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Unter dem Himmel Italiens, im Palast der französischen Bourbonen, schloß am 13. Februar 1883 der deutsche Künstler Richard Wagner seine Augen. Ein ewiger Schleier sank nieder zwischen ihnen und dieser Welt, der sie so tief und schonungslos, und doch auch so liebevoll und trostkräftig in das Herz geblickt hatten. Das ist das Wunderbare, das Unfaßliche, ja, das Fürchterliche, was dem Menschengemüte bei dem Tode eines solchen Großen des Geistes sich aufdrängt: ein Weltbild ist mit einem Schlage dahin, – eine heftige Blutwelle des Herzens hat es im Nu ausgelöscht – ein Weltbild, einzig in seiner Art, nur in diesem Einen mächtigen Gehirne, durch dieses eine gewaltige Leben gerade so zur genialen Bestimmtheit ausgebildet und ausgestaltet – es ist zertrümmert wie ein Spiegel, der eben noch die ganze Fülle der Wirklichkeit in seinem klaren Scheine barg, und nun ist nichts mehr übrig als arme Scherben und Splitter, in denen das große Bild sich tausendfältig, kleinlich bricht: das sind die schwachen, unfertigen, kleinen Weltanschauungen, welche die Menge der hinterbliebenen Menschheit nach dem Hingange eines großen genialen Geistes gewohnheitsmäßig mit sich weiterträgt! Ihr wahrhaftiges, meisterliches, allumfassendes Bild hat die Welt mit jedem solchen Tode verloren, es ist aus ihr verschwunden auf Nimmerwiedersehen! Sie wird nie mehr also gesehen werden, diese Welt! Die erhabenen Einzelbilder eines Tristan, Wotan und Parsifal – die sieht sie noch: aber sie wird nicht mehr gesehen von den Sonnenaugen des Genius. Die schwere, schwarze Wimper des Grabes verschließt ihr einen Stern des Lebens, darinnen sie ihr Wesen und Schicksal lesen konnte.

Und wie war doch gerade bei Wagner Alles Auge, Alles Sehen, Alles Schau! – Wie konnte er sich entsetzen über die Unfähigkeit der Menschen einfach zu »sehen«. Immer sah er sie nur kalkulieren und spekulieren, konstruieren und systematisieren im grauen Nebel blinder Theorie. »Habt ihr Augen! Habt ihr Augen?« so ruft er fragend und klagend noch in seinem letzten Briefe an einen treuen Schüler und erzählt uns dann jene, für seine ganze Art zu schauen und zu fühlen so ungemein bezeichnende Geschichte: »Mehr als alle Philosophie, Geschichts- und Rassenkunde belehrte mich eine Stunde wahrhaftigsten Sehens. Es war dies am Schließungstag der Pariser Weltausstellung des Jahres 1867. Den Schulen war an diesem Tage der freie Besuch derselben gestattet worden. Am Ausgange des Gebäudes durch den Einzug der Tausende von männlichen und weiblichen Zöglingen der Pariser Schulen festgehalten, verblieb ich eine Stunde lang in der Musterung fast jedes Einzelnen dieses, eine ganze Zukunft darstellenden Jugendheeres verloren. Mir wurde das Erlebnis dieser Stunde zu einem ungeheuren Ereignis, so daß ich vor tiefster Ergriffenheit endlich in Thränen und Schluchzen ausbrach. Dies wurde von einer geistlichen Lehrschwester beachtet, welche einen der Mädchenzüge mit höchster Sorgsamkeit anleitete und am Portale des Einganges wie verstohlen nur aufzublicken sich erlaubte. Zu flüchtig nur traf mich ihr Blick, um selbst wohl im günstigsten Fall von meinem Zustand ihr ein Verständnis zu erwecken; doch hatte ich mich soeben bereits genug im Sehen geübt, um in diesem Blicke eine unaussprechlich schöne Sorge als die Seele ihres Lebens zu lesen. Diese Erscheinung erfaßte mich um so eindringender, als ich nirgends sonst in den unabsehbaren Reihen der Geführten und Führer auf eine gleiche, ja nur ähnliche getroffen war. Im Gegenteile hatte mich hier alles mit Grauen und Jammer erfüllt: ich ersah alle Laster der Weltstadtsbevölkerung im voraus gebildet, neben Schwäche und Krankhaftigkeit, – Rohheit und boshaftes Begehren, Stumpfheit und Herabgedrücktheit natürlicher Lebhaftigkeit, Scheu und Angst, neben Frechheit und Tücke. Dies alles angeführt von Lehrern allermeist geistlichen Standes in der häßlich eleganten Tracht des neumodischen Priestertums, sie selbst willenlos, streng und hart, aber mehr gehorchend als herrschend. Ohne Seele alles – außer jener einen armen Schwester.« – Da haben wir den ganzen Wagner: den Menschen, den Schriftsteller und den Künstler. Und der große Denker und Lehrer schließt mit den Worten: »Ein langes tiefes Schweigen erholte mich von dem Eindrucke jenes ungeheuren Sehens. Sehen und Schweigen: dies wären endlich die Elemente einer würdigen Errettung aus dieser Welt. Nur wer aus solchem Schweigen seine Stimme erhebt, darf endlich auch gehört werden.« – Ja, aus solchem Sehen und Schweigen erhob er selbst seine Stimme und kündete uns von tiefsten und höchsten Dingen nach Meisterart. Jene Worte aber hatte er am Schlusse seines großen Lebens niedergeschrieben am 31. Januar 1883. Vierzehn Tage darauf hatte sich das sehende Auge für immer geschlossen, und dem letzten Sehen war das ewige Schweigen gefolgt. Dieser lichte Geist des Schauens, nun war auch er eingegangen in jene »Nacht«, die er im Dichtertraume seines Tristan auch schon so wunderbar »liebend erschaut«. Er ging nicht in die Fremde, er ging in die Heimat, – dort in die »traulich-treue Tiefe«, welche seine Rheintöchter, die klagenden Stimmen der Natur, so ergreifend zu preisen wußten. Am Abend vor seinem Tode hatte er ein schönes deutsches Märchen vorgelesen, das von den Elementargeistern handelt: die »Undine« von La Motte-Fouqué. Er hatte sich, lange noch sprechend, in dieses phantastische Reich der Volkspoesie vertieft und war dann noch einmal, zum letztenmal, an das Klavier getreten, um die Schlußworte jenes wehmütigen Rheintöchtersanges anzustimmen: »traulich und treu ist's nur in der Tiefe!« »Ja, traulich und treu – nur in der Tiefe«, hatte er leise für sich wiederholt. – Damit war er von den Kindern geschieden, um sich zur Ruhe zu legen. – War es die Tiefe des Grabes, in deren treue Vertraulichkeit, in deren ewiges Schweigen er nun eingehen sollte? – Nein, eine andere Tiefe hatte sich ihm in seiner lebenslangen Weltschau längst erschlossen; und wenn sein Tristan sie den Tod nennt, so nennt er sie doch auch die Liebe, den Tod der Lüge und des Scheines; und in dieser tiefen Liebesmacht wurzelt alles neue, ewig junge und wahre Leben!

