenn auch, – Sie werden ein aufrichtiges Wort nicht übel deuten und, – ja, was ich sagen wollte, – nun, was mir Herr Berger, mein Buchhalter, eben mittheilt, zwingt mich allerdings, in dieser Stunde Kaufmann zu sein; aber die Geschäfte sollen mich wenigstens nicht hindern, Sie vorher noch zu meiner Frau zu führen. Hernach freilich werde ich Sie ihrer Unterhaltung allein überlassen müssen.«

Er rief dem Buchhalter noch flüchtig einige halblaute Worte zu und legte dann zum zweiten Mal seine Hand auf den Drücker der Thür, die zu dem Zimmer der Dame des Hauses führte. – Leos Herz pochte ungestüm, – wußte er doch nun, daß seine Unterredung mit Julien keinen Zeugen haben würde. –

Von der Straßenseite abgekehrt, aber mit einem Ausgang auf den blumenbesetzten Balcon der Heller'schen Villa lag ein Zimmer, welches einen etwas anderen Charakter trug als die anderen Gemächer; es war nicht ganz so glänzend eingerichtet, ja mit einer gewissen Sorgfalt schien alles Auffällige in der Ausstattung vermieden worden zu sein: Es war ersichtlich, daß bei der letzteren ein Sinn maaßgebend gewesen war, der in sich selbst die feine Grenzlinie des Schönen gefunden und hier außen festgehalten hatte, und es blieb unschwer zu erkennen, daß das Zimmer einem weiblichen Bewohner zum Gebrauch dienen mußte; – wer aber hätte dies anders sein können als die Herrin des Hauses?

Die Herrin des Hauses. Richtete man den Blick auf die zarte, mädchenhafte Erscheinung mit dem blonden Haar und den lieblichen Zügen, die von dem Schein einer an der Decke befestigten Ampel beleuchtet war, so konnte man fast denken, man hätte ein Bild vor sich, wie es nur aus der Hand eines Malers hervorgegangen war, und das wohl ein frommes genannt werden durfte, da sich leicht die Vorstellung gewinnen ließ, die Gestalt sei aus irgend einer alten Legende herausgewachsen. Und damit dieser Eindruck noch vollständiger werde, fehlte es auch an dem Rahmen für jenes Bild nicht, indem dasselbe von glänzenden, an gewölbten Gitterstäben emporgeleiteten Epheuranken umgeben war.

Die junge Frau saß inmitten der grünen Laube auf einem niedrigen Armstuhl; sie selbst, im Gegensatz zu den schimmernden Farben, die man überall sonst in diesem Hause sah, in schlichte, schwarze Gewänder gekleidet, zur deutlichen Erinnerung an den Verlust, der sie getroffen, und auf den Heller hingedeutet, als er des Todes seines Schwiegervaters gedacht hatte. Wiederum stand dann aber in seltsamem Contrast zu der sie umhüllenden, düstren Kleidung der schimmernde Stoff, der auf ihren Knien lag und in schweren Falten bis auf den Boden niederwallte. Es war eine Decke von purpurnem Sammet, an der sie eifrig arbeitete, indem sie reiche Goldstickereien auf dieselbe übertrug, und die einem deshalb wohl als ein neuer Beitrag zu der Pracht und dem Prunk, dem man sonst so vielfach in dieser Wohnung begegnete, hätte erscheinen können, wenn nicht die Zeichen, welche unter ihrer Hand hervorgingen, als heilige Symbole zu erkennen gewesen wären und deutlich verrathen hätten, daß ihr Werk ein frommes und für den Schmuck einer geweihten Stätte, eines Altars, bestimmt war. –

Fast schien es dabei, als gäbe ihre Beschäftigung auch ihren Gedanken die Richtung; wenigstens stimmte der tiefernste, nahezu etwas schwermüthige Ausdruck ihrer Züge kaum zu den Empfindungen, welche man ihr sonst bei ihrem jugendlichen Alter als die natürlichsten hätte zuschreiben mögen, denen einer lebensfrischen und das Leben liebenden Fröhlichkeit; vielmehr lag in den Augen, wenn sie dieselben gelegentlich einmal von ihrer Arbeit erhob, ein Blick, welcher den Gedanken erwecken konnte, die junge Frau habe sich eine gewisse Schwärmerei zu eigen gemacht und vermöge selbst das Leiden und Entbehren als eine Art heiliger Freude aufzufassen.

Sie war so versunken, – sei es nun in ihre Beschäftigung oder in ihr Sinnen, – daß sie das Näherkommen der beiden Herren, das Gespräch, welches vor ihrer Thür geführt worden war, nicht bemerkt hatte, und sie schrak daher erst auf, als die letztere geöffnet, und damit zugleich fast die Stimme ihres Mannes an ihr Ohr schlug.

»Nun ja, ich setzte voraus, daß ich Dich treffen würde,« sagte Herr Heller in der hastigen, kurz abgebrochenen Redeweise, die ihm, wenigstens für außergeschäftliche Dinge, eigen zu sein schien. »Unterbrich aber jetzt Deine Arbeit, Kind; es handelt sich darum, ob ich Dir den Gast, den ich hierher geführt habe, – von meiner Verpflichtung gegen ihn sprechen wir später, – noch erst vorzustellen habe.«

Schon bei den ersten Worten ihres Gatten war Julie emporgesprungen, hatten ihre Augen in die dunklen Blicke gestarrt, die der Mann an des letzteren Seite auf sie richtete. Eine Secunde lang drang etwas ihr angst- und schmerzvoll zum Herzen, hatte sie Mühe, sich auf ihren wankenden Füßen zu erhalten; mit einer Kraft aber, die sie vielleicht noch nie im Leben so gezeigt hatte, und von der sie sich wohl nachher demüthig sagte, daß sie ihr von oben herab geworden sei, kämpfte sie jedes äußere Zeichen ihres Schrecks, ihrer Erregung nieder.

»Nein, Anton, Du brauchst keinen Namen zu nennen, – wir kennen uns,« sagte sie; «und so ruhig klang ihre Stimme dem arglosen Ohr ihres Gatten, daß dieser sich befriedigt zu seinem Begleiter wandte.

»Nehmen Sie das für Ihr Willkommen, Herr Assessor. Und für das Uebrige, – nun ja, – was ich sagen wollte, den Stoff für ihre weitere Unterhaltung werden Sie schon finden; Leid und Freud' der alten Zeit und so weiter. Hoffe, später selbst noch mehr von Ihnen zu haben, – jetzt nur, – mein Gott, Sie werden es ja wissen, daß wir mit unseren Geschäften nicht umspringen können wie mit unseren Vergnügungen!«

Leo murmelte einige Worte, die Herrn Heller vollständig von jedem Zwange freisprechen sollten, und dann wieder nahm der Letztere mit einigen anderen Reden von ihm Abschied, machte er selbst seine Verbeugung, und dann, – dann sah er sich mit Julien allein.

Julie hatte seit jener Aeußerung, welche ihre Bekanntschaft mit Leo bestätigte, noch nicht wieder gesprochen, sich kaum auf der Stelle, wo sie zuerst von seinem Blick getroffen worden war, gerührt; nur die eine Hand hatte sie, als ob sie noch unter der Wirkung dieses Blicks stände, über ihre Augen gedeckt, während ihre andere die schwere Sammetdecke, welche von ihrem Schooß geglitten war, halb emporgerafft hielt, so daß es scheinen konnte, als wolle sie sich selbst unter den Schutz der frommen Symbole stellen, die so eben erst von ihr hervorgerufen worden waren; – so stand sie vor ihm da.

Er jedoch blickte nur auf ihre geschlossenen, von ihm abgekehrten Augen, alles Weitere beachtete er nicht.

»Ich überzeuge mich jetzt, Julie,« sagte er mit einem bitteren Lächeln, »Sie halten meinen Blick nicht aus, – Sie ertragen es nicht, mich zu sehen.«

Schon bei dem ersten Ton seiner Stimme hatte sie die Hände von ihrem Gesicht fortgenommen, und jetzt sah sie ihm zum zweiten Male in die Augen. Wenn ihre Züge auch bleich waren, so arbeitete doch kein Kampf in ihnen.

»Vergeben Sie mir,« sagte sie, »mein Empfang sollte Sie nicht kränken; – es war nur die erste Ueberraschung. Indessen der Gast, der über meine Schwelle tritt, ist willkommen; ich habe nur das Wort meines Mannes zu wiederholen, daß auch Sie willkommen sind, Leo.«

Die Fassung, mit welcher sie sprach, raubte ihm fast die seinige. War das die Sprache der Schaam, die er hatte hören wollen?

»Wahrlich, Sie haben es gut gelernt, sich Ihre Haltung zu bewahren,« rief er aus, während es in seinen Mienen zuckte.

Sie antwortete ihm nicht; aber sie blickte ihn fragend an, als ob sie seine Worte nicht recht verstände; ihr Schweigen indessen gab ihm Muth, daß er fortfuhr, während sich seine Augenbrauen finster zusammenzogen:

»Fast so gut wie Sie es gelernt haben, sich mit der Vergangenheit abzufinden.«

Sie senkte jetzt den Kopf; dies Wort hatte sie verstanden. »Mußte ich das nicht lernen, Leo?« antwortete sie leise und schmerzlich.

»Mußten Sie, Sie mußten das Julie?« fragte er zurück.

»Ich will es Ihnen auch erklären, wie es mir gelungen ist,« fuhr sie fort, ohne seinen Einwurf aufzunehmen. »Als ich mein Herz immer und immer wieder unter Gottes Gewalt und seine Zuchtruthe stellte, wie es der Vater mich lehrte, da ist es zuletzt gegangen.«

Er griff sich mit den Händen nach der Stirn. »Träume ich, oder versuchen Sie, mich in einen Wahnsinn hineinzuhetzen, Julie?« rief er aus. »So wollen Sie Ihre Schuld zudecken, – die Treulosigkeit, mit der Sie mein Leben vergiftet haben?«

Erstaunt, erschrocken sah sie ihn an; ihre Hände preßten sich unwillkürlich über ihrer Brust zusammen.

»Das von Ihnen? – Sie sind sehr hart und – und ungerecht, Leo! Wissen Sie nicht mehr, wie viel ich in jener Zeit gelitten habe?«

»Gelitten?!« wiederholte Leo ihr Wort, indem er aber zugleich eine fast höhnische Bitterkeit in dasselbe preßte. »Nein, ich weiß nur, daß mir Ihr Vater damals, als ich noch glaubte, wir wären nur für Zeiten durch äußere Umstände getrennt, in Ihrem Namen schrieb, daß ich unsere Verbindung als gelöst zu betrachten hätte, und daß ich zugleich auch einen letzten Gruß von Ihnen erhielt; aber ich weiß nicht, ob es Ihnen leicht oder schwer geworden ist, mir noch diesen Gruß zu senden. Ohne Groll sollte unsere Trennung sein, – sagten Sie mir, – natürlich, wie Ihre Liebe zerflattert war, so, dachten Sie, könne Ihr Hauch auch die Wildheit, den Zorn in meinem Herzen zerflattern lassen.«

Ein trauriges Staunen lag in ihren großen Augen.

»Haben Sie denn gezürnt, Leo? Sie mir? Und ich schrieb Ihnen doch, daß es mir nicht so schwer schiene zu sterben, als mich von Ihnen trennen zu müssen.«

»Wie,« rief er, schrie er fast aus, – »das hätten Sie? Sie haben mir das geschrieben, Julie?«

Sie hatte den Kopf gesenkt, und in ihre bisher bleichen Wangen war eine tiefe Röthe gestiegen.

»Den Brief, – ich hätte ihn ja nicht senden dürfen,« bemerkte sie leise und hastig, – »es war ohne Willen des Vaters, – ich weiß jetzt, daß auch das Sünde war; aber es geschah in der Noth meines Herzens, und zu groß war diese Noth geworden, als ich glauben sollte und noch nicht konnte, daß so Vieles in Ihnen nicht sei, wie die Menschen es gut nennen, und wie wohl auch Gott es fordert.«

Eine fast krampfhafte Bewegung arbeitete zugleich mit einer fieberhaften Spannung in Leos Zügen. »Weiter, reden Sie weiter!« drängte er, als sie einen Augenblick stockte.

»Es wollte immer nicht in mein Herz gehen, was man mir sagte, daß ich darum von Ihnen lassen müßte, und deshalb beschwor ich Sie, mir die Wahrheit zu sagen über sich selbst, und zugleich fragte ich Sie auch, ob denn nicht unsere Liebe von der Art wäre, daß sie uns Beide reinigen und heiligen könne, und ich versprach Ihnen Alles zu glauben und auch Alles zu wagen, wenn ich nur Ihr Wort hätte. Wenn Sie es aber nicht geben könnten für Alles, was es mir bestätigen mußte, dann sollten Sie nicht antworten, und ich wollte dann an Ihrem Schweigen erkennen, Sie selbst hielten dafür, daß wir uns trennen müßten.«

»Und diesen Brief, – wissen Sie, daß ich ihn nie bekommen habe, Julie?« rief Leo beinahe außer sich.

Wie entsetzt hoben sich ihre Arme empor, aber nur einen Augenblick, – dann sanken dieselben matt an ihrem Leibe nieder.

»Es hat wohl auch das so kommen müssen,« sagte sie, »und es ist vielleicht bestimmt worden zur Strafe für meine Heimlichkeit, daß der Brief nicht in Ihre Hände gelangen durfte. Der Vater behielt so das Recht, über mich zu entscheiden.«

»Wie er sich auch ein anderes Recht genommen haben wird,« fiel Leo in höchster Aufregung ein, »das Recht, jenen Brief, der Alles, Alles anders gestaltet haben würde, zu unterschlagen.«

Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Es nutzt nichts, darüber zu grübeln,« sagte sie dann hastig, »wenn es schon möglich ist, daß er es that; denn Sie wissen es, Leo, er war stets eifrig, einzugreifen, sobald ihm seine Ueberzeugung sagte, daß es Anderen zum Besten gereichte.«

»Anderen, – Ihnen zum Besten; wenn er mich mit Füßen trat,« rief Leo.

Einige Augenblicke lang schwieg sie.

»Sie wissen es, er sah Sie mit anderen Augen an, als ich es that,« erwiderte sie mit einem leisen Zittern in der Stimme.

»O natürlich, er haßte mich,« entgegnete er heftig, »weil ich mir einige Male einen Widerspruch gegen sein orthodoxes, strenges Denken erlaubt hatte; darum verzieh er mir keine meiner Uebereilungen, auch die geringste nicht; darum verdammte er mich.«

»Er verdammte Sie nicht,« versetzte sie traurig; »aber Sie wissen es, Leo, er stand fest auf dem Boden seines Bekenntnisses, und wer dies nicht mit ihm theilte, der konnte sein Freund nicht sein. Es war ja auch darum nicht möglich,« setzte sie noch leiser und trauriger hinzu, »daß Sie sein Sohn wurden.«

»O, also das war es,« stieß Leo hervor, »ein Opfer des priesterlichen Zelotismus bin ich geworden, und das Alles, weil ich nicht fromm genug befunden wurde.«

Sie senkte wieder den Kopf. »Es war nicht das allein, Leo; ich begriff nun am ersten, daß wir uns darum zu scheiden hatten, weil es mich vorher wohl schon geängstigt hatte, aber ganz leise und ohne daß ich es Ihnen und mir selbst zu gestehen wagte, daß Sie so wenig Glauben hatten.«

Leo maß sie mit einem unruhig forschenden Blick.

»O wohl,« rief er aus, »ich verstehe, in welchen Netzen man Sie und Ihren Geist gefangen hat, wie Ihre Schwäche ausgebeutet worden ist.«

Auch sie ward jetzt unruhig; ein Zucken lief durch ihre Glieder und über ihre Züge; dennoch zwang sie sich, ihn anzublicken.

»Von meiner Schwäche reden Sie? O, Leo, lassen Sie es mich sagen, daß diese Schwäche meine Stärke geworden ist, und daß ich ohne den Halt, den der Vater mich finden lehrte, wohl vergangen wäre. Durch ihn lernte ich es endlich, daß uns das Leid nicht als Leid, sondern als Heil gegeben wird, – und – ja, Leo, lassen Sie es mich hoffen, daß auch Sie einst das sagen werden!«

»Nimmer und nimmermehr!« rief Leo stürmisch. »Ich werde nie aufhören, Ihren Vater anzuklagen, daß er Ihnen Irrlehren eingeflößt hat, damit Sie um so williger thäten, was er von Ihnen forderte: den Einen zu verlassen und den Andern zu wählen!«

Erstaunt, fast erzürnt, trat sie einen Schritt zurück.

»Sie vergessen, wer Ihre Worte hört, Leo.«

Er sah sie düster an.

»Es ist wahr,« antwortete er, »die Ohren, welche sie hören sollten, vernehmen sie nicht mehr – es war vielleicht unedel, sie hier zu sprechen. Jedenfalls aber bin ich ein Thor,« fuhr er heftiger fort, »wenn ich vergesse, daß unsere Loose, mögen sie gefallen sein, wie sie wollen, einmal geworfen sind: und wenn man Sie gelehrt hat, mich als einen Dämon zu hassen, so denke ich, ist jetzt die Kluft weit genug, die zwischen uns liegt.«

»Leo!« rief sie bittend und mahnend zugleich.

Er kehrte sich von ihr ab und ging ein paar Mal durch's Zimmer; dann blieb er wieder vor ihr stehen und fuhr fort:

»Das also war unser Wiedersehen! Soll es das letzte für dies Leben gewesen sein, Julie?«

Sie schloß wieder für eine Secunde die Augen, als wolle sie sich sammeln, und als könne sie das nur, wenn sie ihn nicht vor sich sah; und fast war es auch, als habe ihr dies Mittel geholfen; denn als sie die Wimpern wieder aufschlug, waren ihre Züge ruhig geworden, und ruhig klang auch ihre Stimme.

»Wie es die Fügung will, Leo,« sagte sie.

Der Ausdruck seines Gesichts, der einen Augenblick heller gewesen war, verdunkelte sich wieder.

»Die Fügung!« stieß er fast rauh hervor. »Nach Ihrem Wunsch, der Stimme Ihres Inneren fragte ich. – Aber möge es so sein; an dem Zufall mag es liegen; er soll es entscheiden, ob wir uns wiedersehen.«

Das leise Lebewohl, welches von ihren Lippen zitterte, beantwortete er nur mit einem Blick, den der Schleier der eigenen gesenkten Lider ihr verhüllte; dann machte er seine Verbeugung. – Er war beinahe so von ihr gegangen, wie man von einer Fremden geht.

 

Als er sie verlassen hatte, brach Julie in Thränen aus; hätte sie aber die Ursache derselben angeben sollen, sie würde es nicht gekonnt haben, auch vor sich selbst nicht; denn es war ja kein eigentlicher Grund zur Trauer. Sie hatte Leo wiedergesehen, bis zu einem gewissen Grade sich sogar mit ihm verständigt, indem sie ihm seinen Wahn nehmen durfte, daß sie ihn leichtsinnig aufgegeben habe. Mußte sie nicht freudig und dankbar dafür sein, daß ihr das Alles vergönnt gewesen war?

Freilich ruhig und glücklich war er ihr nicht erschienen; sie hatte, – und das war es wohl, was ihr die eigene Betrübniß brachte, – die tiefe Bitterkeit seines Herzens erkennen müssen; aber sie hatte ja die Kraft des Gebets so oft an sich selbst erprobt; wenn sie nun auch für ihn ihr Herz zu Gott erhob und heiß und tief betete, sollte dann nicht auch ihm der Friede gegeben werden?

Als sie sich nach einer langen Weile von ihren Knien erhob, war ihr Auge wieder klar geworden; sie hatte die Unruhe und die Bekümmerniß, welche ihr Leos Besuch gebracht, glücklich niedergerungen, und mit befreitem Herzen konnte sie das fromme Werk wieder aufnehmen, das sein Eintritt so jäh unterbrochen hatte.

Ihren Gatten sah Julie erst Stunden lang nach ihrem Zusammensein mit Leo weder. Freundlich, aber mit der Zerstreutheit, die er in jede nichtgeschäftliche Unterhaltung hineinzutragen pflegte, fragte er nach ihrem Ergehen, den kleinen Vorfällen des Tages und so weiter, und erinnerte sich dann auch des Gastes, den er ihr in der ersten Hälfte des Abends zugeführt hatte.

»Nun, wie war es denn mit dem Herrn, – Herrn Wöllnitz?« fragte er. »Hoffe, sein Besuch war Dir nicht unangenehm? Er hat Dich gut unterhalten?«

»Du wirst es wohl natürlich finden, daß wir von den früheren Zeiten sprachen,« erwiderte sie ruhig.

Herr Heller schlug sich mit der Hand vor den Kopf.

»Ach richtig, Ihr waret ja Jugendbekannte, – ich vergaß es nur im Augenblick.«

Julie dachte daran, daß sie den Vater einst gebeten hatte, – damals, als sie nach schwerem Kampfe auf dem Puncte stand, den höchsten Wunsch des Letzteren zu erfüllen und ihrem jetzigen Gatten das verlangte Jawort zu gewähren, – Heller zuvor von dem Verhältniß, in welchem sie zu Leo gestanden, zu sagen, da ihr selbst das Reden darüber zu schwer gewesen war; und in der Erinnerung fragte sie unwillkürlich:

»Wirklich, Du vergaßest das, Anton?«

Das Erstaunen, welches sie in ihren Ton gelegt hatte, mußte ihn ergötzen; denn er lachte und versetzte dann:

»Du denkst nicht daran, mein Kind, daß Deine und meine Jugendjahre ein gut Stück aus einander liegen, und daß ich zwar Deinen Vater wohl kannte, von Dir selbst aber und Deiner ganzen Umgebung und Freundschaft nicht viel wußte, bis – nun ja, bis ich zum Besuch in Deiner Eltern Haus kam und dann fand, daß Du die richtige Frau für mich sein möchtest.«

»Es war das sehr gütig, sehr nachsichtig von Dir, Anton,« sagte die junge Frau mit niedergeschlagenen Augen, »weil Du ja doch durch den Vater von meinen bisherigen Träumen wußtest.«

»Träumen!« rief er aus und lachte wieder; »Du nennst das rechte Wort, Julie! Wie sollte mich hindern, was Du als Kind geträumt hattest, da Du nun meine Frau würdest? Die Frauen in unserer Familie sind stets verständig gewesen, und wie Du von ihrem Geschlecht warst, so mußtest Du auch von ihrer Art sein, das war ohne Weiteres für mich ausgemacht, und – nun ja, habe ich damit nicht etwa Recht behalten?« schloß er, indem er ihr gutmüthig seine Hand hinreichte.

Julie legte die ihrige hinein.

»Vielleicht!« sagte sie und lächelte flüchtig. »Ich war nur nicht immer, was Du verständig nennst,« setzte sie gleich darauf hinzu.

»Ei, gewiß nicht,« erwiderte er gutgelaunt, »seine Kindereien macht Jeder durch. Dein Vater – Gott habe ihn seelig, – glaubte, mir das erst sagen, wie zum Beispiel von einer Thorheit, die Du einmal für irgend Jemand im Kopfe getragen, sprechen zu sollen; ich schnitt aber die Sache kurz ab, indem ich ihn fragte, ob Du denn jetzt über diese ›Thorheit‹ klar geworden seiest, und ob Du mir Deine Hand freiwillig reichtest; und als er zu beidem Ja gesagt hatte, erklärte ich, – nun genau weiß ich nicht mehr, was ich sagte, – es lief aber darauf hinaus, Julie, daß mich alles Frühere nichts anginge, wie ich mich denn überhaupt gern an die Regel halte: was nicht durchaus zu dir und deinem Geschäft gehört, das laß draußen.«

Obgleich Heller in völlig freundlichem Ton, der ihm nur in besonders aufgeräumter Stimmung zu kommen pflegte, gesprochen hatte, fühlte Julie sich von seiner Erklärung nicht recht befriedigt, vielmehr es war ihr geradezu unangenehm, daß ihr Gatte jene Mittheilung, welche sie dem Vater aufgetragen, nur halb empfangen hatte, und deshalb offenbar von ihrer einstigen Neigung nicht die richtige Vorstellung besaß. Statt aber dem Verstorbenen deshalb einen Vorwurf zu machen, richtete sie den letzteren gegen sich selbst und tadelte sich für die Schwäche, welche sie damals abgehalten hatte, dem Manne, der um ihre Hand warb, selbst ihre Beichte abzulegen.