Ein kleiner Kreis engerer Freunde des Dahingeschiedenen stand einsam schweigend im sinkenden Abenddunkel um das frische Grab, nachdem die Trauerfeier lange vorüber war, und der Schnee rieselte leise nieder zwischen den ernsten Pappeln und Büschen ringsum auf die winterlich dürren Epheublätter am Steine, der das teure Eigen der Natur uns barg: da war es wohl kalter, stiller, öder Winter –: aber in den Herzen der Einsamen und Verwaisten regte sich das Ahnen jenes Geheimnisses: daß das »Staub zum Staube« auch ein »Leben aus dem Tode« bedeute. Hier berührten sich die »Heimaten« der Menschen: die irdische Natur sprach in stiller Todes- und Liebesnacht ihr großes Trostwort zu ihrer ewigen Schwester: dem menschlichen Gemüt! – Das war wohl wie eine Stimme aus dem Grabe; denn wer hat unsere Gemütskräfte in diesen Zeiten der gemütlosen Hast alles geistigen und materiellen Lebens mächtiger und tiefer erregt, geweckt, gestärkt, erhoben als Wagner und seine Kunst?! Ja, recht aus der Tiefe des Gemütes ist dieser Mann uns noch einmal zur rechten Zeit emporgestiegen, um uns durch alles, was er aus jenem Horte des Heils uns mitgebracht, an das höchste Heil selber zu mahnen, das für alle leidende Welt einzig in der Kraft des Gemütes beschlossen liegt.

Gewiß wird niemand leugnen, daß in unserer modernen Welt der »Revolution« eine Masse von Geist und Witz zu Tage trat und sich eifrig zu thun machte; daß tüchtige Kräfte sich rührten und große Pläne mit Geschick ihrer Verwirklichung zugeführt wurden. Um so trauriger muß es bei all' dem großen Treiben und Leben in der modernen Welt erscheinen, daß offenbar die edelste Macht des menschlichen Gemütes dabei überall zu kurz kam, daß ihr die besten Kräfte, daß ihr das lebendige Interesse des Volkes entzogen ward, und daß man mit dem gepriesenen Fortschritte, der auf vielen Gebieten so unleugbar glänzend sich bemerken ließ, nur immer mehr in den Materialismus und Mechanismus hineingeriet. Wenn an irgend etwas, so zeigte sich diese Wirkung ersichtlich an dem Rückgang des religiösen Sinnes in der Allgemeinheit des deutschen Volksgemütes. Der Ruf einzelner ernsterer Männer nach einem neuen »Reformator«, wie er wohl mehrfach in diesen Zeiten laut geworden ist, deutet auf die Herzensöde hin, die nichts anzufangen weiß mit der einfachen Thatsache, die über alle reformatorischen Bemühungen unendlich erhaben dasteht: mit dem Besitze der Lehre Christi selber.

Wer das große Glück genossen hat, Wagner nicht nur aus seinen Werken und Schriften, sondern auch persönlich kennen gelernt zu haben, der hat es auch erfahren können, daß es Einen unter uns gab, welcher etwas damit anzufangen wußte! Und wenn es nun beginnt, im Volke sich zu regen von neuer »Sehnsucht nach dem Heil«, so hat die ideale und vertiefende Wirkung der Wagnerischen Kunst auf ihre Weise wohl auch ihren Teil daran gehabt für Diejenigen, die auf sie ernstlich achteten. Hätten sie alle auch seiner Lehre und Worte geachtet, wir wären noch weiter! Solche Worte seien denn hier aus der Erinnerung wiederholt.

Es war am Tage nach der Vollendung der Komposition des »Parsifal«, da sagte Wagner im Gespräche über ein neues Buch von der materialistisch-atheistischen Richtung etwa Folgendes: »Man sollte doch froh sein, von Kindheit an mit den religiösen Traditionen verwachsen zu sein; sie sind durch gar nichts von außen zu ersetzen. Sie enthüllen nur immer mehr und immer beglückender ihren tiefen Sinn. Zu wissen, daß ein Erlöser einst da gewesen ist, bleibt das höchste Gut eines Menschen. Dies alles mit einem Mal wegwerfen zu wollen, zeugt von großer Unfreiheit, von einer Sklaverei des Geistes durch unsinnige demagogische Einflüsse, ja, und es ist schließlich nichts wie Renommage!« Ein andermal gebrauchte er von einem solchen schriftstellerisch gewandten Kritiker des Christentums den glücklichen Ausdruck: »der schreibe über Religion und Christus wie ein Quartaner, der eben Tertianer geworden ist.« Und wenn er den Mann dann beklagte, wie ihm so ganz der tiefe, ernste Blick fehle in das Innere des Größten, Einzigen, welches da für uns erschienen sei, so hat er selbst ein anderes Mal von diesem Blicke, wie er ihn gethan, uns, die wir ihn darüber reden hören durften, ein herrliches Zeugnis abgelegt, als er sagte:

»Man könnte meinen, es habe ja doch so viele Märtyrer und Heilige gegeben, warum sollte gerade Jesus der Göttliche unter ihnen sein? Aber alle jene heiligen Männer und Frauen wurden es erst durch göttliche Gnade, durch eine Erleuchtung, eine Erfahrung, eine innere Umkehr, die sie aus sündigen Menschen zu Übermenschen werden ließ, die uns nun beinahe wie unmenschlich berühren. Auch Buddha war ein wollüstiger Prinz mit seinem Harem, ehe ihm die Erleuchtung kam. Es war sittlich groß, erhaben von ihm, aller Weltlust zu entsagen, aber es war nicht göttlich. Bei Jesus dagegen ist von Anfang an völlige Sündenlosigkeit ohne jede Leidenschaftlichkeit, göttlichste Reinheit von Natur, und dabei erscheint es doch nicht – was man denken könnte – wie etwas »Interessantes«, oder gar wie etwas Unmenschliches, sondern diese reinste Göttlichkeit ist gänzlich von reinster Menschlichkeit, die uns durch Leiden und Mitleiden allgemein menschlich ergreifen muß, eine unvergleichlich einzige Erscheinung.« Und er schloß mit dem unvergeßlichen Satze: »Alle andern brauchen des Heilands. Er ist der Heiland.«

Doppelt bedeutsam aber klingt uns wohl nun, da seit 1883 so manche Große und Edle dahingegangen, das Wort wieder: »Ein einziges, niemals wiederkehrendes Mal hat das Göttliche selbst in vollster Naivetät und reinster Schönheit das Menschliche durchbrochen und uns den Weg der Erlösung gezeigt. Dieser Weg aber geht in den Tod: und Christus hat uns das Vorbild gegeben, ›schön zu sterben‹ wozu auch ein schönes Leben führt.«

Doch freilich, es gehörte zu solchen Worten auch der ganze Mann, der nun nicht mehr ist, seiner Stimme Ton und Accent, sein sprechendes Auge, die Lebendigkeit all' seiner Gebärden, der furchtbare Ernst, die tiefe bebende Ergriffenheit seines ganzen Wesens in solchen Augenblicken. Was man aus der Erinnerung als »sein Wort« mitzuteilen sucht, bleibt immer ein Stückwerk, künstlich erst wieder nach der Art unserer gewöhnlichen Buchrede zusammengeflickt, und es macht besonders dem armen Berichterstatter selber den schmerzlichen Eindruck einer klingenden Phrase an Stelle dessen, was durch und durch Leben und Wahrheit war. Man konnte in solchen Augenblicken unmittelbar empfinden, wie bei Wagner das Empfundene und Geschaute gleich ein lebendiges Ganzes, ein durchaus Körperlich-Wirkliches, ein Kunstwerk ward. Es blieb niemals beim bloßen Worte: die Musik klang aus der Tiefe des Gemütes, dem dieses Wort entquoll, geheimnisvoll mit darein, und die Gestalt des »Helden« erschien vor dem Blicke des Hörers. Daß so etwas nun wirklich dahin ist, solche Projektion des Weltbildes aus dem Geiste des Mannes in seine unmittelbare Persönlichkeit – das ist freilich ein Ding zu tiefster Trauer! –

Hätte nun Wagner mit dieser Tiefe des Blickes in das Wesen der Religion ein Reformator werden können?