Was sie jedoch damals nicht über sich gewonnen hatte, – jetzt, das sagte sie sich, vermochte sie es; denn sie war ja nun ruhig geworden; und so ging durch ihren Sinn die Erwägung, ob sie nicht in dieser Stunde ihrem Gatten genau sagen solle, wie es einst zwischen ihr und dem Gast, den er heute in sein Haus geladen hatte, gestanden, und was sie Beide von einander getrennt habe. War doch gerade jetzt dazu die Veranlassung. –

Auch die Gelegenheit erschien günstig; denn Heller zeigte sich selten so geneigt zu einem Gespräch, das die intimeren Angelegenheiten seiner und ihrer Person betraf, wie es denn ein gewisses Staunen verdiente, daß er sich bereits so lange mit ihr unterhalten hatte, ohne daß das Wort »Geschäft,« dem sonst sein erstes und letztes Interesse gewidmet blieb, mehr als ein einziges Mal, und dies in der oberflächlichsten Weise, genannt worden wäre.

»Möchtest Du mir nicht einmal erlauben,« begann sie, »Dir mehr von meinem Leben zu erzählen?«

Der aufgewecktere Zug, der zuerst auf seinem Gesicht gelegen hatte, war schon während der kurzen Gesprächspause wieder gewichen, und die alte zerstreute Art fing aufs Neue an, ihr Recht zu behaupten.

»Von Deinem Leben? Gern, Kind, wenn es Dir Freude macht; das heißt, zu einer Stunde, wenn ich Muße habe, will ich mir wieder von Dir vorplaudern lassen – von Deiner Jugend, Deinen Freunden – so viel Du willst. Jetzt nur – ja, jetzt mußt Du mir gestatten, an Wichtigeres zu denken, – die Correspondenz für das Geschäft ist noch nicht in allen Theilen abgeschlossen.«

Das Geschäft, – da war das Wort wieder, – und in ihm lag die böse Macht, die ihn in demselben Augenblick noch, wo sie offen von dem sprechen wollte, was ihr Herz so erfüllte und ihr so viel Qual im Leben bereitet hatte, von ihr forttrieb. Mit einem nur halb unterdrückten Seufzer mußte sie es geschehen lassen, daß er ihre Bekenntnisse auf eine Stunde hinausschob, wo er Muße haben würde, sich etwas von ihr »vorplaudern« zu lassen. –

 

So selten es auch überhaupt in Leo's Gemüth ruhig war, so selten war er doch auch eine Beute solch heftiger und aufgeregter Empfindungen gewesen als in der Stunde, da er von der Heller'schen Villa nach seiner eigenen Wohnung zurückkehrte.

Auf die verschiedenste Art, bald mit diesen, bald mit jenen Farben, hatte er sich das Wiedersehen, was ihm das Schicksal etwa je im Leben bereiten möchte, ausgemalt, wie es aber wirklich nun stattgefunden, das hatte ihm keine seiner Vorstellungen vorausgesagt. Stets war sie ihm die Ungetreue gewesen, der er noch einmal das volle Gefühl ihrer Schuld auf die Seele wälzen, an deren Schaam er sich lechzen wollte, und nun, – stand sie nicht nahezu entsündigt vor ihm? Nicht sie hatte ihn verrathen; von Andern war er wie sie selbst getäuscht worden, Andere trugen die Verantwortung, daß ihn der Nothschrei ihres Herzens nicht erreicht, daß er sie verloren hatte.

Dennoch aber war die Bitterkeit seiner Seele nicht gemildert, auch gegen sie nicht. Wo er wild aufgelodert war in Zorn und Ingrimm, hatte sie ihre Ruhe, ihre Gelassenheit bewahren können. O wohl, sie hatte es ja gelernt, sich in ihr Schicksal zu finden, so gut, daß darüber jeder Funken eines anderen Gefühls versprüht war. Kein Herz mehr, – keine Liebe! Er konnte sich abwenden und fortgehen; – er konnte es, und er wollte es. Nie, nie mehr wollte er einen Fuß über ihre Schwelle setzen, der Blick, den er in ihre schönen und doch so kalten Augen gethan hatte, sollte der letzte gewesen sein im Leben.

Dann aber nahmen seine Gedanken wieder einen andern Weg. Er rief sich zurück, wie sie vor ihm gestanden, – das Fremde, Eigene, das in ihrem Wesen gelegen hatte, – diese ganze Ruhe und Gelassenheit, war nicht Alles am Ende ein Angenommenes, ein Schein, unter dem sich etwas Anderes barg? Etwas Anderes? – was war dies Andere?

In seinem Hirn wirbelte es; sie war ihm wie eine Sphinx, deren Räthsel er lösen mußte.

 

Zwei Tage, nachdem Leo und Julie sich zuerst wiedergesehen hatten, betrat er das Hellersche Haus aufs Neue.

Sie kehrte gerade von dem Balkon, wo sie nach ihren Blumen gesehen hatte, in ihr Zimmer zurück; da stand er vor ihr.

»Nennen Sie es immerhin eine Fügung, daß ich wiederkommen mußte,« sagte er; »ich selbst habe keine andere Entschuldigung, – auch vor meinem eigenen Tribunal nicht, – als daß mich etwas dazu zwang.«

Hatte sie bei seinem ersten Anblick leise gebebt, so athmete sie jetzt erleichtert auf; sein Ton wie seine Stimme schienen ihr milder zu sein als neulich, und in dem, Gefühl einer Art Dankbarkeit reichte sie ihm jetzt die Hand.

»Ich hoffte es, daß wir uns in Frieden wiederfinden würden!« sagte sie. »Warum sollten wir nicht Freunde bleiben, es nicht aufs Neue werden können, nachdem Alles, was hinter uns liegt, abgethan ist?«

»Abgethan?!« rief er aus, und um seinen Mund zuckte es seltsam. »Aber lassen wir das, Julie!« fuhr er gleich darauf hastig fort. »Ich muß eins wissen, und auf dies Eine müssen Sie mir antworten, damit ich mich nicht länger abmartere an der Frage: Was Sie vom Leben wollten, was Sie suchten, – haben Sie es gefunden, oder täuschen Sie mich, sich selbst mit dem Schein der Befriedigung?«

Das Erstaunen, welches ihre Züge zuerst gezeigt hatten, verlor sich und ging fast in ein Lächeln über; er mochte indessen in ihren Augen lesen, noch ehe sie ihre Lippen geöffnet hatte, was sie ihm sagen wollte; denn er fuhr rasch fort:

»Nein, nein, ich will nur die Entgegnung, welche meinem Sinn entspricht; nach Ihrem irdischen Glück will ich fragen.«

Ein feines Roth war in ihre Wangen gestiegen.

»Ich habe es vor Hunderten und Tausenden gut, Leo; ich wäre undankbar, wenn ich das nicht erkennen wollte!«

Ein Schatten, halb Ungeduld und halb Unmuth, glitt über seine Züge.

»Und Ihr Hoffen, Ihr Wünschen, Julie?«

Ein paar Secunden lang schwieg sie.

»Hoffen und Wünschen,« sagte sie dann wie träumerisch, – »ich glaube fast, ich habe beides verlernt,« setzte sie nach einem abermaligen, kurzen Stocken hinzu; »vielleicht, – es muß wohl so sein, – weil Heller zu gut gegen mich ist, indem er mir nie eine Bitte versagt und mich mein Leben einrichten und führen läßt, wie ich mag.«

»Und das ist Alles, und weiter begehren Sie nichts?« rief Leo.

Sie sah ihn mit einem etwas unsicheren Blicke an.

»Was sollte ich noch fordern, Leo?«

»O, wenn Sie das fragen können, – vielleicht nichts mehr,« entgegnete er mit bitterer Betonung. »Es giebt ja auch Menschen genug, die sich an dem halben Herzschlage genügen lassen, und die ihr Leben wohl gar noch leidlich angenehm nennen. – Einst freilich, glaubte ich, Julie, auch Sie hätten es erkannt, daß uns das Leben entzücken, berauschen, außer uns versetzen muß, um uns schön erscheinen zu dürfen.«

Ihre Züge waren nicht ganz so ruhig mehr wie vorher, und so lag auch in ihrer Stimme etwas Hastiges, als sie jetzt antwortete:

»Sie reden wieder von dem Einst; – lassen Sie es ruhen, Leo; denken Sie nicht mehr an jene Zeit; oder wenn Sie es thun, so sagen Sie sich, wie ich es mir sagte, daß der Bund, dem des Vaters Segen fehlte, von Gott selbst verboten war, – wie es gewiß vor ihm schon eine Sünde hieß, daß wir uns einander gelobt hatten, ohne daß wir zuvor nach diesem Segen fragten!«

»Eine Sünde sollte unsere Liebe gewesen sein, Gottes Verbot auf ihr gelegen haben?« rief er aus. »Wenn Sie nicht fühlen, daß die Liebe selbst göttlich ist, daß sich ihr alles Recht und alle Macht beugen muß, so haben Sie nie geliebt. Ich aber, – ich erkenne den Gott nicht an, der uns in seinen Himmel nur einläßt, um uns aus ihm zu verstoßen.«

Sie ward leichenblaß, und ein Schrecken fuhr durch ihre Glieder, daß sie bebten.

»Halten Sie ein, Leo,« rief sie, »Sie lästern. Haben Sie sich ganz von dem Heiligen abgewandt?«

Er athmete tief auf und fuhr sich zugleich mit der Hand über die Stirn.

»Nein, Julie,« sagte er dann; »das Heilige ist noch da, – auch für mich; aber ich erkenne es in anderer Weise als Sie, und mit freiem, nicht mit dumpfen Geiste will ich ihm dienen.«

Eine Weile schwiegen Beide; dann begann sie leise, und fast schmerzlich klang ihm ihre Stimme:

»Ich habe Ihre Sprache lange nicht mehr gehört; – ich fürchte, ich verstehe Sie nicht mehr, Leo.«

Er beugte sich zu ihr nieder.

»Nehmen Sie Ihr Wort zurück, daß wir Freunde bleiben wollen?« fragte er und wußte selbst nicht, wie weich der Ton war, in dem er gesprochen hatte.

»Nein, o nein!« entgegnete sie rasch. »Ich wollte nur,« – sie stockte.

»Nun?« fragte er erwartungsvoll.

»Ich möchte, ich wäre Ihre Schwester; denn dann hätte ich noch mehr Recht und wohl auch Gewalt, um so mit Ihnen zu reden, daß es wieder völlig ruhig und klar zwischen uns würde.«

»Meine Schwester!« es lief ein Zucken über seine Züge, und er wandte sich rasch ab.

Wenige Minuten darauf hatte er sie verlassen.

 

Julie weinte diesmal nicht, als Leo fort war; aber ihr Herz war schwer. Sie konnte nicht aufhören, sich mit ihm zu beschäftigen, und jeder Gedanke that ihr Weh. Wie fern stand er doch ihr und Allem, was sie zu ihrer Welt gemacht hatte! und er war nicht glücklich. – Ob er es je sein würde?

Noch bis in ihre Träume hinein mußte sie an das Alles denken, und so geschah es, daß ihr dieselben endlich kamen, ohne daß sie sich vorher im Nachtgebet gesammelt hatte.

Als sie aus ihrem unruhigen Schlaf erwachte, hatte sie sofort das beklemmende Bewußtsein, zum erstenmal diese heilige Pflicht versäumt zu haben, – statt zu beten, hatte sie an Leo gedacht! Wie eine Sünde lag diese Erinnerung an dem ganzen Tage auf ihr.

Und Leo dagegen?

Als er die letzte Unterredung mit Julien beendigt hatte, war er nahe daran, sich selbst zu verspotten, daß er den Gedanken hatte hegen können, das Antlitz, welches sie ihm und der Welt entgegentrug, verrathe nicht den eigentlichen Grundton ihres Herzens, es decke vielmehr ein verborgenes Empfinden, wie die Asche ein Feuer gleichsam. Sie war so, genau so, wie sie sich ihm zeigte, so kühl, so gelassen; sie vertrug sich vollständig mit ihrem Geschick. Es mochte dies gut sein, – und jedenfalls war man dabei nicht unglücklich, – das sah er ja vor Augen. Sollte er es darum nicht selbst auch lernen? vielleicht gerade durch sie? – Sie hatte ihn gebeten, ihr Freund zu werden; er konnte es ja einmal mit diesem Verhältniß versuchen. –

 

Ein paar Tage lang hatte er seinen Eifer theils auf die Arbeit, theils auf andere Unterhaltung geworfen; dann ging er wieder zu Julien.

Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als ihr sein Besuch gemeldet wurde. Sie hatte es sich eingeredet, daß er nicht wiederkommen wolle, und daß dies gut sein und sie sich darüber freuen würde, da es ihr wie ihm nutzlosen Kummer ersparte, und nun, – nun sollte sie ihn doch aufs Neue sehen, seine Stimme hören.

Ihre ruhige Haltung kehrte ihr jedoch zurück, als er ihr entgegentrat; denn er selbst war augenscheinlich gelassener als neulich. Er sagte ihr einfach, daß sie ihn in ihrer Nähe dulden müsse, daß sie ihn betrachten solle als Einen, den das Schicksal, das eigene heiße Blut krank gemacht hatten, und daß er sie bei ihrem Worte nähme, seine Schwester sein zu wollen. Nicht das Werk einer wirklichen, aber das einer barmherzigen Schwester möge sie an ihm thun!

Sie lächelte einen Augenblick, und wenn sie dann auch gleich wieder ernst wurde, – der Schreck war ihr doch durch seine Rede genommen. Ja, er hatte den rechten Fleck in ihrem Herzen getroffen. Die Theilnahme, das Mitleid, welches sie für so viele Leidende hegte, durfte sie es ihm versagen, ihm, der – nicht mit ihrem Willen zwar, aber doch durch ihre Schuld unglücklich geworden war?

Sie sprachen heute nicht viel von der Vergangenheit, und Julie war ihm dankbar dafür, daß er dies Thema mied, daß er es ihr möglich machte, das Gespräch auf solche Dinge zu lenken, von welchen sich keine trüben Erinnerungen, keine Vorwürfe für ihn und sie ableiten ließen, und sie war glücklich, als sich allmälig die Wolken auf seiner Stirn zu zerstreuen begannen, als sich gar ein Schimmer von Heiterkeit über seine Züge verbreitete.

Und nun erst, als er selbst beredt war, als er das ihm eigene Feuer in die Unterhaltung legte, – da gewannen Dinge, an die sie bisher kaum gedacht hatte, rasch eine Bedeutung; und wiederum sah sie hundert Vorgänge und Erscheinungen, die sie nie anders betrachtet hatte, als es sie gelehrt worden war, plötzlich in einem neuen, einem gänzlich veränderten Lichte.

In Wahrheit, Leo war heute wohl im Stande zu fesseln. Einmal angeregt, hemmte so leicht nichts das Funkensprühen seines Geistes, seines Witzes, und da er nie berechnend in seinem Thun war, so mochte man wohl sagen: seine Laune, der Zufall machten ihn liebenswürdig. Und dieser Zufall war ihm auch darin günstig, daß er das Gespräch nicht auf ein Gebiet lenkte, wo Juliens Empfinden leicht eine Verletzung hätte erleiden, ihr gläubiges Gemüth durch seine freigeistige Gesinnung erschreckt werden können; und war es auch, daß sie späterhin in der Stille an das eine oder andere seiner Worte denken und es etwas ängstlich mit den Aussprüchen ihres seeligen Vaters, ihrem eigenen Glauben vergleichen mußte, für den Augenblick hatte es sie kaum gekränkt, und auch in der Erinnerung ward es leicht vergessen über so manchem Anderen, das sie mit dem tiefsten und lebendigsten Interesse erfüllt hatte. –

 

Von diesem Tage an verstand es sich von selbst, daß Leo häufig in das Heller'sche Haus kam, und für eben so ausgemacht nahm es Jeder an, daß seine Besuche Julien galten. Nicht selten allerdings sah er damit zugleich ihren Gatten, und keiner von den beiden Herren verstieß dann je gegen die Höflichkeit; keinem aber auch fiel es ein, irgend eine Beziehung zu dem Anderen zu suchen. Wäre der Kaufherr auch nicht Juliens Mann, wäre er eine völlig fremde Persönlichkeit gewesen, – von Leo würde ihm nie die leiseste Sympathie zu Theil geworden sein; »es hätte denn geschehen müssen, daß völlig ungleiche Elemente, Feuer und Wasser, einmal Verwandschaft suchten,« wie der Letztere sich einst spöttisch selber äußerte; und wieder machte es die gänzliche Interesselosigkeit des jüngeren Mannes für den Besitz, ja die etwas verächtliche Art, mit welcher er jedes ausgesprochene Streben nach Gewinn und Erwerb behandelte, daß Heller den Jugendfreund seiner Frau nicht besonders liebte, und wenn er ihn nicht geradezu mit scheelen Augen ansah, – so weit trat er kaum aus seiner Passivität heraus, – doch aber über ihn die Achseln zuckte als über einen unpraktischen Idealisten und Träumer. –

Die Gelegenheit des Zusammentreffens ergab sich jedoch im Ganzen nicht häufig, und in der letzten Zeit sogar seltener als je; denn wenn Heller ohnehin wenig in der Gesellschaft seiner Frau gelebt hatte, so trat er jetzt auch in dem Fall, daß er überhaupt zu Hause und nicht etwa auf dem Comptoir oder der Börse war, kaum in ihr Zimmer; und war er früher schon ziemlich gleichgiltig gewesen gegen Alles, was nicht mit seinen geschäftlichen Interessen zusammenhing, nun schien ihn durchaus nichts mehr anzugehen als allein dies. –

Es war das im Ganzen nichts Auffallendes, und die gegenwärtige Periode würde sich für Julie kaum von manchen anderen, die eine ähnliche Absonderung ihres Mannes hervorgerufen hatten, unterschieden haben, – daß seine Züge jetzt oft eigenthümlich gespannt waren, und ein Ausdruck von Sorge und Unruhe in ihnen lag, entging ihr, – wenn Alles noch gewesen wäre wie vor Monaten, vor Wochen noch, wie zu jeder anderen Zeit, so lange sie noch in der Stille dahin gelebt, und nichts die Gleichförmigkeit ihrer Tage, den Frieden ihres Innern unterbrochen hatte. Nun, seit Leo so oft zu ihr kam, war es nicht mehr so unbewegt, so ruhig in ihrem Leben und ihrem Gemüth; es blieb nicht länger möglich, sich das selbst zu verhehlen. Sie wußte selbst nicht recht, was sie unruhig machte; denn er sprach, er that nichts, was sie hätte stören, oder gar zu kränken brauchen; aber es war dennoch so, sie fühlte sich bisweilen von einer unbestimmten, unheimlichen Angst ergriffen, wenn er bei ihr eintrat, ja, schon wenn er während des Gesprächs den Blick auf sie richtete, und sie hatte dann ein Verlangen, daß sie nicht länger allein in seiner Gesellschaft verweilen, daß noch Jemand bei ihr sein möchte. – Zuweilen auch ging es ihr durch den Sinn, es sei besser, wenn er gar nicht bei ihr wäre, wenn sie jetzt Abschied von einander nähmen, und sie sähen sich dann im Leben nicht wieder. Aber war es wohl möglich, ihm das zu sagen?

Und dann, – dann dachte sie auch wohl daran, ob sie es ertragen würde, wenn er durch sich selbst auf den Gedanken käme, daß er fortbleiben wolle; – ob es sie nicht tief, tief kränken würde, wenn er plötzlich wieder das Band zerrisse, daß er kaum angeknüpft hatte? Nein, sie mußte warten, bis eine höhere Hand Alles wieder geklärt und geebnet haben würde, was sich jetzt in ihrem Geist zu verwirren drohte.

Heute hatte ihr dann gar Heller, als sie ihn gefragt, ob seine Zeit ihm nicht bald wieder erlauben würde, auch ihr Zimmer aufzusuchen und an dem wenigen Verkehr, den sie unterhielt, theilzunehmen und z. B. gegenwärtig zu sein, wenn der Assessor Wöllnitz sie besuche, die Antwort gegeben, er gebrauche jede Minute und jeden Gedanken für seine Geschäfte. Seine augenblicklichen Sorgen, setzte er hinzu, wolle er ihr nicht mittheilen, sie dafür aber benachrichtigen, daß er eine telegraphische Botschaft erwarte, die ihn vielleicht nöthigen würde, auf der Stelle zu verreisen. Und darauf war die erwähnte Meldung gekommen; es war flüchtig gepackt worden, und eben so flüchtig hatte Heller von ihr Abschied genommen, indem er nur hinterließ, daß es sicher zwei, drei Tage dauern würde, bevor er zurückkehren könne.

Zwei, drei Tage – was bedeutete diese Abwesenheit? Es verging oft eben so viel Zeit, ohne daß sie außerhalb der Mahlzeiten mit ihrem Manne zusammen war, und doch begleitete Julie diesmal die Ankündigung mit einer heimlich bangen Empfindung, mit einem Seufzer. –

 

Nach Hellers Abreise saß Julie nun allein auf ihrem Zimmer. Ihre Beschäftigungen waren ihre Gedanken, doch suchte sie dieselben von der Gegenwart loszureißen und an die Vergangenheit anzuknüpfen. Nicht etwa an die Zeit, wo Leo zuerst in ihr Leben getreten war und sie zuerst das Hangen und Bangen eines leidenschaftlich bewegten Herzens kennen gelernt hatte, sondern an die ferner liegende, an die goldnen Tage, in denen sie noch vollkommen harmlos und unbeirrt in ihrem Gemüth gewesen war.

Besann sie sich recht, so hatte sie die schönsten und glücklichsten Jahre ihres jungen Lebens in der Pension verlebt, welcher die der Mutter früh Beraubte von dem Vater anvertraut worden war. Sie rief sich die Gestalten der Vorsteherinnen, der Lehrerinnen zurück, die sich so liebevoll und freundlich ihrer angenommen hatten, der Freundinnen, mit denen sie so vertraut gewesen war, und ihre Züge verklärten sich freudig, als sie mit ihren Gedanken bei der einen verweilte, der liebsten und besten unter allen jugendlichen Gefährtinnen. –

Sie lächelte, als ihr einfiel, wie viel Neckereien damals dies besondere Verhältniß hervorgerufen, wie man sie und jenes junge Mädchen stets ein Paar genannt und als ein zusammengehörendes Paar behandelt hatte, und wie auch ihr selbst nie anders gewesen war, als sei sie, die Jüngere, von dem entschiedenen Wesen der Anderen gerade so abhängig wie die schwächere Frau von dem starken Geist und Willen des Mannes; als könne aber auch keine Frau den Mann heißer lieben, sich williger von ihm lenken und regieren lassen, als sie die Freundin liebte, von ihr alles eigene Thun bestimmen ließ.

Ja, sie waren einander viel, nahezu Alles gewesen, und doch, – es war unbegreiflich, aber doch hatte man sich nach jener Zeit getrennt, und es war wenig Gemeinschaft zwischen den beiden bisher so eng verbundenen Freundinnen zurückgeblieben. Ein paar Briefe noch waren gewechselt worden; – später hatte man sich von den hervorragendsten Lebensereignissen kurz Nachricht gegeben, und jetzt, – jetzt wußte die Eine gerade noch von der Anderen, daß und wo sie lebte; das war Alles geblieben. –

In diesem Augenblick aber, wo ihr die volle Erinnerung an die Freundin, an die Klarheit, die derselben in jeder Minute eigen gewesen war, zurückkehrte, ergriff sie plötzlich eine heiße Sehnsucht nach der Langentbehrten. Sie sprang auf, um sich aus einem Album, das ihre Erinnerungsschätze barg, ihr Bild herbeizuholen; und wie sie wohl einst mit schwärmerischer Begeisterung in das wirkliche Angesicht geblickt hatte, so versenkte sie sich auch jetzt in das Anschauen der edelgeformten Züge, des ganzen etwas stolz gehobenen Mädchenkopfs.

»Wenn sie hier wäre!« sagte sie sich leise. Dann aber stieg plötzlich ein Gedanke, ein Entschluß in ihrer Seele auf, und rasch, als drohe ihm eine Gefahr, wenn derselbe nicht auf der Stelle ausgeführt würde, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und fertigte einen Brief an, der in der nämlichen Stunde noch abgesandt wurde. Er forderte die Freundin auf, sich von der Heimath loszureißen, um auf Wochen, auf Tage, selbst auf Stunden nur, wenn es nicht anders sein könne, hierherzukommen, und schloß damit, daß er dies Verlangen die Herzensbitte eines Wesens nannte, welches sich nach dem Trost, dem Halt, dem Schirm und Schutz einer stärkeren Natur sehne.

Das Schreiben war abgeschickt; aber das Bild, welches den Impuls zu ihm gegeben hatte, lag noch auf dem Tische, als Leo kam. Sein Erscheinen übte aber heute nicht eine solche beängstigende Wirkung auf Julie aus, wie es die letzten Male gethan hatte; sie empfing ihn ruhiger, als sie es vor einer Stunde noch würde gekonnt haben, soviel hatte ihr der Schritt, den sie eben gethan, schon von ihrer verlornen Sicherheit wiedergegeben. Er dagegen war aufgeregt, und er ließ sie auch nicht lange auf die Erklärung seiner Stimmung warten.

»Wenn Sie es müde geworden sein sollten,« fing er nach der ersten Begrüßung an, »Barmherzigkeit an mir zu üben, so bringe ich ihnen den Trost, daß Sie bald erlöst sein werden, – ich gehe fort!«

»Fort!« versetzte sie und sah ihn fragend an, als begreife sie noch nicht recht, was er meinte.

»Ja,« sagte er, »die Rückkehr meines Collegen hebt meine Stellvertretung auf, – und so reise ich denn in acht Tagen.«

Sie wollte sich innerlich zur Freude zwingen darüber, daß nun ihre Ruhe wiederkehren würde, es gelang ihr noch nicht so schnell; aber sie vermochte es doch, jedes weitere Gefühl und Nachdenken niederzuhalten, und so entgegnete sie nur:

»Wenn wir uns wieder getrennt haben werden, Leo, wird es mein heißester Wunsch sein, daß immer mehr und mehr vom Frieden über Sie kommen möge!«

»Frieden!« rief er aus. »Ich weiß jetzt, daß ich ihn nie haben werde. Eine Zeit gab es, eine ganz kurze, wo ich an ihn glaubte, wie ich nach ihm begehrte; allein die Hand, aus der ich ihn empfangen wollte, verschloß sich mir. Aber genug davon,« brach er plötzlich ab, und der Zug, der sich dabei um seine Lippen legte, war ein so herber, daß Julie, die ihn gespannt und erwartungsvoll angeblickt hatte, nicht nach dem weiteren Sinn seiner Worte zu fragen wagte.

Er hatte ein paar hastige Schritte in das Zimmer hinein gethan, – jetzt kehrte er wieder um und trat an den Tisch heran, neben welchem sie stand. Auf einmal aber öffneten seine Augen sich weit; er starrte auf das Bild, das ihre Hand dort niedergelegt hatte.

»Katharina!« kam es unwillkürlich von seinen Lippen.

»Ja, es ist Katharina, Katharina Hellbach,« sagte sie freudig. »Aber Sie nannten ihren Namen; Sie müssen sie kennen!«

»Ja, ich kenne sie,« sagte Leo.

Der bittre Ton, mit welchem er die Worte hervorgestoßen hatte, fiel ihr nicht auf – ihre Seele war in dem Augenblick nur voll von der Freundin; sie dürstete darnach, mehr von derselben zu hören.

»Ich sah sie lange nicht,« begann sie hastig, »bitte, sprechen Sie von ihr!«

»Nein« sagte er heftig, »ich zürne mit mir, daß ich ihren Namen nannte, – ich vermeide es, an sie zu denken.«

»Leo, Sie hassen meine Freundin!« rief sie aus, »oder« – ein Gedanke überfiel sie plötzlich, sie wußte nicht, woher er kam, sie wußte auch nicht, daß sie ihm Worte lieh; dennoch aber sprach sie ihn aus: »oder, – Sie lieben sie!«

Die Farbe war in den wenigen Secunden auf ihren Wangen gekommen und gegangen; aus der heißen Gluth, welche dieselben zuerst bedeckte, hatte sie sich in Leichenblässe gewandelt, – und so sah Leo sie vor sich stehen, die Frau, welcher einst seine heißesten Pulsschläge gegolten hatten; und hatte er je die Unmöglichkeit gefühlt, dies vergessen zu können, so fühlte er sie in diesem Augenblicke.

»Geliebt sollte ich Katharina haben?« rief er aus, »geliebt, nachdem –,« er brach rasch ab; sprach dann aber eben so rasch weiter: »Ich sagte es Ihnen schon einmal, Sie verständen sich nicht auf Liebe, und jetzt sage ich es Ihnen wieder; Sie wissen nicht, was Liebe ist, wenn Sie glauben, daß vergehen könne, was einst Liebe war. Himmel und Hölle sorgen dafür, daß sie nicht stirbt, wie Himmel und Hölle gleichen Theil an ihr haben.«

»Leo!« rief sie aus, indem sie erschrocken einen Schritt zurücktrat.

»Lassen Sie mich, – einmal muß ich reden!« entgegnete er mit steigernder Leidenschaft. »Glauben Sie, es sei möglich, daß ein Feuer hier innen brenne, ohne daß die Flamme nach außen schlüge?«

»Aber ich darf Ihre Worte nicht hören, nicht länger mit Ihnen reden,« versetzte sie angstvoll.

»Doch, Sie dürfen es, Sie müssen mich anhören! Die Gewalt, in der unsere Herzen sind, fordert es. Und ist es auch in dieser Stunde erst über mich gekommen als eine Offenbarung, daß ich Sie liebe, dennoch behält die Liebe, wie sie von Anbeginn zwischen uns war, ihr Recht; denn ich weiß jetzt, daß auch der Haß und der Groll in meiner Brust Liebe war, und ich lache über meine Thorheit, die da glaubte, sie könne sich je zu kühler Freundschaft, zu Gleichgiltigkeit herabdrücken lassen. Mag nun mein Glück werden, was mein Elend war, daß ich nicht aufhören konnte, Sie zu lieben; denn nun muß Wahrheit zwischen uns sein, Julie! Sagen Sie mir, gestehen Sie mir mit einem einzigen Wort nur, daß Sie mit Ihrer Kälte logen wie ich mit meinem Haß, – daß auch Sie fühlen, wie unsere Seelen geschaffen sind, um eins zu sein, und daß sie sich nimmermehr scheiden lassen!«

»Halten Sie ein, Leo, – Sie versündigen sich, Sie freveln!« stammelte sie, von Schreck und Entrüstung fast außer sich gebracht.

»Sage mir, daß Du mich liebst,« drängte er stürmisch, »und wir werden dann Beide entsündigt sein.«

Sie raffte ihre ganze Kraft zusammen.

»Nimmermehr!« rief sie aus »Im Leben nie ein solches Wort wieder! Und jetzt, – jetzt fordre ich von Ihnen, lassen Sie mich allein.«

»Uns trennen, – in dieser Minute?!« entgegnete er heftig.

»Gehen Sie,« brachte sie hervor; »wenn ich je wieder ein Wort, einen Blick für Sie haben soll, so gehen Sie!«

Die furchtbare Erschütterung, in welche er sie versetzt hatte, machte, daß ihre Glieder wankten, wie auch die letzten Worte nur kaum hörbar noch über ihre Lippen gekommen waren. Er sah, daß sie an dem Sessel, neben welchem sie stand, eine Stütze suchen mußte, um sich aufrecht zu erhalten, und ein Rest von Besinnung sagte ihm, daß er ihr das Aeußerste ersparen und die Herrschaft über sich selbst wiedergewinnen müsse; seine Brust arbeitete heftig.

»Nun wohl,« entgegnete er dann, »es sei so! ich will die Marter noch länger tragen. Mein Recht aber bleibt mir, und ich werde wiederkommen, und es aufs Neue von Ihnen fordern.«

Sie wollte noch ein Wort sprechen, welches zürnen, welches ihn zurückweisen sollte; aber sie vermochte es nicht hervorzubringen, – sie winkte nur mit der Hand, daß er sie verlassen möge. –

 

Eine Weile noch blieb Julie wie betäubt; sie vermochte ihre Sinne nicht gleich zu sammeln. Wohl hatte ein unbestimmtes Ahnen sie bisher geängstigt; aber dennoch war das jetzt Geschehene unerwartet gewesen, und es hatte sie getroffen als etwas Schreckliches, als ein Unglück. –

Als ihr die Fassung wiederkehrte, kam ihr auch die Ueberlegung, und dieselbe war eine traurige. Sie mußte sich jetzt von Leo lossagen, – und nicht genug, daß sie ihn nicht wiedersah, auch ihre Gedanken durften ihn nicht mehr suchen.

Sie wagte nicht mehr, sich daran zu erinnern, wie süß es gewesen war, auf sein Kommen, – und mochte ihr immerhin zugleich vor demselben gebangt haben, – zu warten, wie süß das Denken an ihn zu jeder Stunde ihres Alleinseins; denn nun war all dies Denken zur Sünde geworden. Mußte es aber auch bis jetzt schon als Sünde gelten?

Sie griff sich an die Schläfen; sie konnte, sie durfte sich das nicht klar machen; sie hoffte nur, Gott würde sie diese Sünde abbüßen lassen in der Oede, der sie nun entgegenging, und ihr dann wieder gnädig werden. Zugleich aber ergriff sie eine Art Schauder vor jener Oede, die auf sie wartete, und sie fragte sich, ob sie wohl wieder lernen würde, die Einsamkeit zu ertragen, ihr Leben so zu leben wie früher. Indessen, – das mußte sich alles finden, später, – später; für jetzt galt es allein, über die Tage hinaus zu kommen, die noch bis zu Leos Abreise vergehen mußten, und sie sank auf ihre Knie und bat Gott, daß er nur den Zufall abwenden möge, der sie je wieder mit ihm zusammenführen konnte.

 

Rang sie aber mit der Noth ihres Herzens, so war es ihm, als sei er plötzlich von einer Fessel frei geworden, die ihn wund rieb, die ihn getödtet haben würde, wenn er sie noch länger getragen hätte; es war ihm, als sei von einer Naturgewalt ein Damm durchbrochen worden, der ihn von dem freien wirklichen Leben schied. Ja, eine Macht, die er selbst bis zu dieser Stunde nicht gekannt, der er aber nicht widerstehen konnte, hatte ihn geleitet, daß sein Sprechen, sein Handeln fast willenlos gewesen war.

Nun aber, nun wollte er sich dieser Macht mit sehenden Augen überlassen, wie er ihr bisher blindlings gefolgt war, sie sollte sein Schicksal sein; denn endlich war ihm einmal wieder die Zuversicht gekommen, daß er kein vom Glück Verstoßener, daß anderer Menschen Recht an dasselbe auch das seine sei. Es galt nun noch die volle, die letzte Gewißheit, daß Julie ihn liebe, daß sie nicht aufgehört hatte, sein zu sein, – und diese Gewißheit mußte er erlangen.

Das Fiebern in seinem Blut, in seinem Gehirn hörte nicht auf während all der Stunden des Abends, der Nacht, des folgenden Morgens bis zu der Zeit, wo er wagen zu dürfen glaubte, aufs Neue vor sie zu treten.

Als er die Heller'sche Wohnung erreicht hatte, wurde ihm gesagt, Julie fühle sich krank, sie habe verboten, irgend Jemand zu ihr zu lassen. Das Verbot galt auch ihm, er mußte sich das sagen; doch knirschte er fast bei dem Gedanken, daß er sie an diesem Tage nicht sehen sollte. Wenn aber also heute nicht, dann dafür, nun dann – morgen.

Julie hatte nicht zu einer bloßen Täuschung gegriffen, als sie Leos Besuch von sich abwehrte, sie fühlte sich wirklich elend; nur wußte sie sehr wohl, daß kein Arzt ihre Krankheit zu heilen hatte, daß ihr Körper nur durch die Erschütterung ihres Gemüths schwach geworden war. Die Stille jedoch um sie her, das Alleinsein beengte sie; sie hatte ein Gefühl, als sollte sie sich flüchten, nicht vor Leo etwa, vor dem konnte sie sich einfach verborgen halten, sondern vor sich selbst, und vor dieser Empfindung verschwand bald die des körperlichen Unwohlseins gänzlich. –

Am Abend theilte ihr der Diener mit, daß Leo hier gewesen, aber nach dem Gebot, das sie ertheilt, gleich den übrigen Besuchern zurückgewiesen worden sei. Sie vermied es, irgend eine weitere Frage nach ihm zu thun; doch konnte sie aus den wenigen Worten, die der Meldung noch hinzugefügt wurden, den Schluß ziehen, daß er in großer Aufregung fortgegangen war. Ihre Hand preßte sich aufs Herz; aber, – es blieb nur ein Tag noch zu bestehen; denn morgen schon, – so hatte ihr der Buchhalter melden lassen, der eine telegraphische Nachricht von seinem Herrn empfangen hatte, – stand die Rückkehr Hellers zu erwarten, und an ihn, an ihren Gatten dachte sie jetzt als an ihre Schutzwehr.

In der Nacht hatte sie es sich ausgedacht, wie sie sich ferner vor Leo sicher stellen wollte. Es war Alles klar in ihrem Kopfe geordnet, und so vermochte sie sich, als der Morgen kam, an ihren Schreibtisch zu setzen und es ihm zu sagen, daß sie ihm den Ausbruch seiner verirrten Empfindung verzeihe, ihn aber beschwöre, von diesem Tage an so viel Achtung vor ihr und ihrer Ruhe zu haben, daß er auf jeden Versuch, sie wiederzusehen, verzichte. Ein Lebewohl sei das Letzte, was sie ihm auf dieser Welt noch zu sagen habe.

Als sie geendigt hatte und ihr Schreiben gesiegelt war, rief ihre Klingel den Diener herbei, dem sie dasselbe mit dem Auftrage der sofortigen Bestellung übergab. Der junge Mensch hatte das Billet halb mechanisch aus den Händen seiner Herrin genommen, und in nämlicher Weise richteten sich jetzt seine Augen auf die Adresse.

»An den Herrn Assessor Wöllnitz?« rief er mit einem Male lebhaft, »aber das wird doch nicht möglich sein!«

»Wie?« fragte Julie verwundert.

»Ja, wissen denn Frau Heller noch nicht von dem Unglück, das dem Herrn, welcher so oft und gerade noch gestern hier im Hause war, zugestoßen ist?«

Juliens weit geöffnete Augen starrten den Sprecher an.

»Ein Unglück?« war Alles, was sie hervorzubringen vermochte.

»Nun ja,« fuhr der Diener redefertig fort, »ein Unglück muß man es doch wohl nennen, wenn ein Mensch durch einen Sturz so mit einem Male sein Leben verliert!«

Es war Julien, als stände die Welt plötzlich still, und als würde es in ihrem Innern eben so plötzlich kalt, ganz kalt. Sie wußte auch gar nicht, daß sie noch eine Frage that; dennoch hatte der Diener das Wort »todt« deutlich von ihren Lippen gehört, und da er dasselbe für eine Aufforderung nehmen durfte, ausführlicher zu berichten, so knüpfte er sofort die weitere Erzählung an seine Mittheilung, er selbst habe gestern noch den Herrn Wöllnitz, der als ein wilder Reiter bekannt sei, bald nachdem er hier vergebens nach Frau Heller gefragt, wie toll vorüberjagen sehen und sich auf der Stelle gedacht, er trüge seinen Hals Gottlob sicherer auf den Schultern als der Herr Assessor. – Vor einer Stunde nun sei ein Camerad bei ihm gewesen, und dieser habe ihm erzählt, daß der Reiter wirklich zu Schaden gekommen sei, daß ihn das Pferd beim Niederstürzen von seinem Rücken geschleudert, und wie er es selbst mitangesehen habe, daß er ohne Leben in ein am Wege stehendes Haus getragen worden sei Der Berichterstatter gab seiner Mittheilung dann noch den Schluß, daß die Sache sich gerade so zugetragen habe wie bei dem Herrn, in dessen Dienst er einmal gestanden, und der in der nämlichen Weise beim wilden Rennen das Genick gebrochen habe, genau auch ohne nach jenem Fall nur noch einen Augenblick wieder zur Besinnung gekommen zu sein.

Er wartete indessen vergeblich, daß Julie etwas sagen, an seine Schilderung des ersten oder die Erwähnung des zweiten Unglücksfalls irgend eine Entgegnung knüpfen solle, – sie redete kein Wort, und selbst als er noch einmal die Meinung äußerte, daß er unter diesen Umständen den Brief doch wohl nicht forttragen dürfe, sprach sie ihren Bescheid nicht aus; sie schüttelte nur mit dem Kopf, und eben so machte sie nur ein solches Zeichen der Verneinung, als er, nachdem er das Schreiben, ihrer stummen Weisung folgend, auf den Tisch zurückgelegt hatte, sie fragte, ob sie noch weitere Befehle für ihn habe. Ohne jene einzige Bewegung hätte sie als ein Bild von Stein erscheinen können.

 

Als Julie allein war, kehrte erst das Leben in ihre erstarrten Glieder zurück; sie gewann es aber nur, um beide Hände angstvoll gegen die Stirn zu pressen und einen Ruf auszustoßen, der fast wild klang in seinem Entsetzen.

Todt! – Ließ sich denn in ein einziges Wort pressen, was sie zum Taumeln brachte? – Und – ja, sie taumelte; sie wußte noch nicht, wo sie die Stützen suchen sollte, die sie halten konnten; sie fühlte nur, daß sie auch körperlich wankte, und sie griff nach einer Lehne, um sich vor dem Sinken zu bewahren. –

Da, in diesem Augenblick drang von außen ein Ton, ein Laut zu ihr, bei dem die Knie unter ihr dennoch brachen, nicht aber weil der Jammer, sondern weil das Glück sie überwältigte; die Stimme eines Todtgeglaubten hatte sie gehört, – es war Leo, der draußen war und nach ihr fragte.

Sie dachte nicht mehr an das, was sie sich vorgenommen, was sie ihm geschrieben hatte: daß sie ihn nie mehr wiedersehen wollte. »Er ist nicht todt!« war Alles, was sie denken konnte.

Sie raffte sich auf, sie eilte nach der Thür; dieselbe ging auf, – der Diener hatte sie in der Ueberraschung, ohne vorher anzufragen, geöffnet, – und nun trat Leo ein, und nun stand er vor ihr.

»Leo, Du lebst!« drang es wie ein Jubelruf von ihren Lippen, und dann sank sie aufs Neue halbohnmächtig zusammen.

Er legte seine Arme um sie; er fing sie auf.

»Es war nichts,« sagte er hastig; denn er wußte, wovon sie sprach. – »Eine kurze Betäubung, die dem Sturze folgte; – aber wenn es gewesen, wenn ich gestorben wäre, Julie?«

»Fragen Sie nicht!« sagte sie, und es war sichtbar, daß ein Schauder durch ihre Glieder bebte. Mit einem Male aber richtete sie sich kräftiger auf und rief entschlossen: »Oder ja, frage nur, und ich will es Dir sagen, Leo, daß Dein Tod mein Sterben gewesen wäre.«

Der Jubelruf, welcher vorhin von ihren Lippen gekommen war, drang nun über die seinen.

»Mein, also mein!« rief er aus; »endlich hast Du es gestanden.«

»Ja, Dein!« sagte sie, nachdem sie es einen Moment lang geduldet, daß er sie heftig an sich preßte, nachdem sie es gefühlt hatte, wie seine heißen Lippen ihr Haar, ihre Stirne küßten; und in dem Ton, dem Leben ihrer Stimme schon lag es, daß der Gluthhauch der Leidenschaft auch sie berührt hatte. »Du selbst, Leo, hast es mich gelehrt, daß ich Dein bin!«

»Und sage es nun auch, sprich es aus, daß Du mir ganz und für immer angehören willst,« drängte er freudig und stürmisch zugleich.

Sie strich sich die Haare zurück, die ihr in die Stirn gefallen waren.

»Ganz und für immer, – es muß so sein. Heller wird mich freigeben; ich werde ihm Alles sagen, – ihn bitten; er wird nicht widerstehen. Wie könnten wir Beide, wie noch getrennt werden, Leo?«

»Nimmer und nimmermehr!« rief er aus. »Gott müßte die Gewalt erst schaffen, die sich zwischen uns stellen dürfte.«

Einen Augenblick zuckte sie fieberisch zusammen.

»Gott! – nenne seinen Namen nicht, in diesem Augenblick nicht; – es ist mir, als könne ich jetzt sein Angesicht nicht klar erkennen. Aber ich sehe Dich vor mir,« fuhr sie rascher und leidenschaftlicher fort, »und Dir bin ich hingegeben und will Alles glauben, was Du sagst, auch daß ich thöricht war, als ich mein Herz zu ersticken suchte, bis ich selbst seinen Schlag nicht mehr hörte. Jetzt, – jetzt schlägt es wieder, aber so laut –,« sie stockte einen Moment lang, um dann jedoch, während sie die Hände gegen die Brust drückte, fast angstvoll hinzuzusetzen: »Leo, ich kann es noch nicht fassen, daß dies furchtbare Klopfen, das mich kaum athmen läßt, unser Glück bedeutet.«

Ein siegesfroher Glanz ging in seinen Zügen auf.

»Weißt Du nicht, daß ein Schwindel das Glück begleiten muß? Aber nur im ersten Augenblick läßt es uns taumeln; später lernen wir es verstehen als etwas Nothwendiges, das uns kommen mußte!«

»Du hast Recht,« sagte sie, »es wird Alles gut werden. Jetzt nur –« sie lehnte sich hintenüber und schloß für einen Moment die Augen.

»Julie, Du bist krank!« rief er nicht ohne Schrecken.

Sie richtete sich rasch wieder auf und schüttelte den Kopf.

»Meine Kraft kehrt schon zurück, und ich brauche sie; denn sie gilt unserm Ziel! Gottlob, daß Heller heute noch heim kommen wird!«

»Ich werde mich ihm stellen, ihm Alles sagen,« rief Leo rasch.

Sie nickte.

»Morgen, – heute habe ich zu handeln; durch mich muß er das Erste erfahren.«

»Er hat Dein Leben nie zu dem seinigen gemacht; es wird ihm nicht schwer werden, sich ganz von Dir zu scheiden,« versetzte Leo; »seine Bücher, seine Zahlen werden ihn trösten!«

»So wird es sein,« entgegnete sie und athmete tief auf.

Sie selbst drängte ihn dann, daß er sie allein ließe.

Ob sie es schon nicht hatte gestehen wollen, daß sie krank sei, hatte sie doch ein Gefühl, als könne es sie tödten, wenn sie nicht die Augen und die Ohren vor ihm schloß, vor ihm, der eine solche Verwandlung über ihr ganzes Sein gebracht hatte. Und außerdem, – was ihr noch von Besonnenheit blieb, hatte sie nöthig, um auszuführen, was jetzt vor ihr lag.