Wohl schwerlich im Sinne Derer, die nach einem Solchen in ihrer religiösen Drangsal rufen und den Reformator daher auch nur auf religiösem Gebiete sich denken können. Diese reden wohl gar von Entweihung oder Blasphemie, wenn er seiner Natur nach Künstler ist und deshalb das große Weltbild, welches er erschaut, zwar aus religiöser Gemütstiefe hervor, doch nur in die symbolische Form der schönen Kunst zaubert. Das gilt eben nur als Spiel und Schein, das ist »Theater«, »Komödie«, »Amüsement«, ein im Grunde frivoles Ding. Und nun kommt jemand und will da reformieren, indem er sagt: Ja, so ist es leider, aber so soll es nicht sein! Die Stätte, auf welcher so große Meister durch die edelsten Eingebungen ihres Genius das Reich des Gemütes auf selige Weihestunden uns aufgethan haben, diese Stätte ist es wert, und sie ist es fähig vor anderen, dem Volke das Edelste und Gewaltigste darzubieten und recht in Herz und Seele hineinzusingen, um darin den schlummernden Urquell jenes menschlichen Gemütes wieder zu erwecken, in dessen innerster Tiefe auch das reine Gold des echten Glaubens an das Göttliche ruht! – Wenn solch' Einer kommt, und sein Leben lang sich darum müht, die ideale Weihe jener wirkungs- aber auch verderbenskräftigsten Stätte im Volksleben, des Theaters, irgendwie und wo zu ermöglichen, und wenn er dann sieht, in der schweren Erfahrung eines ganzen Menschenlebens, daß das Weihe- und Würdelose unter den seit hundert Jahren bestehenden und eingewurzelten Verhältnissen sich eben nicht so ohne weiteres, auch mit dem Mittel edelster Kunstwerke nicht, aus den offenen Tempeln der Kunstkonvention hinausfegen läßt, und wenn er es dann wagt, seinem Ideale und seinen Werken ein eigenes Haus zu erbauen, um wenigstens an Einer Freistatt würdige Beispiele darbieten zu können, Beispiele eines reinen, unbeeinflußten, künstlerischen Darstellungsstiles – wenn ein deutscher Meister dies thut für die theatralische Kunst seines Volkes, so stellen sich jene »ernsten Leute« beiseite und meinen, das gehe sie nichts an, das seien eben Theatersachen, da sei kein Ernst dabei, daraus könne doch wahrlich dem Volksgeiste kein Heil erwachsen! Man wolle wohl gar das Theater zur Kirche machen – die Religion durch die Kunst ersetzen! – So weit komme man in der eitlen Selbstüberhebung des Künstlertalentes! –

Nichts lag Wagner ferner als solch eine Überhebung der Kunst über das Heilige. Eben deshalb suchte und vermochte er die Kunst durch den religiösen Geist über das Gemeine und Reinsinnliche so weit zu erheben, weil dieser Geist das einzig Höhere und Höchste war, dem die Kunst nur dienen durfte, dienen mit ihrem schönsten und würdigsten sinnlichen Ausdruck. Er hat sich selbst deutlich genug darüber ausgesprochen. Ich erinnere hier nur an folgende Sätze: »Es ist heutzutage leicht geworden, die Kirche zu apostrophieren: auf der politischen Tribüne, im diplomatischen Verkehre, und von den, beiden dienenden Zeitungsautoren wird sie gemeinhin, und je nachdem es in den vertretenen Interessen liegt, mit ungefähr dem gleichen Respekt wie eine Mobiliarkreditanstalt behandelt. Wenn wir es nun unternehmen den Vertretern der kirchlichen Interessen nachzuweisen, daß der hierin sich aussprechende Mangel an Ehrfurcht mit der der öffentlichen Kunst zugefügten Ehrlosigkeit in unserer Zeit einen wirklichen Zusammenhang habe, so ist es wohl ersichtlich, daß wir schon aus Selbstachtung einen würdigeren Ton anzunehmen hätten. Da wir andererseits nicht im mindesten uns berufen fühlen, bei unserem Vorhaben den eigentlichen Gehalt der Kirche, das religiöse Dogma, zu berühren, sondern lediglich die äußere Gestalt, mit welcher sie in die Öffentlichkeit des bürgerlichen Lebens tritt und dieses sinnfällig anstreift, – diese äußere Gestalt aber, mit welcher sie sinnvoll auf ihren unaussprechlich tiefen Gehalt hindeutend, auf die Phantasie des Laien bestimmend wirken will, den Gesetzen des ästhetisch Schönen sich zu unterwerfen hat, so sind wir von der fast allgemeinen Ehrfurchtlosigkeit doch so weit entfernt, daß wir selbst es unschön finden müssen, diese Gesetze unmittelbar oder gar anforderungsvoll gegen sie geltend machen zu wollen. Nur zum Nachdenken hierüber möchten wir die Vertreter der kirchlichen Interessen anregen, indem wir uns selbst hierfür in einem gewissen Sinne des Gleichnisses bedienen, nämlich der Anregung durch Hindeutung auf geschichtlich vorliegende Erscheinungen. Es war eine schöne Zeit für die römische Kirche, als Michel-Angelo die Wände der Sixtinischen Kapelle mit den erhabensten aller Malerwerke schmückte; was bedeutet dagegen die Zeit, in welcher bei großen festlichen Gelegenheiten diese Werke durch theatralische Draperien und Flitterstaat verhängt werden? – Es war eine schöne Zeit, als ein Papst durch Palestrinas erhabene Musik bestimmt wurde, den Schmuck der Tonkunst, gegen deren überhandgenommene Ausartung er durch ewige Verbannung derselben aus der Kirche einschreiten wollte, dem Gottesdienst zu erhalten; was sagt uns nun die Zeit, in welcher die eben beliebteste Opernarie und Ballettmusik zum Credo und Agnus erklingt? – Es war eine schönere Zeit, wo das spanische Auto die erhabensten Mysterien des christlichen Dogma von der Bühne herab im dramatischen Gleichnisse dem Volke vorführte, als da von der Hauptstadt der weltlichen Schutzmacht der Kirche eine Oper die Welt durchzog, in welcher (wie in den »Hugenotten«) Mörder und Mordbrenner im heiligsten Kirchengewande den gräßlichen Priesterjargon ihre immerhin effektvollen Terzetten anstimmen. – Treten wir in ein Theater, so blicken wir, sobald wir mit Besonnenheit einblicken, in einen dämonischen Abgrund von Möglichkeiten des Niedrigsten wie des Erhabensten. – Möge in der Kirche der höhere Mensch zu inbrünstiger Andacht sich sammeln, hier im Theater ist der ganze Mensch mit seinen niedrigsten und höchsten Leidenschaften in erschreckender Nacktheit sich gegenübergestellt. Mit Grauen und Schauder nahten von je die größten Dichter der Völker diesem furchtbaren Abgrunde; sie erfanden die sinnreichsten Gesetze, um den dort sich bergenden Dämon durch den Genius zu bannen. An diesen Abgrund traten die melodischen Zauberer der Tonkunst und gossen Himmelsbalsam in die klaffenden Wunden der Menschheit; hier schuf Mozart seine Meisterwerke, und hierher sehnte sich ahnungsvoll Beethoven, um dort erst seine höchste Kraft bewähren zu können. Aber an diesem Abgrunde, sobald die großen Zauberer von ihm weichen, tanzen auch die Furien der Gemeinheit, der niedrigsten Lüsternheit, der scheußlichsten Leidenschaften, die tölpelhaften Gnomen des entehrendsten Behagens. Und dieses Pandämonium, dieses furchtbare Theater überlaßt ihr gedankenlos dem Betriebe durch die handwerksmäßige Routine! Dieses Theater, vor welchem mit sehr richtigem Blicke die protestantischen Geistlichen des vorigen Jahrhunderts wie vor einer Schlinge des Teufels warnten, von dem ihr heute mit Geringschätzung euch abwendet, während ihr andererseits es mit Glanz und Prunk überhäuft! – Ist es möglich, daß dem umgestalteten modernen Leben ein Theater ersteht, welches dem innersten Motive seiner Kultur in der Weise entspricht, wie das griechische Theater der griechischen Religion entsprach, so wird die Kunst wieder an dem belebenden Quell angelangt sein, aus welchem sie bei den Griechen sich nährte; ist dies nicht möglich, so hat auch diese wiedergeborene Kunst sich ausgelebt.« –