Er selbst widerstand Anfangs ihren Bitten, er wollte nicht von ihr gehen; und erst als er inne ward, daß das Alleinsein mit der Geliebten nicht länger zu erhalten blieb, daß sich fremde Stimmen zwischen seine und ihre Worte mischen, fremde Ohren und Augen jeden Laut, jeden Blick auffangen würden, gab er nach.

Als er sie verließ, sagte er noch einmal, was er gestern gesprochen hatte, da er von ihrer Schwelle ging; diesmal aber murmelte er das Wort nicht mit verhaltenem Grimm und Trotz zwischen den Zähnen, er rief es laut und triumphirend: »Morgen!« –

 

Das Nachdenken, das Ueberlegen ward Julien schwer; dennoch drängte sich ihr die unabweisliche Nothwendigkeit auf, daß sie sich sammeln müsse, um Heller verkündigen zu können, was geschehen war, was ferner zu geschehen hatte. –

Sie kam endlich zu dem Entschluß, ihm das Alles schriftlich zu sagen; sie meinte, es würde ihm und ihr leichter werden, beim Wiedersehen die Verständigung zu finden, wenn er zuvor schon in dieser Form ihre Mittheilung empfangen habe; und so setzte sie sich nieder und schrieb. Nicht hart und herbe trat sie ihrem Manne gegenüber, aber auch nicht demüthig und zerknirscht; sie wälzte keine Schuld von sich ab; sie bekannte sich zu keiner, wenigstens zu keiner andern, als daß sie so lange die Erkenntniß niedergehalten und verleugnet habe, wem sie zu eigen gehöre für alle Zeit.

Sie schrieb dann Alles nieder; sie gestand Alles, was sich auf das einstige wie auf das jetzige Verhältniß zu Leo bezog; sie schilderte nicht ihre Leidenschaft zu ihm, sie sprach von ihr als von etwas, das sich von selbst entwickelt hatte und von selbst verstanden werden mußte. Und dann bat sie ihn einfach, gelassen fast, daß er in die Scheidung von ihr willigen möge.

Als der Brief geschrieben war, trug sie ihn selbst in sein Arbeitszimmer; dort sollte er ihn nach seiner Rückkehr finden. Es lagen noch mehrere Briefe, die während seiner Abwesenheit für ihn eingelaufen waren, auf seinem Tische. –

Der Abend war unterdessen weit vorgerückt; es ward stiller und stiller in der großen Wohnung. Unten im Hause wachte nur noch der Diener, welcher den Herrn bei seiner spät erwarteten Rückkehr empfangen sollte, und oben Julie, die mit unruhigen Schritten in ihrem Zimmer auf und nieder ging. Wie hätte sie in dieser Nacht den Schlaf suchen, wie aber überhaupt an irgend eine Ruhe denken können, so lange das Blut so siedend durch ihre Adern strömte!

Endlich fuhr ein Wagen vor; es war der, welcher Heller von der Eisenbahn zurückbrachte. Der Diener eilte über den Flur und öffnete seinem Herrn die Thür. Sie hörte Alles, – wie Heller die Treppen herauf kam; nur daß sein Schritt eigenthümlich schwer und müde war, fiel ihr nicht auf; wie er ein paar Worte zu dem Diener sprach, die wohl die Weisung waren, daß er sich zurückziehen könne; – nun trat er in sein Zimmer.

Julie stützte beide Hände auf den Tisch und lehnte sich vorn über, als könnte sie dann mit ihren Augen die zwischen ihrem und seinem Zimmer liegenden Wände durchdringen und sehen, wie er ihren Brief von seinem Platze aufnahm, ihn entsiegelte, entfaltete, ihn las. Sie überschlug im Geist die Zahl der Seiten, der Zeilen, die sie ihm geschrieben hatte, und sie verfolgte dieselben noch einmal, um genau die Zeit zu ermessen, deren er bedurfte, um zu Ende zu sein. – Einen Augenblick noch mußte sie ihm gönnen, – so sagte sie sich, – damit er das Gelesene überdenken könne, dann wollte sie selbst zu ihm eintreten; – – und jetzt, meinte sie, konnte sie gehen!

In dem Augenblick, als ihre Hände die Stütze des Tisches fahren ließen, und sich ihre Füße schon zu dem Wege hoben, der in dieser Minute gemacht werden sollte, drang ein dumpfer Laut zu ihr herüber, ein Laut wie das Geräusch eines Falles, der Sturz eines schweren Körpers. Aus dem Zimmer ihres Mannes kam es; sie wußte nicht, was es war; aber es ergriff sie mit einem Schrecken, einer plötzlichen, furchtbaren Angst. Sie stürzte aus der Thür über den Corridor; sie riß die zweite Thür auf, und da, – sie wollte ihren Augen, ihren Sinnen nicht gleich trauen, aber sie hatte es doch vor sich: Heller lag am Boden, leblos wie es jedem Anderen geschienen haben würde, wie sie es aber noch nicht glauben wollte; denn sie eilte zu ihm hin, um ihm zu helfen, ihn aufzurichten. In dem nächsten Augenblick aber waren ihre Wangen bleich vor Entsetzen geworden; ihre Augen stierten auf den Körper, der vor ihr lag, und ihre Glieder waren fast so starr wie die seinigen; – eine schreckliche Secunde hatte ihr die Gewißheit gegeben, daß ihr Mann eine Leiche war.

Einen einzigen Laut hatte sie noch ausstoßen können, einen Schrei; aber so grell er war, er würde doch ungehört in der nächtlichen Stille verhallt sein, wenn nicht gerade Jemand, der sonst nicht zu den Bewohnern des Hauses zählte, seine Schwelle überschritten hätte. Der Buchhalter, der treue Diener seines Herrn, war trotz der späten Stunde noch hierher gekommen, vielleicht getrieben von der Sorge für den Letzteren oder für das Geschäft, um Heller nach seiner Rückkehr noch zu sprechen; und wohl zu gleicher Zeit, als Julie in das Zimmer ihres Mannes trat, hatte er die Thür der Wohnung geöffnet. Als ihr Ruf sein Ohr erreichte, blieb er einen Moment, wie gebannt, stehen; dann aber eilte er dem Schalle nach, so schnell ihn seine Füße tragen wollten.

In der nächsten Minute war die Unglücksstätte erreicht. Sein erster Blick traf auf Julie, die, in sich zusammengesunken, gekauert fast, am Boden kniete, den Kopf ihres Mannes in ihren Händen haltend, die Augen immer noch starr an sein Antlitz geheftet. Sie erhob dieselben auch nicht zu ihm, als er sie anredete, von ihr zuerst erfahren wollte, was mit Herrn Heller geschehen sei, und eben so wenig antwortete sie ihm durch Sprechen, – sie begnügte sich, mit einer einzigen, gleichsam abgerissenen Handbewegung auf den Körper ihres Mannes zu deuten. Freilich aber bedurfte es auch keiner anderen Erklärung für Berger, kaum eines zweiten eigenen Blicks, um ihn Alles wissen zu lassen, um ihm zu sagen, daß hier wohl alle irdische Hilfe zu spät komme, und daß der Tod durch die Pforte dieses Hauses getreten sei. Einen Augenblick fühlte er sich selbst überwältigt. –

Trotzdem richtete er auf der Stelle in's Werk, was gethan werden mußte; er rief die Dienerschaft herbei; er sandte nach dem Arzt; er bemühte sich mit den Mägden um die immer noch betäubt und durch den Schreck wie vernichtet erscheinende Frau. Und dann, nachdem es ihm wenigstens gelungen war, Julie von der Leiche ihres Mannes weg an einen Sessel zu führen, – zum Verlassen des Zimmers s war sie nicht zu bewegen gewesen, – richtete er auch sein Augenmerk auf das, was ihm einen Fingerzeig bieten konnte zur Enträthselung des traurigen Vorgangs.

Auf dem Tische lagen offene Briefe, alle bis auf einen, der aber noch unentsiegelt war, mit den Stempeln von Geschäftsfirmen versehen, und alle augenscheinlich in der Hast von Herrn Heller erbrochen und gelesen. – Die einzige Wahrnehmung mußte für den Buchhalter viel oder gar alles sagend sein; denn mit einer bekümmerten Miene faltete er die Briefe sorgfältig zusammen und nahm sie zu sich.

Wenige Minuten später erschien dann der Arzt. Ein kurzer Bericht, – eine kurze Untersuchung, – wenige, schon in völliger Hoffnungslosigkeit angestellte Belebungsversuche, – und Alles war vorüber; die Thatsache stand fest, daß Herr Anton Heller, der Chef des Hauses Heller & Co., in dieser Stunde zu seinen Vätern gegangen war.

Der Arzt trat nun noch zu Herrn Berger und ließ sich von ihm, – Julie war immer noch nicht aus ihrer Theilnahmlosigkeit herausgetreten, – die näheren Umstände, die muthmaaßliche Veranlassung des so jäh hereingebrochenen Ereignisses berichten; und da der Letztere wußte, daß Doctor Stein ein alter bewährter Freund des Hauses war, so nahm er keinen Anstand, von Briefen zu sprechen, die Herr Heller bei seiner Rückkehr vorgefunden habe, und die ihn vielleicht in allzu starker Weise aufgeregt hätten.

»Leider mußte er alle Nachrichten unvermittelt erfahren,« setzte er hinzu. »Es ist nur ein einziger Brief, – und dieser war kein geschäftlicher, – ungelesen geblieben.«

Ohne daß die beiden Herren es bemerkt hatten, war Julie während ihrer halblauten Unterhaltung von ihrem Sitz aufgestanden und näher gekommen. Als nun Berger den Brief, von dem er eben gesprochen hatte, mit einer unwillkürlichen Bewegung vom Tische aufhob, trat sie ganz an ihn heran und sagte:

»Der Brief gehört mir, ich habe ihn geschrieben.«

Etwas überrascht schauten beide Männer auf, doch galt ihre Verwunderung lediglich der nicht bemerkten Annäherung der jungen Frau so wie der unerwarteten Ansprache überhaupt, während in der Art der letzteren, – Julie hatte eigentlich völlig tonlos gesprochen, – durchaus nichts Auffallendes lag; wie es denn ja auch für nichts Besonderes gelten konnte, daß eine Frau ihrem Manne, dessen Heimkehr sie erst in der Nacht erwartete, noch einige Mittheilungen zu machen wünschte, ehe sie selbst ihn am Morgen wiedersah, und daß sie dieselben darum in die Form eines Briefes gebracht hatte. Und hätte Jemand noch darüber nachdenken wollen, was der Inhalt jenes Schreibens sein mochte, so würde ihm die Weise, mit welcher Julie dasselbe wieder an sich nahm, sofort gesagt haben, daß er gewiß nur ein sehr gleichgiltiger sein konnte; denn als ein gleichgiltiges Blatt hielt sie es in ihrer Hand; sie suchte es weder zu vernichten oder vor anderen Augen zu verbergen, noch auch als einen werthvollen Besitz zu hüten; es war eben ein Stück Papier, das zufällig ihr Eigenthum hieß. –

Aus ihrem Brüten war sie aber durch diesen kleinen Zwischenfall überhaupt nicht eigentlich erweckt worden, sie ließ es nur nach einer Weile geschehen, daß man sie aus dem Zimmer ihres Gatten entfernte und nach ihrem eigenen hinüberführte; die übrigen Bemühungen, denen sich namentlich der Arzt unterzog, sie aus ihrem Zustand heraus- und wenigstens zum Weinen zu bringen, blieben vergeblich.

 

In der Stadt herrschte am nächsten Morgen eine große Aufregung, als die Kunde in sie hinein drang, den Kaufmann Heller habe der Schlag gerührt; und was man sich nebenher zuflüsterte, das erhöhte diese Aufregung noch bedeutend. Sein Geschäft solle in bedenklicher Lage sein, hieß es nämlich verstohlen, und bald erzählte man es sich laut, daß ein heftiger Schreck das Ende des unglücklichen Mannes herbeigeführt habe; und weiter wußte man, daß sich dieser Schreck auf böse Nachrichten bezog, die den Kaufherrn bei seiner Rückkehr erwartet hatten. Die Sache mit den Briefen war nicht ganz verschwiegen geblieben, und wenn sie auch in ihrem Detail nicht sofort zur allgemeinen Kenntniß gelangte, so erfuhr man doch schnell genug so viel, daß das Unheil, welches jene Schreiben enthalten hatten, ein großes war, ein noch größeres, als man hie und da bereits über der Firma Heller & Co. hatte schweben sehen.

Der Hergang des traurigen Ereignisses lag somit klar vor Augen, und wenn er auch noch nicht auf der Stelle vollständig hinausgetragen ward in die Welt, so konnten ihn doch Alle erfahren, welche in Verbindung mit dem Hause standen und nun etwa, von ihrer Theilnahme getrieben, nähere Erkundigungen einsammelten. Wer dann aber zugleich nach Hellers Gattin fragte, der mußte vernehmen, daß der Schmerz das klare Denken der bedauernswerthen Frau noch gelähmt halte; denn sie, die Unschuldige, klage sich als die Ursache des traurigen Ereignisses an, messe sich dasselbe als ihre persönliche Schuld zu.

Auch dem Assessor Wöllnitz, dem Herrn, welcher mit der Frau Heller bekannt und befreundet war, wie die Leute des Hauses wußten, wurde das Geschehene alles von diesen erzählt, als er in die Wohnung kam. Leo hatte sich kaum Zeit zum Denken gelassen; er war hierher gestürzt, als er die Kunde des Unglücks erhielt; denn er mußte ja jetzt Julie sehen, neben ihr sein; – und nun hörte er, erbleichend, was ihm gesagt ward! dennoch ließ er sich, wenn auch stumm, den ganzen Bericht geben.

»Ich werde zu Frau Heller gehn; wo ist sie?« rief er endlich aus.

Die Leute sahen sich unschlüssig an.

»Der Herr Doctor meinte, es sei besser, wenn sie Niemand sähe, sie würde dann um so viel sicherer wieder ruhig werden,« entgegnete der Diener zögernd.

»Ich verantworte es, – laßt mich zu ihr,« erklärte aber Leo entschieden und bahnte sich dann selbst den Weg, als er erfahren hatte, Julie befinde sich in ihrem eigenen Zimmer, in welchem sie auch die Nacht zugebracht habe, da man sie nicht dazu vermocht hatte, ihr Lager zu suchen.

Als Leo die Thür öffnete, fand er sie mit dem ersten Blick. Dort, auf dem niedrigen Stuhl in der Epheulaube saß sie, – aber wie anders, als er sie damals an dieser Stelle zuerst wiedergesehen hatte! Mit zusammengebrochener Gestalt sah er sie vor sich, das Gesicht todtenbleich, das Haar halb aufgelöst, die Hände über dem Knie ineinandergerungen, aus den glanzlosen Augen in das Leere blickend.

»Julie!« rief er sie an. In dem Ton der Angst und der Liebe kam ihr Name über seine Lippen.

Sie wandte den Kopf jedoch nicht nach ihm hin. »Es ist so,« sagte sie, »durch mich ist er gestorben, – für meine Sünde!«

»Sprich nicht von Sünde!« bat er, so sanft er sprechen konnte. »Sieh auf mich; höre, was ich Dir sage, Julie.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht wieder, nie wieder! Es war nicht gut, was Du mir sagtest, Leo; ich klage Dich nicht an; aber es hat mich elend gemacht.«

»Julie, Du selbst machst Dich elend, Du machst auch mich elend, wenn Du von Schuld träumst, da Gott einmal dies Unglück gesandt hat.«

Sie zuckte zusammen und sprach dann hastig: »Sprich den Namen nicht aus, – Du darfst es nicht; denn Du glaubst nicht an ihn. Und mich straft er, weil ich mich von ihm gewandt habe,« setzte sie, leise jammernd, hinzu, indem sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte.

Es war eine Empfindung von Ungeduld, die ihm einen Seufzer auspreßte; dennoch sagte er sich, daß er gelassen bleiben, daß er sie überzeugen müsse, wie ihre ganze Vorstellung von einer Schuld nur auf ihrem Wahn beruhe.

»Nicht wahr,« begann er, »es ist so, wie mir die Leute erzählten: Du sprachst nicht mit Heller, Du sahst ihn nicht, bevor er so plötzlich niedersank.«

»Nein,« sagte sie, »es stand Alles in dem Briefe.«

Und dabei bewegte sie um ein Geringes ihre krampfhaft verschlungenen Hände, daß er sehen konnte, ihre Finger hielten das unseelige Schreiben noch umschlossen.

»In dem Briefe!« wiederholte er ihre Worte. »Und doch nennst Du Dich schuldig an seinem Tode? Sage es Dir doch, Geliebte, daß er jenen Brief gar nicht gelesen hat; sag' es Dir, was Du gleich gesehen haben mußt, wie ich es in diesem Augenblick sehe, daß sein Siegel gar nicht geöffnet ist. Du hältst ihn ja wieder in Deinen Händen, und wie es der Todte nicht erfahren hat, so wird Niemand es je wissen, was in ihm stand.«

»Niemand? ich weiß es, und Der, den ich vergessen hatte, weiß es. Er kannte die Sünde, und darum mußte Heller sterben.«

»Aber so denke doch daran,« fuhr es fast heftig aus ihm heraus, »daß es noch nicht gethan war, was Du Sünde nennst, wie dürfte Dich eine Strafe treffen!«

Das Zucken, welches über ihr Gesicht glitt, glich fast einem Lächeln, nur einem unsäglich traurigen.

»Ich sagte es Dir schon, Du kennst Gott nicht, und Du siehst auch seine Hand nicht; ich aber weiß, wofür sie uns schlug. Es ist so, – durch mich ist Heller gestorben, für meine Sünde!«

Das waren wieder die Worte, die sie zuerst gesprochen hatte; sie blieben der Schluß all ihres Denkens und Empfindens, und was er auch that, was er versuchte: aus dem einen Kreise war dasselbe nicht herauszubringen Alle seine Worte, daß ihre Vorstellung krankhaft sei, verhallten, und wie sich ihre versunkene Haltung nicht änderte, wie sie die Augen kein einziges Mal voll auf ihn richtete, sondern immerfort trübe vor sich hin starrte, so verharrte sie auch bei ihrer trostlosen Behauptung.

Er schlug nun einen andern Ton an; er sprach von seiner Liebe, in die sie sich flüchten solle aus aller Noth und Angst heraus, und in der sie ein neues, schöneres Leben finden würde gleich wie er in der ihren. Er begann wieder warm und leidenschaftlich zu werden, und einen Augenblick lang vermochte er sich zu täuschen und zu glauben, daß die Erregung, welche er über sie kommen sah, der Wiederkehr jenes Gefühls galt, das gestern so mächtig in ihr aufgeflammt war.

Nur aber einen Augenblick; – dann wußte er, daß sie nicht von ihrem Sitze aufgesprungen war, um sich an seine Brust, in die Arme zu stürzen, die er ihr entgegen gebreitet hatte, sondern daß sie vor ihm zurückwich, scheu und wild, bis in die entfernteste Ecke des Zimmers, um von dort aus eben so scheu und wild die Augen auf ihn zu richten, während sie die Hände bewegte, als sollten dieselben etwas Böses, Schreckliches von ihr abwehren.

»Wieder der Versucher!« rief sie aus. »Du darfst nicht an mich herankommen, Leo! Wenn Du noch Barmherzigkeit kennst, so geh', – oder Gott wird barmherzig sein und mich tödten gleich hier auf der Stelle!«

»Denke daran, was wir uns sagten und gelobten,« wagte er noch einmal zu mahnen: »daß wir eins sein wollten.«

»Nein, nein!« schrie sie auf, »wir waren verrucht, und darum sind wir nun geschieden. Geh weg, Leo, geh weg!«

Seine Hände rangen sich um einander in Verzweiflung.

»Julie, ich kann, ich werde Dich so nicht verlassen!«

Ein furchtbarer Krampf ergriff und schüttelte ihren Körper.

»Dann sind wir verflucht, – wir Beide, auf immer und ewig!« stöhnte sie.

Er war rathlos; er sah ihren Jammer und durfte ihr nicht beispringen; denn sobald er sich ihr näherte, wurden ihre Blicke entsetzter, wanden sich ihre Glieder convulsivisch; es blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich nach Hilfe für sie umzuschauen.

In dem Augenblick aber, als er sich der Thür zuwenden wollte, ward dieselbe von außen geöffnet, und der Arzt, welchen die Sorge um die Leidende wieder hergeführt hatte, erschien auf der Schwelle. Fast wankend trat ihm Leo entgegen.

»Ich fürchte, Frau Heller ist sehr krank,« brachte er mühsam hervor.

Ein Blick auf die Gestalt der Unglücklichen, deren Züge genügte, um den Arzt die volle Wahrheit des Ausspruches erkennen zu lassen.

»Ja, sehr krank!« sagte er ernst. »Es war wider meinen Willen, daß sie in irgend einer Weise erregt worden ist. Soll sie genesen, muß sie von dieser Stunde an vollständige Ruhe haben; vor Allem aber muß ich verlangen, daß sich Jeder von ihr fern hält, den sie nicht mit gänzlicher Gleichgiltigkeit kommen und gehen sehen kann.« – Und noch eindringlicher fügte er hinzu, aber so, daß nur Leo's Ohr die Worte auffangen konnte: »Hier stehen Leben und Verstand auf dem Spiele.«

Das war der Ausspruch, unter welchem Leo die Geliebte verlassen mußte. Von ihrer Schwelle hatte er zu weichen, sich vor ihren Blicken zu verbergen, wenn sie leben, wenn Wahnsinn sie nicht ergreifen sollte! Und doch war sie das Weib, mit dem er sich gestern erst durch den Schwur verbunden hatte, daß Eins nicht leben könne und wolle ohne das Andere, daß Gott zuvor noch die Gewalt erschaffen müsse, die sich zwischen sie stellen dürfe!

Als er von ihrer Thür ging, war ihm, als habe der dunkle Fittich des Wahnsinns seine eigene Stirn gestreift.


Die Tage bis zur Bestattung des so plötzlich gestorbenen Kaufherrn gingen ohne besonders aufregenden Zwischenfall vorüber. Julie war ruhiger geworden, seitdem man sie sorgfältig von jeder Berührung mit der Außenwelt abschnitt. Sie hatte freilich immer noch etwas Trauriges und Brütendes in ihrem Wesen; aber sie sprach nicht länger von ihrer Angst und den Vorstellungen, die sie quälten, und noch weniger war es je wieder zu einem Ausbruch ihrer heftigen Empfindung gekommen; und wie der Arzt daher selbst Hoffnung für ihre Genesung schöpfte, so theilte er dieselbe auch ihrer Umgebung mit, immer aber unter der Einschärfung, ihr Alles aus dem Wege zu halten, was sie beunruhigen könne, und sie hauptsächlich dieses Grundes wegen nie allein zu lassen.

Während daher in den unteren Räumen die Vorbereitungen zu der Beisetzung ihres Gatten getroffen wurden, wachte in ihren eigenen Zimmern eine der Familie anhängliche Wärterin darüber, daß kein Bericht, keine Schilderung der getroffenen Anstalten, nicht einmal ein Laut von dem Geräusch der dabei nothwendigen Arbeiten bis zu ihrem Ohr drang; und wie es sichtbar war, daß ihr Körper in dem schlummernden Zustande, dem sie meistens hingegeben blieb, Kräfte sammelte, so durfte es einem auch scheinen, als wähle die Natur das Mittel der Apathie, um eben so ihren Geist seine Stärke wiederfinden zu lassen.

In dem Geschäft, welches der Verstorbene zurückgelassen hatte, ward in diesen selben Tagen mit rastlosem Fleiß gearbeitet; denn es waren treue und gewissenhafte Männer gewesen, die der Chef des Hauses seit Jahren zu seiner Hilfe neben sich gehabt hatte, und sie thaten Alles, um die Ehre und den Credit der Firma auch jetzt, da dieselbe in andere Hände übergehen mußte, sicher zu stellen. Nicht lange, so wußte man es, daß die Verluste, welche Herr Heller erlitten, zwar sehr bedeutend gewesen waren, so bedeutend, daß ein minder solides Geschäft sicher an ihnen zu Grunde gegangen sein würde, daß aber von völligen Ruin keine Rede sein konnte, wenn nur Einsicht und Geschick ferner das Ganze lenkten; und klar genug war es damit auch: nicht das wirkliche, nur das scheinbare Unglück hatte den Tod des Kaufherrn herbeigeführt.

Wären jene schlimmen Botschaften nicht so ohne Vermittlung an ihn herangekommen, hätten Nachdenken und Ueberlegen den crassen Eindruck gemildert, – der Schreck würde keine so furchtbare Macht über ihn gewonnen haben.

Wenn aber irgend etwas, so war diese Erwägung geeignet, den Antheil, welchen man an dem Ende des trotz seines einseitigen Berufsinteresses allgemein geachteten Mannes nahm, noch zu erhöhen, und Jedem, der nur in Beziehung zu ihm stand, – wer aber in der Stadt hätte nicht irgend eine solche zu der Firma Heller & Co. gehabt! – den Wunsch einzugehen, ihm den letzten Zoll der Ehre zu bringen. Die junge Frau, welche er hinterließ, war tiefgebeugt und krank; nähere Angehörige zählte er wenige, und diese wenigen lebten in fernen Landen; so war es Sache der Freunde und Bekannten, für ein feierliches Begräbniß zu sorgen.

Bei einzelnen angesehenen Häusern der Stadt, den sogenannten Patricierfamilien, war noch die Sitte beibehalten worden, daß man die Leiche zu abendlicher oder nächtlicher Zeit, wo dann das ganze aufgewandte Gepränge noch bedeutender und zugleich ergreifender unter der Beleuchtung der Fackeln hervortrat, zu Grabe trug. Man erinnerte sich, daß auch noch der Vater des Herrn Heller in dieser Weise bestattet worden war, und ihm, dem Letzten des alten Hauses, sollte nun eine gleiche Ehre nicht fehlen; – und so war denn Alles vorbereitet worden, um die düstre Feier zu vollziehen.

Die Pforten der Hellerschen Wohnung standen weit offen zu einer Stunde, wo sich sonst alle Häuser zu schließen pflegen, weil ihre Bewohner zur Ruhe gingen, während der Besitzer dieses Hauses den Weg frei haben mußte, um zu seiner Ruhe zu gelangen. Inmitten des weiten, schwarzausgeschlagenen Hausflurs war der Sarg aufgebahrt, an dessen Seite hohe Candelaber brannten, und der von den Freunden und der weinenden Dienerschaft umstanden war, während draußen schon der Leichenwagen harrte, um den sich die Fackeln sammelten, deren rothglühender Schein weit hinausstrahlte in die Nacht und auf das lange, fast unübersehbare Gefolge, das bereit stand, um sich der Leiche anzuschließen.

Der Geistliche hatte sein Gebet vollendet; es war der Augenblick gekommen, wo die in lange Trauermäntel gehüllten Träger herzu traten, um den Sarg aufzuheben; der Weg des Todten sollte beginnen.

Droben in den Zimmern, welche die Frau bewohnte, die seinen Namen trug, blieb Alles still; Julie war auf ihrem Ruhelager in Schlaf gesunken. Man mochte es als ein Glück ansehen, daß sie gerade diese Stunde in Bewußtlosigkeit hinbrachte; und jedenfalls betrachtete es die gute Frau, die neben ihr wachte, in ihrem schlichten Sinne als ein solches; denn sie beugte sich über die Liegende und flüsterte:

»Arme Seele! Aber Gottlob, sie ahnt es nicht, daß die Leute draußen ihren Mann begraben. Ich weiß, wie es thut, wenn sie einem das Liebste, was man hat, so abholen!«

Und dann dachte sie an ihren eigenen seeligen Mann, der vor einem Jahre, – nicht viel länger war es, – gestorben war, und wieder an den Todten, der ihm und ihr vielfach Gutes gethan hatte, und dem sie dafür noch ein einziges Mal hätte danken mögen. – Sie trugen ihn jetzt fort, die Andern im Hause folgten wohl fast alle, – hätte sie ihm doch auch noch diese letzte Ehre anthun dürfen! – – Und dann die Fackeln, der mit Flor behangene Leichenwagen, – er diente nur zu ganz vornehmen Beerdigungen, – der mit silbernen Beschlägen verzierte Sarg, dazu die vielen Leidtragenden, – – sie hätte alles Das so gern gesehen, nur mit einem einzigen Blick.

Und ging es denn nicht? konnte sie nicht leise hinausgehen, für einige Minuten nur? Die Kranke, welche unter ihrer Hut stand, schlief ja, – sie hatte das offenbar vor Augen, – tief und ruhig; sie durfte ganz sicher sein, daß sie noch eben so schlafen würde, wenn sie schon längst wieder an ihrer Seite saß. Außerdem, – sie hatte nur ein paar Schritte weit zu gehen, um in ein Zimmer zu gelangen, das die ganze Länge der Straße, durch die der Zug sich bewegen mußte, übersehen ließ; sie brauchte gar keine Sorge und kein Bedenken zu haben. – Ihre Schuhe zog sie aus, um leiser auftreten zu können, und dann schlich sie sich an den Posten, von dem aus sie die ganze traurige Herrlichkeit bewundern durfte.

Eine Weile bereits war ihre Wärterin fort, als Julie plötzlich auf ihrem Lager in die Höhe fuhr. Es mußte ein böser Traum gewesen sein, der ihren Schlaf gestört und sie erschreckt hatte; denn die alte Angst malte sich wieder in ihren Zügen, und ihre Augen blickten unruhig umher, als könne sie sich in ihre Umgebung nicht finden. Vielleicht aber war ihr auch gerade in dieser Minute nur das Alleinsein schrecklich, und sie wollte sehen, ob Niemand bei ihr sei; hatte sich doch Jemand während dieser Tage immer in ihrer Nähe befunden. –

Sie preßte die Hände gegen die Stirn; es war Niemand da, der ihr half, Niemand, der ihr nur die volle Besinnung wiedergab und es ihr sagte, weshalb es um sie her so dunkel und so unheimlich war, und was das seltsame Geräusch bedeutete, das von unten von der Straße her zu ihr heraufdrang, jenes dumpfe, verworrene Gemurmel. – Sie hielt es nicht länger aus, sie konnte hier nicht bleiben.

Hastig sprang sie von ihrem Lager auf und eilte zu der Thür, welche in das Nebenzimmer führte; aber nicht so leise und vorsichtig, wie es die Wärterin gethan hatte, suchte sie sich ihren Weg, sondern heftig und rasch stieß sie jene Thür auf, daß dieselbe sich laut in ihren Angeln bewegte, und das Knarren bis in das nicht weit entfernte Gemach drang, welches sich die nichts Böses ahnende Wärterin für ihr Zuschauen gewählt hatte. Der einzige Ton erweckte in der Letzteren die volle Erinnerung an die Kranke und an die eigene Unvorsichtigkeit. Ohne sich zu besinnen, stürzte sie zurück; die offenstehende Thür zeigte ihr sofort, wo sie die ihrer Obhut Anvertraute zu suchen habe.

»Um Gotteswillen, Frau Heller, was machen Sie?« schrie sie, als sie Julie an der auf den Balkon hinausführenden Glasthür, die dem Zimmer zugleich als Fenster diente, erblickte.

Die Antwort, welche sie erhielt, war nichts als ein markerschüttender Schrei. Mit einem einzigen Blick hatte Julie gesehen, was unten vorging, in einer einzigen Secunde die ganze Bedeutung des Erschauten begriffen. Mit Blitzesschnelle war der Griff der Thür von ihrer Hand erfaßt und umgedreht; sie stürzte hinaus auf den Balkon, der ihre Blumen trug, und der nur von einer niedrigen, gegitterten Einfassung umgeben war.

Verzweiflungsvoll, eilte die Wärterin der Fliehenden nach; sie rief ihr zu; sie suchte dieselbe an ihren Gewändern zu halten, – es war vergebens. Einen Moment noch sah sie die weiße Gestalt gespenstisch am Rande des Balkons, als Julie sich mit hocherhobenen Armen über die Brüstung beugte, von dem Licht der Fackeln, der letzten in dem schon weiter gerückten Zuge, beleuchtet, und an ihre Ohren drang der Ruf: »Ich will Dich ja nicht verlassen, Anton, ich will mit Dir!« dann war Alles vorbei.

Ein dumpfer Ton zeigte die Stelle an, wo der Körper unten niedergeschlagen war.


Von den Begleitern des Sarges hatte keiner mehr wahrgenommen, was im Rücken desselben vorgegangen war; die Trauerfeierlichkeit brauchte nicht unterbrochen, die Bestattung nicht aufgehalten zu werden. Die Wehklage aber, welche in dem Hause des Todten zurückblieb, galt kaum noch ihm selbst; sie galt der unglücklichen jungen Frau, die man vom Boden aufgehoben und in ihrem Zimmer gebettet hatte.

Sie war nicht todt – noch nicht; aber der Arzt hatte gesagt, daß sie sterben müsse und vielleicht in wenigen Stunden schon; denn ihr Rückgrat sei gebrochen; sonst zeigten sich äußerlich keine Verletzungen. Schmerzen hatte sie kaum; aber sie konnte sich nicht bewegen. Dafür war das Bewußtsein wiedergekehrt, jedoch nicht mehr das, was sie kürzlich gezeigt hatte, das qual- und angsterfüllte: es schien ihr ein Theil ihrer früheren sanften Ruhe wiedergegeben zu sein; denn wenn sie auch wenig sprach, so blickte ihr Auge doch gelassen und klar um sich. Daß ihr der Tod bevorstand, wußte sie.

Von den Begleitern des Begräbnisses waren nur die, welche zum Hause gehörten, in dasselbe zurückgekehrt, das übrige Gefolge hatte sich sofort wieder zerstreut; und so schien es fast, als solle Julie in ihren letzten Stunden nur von Leuten umgeben sein, die ihr zwar anhänglich und ergeben waren, mit denen sie aber kein anderes Band verknüpfte als das der Dienenden zu ihrer Herrin, als sollte kein Freundesauge ihrem brechenden Blick begegnen.

Und wieder war es, als ob selbst diese einfachen Menschen das Trostlose, was hierin lag, wohl verstanden; denn als ein glücklicher Zufall es fügte, daß noch in dieser nächtlichen Stunde, – es war allerdings kurz vorher ein später Zug angelangt, – eine Fremde in's Haus trat, die ihrem unvermutheten Erscheinen die Erklärung gab, daß sie eine Freundin der Frau Heller sei und von ihr erwartet werde, da wurde dieselbe mit einer Freude aufgenommen, als wenn die glücklichsten Umstände diesen Besuch begleiteten.

Allerdings – früh genug ging jene Freude wieder in jammernder Wehklage unter.

Mußte ja doch der Dame mitgetheilt werden, was sich in diesem Hause ereignet, an welchem Entsetzen man zu tragen hatte, und Katharina bedurfte der Stütze ihrer eignen starken Natur, um der Erschütterung, welche bei der Erzählung auch über sie hereinbrach, Stand zu halten. – Dazu also war sie gekommen! Zu einem Beistand im Sterben hatte Julie selbst sie ahnungslos berufen, als sie die Bitte aussprach, daß sie ihr einen Halt gewähren möge im Leben!

Es dauerte eine Weile, ehe sie sich zu fassen und in Juliens Zimmer die Frage hineinzusenden vermochte, ob ihr der Eintritt gestattet sei. Die Wärterin aber, welche dann diese Botschaft zu der Sterbenden trug, durfte sehen, wie das bleiche Antlitz derselben sich verklärte, als der Name der Freundin vor ihren Ohren genannt wurde, und als sie darauf die Letztere hineingeführt hatte, hörte sie noch die beinahe entzückt klingenden Worte:

»Katharina, ich weiß es jetzt; Gott hat mir Alles vergeben, weil er Dich noch zu mir sendet.«

Katharina übernahm nun den Dienst der Wärterin bei der Kranken; Julie hatte dies selbst so gewollt. Es wurde sonst kein Mensch in das Zimmer gelassen, außer dem Arzt, welcher noch einmal mitten in der Nacht kam, um nach ihr zu sehen, der aber auch nichts dagegen einzuwenden hatte, daß die beiden Freundinnen in stetem Gespräch beisammen blieben; es gab ja nichts mehr, was der Armen noch schaden konnte.

Vieles, Vieles erzählte Julie in dieser Nacht der Freundin, viel beichtete sie ihr; aber sie ward dabei immer ruhiger, und Katharina, wenn auch unter dem, was sie erfuhr, die Farbe auf ihren Wangen oft in raschem Wechsel kam und ging, – sie fand immer wieder das erste Wort, welches Die, deren Augenblicke gezählt waren, trösten und ermuthigen konnte.

Als der Morgen kam, ließ sie Leo rufen. »Ich möchte ihn noch einmal sehen!« hatte Julie gesagt, – dies Wort sandte sie ihm.

 

Leo empfing die Botschaft, – sie ward ihm kurz und unvermittelt überbracht, da der Diener sie in der allgemein herrschenden Bestürzung und Verwirrung einem Dritten, nicht zum Hause Gehörenden, aufgetragen hatte, – als er gerade durch ein dumpfes Gerücht, das ihm seine Hauswirthin zugetragen, tödtlich erschreckt worden war. »Man sage in der Stadt,« so hatte sie ihm erzählt, »die Frau Heller sei in der Nacht plötzlich heftiger erkrankt, ja man nenne sie sogar schon gestorben;« – und obgleich er das, was er hörte, nicht glauben konnte und wollte, so vermochte er doch einer furchtbaren Unruhe nicht zu wehren; denn blieb nicht eine Möglichkeit, daß die Worte der Frau wahr werden könnten, wenn der unnatürliche Zustand, von dem er Julien befangen wußte, noch länger anhielt? Und nun kam die Meldung, daß sie ihn sehen wollte. Bedeutete das nicht mehr, als daß sie lebte, bedeutete es nicht ihre Genesung? Sie rief ihn, – sie war ihm wiedergegeben.

Sein ganzer leidenschaftlicher Ungestüm lag in der Hast, mit welcher er zu ihr eilte; – siegesfreudig fast und zuversichtlich betrat er das Haus des Jammers und des Todes.

Ein Diener kam ihm entgegen, um seinen Mantel, seinen Hut in Empfang zu nehmen. Derselbe hatte etwas seltsam Feierliches, und seine ernste Miene gab ihm plötzlich die Erinnerung zurück, daß der junge Mensch seinen Herrn betraure. Er hatte ein Gefühl, als ob ein theilnehmendes Wort von ihm erwartet würde.

»Wie schnell solch ein Ereigniß kommen kann,« sagte er.

»Ja, Herr Assessor, Sie sprechen wahr,« entgegnete der Diener, indem er die Thür des Zimmers öffnete, in welches Leo eintreten sollte. »Wer hätte das gestern noch gedacht!«

Gestern? – ein Gedanke, eine Angst flog durch Leos Sinn; er sah sich nach dem Manne um, der das Wort gesprochen hatte, er sollte es ihm erklären; aber derselbe war nicht mit über die Schwelle getreten, sondern hatte sich bereits zurückgezogen; Leo befand sich in dem Zimmer allein.

Rasch suchte er sich indessen wieder zu beruhigen. Es fiel ihm ein, daß die Gedanken des Dieners bei der Beerdigung gewesen waren, und daß er sich auf die Stille und Leere des Hauses, die seitdem eingetreten war, bezogen haben müsse. –

Bei alledem schweiften seine Blicke unruhig umher und hafteten dann auf der Thür, die ihn noch von dem andern Gemach, Juliens eigentlichem Boudoir, trennte. Durch diese Thür war er oft zu ihr eingetreten. Würde nun gleich Jemand herauskommen, der ihn zu ihr rief, so fragte er sich, oder würde sie selbst auf der Schwelle erscheinen?

Wenige Minuten nur, und er hörte leichte, aber feste Schritte, die sich jener Thür näherten, – – war das Juliens Gang? – Er hielt den Kopf nach vorn vorgeneigt, seine Pulse schlugen, – so blickte er der Kommenden entgegen.

Und jetzt, – jetzt war der Augenblick da; jetzt stand sie in dem Rahmen der Thür vor ihm, aber – es war nicht Julie, die er sah.

»Katharina!« schrie er auf und taumelte zurück.

Sie war hereingetreten; auf ihren Wangen lag die Blässe, welche die seinigen in dieser Secunde bedeckte.

»Ja, ich bin es,« sagte sie; »das Schicksal wollte es, daß wir uns an dieser Stelle wiedersehen sollten.«

Ihre Stimme war, wenn auch ernst, doch ohne Härte.

Er aber starrte sie an, als müsse ihm die eigentliche Bedeutung ihrer Worte erst aus ihrem Anblick klar werden.

»Julie!« keuchte er dann. Etwas Anderes als diesen Namen vermochten seine Lippen noch nicht hervorzubringen.

»Sie sendet Ihnen ihren letzten Gruß!« sagte Katharina.

Er schrie laut auf: »Todt?«

Sie nickte.

Er verbarg sein Gesicht, that aber keine Frage. So erzählte sie ihm von selbst mit wenigen Worten, was geschehen war, und wie Julie sanft eingeschlummert sei.

»Vor zehn Minuten, kurz ehe Sie in's Haus traten, habe ich ihr die Augen zugedrückt,« schloß sie.

»Und sie wollte mich noch sehen!« stöhnte er, und in convulsivischer Bewegung wanden sich seine Hände um einander.

»Sie wollte Ihnen vergeben,« erwiderte Katharina sanft.

Er antwortete nicht; aber wie gebrochen sank er in sich zusammen.

»Es hat ihr das Scheiden leichter gemacht,« fuhr Katharina nach einer Weile fort, »daß sie mir ihr Herz öffnen konnte, wie man es sonst nur Gott öffnet oder dem Menschen, der einem der theuerste auf der Welt ist; und sie ist hinübergegangen, als sie um Frieden betete – für sich und für Sie, Leo.«

Sie hatte die letzten Worte leiser gesprochen, dennoch waren sie es, die Leo zumeist auffing.

»Frieden für mich!« rief er; »wie sollte ich ihn haben, da ich ihr den ihrigen genommen habe! Wissen Sie, daß Julie elend gewesen ist durch mich?«

»Ich weiß es!« sagte Katharina.

»Sie war das Rohr, das ich geknickt und zerbrochen habe in meiner Leidenschaft. Ich übersah ihre Schwäche, – ich dachte nur an meine Stärke, die ihre Stütze sein sollte.«

»Ich weiß es!« sagte sie aufs Neue. »Aber ich weiß auch,« fuhr sie fort, »daß ihr in den letzten Stunden ihre Stütze zurückgegeben ward, daß sie ihren Gott wiedergefunden hat, – so wie sie auch hoffte, daß Sie ihn wiederfinden werden,« setzte sie nach einer kleinen Pause und leiser hinzu.

Er wandte sich düster ab.

»Es kommt erst darauf an, daß ich mich selbst wiederfinde,« versetzte er.

»Es muß vielleicht sein,« entgegnete sie langsam, »daß wir uns selbst einmal ganz verlieren, um es verstehen zu lernen, daß dies Selbst nicht das Hauptsächliche in unserem Dasein ist.«

Er antwortete ihr nicht, es schien kaum, daß ihn ihre Worte besonders berührten; wohl aber trat er nach einer Weile wieder zu ihr und sagte:

»Die Todte hat mir vergeben; sie weigerten mir einst die Vergebung, Katharina –: werden wir noch einmal wieder unversöhnt auseinander gehen?«

Blaß und bewegt entgegnete sie:

»Ich darf keinen Groll mehr hegen, – er sei ausgelöscht.«

»Ich danke Ihnen!« antwortete er und behielt einen Augenblick die Hand, die sie ihm nicht versagte, in der seinen. Ein weicheres, aber tief schmerzliches Gefühl schien über ihn zu kommen.

»O, Katharina, ich darf Sie nicht anklagen, – in dieser Stunde nicht; aber wären Sie einst milder gewesen, vielleicht – –!«

Er vollendete nicht, sondern kehrte sich rasch ab und ging hinaus.

Aus Katharinas Augen stürzten Thränen, die ersten, welche sie gefunden hatte, seitdem sie von der Freundin zur Mitwisserin ihres Geheimnisses gemacht worden, und seitdem diese gestorben war. –

 

Katharinas Aufenthalt an dem fremden Ort, welcher eine so unsäglich traurige Bedeutung für sie gewonnen hatte, währte nicht lange mehr; sie reiste ab, sobald die letzten schmerzlichen Pflichten an der Freundin erfüllt waren. Vor ihr hatte schon Leo die Stadt verlassen, ohne daß sie ihn wiedergesehen hätte. –

Ein Zufall nur trug ihr bald nach dieser Zeit die Nachricht zu, daß der Assessor Wöllnitz für längere Frist aus dem Staatsdienst geschieden sei. Man erzählte ihr, er habe vorläufig Urlaub auf ein Jahr genommen, um überseeische Reisen anzutreten. – Sie sagte nichts, als sie die Mittheilung empfing; keine Bemerkung, keine Aeußerung verrieth, ob sie persönlichen Antheil an derselben nähme; wohl aber suchte sie, sobald jene Worte verklungen waren, und sie es unbemerkt thun konnte, die Einsamkeit ihres Zimmers, um dies an dem nämlichen Tage kaum wieder zu verlassen.

Darauf aber ging die Zeit hin und ließ Wochen und Monate verrollen, bis Katharina zu sich sprechen konnte: »Es ist nun ein Jahr seit jenem erschütternden Tage vergangen; ein Jahr, seit ich auch ihn zum letzten Male sah!« Und als sich dann die Gelegenheit bot, gerade an jenen Bekannten, durch den sie das Letzte von ihm gehört hatte, eine Frage zu richten, ließ sie dieselbe nicht unbenutzt, sondern erkundigte sich nach Leos weiterem Schicksale.

Die Antwort war, daß er sich nun definitiv von allen hiesigen Verhältnissen und Verbindungen gelöst habe, indem er von Amerika aus, – man nenne Californien als seinen gegenwärtigen Aufenthalt, – um seinen Abschied eingekommen sei. Man dürfe annehmen, daß er damit der alten Heimath vollständig Valet sagen und sich für immer in der neuen Welt ansiedeln wolle.

Der Redende fügte noch einige Worte des Bedauerns hinzu, daß man einen so begabten, wenn auch immerhin eigenthümlichen Menschen wie den Assessor Wöllnitz verloren habe, namentlich aber darüber, daß man denselben wohl in Zukunft zu den Verschollenen werde zählen müssen; denn solch unruhige Köpfe verfielen, sobald sie einmal mit den alten Regeln und Banden gebrochen hätten, meistens in eine verderbliche Abenteuersucht und richteten sich in der steten Rast- und Ruhelosigkeit ihrer Natur geistig und körperlich zu Grunde.

Katharina sagte wieder kein Wort zu all diesen Aeußerungen. Ihr Schweigen konnte fast auf die Vermuthung führen, als habe sie, nur einem zufälligen, rasch vorübergehenden Einfall folgend, jene Frage nach Leo gethan, als fände sich von einer wirklichen Theilnahme für ihn kaum eine Spur in ihrem Empfinden vor.


Mehr als zwei Jahre waren verflossen, seitdem die Stadt, in welcher das Heller'sche Geschäft geblüht hatte, durch das tragische Ende des Herrn der Firma, dem sich das seiner unglücklichen Frau so unmittelbar anschloß, in Aufregung und Trauer versetzt worden war; und so tief hatte jenes Ereigniß gewirkt, daß noch jetzt die Erinnerung an dasselbe keineswegs erloschen war. Nicht allein, daß man von den Vorgängen noch sprach, sie Fremden, welchen dieselben nicht bekannt geworden waren, erzählte; die einstigen Freunde traten auch nicht selten, wenn sie den Friedhof besuchten, an die Hellersche Familiengruft heran und gedachten in theilnehmender Empfindung der Verstorbenen; des Mannes, dem kein Mensch etwas nachsagen konnte, das nicht ehrenhaft gewesen wäre, und der Frau, die man freilich nicht so genau und so lange gekannt hatte wie ihn selbst, von der man aber behaupten durfte, daß sie glücklich mit ihm und durch ihn gewesen war, da sein Verlust sie in Fieber und Tod gestürzt hatte.