Solche Worte schrieb Wagner schon im Jahre 1867. Ich habe sie sehr ausführlich wiedergegeben, weil auch die Anschuldigung sehr schwer und sehr verbreitet ist, auf welche sie hier erwidern sollten. Nirgend und niemals hat Wagner die Kunst mit der Kirche vermischt, wenn er auch einerseits der Kirche die edle Verschönerung ihres Dienstes durch die Mittel erhabener Kunst wünschte und andererseits dem Theater die volle Weihe und Würde eines reinkünstlerischen Ausdruckes für denselben Kulturgeist wiederzugeben versuchte, der in der Kirche seinen innersten Gehalt als Religion unter gottesdienstlicher Form kundzugeben hat. Bei dieser Form hatte er auch nicht etwa sinnlichen Prunk oder geistreiche Verkünstelung im Auge; nein, gerade über den unvergleichlichen Wert des schlichten evangelischen Gottesdienstes, der alle Möglichkeit religiöser Vertiefung in sich schlösse, sprach er uns einmal gar herrliche Worte bei Gelegenheit einer heiligen Kommunion. Mitunter mochten flüchtige Leser seiner Schriften ein besonders erhobener Ausdruck darin wohl beirren, der sich aber bei diesem schreibenden Künstler gerade aus dem Ernste und der Tiefe der Empfindung für das Mächtige und Erhabene seiner Aufgabe leicht erklären läßt. Doch selbst, wenn er einstmals zur bedeutsamen Hervorhebung des Wertes, den die Musik für ihn aus seinen eigenen schweren Lebenswegen gehabt, mit dankbarem Entzücken sie als die »einzig erlösende Kunst« bezeichnet hatte, so verwies er es später den Jüngern sehr energisch, solche Worte wie »erlösend« und »Erlösung«, oder gar »Erlöser«, so leichthin und beliebig wie jedes andere zur Bezeichnung nur irdischer, wenn auch edelster Dinge zu gebrauchen. Der Mißbrauch des Heiligen und Erhabenen war ihm so widerlich, wie die Übertreibung des Affektes, das Hineintragen auch nur eines Anscheins von Leidenschaft in die ruhigen Auseinandersetzungen durch belehrende Worte. –

Was ihm allein, weil er war, der er war, der ungemeine Druck des Geschickes auf eine große Seele wie Notschreie um das Edle und Wahre einmal gewaltig entpreßt, das sollte nicht zur leicht benützten Phrase im Wörterbuch derer werden, denen er das Leben durch seine Kunst erleichtert hatte. So liebte er auch nicht, wenn man, eine gute Sache verteidigend, zu oft einzelne Worte für gesperrten Druck unterstrich, gleich als wollte man die Leute »haranguieren« und »durch Geschrei überzeugen«. Von seinen eigenen Werken sogar, wenn er einmal, selten, von ihnen im allgemeinen sprach, redete er kaum anders, als indem er sie »Versuche«, »Entwürfe« nannte. Er sprach dann gewöhnlich vor uns mit leiserer Stimme, wie ganz vor der Öffentlichkeit in sich zurückgezogen. »Was ich mit meinen schwachen Kräften dafür zu leisten versucht habe« – oder: »mögen meine armen Beiträge dazu bestehen bleiben oder nicht« – das also war ihm nicht die Sache, nicht das Werk, die Kunst, sondern nur Andeutungen dessen, »wozu« – »wofür« er schuf: das Ideal. Es war ihm vor allem künstlerischer Stoff für jene große Form, die eigentlich gemeinte, vom steten Stoffwechsel lebende Form des »Kunstwerks der Zukunft«, welche aber keine Kunstart, keine Kunstleistung, sondern ein Kunstleben, eine Kultur sein sollte. »Sagt doch den Leuten, daß ich nicht am Kunstwerk der Zukunft arbeite!« schrieb er seinen Freunden, als er die Nibelungenstücke schuf. Nicht am Kunstwerk, sondern für das Kunstwerk schuf er; wir aber wissen, wie und was er damit geschaffen hat, und nun haben wir wohl das volle Vorrecht, doch noch etwas anders zu reden, als nur von »Versuchen« oder »Entwürfen«. Für uns ist das Geschaffene das einzig Wirkliche, welches für den Schöpfer ein Ideal sein konnte, über alle Wirklichkeit hinaus.

Ob dieses Ideal selbst zu verwirklichen sei? Wie er 1867 mit der offenen Frage schloß, so sprach er es noch in seinen letzten Jahren öfters aus, was er in der Kunst und von ihrer Zukunft ersah: »Es steht schlimm mit unserer Kultur! Retten wir wenigstens auf alle Fälle das Gute, Schöne, Edle, was uns darin noch geblieben ist; suchen wir es wie eine Fahne im Gefecht zu schützen, wie ein Heiligtum nach Möglichkeit rein zu erhalten. Vielleicht bleibt es noch über den allgemeinen Untergang, der doch schließlich vorauszusehen ist, als unbeachtetes Kleinod hinübergerettet; wenn nicht, – nun, so ist es schon etwas wert, daß in den: großen Untergange nicht nur das Schlechte und ganz Verdorbene, sondern auch noch ein Weniges von dem edelsten Erbe der Menschheit mit untergeht!« Immer mehr schien ihm ein würdiges heroisches Ende des Großen, Edlen und Schönen das höchsterreichbare Ziel unseres Strebens; aber auch dazu müsse es, wo es noch wirksam sei in Erinnerungen und Thatsachen, aus allen Kräften zu erhalten gesucht werden, bis zur erhabenen Todesstunde.