Ja, das Kreuz, welches zum Gedächtniß der beiden Eheleute errichtet worden war, und das außer den Namen, den Geburts- und Sterbetagen derselben die Inschrift trug, daß die Liebe der Gattin zu dem Gatten diese zu ihm in das Grab gelegt, hatte eine solche Bedeutung für die Stadt gewonnen, daß es förmlich zu ihren Sehenswürdigkeiten gerechnet wurde, und sich auch Fremde nicht selten zu ihm führen ließen, wenn sie die letzteren in Augenschein nahmen.

Es war daher auch kaum die Sache an sich, welche etwas Auffallendes hatte, daß sich an einem Morgen um die Mitte des Sommers ein Fremder mit der Frage, wo er die Ruhestätte der verstorbenen Frau Heller finden würde, an den grauhaarigen Todtengräber wandte, den er auf dem Kirchhof bei seiner Arbeit getroffen hatte; und wenn dieser, auch nachdem der Bescheid ertheilt war, noch einige Augenblicke wartete, ehe er seine Werkzeuge wieder aufnahm, und sich sogar aus feiner gebückten Stellung erhob, um sich den Unbekannten genauer ansehen zu können, so mußte es die Person des Letzteren selbst sein, welche seine Aufmerksamkeit erregte. In der That konnte dieselbe wohl eine solche selbst bei stumpferen Naturen hervorrufen; denn der Unbekannte war eine nahezu imponirende Erscheinung, schlank und kraftvoll die Gestalt, das von einem vollen Bart umrahmte Antlitz edel geformt, aber wettergebräunt und gewissermaaßen von einer Reihe ungewöhnlicher Erlebnisse und Erfahrungen – vielleicht von Kämpfen – redend; dennoch mußte der Todtengräber zunächst noch einen anderen Eindruck durch seinen Anblick gewinnen; denn er wandte sich gegen den jüngeren Gefährten, der neben ihm arbeitete, und sagte kopfschüttelnd:

»Sonderbar, der Mann ist ja kein Stadtkind, – und doch meine ich, ich muß ihn schon irgend einmal gesehen haben, wenn ich auch nie im Leben von hier fortgewesen bin!«

Der Andere hatte gleichfalls seinen Grabscheit ruhen lassen und dem Fremden nachgeblickt, der auf seinem Wege weitergeschritten war, bis er das besprochene Kreuz erreicht hatte; dann erst kehrte er sich seinem Begleiter zu und gab ihm die Antwort:

»Werdet Euch wohl irren! So sehen die Leute hier zu Lande nicht aus. Das ist sicher Einer, der von weit her kommt, vielleicht von der anderen Seite der Welt, – er hat so etwas Besonderes an sich.« –

Der Fremde hatte unterdessen die Inschrift, welche dem Marmordenkstein eingegraben war, gelesen und schüttelte jetzt ernst und wehmüthig das Haupt.

»Die Liebe zu ihrem Gatten sollte sie in den Tod gestürzt haben?« murmelten seine Lippen, – »ich weiß das anders.«

Dann stützte er den Kopf einen Augenblick gegen das Kreuz und blickte trübe auf die Stelle nieder, wo die junge Frau, welche er gekannt hatte, gebettet war.

»Armes Weib,« flüsterte er – »werde ich es je vergessen können, was ich an Dir gefehlt habe?«

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und kehrte f sich ab.

Unfern des Grabes unter einem Baum mit niederhangenden Zweigen stand eine steinerne Ruhbank, – auf diese setzte er sich; und obwohl beschauliches Nachdenken sonst nicht seine Gewohnheit sein mochte, – der Ausdruck seiner Züge wie die ganze, auf thatkräftiges Leben deutende Haltung widersprach dem, – so übten dieser Ort und diese Stunde doch offenbar eine besondere Gewalt über ihn aus und versenkten ihn in tiefes und langes Sinnen. Und eben so offenbar war es auch, daß das letztere seine Seele schmerzlich bewegte; denn mehr als einmal zogen sich seine Augenbrauen düster zusammen, und seine Brust arbeitete zugleich unter schweren Seufzern.

Endlich aber erhob er sich, strich rasch die Haare zurück, welche ihm über die Stirn geglitten waren, und schaute dann freieren Blicks um sich.

»Das galt der Vergangenheit,« sagte er vor sich hin, »dem Recht der Todten! Nun aber wieder voraus in's Leben, auf das ich, – ich darf mir's sagen, – mein Recht neu gewonnen habe.«

Seine Brust dehnte sich, und wenn seine Züge auch ihren Ernst nicht verloren, so ging doch ein hellerer Schein in ihnen auf; und der Schein ward zum Leuchten, als seine Lippen ein Wort flüsterten – den Namen Katharina. Dann, ohne sich noch einmal wieder umzublicken, verließ er den Kirchhof.

Wie er aber nicht von der Stadt aus gekommen war, so kehrte er auch jetzt nicht in der letzteren ein, sondern richtete seine Schritte sofort wieder nach der Stelle, von der er vor einer Stunde den Weg hierher angetreten hatte, dem Bahnhof. Der nächste Zug schon sollte ihn wieder mit fortnehmen. Der alte Todtengräber, dessen Aufmerksamkeit der Fremde erregt hatte, würde, wenn er ihm gefolgt wäre, die merkwürdige Thatsache haben verzeichnen und ferneren Besuchern des Kirchhofs erzählen können, daß derselbe eine größere Reise gemacht hatte, eigens nach diesem Ort gekommen war, um das Heller'sche Grab zu besuchen.

Aber dem Unbekannten folgte, ihn bemerkte Niemand; er blieb eben ein Fremder in der Menge anderer Reisenden, bis er den Bahnhof und mit ihm die Stadt, die das Ende dieses Weges gewesen war, weit hinter sich hatte und einem anderen Ziele entgegeneilte. –

 

Auf der Hälfte der jetzigen Fahrt etwa war es, als der Fremde sich einer kurzen Verzögerung unterwerfen mußte. Die Züge wurden nämlich an einer Station gewechselt, und so kam es denn, daß die Passagiere für einen viertelstündigen Aufenthalt in die Wartezimmer gewiesen wurden. Im Begriff, das eine derselben zu betreten, stieß er auf einen Herrn, der im ersten Moment an ihm vorübereilen wollte, dann aber nach einem zufälligen, flüchtigen Blick auf den Fremden plötzlich stehen blieb, ihm darauf noch einen Schritt näher trat und überrascht ausrief:

»Ich kann mich nicht täuschen, – ich sehe einen alten Freund vor mir; Wöllnitz, nicht wahr?«

»Eisleben!« rief der Angeredete freundlich und streckte dem Sprechenden die Hand entgegen. »So lange ich wieder auf deutschem Boden bin, habe ich meinen Namen noch nicht von bekannten Lippen aussprechen hören.«

»Ei, so heiße ich Sie doppelt willkommen, Wandervogel, der Sie sind,« war Eislebens Entgegnung. »Haben aber wohl inzwischen recht weite Fernen durchschweift, nicht wahr?«

»Nun ja,« sagte Leo lächelnd, »in so fern der äußerste Westen Amerikas wirklich noch als sehr ›fern‹ gelten darf.«

»Ah, – also dort,« rief Eisleben. »Interessant, – das heißt, um sich davon erzählen zu lassen,« verbesserte er sich. »Ich für meine Person liebe nämlich die Urwüchsigkeit eigentlich nur aus der Entfernung.«

»Ja,« entgegnete Leo lachend, »nicht Jeder hat Geschmack an einem Leben, wie man es in der Wildniß führt. Und in der That,« fügte er ernster hinzu, »wer sagt, es sei ein Unterschied zwischen dem Salon und der Prairie, der spricht wahr.«

»O, ich kann es mir denken,« versetzte Eisleben lebhaft. »Kann man ja doch aus jeder Reisebeschreibung eine Vorstellung von einem solchen Leben gewinnen. Rothhäute, – Bären- und Büffeljagden, – es geht so in Einem hin.«

»Gewiß,« meinte Leo und nickte ernsthaft.

»Aber von Ihren persönlichen Schicksalen und Abenteuern möchte ich gern noch hören, Freund!« fuhr der Andere eifrig fort.

»Nun, – meine Schicksale,« begann Leo etwas zögernd, änderte aber dann sofort den Ton, um in halben Scherz überzugehen und auszurufen: »Was wollen Sie sich die kurze Zeit mit meinen Schicksalen verderben? Halten Sie sich lieber an die bekannten Reisebeschreibungen, und lassen Sie es für das Uebrige damit genug sein, daß ich wieder auf deutschem Boden bin.«

»Ach ja, richtig: Ihre Rückkehr muß als das Wichtigste gelten,« rief Eisleben mit der seinem Wesen eigenen verbindlichen Höflichkeit. »Natürlich denken Sie, jetzt hier zu bleiben?«

»Ich denke es,« erwiderte Leo.

Der eigenthümliche, aus Freude und Zuversicht gemischte Ton, den er gebraucht hatte, entging dem sonst so aufmerksamen Ohr des feinen Diplomaten; Eisleben hörte einfach die gesprochenen Worte, und, an diese anknüpfend, fragte er weiter, ob Leo die Absicht habe, auf's Neue in Staatsdienste zu treten. Dies jedoch verneinte der Letztere entschieden unter der Bemerkung, daß er die endgiltige Feststellung seiner Zukunftspläne noch aufgeschoben habe. Wahrscheinlich sei es indessen, fügte er hinzu, daß er sich irgendwo einen ihm zusagenden Grundbesitz verschaffen würde, auf dem er als sein eigener Herr in der vollen Bedeutung des Wortes der Freiheit, an die er sich drüben gewöhnt habe, noch ferner genießen könne.

Die Aeußerung nöthigte Eisleben einen Seufzer ab.

»Sie Glücklicher,« rief er aus, »der Sie sich nach keines Menschen Willkür und Launen zu richten haben und den Gedanken an Ihre Carrière nicht als bitteren Tropfen bei jedem Becher Weins mitzugenießen brauchen.«

Rasch aber, als wolle er sich selbst corrigiren, fügte er dann hinzu, daß er sich persönlich kaum beklagen, sondern mit Avançement und Stellung zufrieden sein dürfe. Er bekleide, bemerkte er dabei noch, gegenwärtig einen Posten in der Residenz, in die er gerade jetzt nach Vollendung einer ihm zugetheilten Mission zurückkehre.

Die Mittheilungen bildeten den natürlichen Uebergang zu den Erkundigungen nach den Schicksalen verschiedener Bekannten, über welche von Eisleben Auskunft zu erwarten war. Leo fragte nach Banner und erfuhr, daß derselbe in normaler Weise seine Grade durchmache; nach Holdern, und empfing die Nachricht, daß dieser kürzlich – mit einiger Schwierigkeit, wie man sage, sein Hauptmannspatent errungen habe; nach Diesem und Jenem, der ihn mehr oder minder interessirt hatte, und dessen »Reüssiren« und »Nichtreüssiren« ihm daher in entsprechender Weise größere oder geringere Theilnahme abnöthigte; und endlich, – endlich fragte er auch nach Katharina, nachdem er, wie es beinahe schien, innerlich mit sich gekämpft hatte, ob er hier ihren Namen aussprechen sollte.

»Ah, Katharina, Fräulein Katharina Hellbach!« sprach Eisleben lebhaft, um gleich darauf mit einem halben Lachen hinzuzusetzen: »Es gebührt sich, Wöllnitz, daß Sie nach der schönen Dame forschen; denn sie spielte unleugbar eine Rolle in der **schen Gesellschaft und in unserem Leben besonders. Denken Sie noch an das famose Complot, das wir einmal unter uns anstifteten, und in welchem Ihnen die Hauptrolle zufiel? Sie wollten nachher allerdings einen Schleier über die Geschichte ziehen, was mir, aufrichtig gesagt, die Ueberzeugung einflößte, es sei ein ernstes Engagement zwischen Ihnen Beiden im Werke, – aber ganz und gar vergessen können Sie dieselbe nicht haben. Nun, tempi passati! Um übrigens wieder auf Ihre Frage zurückzukommen, muß ich doch erwähnen, daß ich selbst die Dame zwar nicht wieder gesehen habe seit jener Zeit, – ich wurde unmittelbar nach Ihrem Fortgange von ** gleichfalls von dort versetzt, – aber ich weiß doch, daß sie lebt und sich verheirathet hat.«

Hätte der Sprecher mit schärferer Aufmerksamkeit in Leos Gesicht geblickt, würde er vielleicht trotz des gebräunten Aussehens seiner Züge einen gewissen Farbenwechsel in denselben wahrgenommen haben; da aber seine Aufmerksamkeit in diesem Augenblick halb durch die Signale in Anspruch genommen wurde, die den nahen Abgang des Zugs verkündeten, so entging ihm jenes Zeichen der Erregung, wie er denn auch das Wort »verheirathet,« welches Leo herauspreßte, nur auffing, um im leichten Tone zu erwidern:

»Nun ja, – das wundert Sie doch nicht? Erinnern Sie sich nur, wie schön das Mädchen war? Ein solches Gesicht erklärt es immerhin, wenn neben ihm Jemand einmal nicht an den fehlenden Goldgrund denkt.«

»Und wen hat Katharina geheirathet, wessen Namen trägt sie jetzt?« fragte Leo, der sich rasch gesammelt hatte.

»Der Name?« entgegnete Eisleben, »warten Sie einen Augenblick, – ach ja, ganz recht: von Aschern, Rittmeister oder Major, – so genau erinnere ich mich der Charge nicht, – stand in der Heirathsanzeige, die ich selbst vor anderthalb Jahren etwa in der Zeitung gelesen habe.«

»Und eine Verwechselung, so daß es vielleicht noch eine zweite Katharina Hellbach geben und diese gemeint sein könnte, halten Sie nicht für möglich?« fragte Leo.

»O nein, sicher nicht,« entgegnete Eisleben; »denn erstens stimmte die Angabe des Wohnorts, und zweitens erzählte mir auch Banner zufällig bald nachher, daß er mit dem Paar auf dessen Hochzeitsreise an irgend einem Orte zusammengetroffen sei, dabei die alte Bekanntschaft mit Katharina in einigermaaßen freundlicher Weise erneuert und von ihr erfahren habe, daß sie ihren Wohnsitz in S. haben würde. Nach der Zeit habe ich nun freilich nichts wieder von unserer Dame vernommen.«

Leo öffnete den Mund zu keiner weiteren Frage; und hätte er auch noch mehr wissen mögen, er würde schwerlich eine ausreichende Antwort empfangen haben; denn die Schaffner forderten in diesem Augenblick die Passagiere, welche nach der Residenz wollten, zum Einsteigen auf, und Eisleben griff hastig nach einigen Stücken Reisegepäck, die er vorhin aus der Hand gelegt hatte.

»Kommen Sie mit? bleiben wir beisammen?« fragte er rasch.

Ueber Leos Gesicht zuckte es eigenthümlich. Sollte er dem Andern sagen, daß es ihm in diesem Augenblick zu einem Einerlei geworden war, wohin er fuhr, daß er eben so gut nach der einen als nach der andern Seite weiterreisen könne? – Eben so gut? nein, es war doch ein Unterschied; denn so freundlich ihn auch Eisleben angesprochen hatte, in dieser Stunde blieb Leo nicht gern länger in des Andern Gesellschaft, sah er lieber nur gänzlich unbekannte Gesichter um sich, – und so begnügte er sich denn mit der Erklärung, daß sich die beiden Wege hier würden scheiden müssen.

»Schade!« rief Eisleben mit dem Ton aufrichtigen Bedauerns. »Aber ich gebe es nicht zu, daß Sie mir wie ein Meteor nur erscheinen, um zu verschwinden, darum also vor allen Dingen die Frage, – und unbegreiflich genug, daß ich sie nicht sofort that, – wohin reisen Sie jetzt? welches sind Ihre nächsten Ziele?«

Wohin reisen, – welche Ziele?! Ihm selbst blieb noch Zeit genug, sich das zu fragen und zu sagen; aber vor der Hand mußte Der, welcher jetzt fragte, eine Antwort haben, und darum entgegnete er, indem er sich schnell zu einem gewissen schmerzlichen Humor aufraffte und zunächst auf die letztgesprochenen Worte einging:

»Ganz klar liegen meine Ziele noch nicht vor mir; aber ich denke, S. wird mir schon die Richtung anweisen.«

»Ah, also nach S.!« rief Eisleben, der vor einem Augenblick bemerkt hatte, daß es die höchste Zeit sei, in's Coupée zu springen, schon aus dem letzteren heraus.

»Nun dann aus Wiedersehen! Vor allen Dingen aber grüßen Sie mir die schöne Katharina, die Sie doch begrüßen werden!«

Das Letzte war nur halb noch zu verstehen; es verhallte in dem Geräusch des bereits fortrollenden Zuges. –

 

Wenige Minuten später fuhr auch der Zug ab, welcher nach ** führte, der Stadt, wo Leo Katharina kennen gelernt, und wo er sie jetzt hatte wiedersehen wollen. Leo war nicht eingestiegen; er hatte ja nun in jener Stadt nichts mehr zu thun und Niemand mehr zu suchen.

Von dem Bahnhof wandte er sich dem Orte zu, von welchem die Station ihren Namen hatte. Es war ein unbedeutendes Nest und bot gewiß für einen Reisenden, der aus einer entlegenen Welt kam, nichts Interessantes. Dennoch konnte er hier so gut rasten wie an jeder anderen Stelle, und etwas Anderes als der Rast bedurfte er ja nicht, um sich fassen und finden und seine Gedanken ordnen zu können.

Den Kopf, den er vor einer kurzen Weile noch frei und hoch getragen hatte, hielt er jetzt gesenkt; er vermochte ihn noch nicht aufzurichten, seitdem er wußte, welche Thatsache er in sein Leben aufnehmen mußte, seitdem all seinen Hoffnungen, seinen Plänen, seinen Entschlüssen der Grund fortgezogen war, auf dem er sie erbaut hatte. –

Katharina vermählt! Einen ganz kurzen Moment lang hatte er ein Gefühl gehabt, als brauche er nicht daran zu glauben, als könne es nicht wahr sein; – dafür vermochte er es jetzt kaum zu glauben und zu fassen, daß er in der Zuversicht gelebt, in ihr die Reise über das Weltmeer gemacht hatte, er werde sie wiederfinden, wie er sie zuletzt gesehen: frei und Niemandem sonst zu eigen; so daß er es wagen dürfe, vor sie hin zu treten und ihr zu sagen: »Katharina, der Mann, dem Du Dich einst gabst, und dem Du Dich entzogst, – er ist wiedergekommen, er wirbt um Dich zum zweiten Male.« –

War der Gedanke nicht thöricht und vermessen zugleich gewesen, daß sie auf seine Rückkehr gewartet, nicht längst einem Andern Herz und Hand gegeben haben sollte? Dachte sie überhaupt nur noch an ihn? Stolz und gekränkt hatte sie ihn damals zurückgewiesen, – und sie war in ihrem Recht gewesen; denn von Liebe hatte das Gefühl wenig genug in sich getragen, das er ihr bot; – konnte sie es wissen, daß er dennoch ihr Bild mit sich genommen hatte in die Fremde, daß dasselbe ihn begleitet hatte, vielleicht ohne daß er dessen selbst wohl inne gewesen, bis es leuchtender und immer leuchtender vor seinem geistigen Auge gestanden und ihn zuletzt zurückgerufen hatte aus der Einsamkeit der Wälder und Prairien in die Heimath?

Nein, es wäre Wahnsinn gewesen, sie oder auch einfach das Schicksal anzuklagen; sich selbst nur, seiner eigenen Blindheit allein hatte er es zuzuschreiben, daß er jetzt Schiffbruch leiden mußte mit seinen Plänen, daß er dastand als ein getäuschter und gedemüthigter Mann.

Eine Art Lächeln glitt über seine Züge, in denen Mitleid lag, und Beides, Lächeln wie Mitleid, galt ihm selbst. Dann aber erhellte sich sein Ausdruck, und seine Glieder wurden straffer.

»Nun, sei es, wie es will!« sagte er zu sich selbst. »Habe ich so Vieles in mir niedergezwungen, werde ich wohl auch mit meinem Herzen fertig werden!« –

Nur die eine Frage, welche er vorhin zurückgedrängt hatte, kehrte jetzt noch wieder, und sie vor Allem forderte ihre Lösung: Was blieb ihm noch übrig? wo und wie sollte er aufs Neue sein Leben beginnen?

Ein heimliches Verlangen in ihm sprach für das Land, aus welchem er kam. Er dachte an das Kämpfen, Ringen und Wagen, an welchem er vor Jahren seine Kräfte gestählt, welches ihm geholfen hatte, an Leib und Seele zu gesunden. – Sollte er das Alles nicht jetzt aufs Neue aufsuchen?

Einen Augenblick lang galt ihm sein Entschluß für gefaßt, er wollte nach Amerika, nach jenem »fernen Westen« zurückkehren, ohne nur die Probe gemacht zu haben, ob er hier in Deutschland, nachdem er mit seinen Hoffnungen gescheitert war, würde leben können. Das wildromantische, abenteuerliche Leben, welches er geführt, und das ihn zunächst vergessen gelehrt hatte, stand wieder verlockend vor seiner Seele, aber nur, damit er in der nächsten Minute über seinen Vorsatz den Kopf schüttelte.

»Das Leben wagen, es in jeder Stunde einsetzen, – wohl!« sprach er zu sich selbst. »Aber für was denn das Alles, und für wen?«

Und sobald er diese Frage an sich gestellt hatte, war der Reiz der plötzlich aufgestiegenen Bilder erloschen.

Für was und für wen! so hatte er sonst nicht gefragt, weder wenn er sich in ein tollkühnes Wagniß einließ, noch wenn er irgend eine Arbeit unternahm; stand er doch mit seiner eigenen Person im Leben da. –

Hätte Jemand, der ihn sonst gekannt, hätte Katharina diese Worte gehört, sie würde sich vielleicht im Stillen gesagt haben, es müsse viel über Leos Haupt gekommen sein, weil er jetzt diese Worte sprechen konnte; dennoch aber: was hielt ihn eigentlich hier fest, was band ihn an Deutschland? Er besaß keine Familie, keine Angehörigen, keine näheren Freunde; Niemand bedurfte hier seiner, Niemand machte Ansprüche an ihn. –

Und die Heimath als solche? Er erinnerte sich der inneren Unzufriedenheit, die er früher über so manche Zustände in ihr empfunden hatte, und die ihn vielleicht dahin geführt haben würde, ihr seine Dienste zu entziehen, auch wenn jene persönlichen Schicksale nicht gewesen wären. Er hatte sich doch wohl nach einem Fingerzeige umzusehen, der ihm an irgend einer anderen Stätte, – und die Welt war ja so groß, – seinen Posten für's Leben anwies. –

 

Die Stimmung, in welcher er noch an demselben Tage seine Reise wieder aufnahm, glich jener, in welcher er zum vorläufigen Abschluß seiner Erwägungen gekommen war: gelähmt zwar an seiner Kraft und Freudigkeit, aber in sich selbst gewiß, daß er sich in dem Kern seines Wesens behaupten werde.

Ein einstweiliges Reiseziel aber hatte ihn die Erinnerung an einen Auftrag gegeben, den er von einem in Amerika gewonnenen Bekannten übernommen hatte, und der dahin ging, daß er der Ueberbringer von Nachrichten an dessen in Deutschland lebende und bis dahin ärmlich gewesene Verwandten sein und diesen zugleich etwa nöthige Hilfsleistungen erweisen solle. Da der Zweck sein Auftreten an Ort und Stelle nöthig machte, so war der Entschluß rasch von ihm gefaßt worden, nun diese Reise zu seinem nächsten Unternehmen zu machen. Schon am folgenden Tage konnte er die Stadt, wo jene Leute wohnten, erreichen.