Gerade in diesem Sinne lag ihm als Künstler auch so viel an der Ermöglichung wenigstens jener Stilschule zur Erhaltung einer würdigen Tradition für klassische Ausführung der Werke seiner großen Vorgänger in der musikalischen Kunst. Es war ihm stets ein trauriges Zeichen für die deutsche Nation, daß sie es ertrage, so viel Grundverschiedenes, Echtes und Unechtes in der Musik dicht nebeneinander mit gleicher Andacht und Begier auf sich wirken zu lassen. »Es ist unglaublich, was der Deutsche alles für schön hält, wenn er's ›im Abonnement‹ hören kann,« scherzte er einmal. Sein eigenes Feingefühl für das Unechte und Unwahre, für den Anschein und die Maske, in jeder Hinsicht und Gestalt, war geradezu erschreckend. Man hat es nur zu sehr verlernt, so stark und echt zu empfinden, und erschrickt, wenn ein Urteil über eine Kunsterscheinung, wie es bei Wagner stets mit elementarer Notwendigkeit der Fall war, aus dem Grunde jenes unzweifelhaft sicheren, gewaltigen und so leicht aufs Äußerste empörten Gefühles für die Wahrhaftigkeit hervorbricht, das sich nichts vorspiegeln und vorflunkern läßt, und wovon man eben bei Wagner so unendlich viel für die Ausbildung der eigenen Urteilskraft und des ästhetischen Rechtsgefühls lernen konnte.

Dies Gefühl zeigte sich auf das Schönste jedesmal, wenn er uns ein großes Dichterwerk vorlas oder ein musikalisches Stück am Klavier durchnahm, was immer ganz spontan geschah. Wie so manches Schöne und Große unter dem vielen, was uns öffentlich dargeboten wird, ist uns doch über das unruhige Abendleben des Repertoirewechsels bereits zu einer achtungsvoll registrierten Nummer im Katalog der litterarischen und musikalischen Nationalbibliothek geworden! Nun aber lebte es mit einem Mal auf als ein unmittelbar ergreifendes Denkmal der Wahrhaftigkeit des im Künstler dichtenden Volksgemütes.

So las Wagner mit Vorliebe die klassische Walpurgisnacht aus Goethes Faust, welche für das allgemeine Bewußtsein selbst unserer Gebildeten etwa als ein mystifizierendes Experiment des alternden Dichters aufgefaßt, oder von einem geschickten Bühnenleiter als theatralisches Zauberkunststück gelegentlich vorgeführt wird. Wagner aber machte durch seinen Vortrag dieser unglaublich phantastischen Scenen sein eigenes Wort zur Wahrheit: daß dies gerade »wohl das Originellste und künstlerisch Vollendetste« sei, was Goethe geschaffen habe, und daß sicherlich nur ein Deutscher so etwas habe schaffen können: eine solche völlig eigenartige Wiederbelebung des Altertums in freiester Form, mit solchem meisterlichen Humor und dabei in so durchaus genial gesehener scenischer Lebendigkeit und in solcher Sprache, die zugleich auf das Feinste künstlerisch gebildet und doch dabei ganz populär ist. Und so las er uns auch Shakespeare – ich gedenke noch mit Entzücken der ganzen Reihe der Königsdramen, des Hamlet und des Macbeth. Von Hamlet sagte er: das sei die Krone der Renaissance; hier werde von der Bühne aus der unerbittliche Blick tief in jene ganze elende, sittlich verkommene Welt geworfen, welche alle Künste der Renaissance nur eben künstlich mit einem schönen Schimmer überdecken konnten, die aber solch eine Welt war, in der es keinen Helden mehr geben kann, sondern welche nur noch dem brutalen Soldaten, Fortinbras, als Erbe anheimzufallen hat. – So auch las er Calderon, Cervantes, Alarcon und Lope de Vega, so altnordische Sagen und indische Weisheitssprüche, – oder auch wieder liebe Jugendfreunde: E. T. A. Hoffmann, Tieck, Walther Scott, oder verehrte und geschätzte Modernere, wie Balzac, Carlyle und Gottfried Keller. Die lebende Wahrhaftigkeit der Dinge stand vor uns da und sprach ihre eigentümliche Bedeutung in so einfach schlichter Weise aus, so ganz aus der Tiefe der Empfindung und im Lichte der lebendigen Anschauung, wie es aller Aufwand pathetischer Rhetorik und darstellender Virtuosität niemals vermocht hätte. Alles quoll aus dem Vollen und traf das Rechte. Es lebte vor unserer Phantasie, etwa in der Weise, wie Wagner selbst Shakespeares Werke als ›mimische Improvisation von höchstem dichterischen Werte‹ bezeichnet hat; und ein lebhaft dazwischen geworfenes, abgebrochenes Wort aus derselben erregten Tiefe des Gemütes des Lesenden spendete dann oft mehr Licht, als alle litterarhistorisch-ästhetischen Erläuterungen, deren diejenigen bedürfen, welchen diese Werke mehr Litteratur als Leben bedeuten.

Immer von neuem, unter Thränen des künstlerischen Entzückens, rief der Meister bei solchen Shakespeareschen Scenen aus: »Was hat der Mann gesehen! – Was hat er gesehen!« – »Er bleibt der ganz Unvergleichliche! – Er ist nur als Wunder zu verstehen!« – zumal wenn er mitunter im besonders angeregten Gespräche darauf kam, plötzlich zum Ausdruck der guten Stimmung eine heitere Lustspielscene herauszugreifen, woran er sich immer mit der Glückseligkeit des naivsten Enthusiasmus zu erquicken pflegte. Da sah man gleichsam die Genien der Jahrhunderte miteinander spielen und scherzen wie die Kinder! Und das war's ja auch, was Wagners Wesen so eigenartig und bezaubernd machte, dieses in das Ungeheure der Genialität vergrößerte Wesen des Kindes! Und nirgends trat dies mit größerer Liebenswürdigkeit und Freiheit zu Tage, als wenn die ewig ärgernde, nörgelnde, stichelnde, reizende, kleinliche Welt – wie sie seiner großen Wahrhaftigkeit täglich die elendesten Feldsteine und Erraten in den blühenden Garten seines Empfindens warf – wenn diese große Häßliche und Lärmende ihn einmal in Ruhe ließ, und er in dem heiligen Asyl des reinen geistigen Verkehrs mit den Heroen der Vorzeit auf selige Momente verweilen durfte, die dann auch wahrhaft beseligend waren für alle, die solchem Verkehre lauschen durften.

Man kann sagen: Wagner war immer ganz Wagner, und dann ganz herrlich, in seinen Werken selbst und in seinem Beisammensein mit den großen Genien aller Zeiten. Überall sonst zwang ihn sein Leben in der Welt zum Kampf gegen deren widerliche Störungen; und wenn man die Unmasse dieser Weltstörungen bedenkt, welche gerade Wagner auf Schritt und Tritt bei seinem Lebensgange zum Ideale bereitet worden sind, so muß man immer wieder in das größte Erstaunen darüber geraten, wie es ihm doch so ganz ungemein, so außerordentlich und vorzüglich gelungen ist, mit der merkwürdigsten Energie, welche die Kunstgeschichte vielleicht aufzuweisen hat, immer wieder zu jener tiefen Besonnenheit, jenem Sichversenken in den eigenen schöpferischen Genius, in das Wesen des Gemütes zu gelangen, aus welchem alsdann die ideale Wahrhaftigkeit selbst in ihren reichsten Gebilden und Erfahrungen an das Licht trat. Wer aber dieser seiner Wahrhaftigkeit einmal selber mit dem Mute des Vertrauens nahe getreten war, der fühlte, wie befreiend oft ein Blick, ein Wort dieses Mannes wirken konnte, dessen geistiges Auge unbeirrt den Dingen in das Herz sah und sie auch nur nach ihrem Herzenswerte beurteilen wollte und konnte. Alle die hundertfachen Wichtigkeiten, Interessen, Rücksichten, Berechnungen und Täuschungen, welche in dem täglichen Drangsal der Welt die einfache Wahrhaftigkeit des Gemütes verhüllen, – sie schwanden miteinander dahin und ein ganz anderes Weltbild stand da, worinnen gar manches, was dort für großartig und herrlich gilt, nun klein und schlecht sich darstellte, manches Kleine und Unscheinbare aber groß, edel und bedeutend. Der schweigende Blick eines treuen Tieres, die mitleiderregende Erscheinung eines armseligen Menschenwesens, sie sagten dem großen Betrachter der Welt ebenso Vieles und ebenso Bedeutendes, wie die herrlichsten Werke der Kunst, die gewaltigsten Begebenheiten der Geschichte, und für alles – alles hatte er das gleiche lebendige Interesse einer ganz unvergleichlichen, in jedem Momente wieder schöpferischen Teilnahme.

Dieselbe wundervolle harmonische Kraft, welche Wagner den Blick in das Wesen der Religion erschloß, welche ihn die großen Begebenheiten der Geschichte aus einem erhabenen Gefühle reiner Menschlichkeit erschauen ließ, welche ihm es unmöglich machte, die Leiden der Geschöpfe als ein sittlich berechtigtes Mittel für den Fortschritt der Wissenschaft anzuerkennen, und welche ihm die ideale Traumvorstellung von einer Regeneration der Menschheit durch Harmonisierung ihres natürlichen und sittlichen Lebens ermöglichte, – dieselbe Kraft belebte ihm auch die Gebilde der schönen Kunst aller Zeiten zu so bedeutsamer Erscheinung und Bewegung vor seinem geistigen Auge, und ganz ebenso lebte sie in seinen eigenen Schöpfungen auf, worin jenes Ganze eines Weltbildes, das von dem Lichte der Gemütswahrhaftigkeit durchstrahlt wird, nun als ideale Thatsache auch nach außen trat und sich der Welt als Kunst verkündete.

Das Kunstwerk Wagners ist aber ein Werk der Musik, ein musikalisches Drama. Man hat es ihm zwar vorgeworfen, er habe die Musik herabgewürdigt, – ein würdiger Vorwurf, welcher freilich seltsam genug klingt gegenüber den ungeheuren Wirkungen gerade der Wagnerschen Musik auf das deutsche und außerdeutsche Publikum – aber genug: er habe sie herabgewürdigt, weil er in seiner Schrift »Oper und Drama« das Schlagwort ausgesprochen, die Musik sei in der Oper fehlerhafterweise aus einem Mittel des Ausdruckes zum Zwecke desselben gemacht worden. Dieses gerne nachgesprochene und bekämpfte Schlagwort hat aber eine relative Bedeutung, indem es sich dabei nur um eine Kritik der Opernform und um das besondere Verhältnis von Mittel und Zweck handelt. Neben dem Mittel Musik haben wir auch noch das Mittel Dichtung, das Mittel Aktion, das Mittel Scene u. s. f., welche alle zusammen dem Zwecke des dramatischen Lebens, des lebendigen dramatischen Kunstwerkes dienen. Aber unter allen diesen Mitteln bedeutet die Musik allein mehr als nur ein Mittel des künstlerischen Ausdruckes: sie ist zugleich der Untergrund und Lebensquell der ganzen Kunsterscheinung. Denn sie ist es, welche aus der tiefsten, schöpferisch erregten Seele des Künstlers hervor nach der Äußerung ihrer wunderbaren Geheimnisse in Bild und Wort drängt. Bezeichnet man sie kurz als »die tönende Bewegung der Seele der Dinge«, so wird man damit ungefähr dasselbe ausdrücken, was ein naiver Hörer bei der unmittelbaren Wirkung der Musik unbewußt empfindet und was er dann etwa in subjektiver Übertragung auf seine eigene Seele als »Ausdruck von Gefühlen« schildern mag. Wagner selbst nennt in diesem Sinne die Musik eine »zweite Offenbarung der Welt, das unaussprechlich tönende Geheimnis des Daseins«. Im Drama nun gewinnt diese allgemeine tönende Bewegung der Musik individualisierte Gestalt nach dem Bilde der Welt; aber jetzt ist diese Welt selbst, ganz eingetaucht in die Sphäre des idealen Seelenreiches der Musik, nicht mehr eine reale Welt, sondern eine ideale, und die Sprache, welche der Dichter seine Personen reden läßt, ist als gesungene Sprache selbst schon die natürliche Sprache jener anderen Welt. Die reine Dichtung hängt immer noch durch die Sprache mit der realen Gesellschaft zusammen; sie muß ihre Sprache erst künstlich über deren Ton erheben, um ihr deutlich zu machen, daß sie ihr Dinge der idealen Welt verkünde. Nur ein allergrößtes Genie wie Goethe vermochte es – wie Wagner einmal bemerkte – »in einer Sprache von höchster Natürlichkeit die Tiefe der Menschenseele auszusprechen, welche Sprache dann auch uneigentlich, aber sehr treffend ›musikalisch‹ genannt werde«. Im Reiche der Musik dagegen finden auch Wort und Gestalt des Menschen, wie die Gebilde seiner Umgebung, unmittelbar die Erhebung in eine schöne, freie Idealität. Denn die Musik ist selbst die von der Materie losgelöste Lebenssphäre des Ideales, als der künstlerisch verklärten Schöpferkraft des Gemütes, welche eben im musikalischen Drama ihre lebendige künstlerische Form empfängt.

So konnte eine künstlerische Reformation der Gemütskultur allerdings am Wirksamsten von der Musik ausgehen, und eben darum mußte ein Deutscher der Reformator sein. Denn was könnte uns Deutsche mit höherem Stolze erfüllen als die Bemerkung, daß jene reinste Sprache der idealen Welt, die Sprache der Musik als hochstilisierte Kunst, eine deutsche Sprache ist. Die Musik hat ihre höchste künstlerische Entwickelung im deutschen Geiste gewonnen, und der deutsche Geist hat seinen reinsten und freiesten Ausdruck in der Musik gefunden. Nicht leicht hat jemand dies tiefer empfunden und reicher verwertet als eben Wagner.