Mochte Leo aber diese neue Fahrt noch mit den Gedanken an die zusammengestürzten persönlichen Hoffnungen angetreten haben, so sollten diese letzteren nicht lange seine einzigen Begleiter bleiben; denn schon in den ersten Stunden wurden von den ab- und zuströmenden Mitreisenden Erzählungen, Gerüchte an sein Ohr getragen, die er in Verbindung zu bringen hatte mit anderen, die bereits auf dem erstgenannten Bahnhof flüchtig von ihm vernommen waren, denen er aber im ersten Augenblick nicht die volle Beachtung, wenigstens keinen eigentlichen Glauben geschenkt hatte. Nun aber ward es ihm klar und immer klarer, daß er in einem Moment nach Deutschland zurückgekommen war, wo sich gleich einer mächtigen Woge eine ungeheure Erregung erhob und durch alle Gemüther brauste.

Man näherte sich der Mitte des Juli 1870, – der Tag von Ems war gewesen, und was ihm folgte war es, was Zeitung, was Depesche über Depesche, was Mund zu Mund durch das ganze Volk trug. Wohin Leo kam, an jeder Station fand er Schaaren von bewegten, aufgeregten, begeisterten Menschen, die sich einander mittheilten, was sie von den Ereignissen wußten, nach neuen Nachrichten horchten, weitere Meldungen forderten. –

Als er aber die, Stadt, welche ihn zunächst aufnehmen sollte, erreicht hatte, stand es schon fest, das etwas Gewaltiges geschehen sollte; der Krieg war erklärt worden, der Krieg gegen Frankreich. Wo blieb da in der Brust des Einzelnen Raum für die Gedanken an persönliches Schicksal? wer beschäftigte sich noch mit eigenem Freud und Leid Angesichts des Geschicks seiner Nation?

Auch über Leo war es wie eine Erlösung, eine neue Freiheit gekommen; in einem einzigen Augenblick hatte er jeden Zweifel, auf welchen Boden er sich zu stellen habe, abgestreift; nach einem Grund unter seinen Füßen brauchte er nicht mehr zu forschen. Mit einem an Jubel grenzenden Gefühl sagte er sich, daß es noch Etwas gäbe, was Ansprüche, Rechte an ihn habe und sie geltend mache – das Vaterland! Sich in die Reihen Derer zu stellen, die für Deutschland fochten, für Deutschlands Ehre und Größe sein Leben und sein Sterben einzusetzen, – das war ihm noch übrig geblieben, das der Fingerzeig gewesen, auf den er gewartet hatte.

Er bedurfte nur weniger Tage für die Aufträge, die er übernommen hatte, und kaum längerer Zeit für die Schritte, die zur Vorbereitung seiner neu gewonnenen Ziele nöthig waren. Als die ersten Truppen dem Feinde entgegengeworfen werden sollten, fand auch er sich schon gerüstet und eingereiht. Seine frühere militärische Dienstzeit hatte es möglich gemacht, daß er die untersten Grade überspringen konnte, und so wurde er denn als einer der Chargirten den **schen Dragonern zugetheilt, die von S., ihrem Sammelpunct aus, in's Feld rücken sollten.

Es war ein eigenthümlicher Zufall, – Leo mußte sich das sagen, – der ihn nun doch noch nach S., dem Wohnort Katharinas, führte. Einen Augenblick lang war es bei jenen trüben Erwägungen seiner Zukunftspläne durch seinen Sinn gegangen, ob er nicht das unter halbem, wenn auch bitteren Scherz gegen Eisleben geäußerte Wort buchstäblich wahr machen und nach S. reisen sollte, um Katharina wenigstens noch einmal zu sprechen. Schnell jedoch hatte er damals diese Idee wieder aufgegeben; wozu sollte er den Stachel, der sich ja nicht bannen ließ, denn noch schärfen? Was aber überhaupt hatte er ihr noch zu sagen, oder von ihr zu begehren?

Daß aber die Vernunft in dem damaligen Kampfe nicht völlig unbestritten gesiegt hatte, das mußte er heute erfahren, als er ohne seinen eigenen Willen dennoch in Katharinas Nähe gekommen war; denn noch einmal hatte er ein ähnliches Verlangen mit ähnlichen Fragen niederzukämpfen. Wieder indessen kam er auf seinen ersten Entschluß zurück, der Versuchung zu widerstehen und sich jede Begegnung mit ihr zu versagen.

»Das Capitel hat seinen Abschluß gefunden, muß ihn gefunden haben, mochte es auch immerhin das reinste sein im Buche meines Lebens,« sagte er sich.

 

Er stand nun vor dem Moment, der ihn mit dem menschengefüllten Zuge von S. weiterführen sollte. Eine kurze Umschau nur noch, ein Blick über die Umrisse, die Wohnungen der nahgelegenen Stadt, und er nahm den Platz ein, der von den Cameraden im Coupé für ihn offen gehalten worden war, und der ihm, da er sich zur Seite des Fensters befand, den Blick über den Perron mit seinem Gewimmel von Einsteigenden und Abschiednehmenden frei ließ.

Eine Weile blickte er ruhig und fast gleichgiltig hinaus, er kannte ja keinen von allen diesen Menschen, und darum berührten ihn auch nicht die Namen, welche er hin und wieder ausrufen hörte. Mit einem Male jedoch fuhr er auf; es war, als sein Sitznachbar, der, wie sich bereits herausgestellt hatte, länger bei der Fahne und deshalb mit den betreffenden Persönlichkeiten bekannter als Leo war, die Worte hören ließ:

»Ei, da ist ja der Rittmeister von Aschern. – Muß durch irgend einen Umstand noch zurückgehalten sein; denn sein Regiment fuhr schon ehegestern ab.«

Längst schon, bevor die letzte Silbe gesprochen war, hatte Leo sich vorgeneigt, um mit eigenen Augen den Mann zu sehen, dessen Name von seinem Gefährten so eben genannt worden war, und, – es konnte kein Zweifel bleiben: der schlanke Offizier dort in der Reiteruniform mußte Aschern sein.

Hätte es noch eines anderen Wahrzeichens bedurft, – allmächtiger Gott! die Gestalt an seiner Seite in dem dunklen, schleppenden Gewande, dieselbe, von der jener Sprecher in diesem Augenblick noch flüchtig sagte: »Die Dame, welche ihn begleitet, ist ohne Frage seine Frau,« – sie kannte er, es war Katharina, sie selbst! –

Sie hatte ihren Arm in den des Mannes gelegt, und sie sah zu ihm auf, während sie mit ihm sprach; erregt und bewegt beides, der Blick wie das Wort, so viel konnte Leo unterscheiden, wenn er auch das volle Anschaun ihres Antlitzes noch nicht gewinnen konnte, und nur halbe Sätze zu ihm drangen, unterdessen das Paar unfern seines Coupés eine kurze Zeit im Gedränge aufgehalten ward.

»Ich tadle Dich gewiß nicht, Arthur,« sagte sie, »ich wahrlich nicht, aber, – –«

Das Weitere ging Leos Ohren vorüber. Die Stimme des Mannes dagegen, der gleich darauf mit einem Lächeln ihre Hand noch fester durch seinen Arm zog, blieb deutlicher zu vernehmen

»Gieb Dich zufrieden, Katharina, ich konnte dem Arzt; nicht länger gehorchen. Zwei Tage schon der Krankheit geopfert! Ein schlechter Soldat der, welchen der Ruf seines Königs nicht gesund macht.«

Sein Haupt neigte sich zu ihr, und er sprach leiser mit ihr; Leo aber zog sich scheu zurück. Durfte er lauschen, wenn zwei Gatten sich ihr Heiligstes vertrauten, wenn Katharina ihrem Manne vielleicht ein letztes Liebeswort schenkte? dann aber hörte er ihre Stimme noch einmal und nun lauter und dichter in seiner Nähe; es zog ihn mit magnetischer Gewalt; er mußte noch einen letzten Blick auf sie werfen.

Sie stand jetzt allein, auf einer etwas freieren Stelle des Perrons. Ihr Begleiter hatte seinen Sitz bereits eingenommen, und die leichten Bewegungen ihres Hauptes waren ohne Zweifel eine Beantwortung der Grüße, die er ihr noch zuwinkte, bis sie die Lippen öffnete und mit dem tiefen, schönen Ton ihrer Stimme, demselben Klange, der in Leos Herzen widergehallt hatte diese Jahre hindurch, ihr letztes Wort sprach:

»Lebewohl denn, Lebewohl in Gottes Namen!« drang es zu ihm herüber.

Unwillkürlich zwar, aber doch so, als ob er den Ruf, den Segen auch auf sein Haupt herniederziehen wollte, beugte Leo sich vor. Seine Blicke umfaßten ihre Erscheinung, als wisse er bestimmt, daß er sie in diesem Augenblick zum letzten Male schaute, und als wolle er sich das theure Bild einprägen für die Zeit seines Lebens.

In demselben Moment wandte sie um ein Geringes den Kopf und dann – ein kurzes Starren nur, und sie trat hastig einen Schritt vor. Ihre Augen waren weit geöffnet; es war, als wolle sie in dem Zeitraum einer Secunde die Ueberzeugung gewinnen, daß sie mit allen Sinnen wache, daß keiner ihr als Wirklichkeit erscheinen ließ, was doch nur das Gebilde eines Traumes war. Zu etwas Weiterem blieb nicht Zeit; denn die Lokomotive pfiff, und der Zug rollte von dannen; aber als die Gestalt auf dem Perron Leos Augen schon undeutlich ward, und er sich in die Tiefe des Coupes zurücklehnte, konnte er sich sagen, daß sie ihn erkannt hatte.

Ein weißes Tuch flatterte; durfte er sich eben so sagen, daß der Gruß, den es winkte, auch ihm mitgegeben ward?


Jahr und Tag waren hingegangen über die Länder und über die Völker; die großen Schlachten waren geschlagen worden auf dem Boden des Feindes, und die Rufe »Sieg und aber Sieg!« von dort herübergedrungen in die Heimath. Ja, diese Rufe! sie hatten den Jammer und die Wehklage um die Gefallenen übertönt, – und nun war Alles herrlich vollendet. Blieb immerhin auch manches Auge noch naß in seinen Thränen, und zuckte noch manch Herz in seinem Weh: zu einer Freude konnte sich das gebrochenste Gemüth doch erheben, zu der Freude, daß nun der Friede gekommen war. Und wer gar dem Kriege kein persönliches Opfer gebracht hatte, wer das Wiedersehen der Seinen hoffen konnte, der durfte doppelt jubeln und begeistert den Tag begrüßen, an dem die ausgezogenen Schaaren zurückkehrten, und der ihnen zu den Ehren, welche sie im Felde gewonnen hatten, noch den Lohn bringen sollte, der ihrer wartete in der Heimath.

Auch für S. war der Tag gekommen, wo die Truppen, welche von hier aus ihrer Bestimmung entgegen gesandt worden waren, wieder ihren Einzug halten sollten, und was an jedem Ort, er mochte groß oder klein, arm oder reich sein, geschah: daß das Beste, was man bieten konnte, aufgewandt wurde, um den Heimkehrenden ein würdiges Willkommen darzubringen, – das vollzog sich auch hier. Ehrenpforten hatten sich aufgebaut, Fahnen und Guirlanden schmückten die Häuser, und in den Straßen auf und nieder wogte nun die Bevölkerung voll Ungeduld, um die Sieger mit ihren Kränzen, ihren Zurufen zu empfangen und sie wohl auch in die eigenen Wohnungen zu geleiten zu liebevoller Aufnahme. Da war kein Haus, das seine Pforte nicht gastlich aufgethan hätte, sei es nun für die eigenen Blutsfreunde, sei es für Fremde, und selbst das ärmste hielt ein Festgericht, einen Labetrunk bereit für irgend einen der Gefeierten, welcher unter seinem Dache Einkehr halten mochte.

Indessen war die hochgespannte, freudige Erwartung schon mehrere Male niedergeschlagen worden; denn wenn in einem Augenblick der Ruf: »Sie kommen! sie kommen!« ertönte und sich von Mund zu Mund fortpflanzte, verbreitete sich in dem nächsten die Nachricht, daß man wohl noch eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde auf die Ersehnten warten könne Die Menge kehrte sich aber nicht an die besonnenen Behauptungen Einzelner, daß der Einzug genau in der vorbestimmten Zeit seinen Anfang nehmen würde, und verfrühte bald den Termin, bald dehnte sie ihn über jene Angabe hinaus, je nach dem Wechsel ihrer aufgeregten Stimmung.

Ueber die Brüstung eines Balkons, der reich mit Teppichen behängt und von Fahnen überflattert war, hatte sich der Kopf eines schlanken, etwa elfjährigen Knaben geneigt, dessen Augen den Blicken des Straßenpublicums gefolgt waren, gleich wie sein Ohr auf das bald lautere, bald leisere Gemurmel lauschte.

»Hast Du es gehört, Tante Katharina?« rief er jetzt eifrig, »die ersten Reiter sollen schon zu sehen sein.«

Die Dame, an welche er sich gewandt hatte, warf einen raschen Blick nach der Uhr und sagte dann kopfschüttelnd und lächelnd zugleich:

»Unsere Ungeduld hilft uns nichts, Paul! eine halbe Stunde werden wir noch immerhin warten müssen, nicht wahr, Arthur?«

Die letzten Worte waren an den Herrn gerichtet, der bisher auf dem Balkon hin und her geschritten und erst in diesem Augenblick neben ihr und dem Knaben stehen blieb.

Er war in der Uniform, welche Leos Augen auf sich gezogen hatte, als ihm dieser Mann zum ersten Mal an Katharinas Seite erschienen war; aber sein Gesicht sah noch bleicher aus als damals, während sein rechter Arm von einer bis zur Schulter reichenden Binde verhüllt war.

»Bis zwölf Uhr, – ja,« sagte er mit einer gewissen Hast, als sie ihn bei ihrer Frage anblickte. »Um zwölf Uhr werden sie hier sein, die Glücklichen!«

Er konnte dem Seufzer nicht wehren, der aus seiner Brust stieg; Katharina aber, welche dies Zeichen einer schmerzlichen Erregung verstehen mochte, legte sanft ihre Hand auf seinen gesunden Arm und sagte:

»Ich meine, es ist auch tapfer, Arthur, wenn wir dem Schicksal stehen, das uns die That versagte, als wir handeln wollten!«

Ein leichtes Zucken flog über sein Gesicht.

»Wie ihr Frauen das einmal nehmt, Katharina!« versetzte er; um gleich jedoch mit einem helleren Ausdruck in seinen Zügen hinzuzusetzen: »Mein Trost bleibt nur, daß ich dem Könige noch einmal wieder meinen Arm werde bieten können, wenn er aufs Neue Arme braucht. Der Arzt erklärt es jetzt für ausgemacht, daß er Kraft und Gelenkigkeit vollständig wieder erhalten wird; – wäre das nicht, – bei Gott, ich wollte nichts Anderes, als daß der Brave mich damals auf dem Felde von Mars la Tour hätte verbluten lassen, anstatt sich vielleicht selbst für einen Krüppel zu opfern.«

»Und Dein Weib und Dein Kind, Arthur?« mahnte Katharina mit dem Tone halben Vorwurfs.

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Verzeih,« sagte er dann, – »ich war eben nur Soldat. – Wenn ich noch einmal im Leben meinen Retter sehen sollte, will ich auch daran denken, daß ich durch ihn noch bei den Meinen sein darf. – Wo ist Mathilde?« setzte er nach einer flüchtigen Pause hinzu, indem er sich umschaute.

»Sie ist vor einer Weile in's Haus gegangen, um nach dem Kleinen zu sehen,« erklärte Katharina, beugte sich aber in demselben Augenblick zu dem Knaben nieder, der nahe an sie herangetreten war und ihr ein Zeichen gemacht hatte, daß er ihr etwas zuzuflüstern habe. Nachdem er ihr sein heimliches Verlangen vorgetragen hatte, richtete sie sich auf.

»Paul fürchtet sich,« sagte sie gegen den Herrn gewandt.

»O, Tante Katharina!« stotterte der Knabe und ward dunkelroth.

»Er besitzt nicht den Muth,« sprach sie unbeirrt weiter, »für einen Wunsch, den er hat, selbst aufzukommen.«

»Doch, – ich habe ihn, und ich will es gerade heraus sagen, daß ich wissen möchte, wie es in der Schlacht herging, wo Du verwundet wurdest.«

Die Worte kamen so rasch aus Paul's Mund gesprudelt, daß sie dem Rittmeister ein unwillkürliches Lächeln abnöthigten; dann aber wurde dass Gesicht desselben wieder ernster, und indem er mit der gesunden Hand den Knaben an sich zog, sagte er:

»Nun wohl, was können wir Besseres in dieser Stunde thun, als von dem Kampf sprechen, in dem gerade die Regimenter gewesen sind, welche heute einziehen werden, und wo sie ihre besten Ehren erworben haben.«

Und dann begann er, von dem Tage zu sprechen, welcher der letzte in seiner eigenen kriegerischen Laufbahn gewesen war, von der Schlacht bei Mars la Tour, die sich mit so blutiger Gedächtnißschrift in die Blätter der Geschichte eingraben sollte, in der aber zugleich der todesverachtende Heldenmuth ächter Soldatenherzen zu seiner herrlichsten Entfaltung gelangt war.

Er wurde warm bei seiner Erzählung; die Begeisterung, mit welcher auch er damals in den Kampf gegangen war, ergriff ihn aufs Neue, geleitete ihn durch alle Momente desselben, von den Stadien der Vorbereitung an bis zu dem Augenblick, wo die Schaaren der **schen Reiter mit todestrotzigem Hurrah in den dreifach überlegenen Feind hineingestürmt waren. Daß er zu einem Knaben sprach, vergaß er; – im unaufhaltsamen Fluß, wie seine Erinnerungen ihm zuströmten, redete er, ohne überhaupt noch daran zu denken, ob irgend Jemand seinen Worten lauschte; und darum hatte er kaum mehr auf die glänzenden Augen, die Paul zu ihm aufschlug, geachtet, als auf die sprechende und innige Theilnahme in dem schönen, ernsten Antlitz Katharinas. Hatte doch auch die Letztere die Erzählung, welcher sie vielleicht schon mehr als einmal gehorcht, mit keinem Wort, keiner Frage unterbrochen, sondern nur stumm zugehört.

Erst als der Rittmeister bis zu dem Punct gekommen war, wo seine eigene thätige Theilnahme an dem Kampfe aufgehört hatte, und als er nach den Worten: »Da verwundete die Kugel, die auch meinen Arm getroffen hatte, mein Pferd, daß es unter mir zusammenbrach,« wie überwältigt einen Augenblick schwieg, nahm Katharina die Rede auf, aber in einer Weise, als habe sie selbst Eile, auf das glückliche Ende, das Tröstliche zu kommen, was nach jenem traurigen Momente gefolgt war.

»Und als Du verwundet am Boden lagst, unfähig, Dir zu helfen, und den Tod, den die hinter Euch her stürmenden Feinde Dir bringen mußten, vor Augen, – nicht wahr, Arthur, da gab Dir ein unvermutheter Anruf die erste Lebenshoffnung wieder?«

»Ja,« entgegnete der Rittmeister erregt; »es war mein Vetter Beschkow, der meinen Namen rief. Er stand bei den **schen Dragonern, – er mußte aber weiter; ich erkannte selbst, daß er mir nicht beistehen konnte; denn die Franzosen drängten heran, und er trug die Standarte. Ich rief ihm nur meinen Gruß zu und sah ihn dann weiterjagen. Zwei oder Drei von seinem Regiment waren neben ihm, und plötzlich sehe ich, wie Einer sein Pferd herumwirft und auf mich zukommt. ›Fort, fort!‹ rufe ich ihm, zu; denn ich sehe, daß auch für ihn Gefahr ist, und noch bin ich bei klarem Bewußtsein. Aber er läßt sich nicht irre machen; in einer Minute ist er vom Pferd herunter, in der zweiten hat er das meine vom Boden aufgerissen, ich selbst bin frei, nur der Arm hängt todt nieder. ›Steigen Sie auf, Herr von Aschern!‹ ruft er mir zu, ›Ihr Pferd ist nicht stark blessirt, – es trägt Sie nach!‹

Es bleibt nicht viel Zeit zur Gegenrede; er hilft mir, ich gewinne den Sattel wieder und nun geht's weiter, – die Feinde immer dicht hinter uns, – er die Zügel, die meine Hand nicht halten konnten, in der seinen; – es war ein rasender Ritt. Wie lange er gedauert hat, weiß ich nicht, und ich weiß auch nicht recht mehr, was wir sprachen; denn allmälig kam so etwas wie Betäubung über mich, und ich fühlte mich auch im Sattel schwanken; er suchte mich zu halten. – So viel ist mir noch klar, daß ich ihm sagte, er sollte mich loslassen, sonst verdürben wir Beide, und daß er wie halb verzweifelt schrie: ›Nein, nein! Ist's nicht um Ihr Leben, so ist's um ein anderes!‹ – Und dann kam der Moment, wo mein Pferd völlig lahm ward, und zugleich muß mich eine andere Kugel getroffen haben; denn als ich lange nachher wieder bei Besinnung war, hatte ich noch eine zweite Wunde, hier in der Seite, von der ich bis dahin nichts wußte. Genug aber, – in jenem Augenblick fühlte ich gar nichts weiter; es war mir nur, als würde ich plötzlich durch eine unwiderstehliche Gewalt von meinem Sitz gehoben und dann irgendwo sonst festgehalten. In einer Art Traum sah ich mich auf hoher See, unter mir schaukelten die Wellen, und ihr Brausen und Rauschen hörte ich vor meinen Ohren.

Als ich nach Stunden erwachte, erzählte man mirs, wie Alles gewesen war. Mein unbekannter Retter hat mich, – und ohne Zweifel in dem Augenblick, wo er sah, daß Pferd und Reiter den letzten Rest von Kraft verloren, – zu sich selbst in den Sattel gezogen und ist dann mit mir weitergejagt bis zu einer Stelle, wo er mich sicher auf den Boden gleiten lassen und einer unfernen Ambulance ein Zeichen zuwinken konnte, daß sie mich aufnehmen solle. Als ich zu mir kam, war ich in den Händen der Krankenträger; sie schleppten mich dann auch später in's Lazareth und von dort, – nun von dort kehrte ich nach Monaten als Invalide zurück.«

Den beiden Zuhörern schien der etwas bittre Ton, welchen der Erzähler unwillkürlich wieder in die letzten Worte gelegt hatte, entgangen zu sein, wie denn Katharina seinem besonderen Sinnen, das sich deutlich in ihren großen, ernsten Augen ausprägte, hingegeben war, der Knabe dagegen, noch ganz erfüllt von dem Eindruck des eben Vernommenen, lebhaft ausrief:

»Wer war aber jener Mann, der Dich so tapfer aus der Gefahr herausgeholt hat? Du mußt ihn doch sicher wiedergesehen, oder von ihm gehört haben.

»Leider nein,« entgegnete der Rittmeister, »denn er blieb meinen Augen entschwunden. Ich lag verletzt danieder und konnte ihm nicht nacheilen, oder auch nur sofort persönlich nach ihm forschen, und was ich nachher versuchte, um wenigstens seinen Namen zu erfahren, war wohl zu spät und darum vergeblich.«

»Aber Du konntest ja durch Deine Freunde, durch die anderen Officiere Erkundigungen nach ihm anstellen; thatest Du das nicht?« fragte Paul weiter.