Noch erinnere ich mich aus einem Gespräche seiner ernsten Worte: »Es war sehr bedeutsam, daß ich mir von meiner Mutter zwei Groschen erbat um mir Notenpapier zu kaufen, damit ich mir ›Lützows wilde verwegene Jagd‹ von Weber aufschreiben konnte, um es zu besitzen. Daß Deutschland Webers Musik ›besaß‹, das war sein Glück. Hier fand der arme vaterlandlose Deutsche sein Vaterland. Wenn ich in der Schule die sächsische Geschichte in ihrer ganzen Kläglichkeit vortragen hörte und mir sagen mußte, dahin sollst du gehören, und ich suchte dann tiefbedrückt nach etwas Anderem draußen und erfuhr von der Existenz Weberscher Musik: dann wußte ich, wo meine Heimat war und fühlte mich als Deutscher. Dies Gefühl hat mich nie verlassen.«

Wie gern wiederholte er, welchen tief ergreifenden Eindruck ihm als Knaben die hagere, gebrechliche Gestalt des Meisters gemacht, wenn er in Dresden zur Opernprobe am Wagnerschen Hause vorüberging oder wohl gar einmal eintrat, um mit der Mutter einige Worte zu sprechen. Nichts Erhabeneres gab es für die Phantasie des lebhaften Kindes, als denselben scheu angestaunten Mann dann im Theater einem Feldherrn gleich sein Orchester dirigieren und die ganze Wunderwelt der Töne in das Leben rufen zu sehen. Unvergeßlich blieb Wagner die zauberhaft fascinierende Wirkung, welche auf ihn in früher Jugend, aus einem versteckten Theaterwinkel lauschend, jene ersten zigeunerhaft charakteristischen, zuckenden Zymbaltriller der ›Preciosa‹-Ouverture ausgeübt hatten. Über alles aber ging ihm der ›Freischütz‹. Als er später, ein armer, halbverhungerter junger deutscher Musiker, inmitten der schimmernden und lärmenden Weltstadt Paris, die ihm nichts wie Steine für Brot hatte darbieten können, zum erstenmale wieder die schlichten deutschen Klänge des ländlichen Walzers aus dem ersten Akte vernahm, da brach er in Thränen innigster Rührung aus: das Heimatgefühl hatte ihn ergriffen, um ihn nicht wieder frei zu lassen. Einer seiner letzten Wünsche ist es gewesen, bei der Heimkehr aus Venedig im Frühling 1883 zu München noch einmal den ›Freischütz‹ zu dirigieren, was ihm bekanntlich einst in Wien abgeschlagen worden war, weil an der dortigen Oper auswärtige Kapellmeister nur ihre eigenen Werke ausnahmsweise dirigieren dürften. Welch' ein unvergleichlich erquickender und belehrender Genuß dies gewesen wäre, kann man aus der ungeheuren, geradezu revoltierenden Wirkung schließen, welche ihrerzeit die überzeugend congeniale Direktion der ›Freischütz‹-Ouverture durch Wagner eben dort in Wien hervorgerufen hatte.

Nachdem die geplante Stilschule, welche uns dergleichen Genüsse in geregelter Folge versprach, wegen nationaler Teilnahmlosigkeit nicht zustande gekommen war, durften es sich die persönlichen Freunde des Meisters zum besonders hohen Glücke schätzen, wenn es ihnen wenigstens vergönnt ward, mitunter der gelegentlichen und ganz vertraulichen Durchnahme irgend eines klassischen Musikwerkes am Klavier in Wahnfried beiwohnen zu können. Ich vergesse nie, wie mir da besonders einmal Mozarts ›Figaro‹ in seiner ganzen genialen künstlerischen Eigenart erst völlig bewußt und lebendig ward. In fragloser Mozartverehrung aufgewachsen, habe ich doch in der That erst durch die persönliche Einwirkung und Belehrung Wagners mit geklärtem Bewußtsein auch Mozart wirklich verstehen und lieben gelernt. Denn niemals unterließ er es, auch in etwa veralteten und fremden Formen auf den, wie er sagte, » zarten Licht- und Liebesgenius Mozarts« als auf ein unvergleichliches, unsterbliches Leben des edelsten Kunstgeistes bedeutend hinzuweisen, welcher ihm sowohl durch seine reine seelische Wahrhaftigkeit, wie durch den feinen künstlerischen Sinn, der seine süße Melodik beherrscht, so ungemein sympathisch und bewunderungswürdig war. Aber auch das eigentümlich maskenhafte Wesen der italienischen Opernform erschien ihm gerade beim ›Figaro‹ in einer gewissen idealen Vollendung, einer charakteristischen Echtheit künstlerischen Lebens. So erinnere ich mich der gelegentlichen Bemerkung: »Die konventionellen Schlüsse und Zwischenspiele, welche in den Symphonien leicht störend werden können, passen im ›Figaro‹ ganz trefflich zum Stoff, zu dem lärmenden Durcheinander der lustigen Intriguenkomödie. Dieser ›Figaro‹ ist ein ganz Vollendetes in jeder Hinsicht. Alles stimmt da zusammen, und auch das Unedle wird graziös, wie etwa in dem Dialoge ›Sokrates und Theodota‹ von Xenophon (diesen hatten wir kurz vorher zusammen gelesen); aber – so schloß er – es gehört auch eine ebenso vollendete Aufführung dazu, am besten vielleicht durch Italiener.«

Ein anderes Mal war von der älteren Opernform überhaupt, unter Absehung von einem spezifisch schöpferischen Genius wie Mozart, die Rede, und Wagner erinnerte sich mit ironischem Vergnügen daran, wie Semper ihm einst gesagt habe, das sei ihm in der Oper so angenehm, daß alle Leidenschaften sich gleichsam spielend wie in Domino und Maske bewegten. »Dies – fügte er hinzu – war bisher die von den bildenden Künsten und den Dichtern ausgehende Auffassung der Musik als einer Kunst, welche alles Tiefe Energische, Leidenschaftliche in zierlichen Formen ausgleicht und in Anmut auflöst, und diese Auffassung ward unterstützt durch die mathematische Form der Musik, besonders durch die an Palladios Architektur erinnernde Quadratur wobei es immer beim Ausrufe Faustens bleibt: welch' Schauspiel – aber ach, ein Schauspiel nur! – Da kam Beethoven. –«

Bei diesem Worte mußte man nun wieder den Mann sehen! Aus Blick und Ton sprach es mit ergreifender Deutlichkeit, wie da in seiner Seele bei dem Namen Beethoven eine ganze neue Welt aufstieg. Und wahrlich, eine neue Welt war einst für Wagner aufgegangen, als Beethoven in sein Leben trat. Hatte Weber im Gemüte des Knaben den Geist der Musik erweckt, so gab erst Beethoven dem heranreifenden Jünglinge Kraft und Bewußtsein für eigenes künstlerisches Leben und Schaffen; und durchaus in dieser neuen schöpferischen Welt hat Wagner, der Mann, seitdem mit einziger Treue fortgelebt und gewirkt. Wie diese Bedeutung Beethovens für Wagner jedem fühlbar ward, dem bei Wagners Direktion eines Beethovenschen Werkes jene neue Welt selbst sich einmal erschloß, so sprach sie auch überzeugend aus jedem kleinen Gelegenheitsworte des Meisters, wenn er nach lieber alter Gewohnheit daheim oft Beethovensche Musik vornahm und dann persönlich in lebendigster Weise sein eigenes Wort bestätigte, »daß man über Beethoven nicht reden könne, ohne in den Ton der Verzückung zu fallen«.