»Gewiß,« entgegnete Aschern. »Sobald ich Alles verstehen konnte, was man mir erzählte, dictirte ich Briefe an die Führer des Regiments, dessen Uniform ich an ihm gesehen hatte – an Beschkow; sie sollten mir den Mann ausfindig machen, der mir das Leben gerettet hatte. Sie haben auch das Ihrige gethan: Nachfragen unter ihren Leuten angestellt, Aufrufe erlassen, mündliche und schriftliche – umsonst; es hat sich Keiner gemeldet, um die Anerkennung für seine unter den Umständen fast übermenschliche That, mit ihr meinen persönlichen Dank, entgegenzunehmen.«

»So ist er vielleicht todt,« meinte der Knabe, von einem plötzlichen traurigen Impulse ergriffen, »wohl gar in derselben Schlacht noch gefallen.«

»O nein, nein, gewiß nicht,« rief Katharina, sich mit einem Male selbst wieder in das Gespräch mischend und in einer eigenthümlichen Erregung aus: »Mir sagt es ein bestimmtes Gefühl, ein Glaube; er ist nicht todt, – wir alle werden ihn noch einmal von Angesicht sehen, ihn wiederfinden!«

Mit einem hellen und zugleich freudigen Blick sah der Rittmeister zu ihr hinüber:

»Ich danke Dir, Katharina, daß Du meine Hoffnung theilst. Es kann darum wohl nicht ganz thöricht sein, wenn ich auch an den heutigen Tag den Gedanken knüpfe, er könne mich in irgend einer Art, wenn auch nicht dem Manne direct gegenüberführen, so doch auf seine Spur bringen.«

»O dann aber, wie sah Dein Retter aus? Bitte, beschreibe ihn uns,« rief Paul lebhaft.

»Ei ja, mein Junge, sein Signalement darfst Du nun schon nicht fordern,« rief der Rittmeister lächelnd. »Wenn man zwischen Leben und Sterben schwebt, achtet man gerade nicht sonderlich darauf, ob die Augen eines Andern blau oder grau, seine Haare braun oder schwarz sind. Dennoch aber,« – und hier ward seine Stimme wieder ernster, »dennoch ist mir's, als würde ich das Gesicht, das ich mir in diesem Augenblick mit keiner Mühe klar vorzustellen vermag, auf der Stelle erkennen, wenn ich mich ihm plötzlich aufs Neue gegenübersähe, ja als müßte ich, und wenn er selbst unter tausend Köpfen vor mir auftauchte, mit unbeirrter Sicherheit ausrufen können: ›Der Mann war es und kein anderer!‹«

Katharina war nun einen Schritt näher heran getreten; ihre Wangen waren geröthet, ihre Augen leuchteten.

»Darf ich Dir ein Bild malen, Arthur, wie es mir vorschwebt? Eine Gestalt, schlank und kräftig zugleich, biegsam und doch wie aus Stahl zusammengefügt, Bart und Haar dunkelschwarz wie die Augen und die hochgeschwungenen Augenbrauen, die sich über der Wurzel der feinen Nase nahezu berühren, – auf der Seite der schmalen, hohen Stirn der langgezogene Strich einer Narbe – –«

»Katharina!,« rief der Rittmeister fast erschrocken aus; »hast Du eine Vision, oder – –«

Es blieb ihm nicht Zeit, den Satz zu vollenden, nicht einmal, seiner Verwunderung länger nachzuhängen; denn der Ruf: »Nun kommen sie!« den man mehrfach bereits vernommen, der mehrfach schon getäuscht hatte, – in diesem Augenblick hatte er Wahres zu bedeuten; denn nicht allein wurde er tausendstimmig fortgepflanzt, auch die Töne der kriegerischen Musik, die jetzt hörbar und von Secunde zu Secunde vernehmlicher ward, bestätigte ihn. –

Alles drängte sich an die Brüstung des Balkons, voran der jubelnde Knabe, welcher in kindlicher Begeisterung sein Mützchen vom Kopfe gerissen hatte und dasselbe den Kriegern entgegenschwenkte, hinter ihm drein, bewegt, wenn auch in äußerlich ruhiger Haltung, Katharina, dann der Rittmeister, eine Dame noch, die rasch aus dem Zimmer herbeigeeilt kam, und Alles, was sonst noch von den Hausgenossen auf diesen Augenblick gewartet hatte.

Der Einzug begann und setzte sich fort, wie er sich vor und nach diesem Tage an so vielen Orten, für die ein gleicher Festtag gekommen war, vollzog, und wie er nicht bloß im Gedächtniß Derer, die ihn geschaut, fortlebt, sondern auch durch Schrift und Bild für spätere Zeiten und Geschlechter festgehalten werden sollte. Dasselbe Schauspiel, dieselbe Begeisterung, dieselben Spenden an Blumen und Lorbeeren hier wie an anderen Stätten! – –

 

Als die Fußsoldaten schon vorüber gezogen waren, kamen die Reiter, – und vielleicht war es nicht allein von dem Balkon der Aschern'schen Wohnung, daß man ihnen mit erhöhter Spannung entgegen blickte; knüpfte sich doch der Ruhm einer besonders glänzenden Waffenthat gerade an diese Regimenter.

Eine Schwadron nach der anderen hatte ihren Weg bereits verfolgt, sich begrüßt gesehen und ihren Antheil an Hochrufen und Kränzen empfangen; da geschah es, daß das Pferd eines der Reiter, durch einen zufälligen Umstand erschreckt, etwas scheute und einige kurze Courbetten machte, die sein Herr zu zügeln hatte. Wenn dies der sicheren Hand des Letzteren nun auch sofort gelang, so waren doch die Bewegungen des Thieres wie seines geschickten Bändigers die Veranlassung, daß sich diese und jene Blicke mit besonderer Beachtung nach Beiden kehrten, und vor allen hatten die des Knaben an dem Balkon dies gethan. Plötzlich nun hörte man Paul einen lauten, verwunderten Ruf ausstoßen, und fast eben so schnell kamen die Worte aus seinem Munde:

»Herr Wöllnitz! Sieh nur, Tante Katharina; es ist Herr Wöllnitz!«

War es aber, daß der Reiter den Ausruf des Knaben gehört hatte; war es ein Zufall, der seinen Blick richtete oder ein magnetischer Rapport, der denselben nach oben zog, – genug, er sah in dieser Secunde herauf. Seine Augen begegneten sich mit denen der Dame, deren eine Hand sich an der Brüstung festhielt, während aus der anderen – bewußt oder wie im Traum? – der Lorbeerkranz herniederflog, den sie in derselben gehalten hatte.

Er fing ihn auf, machte ein Zeichen des Dankes, grüßte noch einmal und fügte sich dann wieder in die Reihe der Cameraden ein. Daß auch der Officier, welcher auf dem Balkon an der Seite der schönen Frau stand, einige lebhafte Worte rief, die ihm galten, hatte er wohl nicht mehr vernommen.

»Katharina, – den Mann dort, – ich muß ihn schon einmal in irgend einem Moment meines Lebens in's Auge gefaßt haben!«

Das waren die erregten Worte gewesen, die der Rittmeister hervorstieß, als der Reiter sein Pferd wandte. Das Beben von Katharinas Körper verrieth die Erschütterung, welche sie selbst in dieser Minute erfahren hatte; dennoch zwang sie sich, daß sie ihrem Begleiter nahe treten und ihn anreden durfte.

»War es nicht in jenem Moment, Arthur,« sagte sie, »als er auf dem Schlachtfelde sein Pferd nach der Stätte lenkte, wo Du am Boden lagst, als er Dich aufhob und Dich unter Gefahr des eigenen Lebens an die Stelle führte, wo Du geborgen warst?«

Einen Augenblick lang starrte er wie betäubt in die Augen, die sich voll und leuchtend auf ihn geheftet hatten; dann aber ging es wie ein Blitz durch seine Züge, ein Blitz, ein Aufwachen der Erinnerung

»Allbarmherziger Gott!« rief er aus, »Du hast Recht, »wo waren meine Gedanken? Jetzt weiß ich, ich darf es aussprechen: Der war es, der – er und kein Anderer! Aber noch einmal, Katharina, hast Du denn das Auge einer Seherin?«

Ein strahlendes, glückliches Lächeln verklärte ihre Züge.

»Man sieht hell, wenn man mit dem Herzen sieht.« –

Nur leise kamen die Worte über ihre Lippen, und sie schienen auch kaum für Den gesprochen zu sein, der sie als Antwort für seine Frage hätte nehmen dürfen; denn sie sah dabei in die Ferne hinaus – weit hin über den Weg, den vorübermarschirende Truppen noch zogen.

Der Rittmeister aber hatte sich in dem gleichen Augenblick der anderen Dame zuzuwenden, die sich erst spät den Uebrigen beigesellt hatte, nun aber, seit das erste Wort jener kurzen Unterredung gefallen war, neben ihm gestanden und die letztere mit tief erregter Theilnahme begleitet hatte.

»Welch ein Glück, o, mein Gott, welch ein Glück!« rief sie jetzt. »Das tägliche Gebet meines Herzens geht in Erfüllung; wir werden Deinen Retter finden, Arthur.«

»Und nähme er Flügel des Sturmwinds oder der Morgenröthe, wie es ja wohl in der Bibel heißt,« entgegnete der Rittmeister, dem die glückliche Stimmung schnell einen Anflug von Humor verlieh. »Und wenn ich die Hand auf ihn gelegt habe, nicht wahr, Katharina, so soll dies Haus ihm das Willkommen bieten?«

»Ja, Arthur!« – Sie fügte dem Wort kein anderes hinzu; aber an ihrer Miene sah er, daß er ihr den Gast bringen durfte. – –

 

Was galt dem Rittmeister das Herumirren, das Nachfragen von Quartier zu Quartier, was er in derselben Stunde noch begann; endlich mußte ja der Gesuchte gefunden werden. Half ihm doch dazu schon der Name, den er zuerst von Paul gehört, und dem Katharina hernach weitere Erklärungen hinzugefügt hatte. Und wirklich ward die Spur gefunden, und wirklich stand der Rittmeister bald vor dem Manne, dem er es zuzuschreiben hatte, daß er an jenem Tage nicht elend verkommen war unter den Hufen der feindlichen Reiter.

Was half es Leo aber jetzt noch, daß er das Geschehene mit einem Schleier bedecken und sich selbst in der Verborgenheit erhalten wollte? konnte er die That ableugnen, der Erklärung des Rittmeisters, welche ihm dieselbe unumwunden aus den Kopf zusagte, ein Nein entgegensetzen?

»Nun wohl,« sagte er, halb lachend, als ihm seine Ausflüchte nicht mehr halfen, »ich habe an dem Tage, von welchem Sie sprechen, und bei jenem Ritt einmal einige Minuten lang einen Andern vor mir auf dem Sattel gehabt, und wenn Sie dieser Andere waren, Herr Rittmeister – –«

»Sie wissen es, Sie riefen mich damals mit meinem Namen an,« unterbrach ihn Aschern eifrig.

Leo biß sich unwillkürlich auf die Lippen.

»Gut denn, ich will auch das zugeben,« entgegnete er dann rasch entschlossen; »aber bei alledem haben Sie mir nicht persönlich zu danken, weil ich nichts für Sie persönlich that. Wenn Ihnen die Hinweisung auf die allgemeine Pflicht nicht genügt, so nehmen Sie einfach an, mir sei zufällig in dem Augenblick ein Gedanke gekommen, der mir Ihr Leben werthvoller erscheinen ließ als das meine, etwa an ein Herz, das um Sie trauern würde – eine Gattin!«

»Meine Frau, – Sie haben es getroffen!« rief der Rittmeister lebhaft; »meine Frau hätte meinen Tod vielleicht nicht überlebt. Sie bat den Himmel wärmer noch als ich, daß er Sie uns finden ließ, damit wir Ihnen danken könnten.«

Leo machte eine leise, abwehrende Bewegung.

»Der Händedruck, den Sie mir geboten haben, Herr Rittmeister, und den ich annehmen will, macht Alles gut; – ich bitte Sie, lassen Sie uns damit abbrechen.«

»Und das fordern Sie im Ernst?« rief der Rittmeister, »und glauben können Sie wirklich, daß ich mich nicht etwa an ihre Fersen heften und Sie festhalten sollte, bis meine Frau, die gewiß die Minuten zählt, Sie gesehen habe? bevor Sie nicht wenigstens ein Wort, einen Handschlag von Jedem empfangen haben, für den mein Leben nur irgend eine Bedeutung hat?«

Es war vergebens, daß sich Leo tief im Herzen gegen den Gang, den er thun sollte, sträubte, daß er auch äußerlich diesen Widerstand kund that; es kam doch der Augenblick, wo er sich sagen mußte, daß er auf dem Puncte stand, den Mann, der sich ihm zutraulich genaht hatte, Katharinas Gatten, bitter durch seine Weigerung zu kränken, und mehr noch, wo er sich plötzlich bewußt ward, daß er noch eine Aufgabe unerfüllt gelassen habe, eine Aufgabe, die das eigene Mannesgefühl seinem Herzen stellte: daß es ruhig in Katharinas Gegenwart schlagen lerne. – Wollte er nicht vor sich selbst feige erscheinen, so mußte er das Verlangen des Rittmeisters erfüllen; – und so sprach er denn nach einem kurzen Kampfe den Entschluß aus, Letzteren nach dem Orte, wohin er ihn führen wollte, zu begleiten.

Der Erste, welcher ihm in jenem Hause, welches den Balkon trug, entgegenkam, ihn mit einer aus Eifer und Verlegenheit seltsam gemischten Freude begrüßte, war Paul. Es bedurfte für Leo keines langen Erinnerns, bevor er den Knaben erkannte, – mußte er doch daran denken, daß derselbe das erste Bekanntwerden mit Katharina vermittelt hatte. – Die kurze Erkundigung, wie es käme, daß er ihn an dieser Stelle träfe, ward rasch dahin beantwortet, daß er zwar nicht eigentlich mehr in das Haus der Tante gehöre, von derselben aber eingeladen sei, seine Ferienzeit bei ihr, hier in der Stadt, zuzubringen, und in eine solche Ferienzeit falle nun gerade der Einzug.

Während Leo sich noch halb zu seinem kleinen Freunde niedergebeugt hatte, um ein paar freundliche Worte mit ihm zu sprechen, war der Rittmeister in Begleitung einer Dame, die er herbeigeholt hatte, wieder an seine Seite getreten. Bei den Worten: »dies ist meine Frau!« fuhr Leo empor, – er sollte jetzt Katharina ins Auge blicken.

Verwirrt aber und halb erschrocken starrte er in der nächsten Secunde auf das liebliche Angesicht, das sich ihm in unverhohlener Rührung entgegenneigte, verwirrt auch hörte er die Worte an sein Ohr schlagen, welche über die Lippen der jungen Frau kamen; er begriff nur halb, daß sie ihm für die Erhaltung ihres höchsten Glücks dankte; denn Die, welche er vor sich sah, deren Stimme er hörte, war ja nicht Katharina, – sie war eine Niegesehene, eine Fremde.

Er bedurfte seiner ganzen Kraft, um es nicht zu verrathen, daß er seine Fassung verloren hatte, um sie in derselben Minute noch wiederzugewinnen, so daß er auf die Worte antworten konnte, die an ihn gerichtet waren.

Dann aber war es unmöglich, ein anderes Wort, eine eigene Frage noch länger zurückzuhalten.

»Ich habe bis zu diesem Augenblick eine vorgefaßte Meinung gehabt, Herr Rittmeister,« sagte er: »die Dame, welche ich vorhin an Ihrer Seite an dem Balkon sah, aus deren Händen mir der Kranz zu Theil ward – –«

»Meine Schwägerin Katharina, die Frau meines verstorbenen älteren Bruders,« entgegnete der Rittmeister, die Dame vorstellend, von welcher Leo redete, welche schon vor einer Secunde, ohne daß er dessen inne geworden wäre, neben ihn getreten war.

Zum zweiten Mal an dem heutigen Tage begegneten sich die Blicke der Langgetrennten; ihre Hände lagen in einander, – zu sprechen vermochten in diesem Augenblick Beide nicht. –

 

Eine Stunde später saß Leo in Katharinas Zimmer, der Herrin des Hauses gegenüber, – er allein mit ihr. – Er wußte jetzt Alles; den ganzen Zusammenhang der Verhältnisse hatte er aus ihrem Munde erfahren. Vor bald drei Jahren hatte sie einem älteren Manne, der schon der Freund ihres Vaters gewesen und deshalb ein Gegenstand ihrer kindlichen Verehrung war, ihre Hand gereicht. – Das Glück habe ihrer Ehe nicht gefehlt, – so hatten ihre Worte gelautet, – aber es war kurz gewesen; nach einem halben Jahre schon sah die Welt sie als Wittwe. Sein Vermögen, das Haus, welches sie mit ihm bewohnt hatte, blieb das ihre; und außerdem blieb ihr das Band, welches sie mit seiner Familie vereinte, und das sie namentlich zu der geliebten Schwester seines viel jüngeren Bruders machte, eben des Rittmeisters von Aschern, an dessen Seite Leo sie zuerst auf dem Bahnhof wiedergesehen hatte; wie sie dann, als des Umstandes in dem weiteren Gespräch Erwähnung gethan ward, ihrer damaligen Begleitung des Schwagers noch die Erklärung gab, sie habe sich als die Berufenste gefühlt, sein letztes Wort und seinen letzten Gruß in Empfang zu nehmen, um Beides dann wieder der jungen Frau zu überbringen, indem diese, die erst wenige Tage zuvor Mutter geworden sei, dem Gatten dies Geleit nicht habe geben können, sondern in banger Sorge um den erst halb von schwerer Krankheit Genesenen habe zurückbleiben müssen.

Er hatte die Erläuterungen, trotzdem sie aus ihrem Munde kamen, nur mit halber Aufmerksamkeit angehört; denn seine Gedanken glitten über die Minute des erwähnten Wiedersehens hinweg, um an jener anderen Minute zu haften, wo er ihr vordem zum letzten Male Lebewohl gesagt hatte.

»Katharina,« sagte er, »dachten Sie nicht damals, als wir uns trennten, in jener schweren Stunde, – daß es ein Abschied für immer sein würde?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Leo, – ich habe zu der Zeit, und noch lange über die Zeit hinaus geglaubt, daß Sie dereinst wiederkommen müßten, wenn Sie sich selbst wiedergefunden haben würden!«

Er sah sie überrascht an.

»Ich gebrauchte damals das Wort, und, ich weiß es, ich fühlte es gleich, – Sie tadelten es; warum wählen Sie es jetzt selbst, warum sprechen Sie es nicht aus, daß ich Der nicht bleiben durfte, der ich war?«

Sie lächelte ernst.

»Besinnen wir uns recht auf uns selbst, Leo, so finden wir wohl, daß wir den Kern unseres eigensten Wesens oft selbst nicht verstanden haben, weil wir ihn überwuchern ließen von unseren Leidenschaften und unserem Egoismus. – Sie brauchen es mir nicht erst zu sagen, Leo, daß Sie durch die Schule des Lebens gegangen sind und Ihre Arbeit gethan haben.«

Einige Augenblicke lang schwieg er; dann sagte er langsam:

»Sie haben Recht, namentlich wenn Sie Denken und Erinnern arbeiten nennen.«

Er stand auf und machte einige Gänge durch das Zimmer; darauf trat er wieder zu ihr.

»Katharina, ich habe Ihnen von meinem Leben in dem fernen Westen erzählt, von meinen Wanderungen durch bewohntes und unbewohntes Land; von Wäldern und Einöden habe ich Ihnen Bilder entworfen, und Ihre Phantasie hat dieselben ergänzt, daß Sie sich eine Vorstellung wenigstens zu machen vermochten von all dem Schönen und dem Schrecklichen, dem Seltsamen und dem Großartigen, was in jener Natur liegt. Eins aber verstand ich Ihnen nicht zu schildern, von einem Ihnen keine Vorstellung zu geben: von dem Gefühl, welches die ungeheure Einsamkeit, die mich tage- und wochenlang umfing, über die Menschenseele bringt. – Einer unserer geistvollsten Schriftsteller, zugleich der beste Kenner amerikanischer Verhältnisse und amerikanischen Lebens, sagt einmal in einer erschütternden Erzählung von einem in der Prairie Verirrten: die Seele, welcher das Bewußtsein einer so völligen Verlassenheit komme, müsse entweder von grenzenloser Verzweiflung, oder von einer eben so grenzenlosen Gottesverehrung ergriffen werden. Die Wahrheit dieser Bemerkung, Katharina, habe ich an mir erfahren. Nicht zwar, was viele unter den Menschen ›fromm‹ nennen, bin ich in der Einsamkeit der Wildniß geworden, aber einen Gott, – meinen Gott habe ich in ihr gefunden. Und er hat mir geholfen, daß ich mit der Vergangenheit fertig wurde,« setzte er nach einer kleinen Pause hinzu, »und daß ich für das, was nun noch vom Leben einzuzeichnen blieb, ein reines Blatt bieten konnte.«

Sie schwieg; aber er las ihren Antheil in ihren Augen, die feucht waren, sah ihn an der Weise, mit welcher sie – ihm die Hand bot.

Er faßte diese Hand und behielt sie dann in der seinen.

»Ich habe Ihnen noch mehr zu sagen,« fuhr er fort. »Sie sprachen es vorhin selbst aus, daß der wahre Kern unseres Wesens oft in uns schlummere und sich durch alle Hüllen, die wir um ihn gewoben haben, erst Bahn brechen müsse. So bin ich auch durch alle Täuschungen und Verirrungen hindurch, die sie verschleierten, zu einer Wahrheit zurückgeleitet worden, zu einer Erkenntniß, die in mir aufgegangen ist, als ich allein war, und mir geleuchtet hat wie ein Stern in jener Einsamkeit. Sie aber, werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage: was mein Herz erfüllt hat bis in seine Tiefen, was ihm sein Licht und seine Hoffnung wiedergegeben hat, – es war die Liebe zu Ihnen, Katharina.«

Sie sah ihm klar und fest in die Augen.

»Ja, Leo, ich glaube Ihnen,« sagte sie.

Er athmete hoch auf.

»Und was spricht Ihr eigenes Herz?« fragte er dann.

Einen Moment lang senkten sich ihre langen Wimpern vor seinen Blicken.

»Als der Mann, dessen Namen ich trage,« sprach sie dann, »um meine Hand warb, legte ich ihm ein offenes, freies Bekenntniß ab; ich verhehlte ihm nichts von meiner ganzen Vergangenheit, von meinem einstigen Verhältniß zu Ihnen; auch, daß ich selbst das Band zwischen uns zerrissen hätte, sagte ich ihm. Daran aber knüpfte ich noch ein Geständniß, dies, Leo: daß ich nicht selbstbewußt an Das zurückdächte, was ich gethan, sondern daß ich einen Stachel empfände, den Stachel der Reue darüber, daß ich mehr auf meinen Stolz gehört hatte als auf das Gebot, das meinem Herzen zurief: Verzeihe!«

»Nein, Katharina, nein!« fuhr er auf, »diesen Vorwurf durften Sie sich nicht machen; Sie waren im Recht.«

Sie legte sanft ihre Hand auf seinen Arm.

»Hören Sie mich weiter an; – Sie müssen auch das zweite Geständniß noch vernehmen, das ich meinem Gatten machte und das vor ihm und vor mir bestehen blieb, trotzdem es nicht hinderte, daß ich sein treues Weib ward. Die Sorgfalt, die Verehrung einer Tochter könne ich ihm bieten als sein eigen, sagte ich ihm, die Liebe des Herzens nicht; denn die sei des Mannes, den ich zwar von mir gestoßen habe, dem sie aber dennoch gehöre, so lange ich athmen würde. Und nun sprich auch Du, – glaubst Du das, Leo?« schloß sie mit dem weichsten Ton ihrer tiefen, klaren Stimme, indem sie ihre Augen lächelnd, glänzend, strahlend zu ihm; aufschlug.

Das Entzücken, das in seinem Antlitz aufging, antwortete ihrem Blick.

»Ja, Katharina, ich glaube es!« sagte er.


 


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