So rief er einmal nach dem Vortrage der großen Sonate 106: »Was kann man Dem an die Seite stellen?! Bei Shakespeare – alles Realität, furchtbares Gleichnis des Lebens, wahre Spektren des Daseins –, und hier – alles idealisiert – reine Verklärung! – Aber so etwas ist auch nur für Klavier zu denken – vor der Menge zu spielen barer Unsinn!« So faßte er dergleichen Vorträge selbst ebenso als intimen Vorgang auf wie den Inhalt dieser Werke. In Beethovens Es dur-Quartett, dessen Maestoso er »nicht zu langsam« zu nehmen warnte, sah er den Künstler »tief nachdenkend über einen großen Gedanken – da trällert draußen eine Lerche, und alles ist verscheucht!« – Einer von einer ergreifenden Stelle zu Thränen gerührten Zuhörerin sagte er unter dem Spiele leise tröstend mit herrlichem Blicke: »Kindchen, er wird schon wieder lebendig!« – Ein andermal, nachdem er sich eine Spontinische Ouvertüre hatte spielen lassen und dabei nicht ohne Wohlgefallen in den Zwischenruf ausgebrochen war: »Immer militärische Harangue! Präsentierts Gewehr!« – und er nun wie zur idealischen Erholung eines der letzten Quartette Beethovens verlangt hatte – da sagte er hernach leise und tief ergriffen: »Das ist so intim, daß man es sich zur höchsten Ehre anrechnen muß, zum Lauschen zugelassen zu werden.«

In ähnlicher Weise äußerte er sich über Bach, in dessen Musik, neben Beethovens, er während der letzten Jahre mit besonderer Vorliebe sich versenkte: »Bach arbeitet nur für sich, denkt an kein Publikum; nur manchmal ist's, als spielte er seiner Frau etwas vor: da ahnt man die neue Zeit, sie steckt schon ganz in ihm verschlossen. Aber es ist unrecht so zu scheiden; er ist ein in sich Vollkommenes, Unvergleichliches. Nachher wandte sich der Sinn auf das Äußerliche, besonders durch die italienische Virtuosenschule; die Sonate entsteht, aber sie führt auch wieder zur modernen Melodie.«

Hier möchte ich noch eine andere merkwürdige Äußerung Wagners einschalten, welche er wieder im Anschluß an den Vortrag italienisch-französischer Ouvertüren und gegen die leichtfertig sich bezeigende Mißachtung italienischer Musik that: »Die langausgedehnte melodische Form der italienischen Opernkomponisten, wie Cherubini und Spontini, konnte nicht aus dem deutschen Singspiel hervorgehen, sie mußte in Italien entstehen und gleicht in dem schmuckvoll durchgeführten Gedanken den italienischen Renaissancerahmen. Hiervon haben Auber, Boieldieu und auch ich viel gelernt. Mein Schlußchor im ersten Akt des Lohengrin z. B. stammt eigentlich vielmehr von Spontini als von Weber. Auch von Bellini kann man lernen, was Melodie ist. Die Neueren zeichnen sich durch armselige Melodie aus, weil sie sich nur an gewisse hervorstechende Schwächen der italienischen Oper halten, aber um die großen Vorzüge der Komponisten sich gar nicht kümmern. Freilich habt ihr's leichter darauf zu schimpfen, als davon zu lernen.«

Dagegen sprach er gerade bei Gelegenheit Bachscher Musik auch über die specifisch deutsche Themenbildung sich folgendermaßen aus: »Viele Themen unserer Meisterwerke, auch Beethovens, erscheinen an sich allein, musikalisch betrachtet, fast bedeutungslos. Wie sie durch die charakteristische Sprache der Instrumente zur vollen Bedeutung erhoben werden können, dies wäre vielleicht am besten durch Unterlegung wirklicher Worte anzuzeigen, wie etwa in dem weltberühmten ersten Hauptthema der C-moll-Symphonie durch die Worte: ›Es muß geschehn‹. Auch für Bachs Fugenthemen paßt dies, und ist mir besonders dadurch eindrücklich klar geworden, als ich die Wirkung seiner Themen in den Motetten durch die dort untergelegten Gesangsworte erfuhr. Durchzuführen wäre dieser Gedanke allerdings nicht, aber es bleibt eine, wie mich dünkt, wahre Empfindung, daß die großen Meister in ihren erhabensten Schöpfungen bereits eine Sprache geahnt, in ihren Motiven eine Art von Rede angewendet und in Tönen ausgedrückt haben.« Als jedoch einmal, bei einer unvergeßlichen allabendlichen Durchnahme des vollständigen »Wohltemperierten Klaviers« von Bach, der naheliegende Gedanke ausgesprochen ward, es möchten die ungemein treffenden Worte, wie sie Wagner aus dem unmittelbaren Eindrücke heraus jedem Präludium und jeder Fuge als poetische Deutungen hinzufügte, sogleich als ein eigenes Buch fixiert werden, da wehrte er dies entschieden ab mit dem Bemerken, dergleichen könnte zu mißverständlichem Experimentieren mit den Meisterwerken verleiten. Und dann entzückte er sich wieder ganz als Musiker an den »innigen Melodien« in den Präludien, die man »nicht nachsingen« könne, und rief in höchster Bewunderung aus: »So etwas ist jedesmal neu!« – an gewisse hervorstechende Schwächen der italienischen Oper halten, aber um die großen Vorzüge der Komponisten sich gar nicht kümmern. Freilich habt ihr's leichter darauf zu schimpfen, als davon zu lernen.«

Einmal veranlaßte ihn ein älterer Quartettsatz Beethovens, worin noch der Formalismus den Genius überwog, zu der Äußerung: »Das ist noch die kalte Musik des Sonatenstils, wobei es auf virtuose Fertigkeit in der Ausführung der Fiorituren ankam. Wie ganz anders ist da Bach in seinen großen Klaviersachen, wie im »Wohltemperierten Klavier«; ohne jedes moderne Sentiment, wie warm, wie naturkräftig, wie innig ist seine Musik, welche merkwürdigen Schreie ertönen da mitunter! – Jetzt wollen wir aber einmal den wahren Beethoven hören: das Scherzo des Cis-moll-Quartetts – das ist eines der größten Wunderwerke der ganzen Musik!«

Nach solchem Quartettvortrage am Klavier kam er dann auch auf den Symphoniestil zu sprechen: »Derselbe Beethoven, der in seinen Quartetten die größte Kunst, die tiefsinnigste geistige Arbeit nur für das exklusivste künstlerische Mitempfinden schuf, tritt in seinen Symphonien plötzlich völlig populär vor das ganze große Volk. Da ist alles oratio directa! Man denke nur an seine einfachen symphonischen Themenbildungen bis zur Neunten! Aber daran denken eben unsere modernen Musiker nicht, welche, um ganz besonders zu wirken, alle möglichen Masken vornehmen, die ihnen gerade gefallen.«

Mit dem »dritten B«, wie es damals hieß, mit Brahms wollte er sich gerne finden, und öfters versuchte er sich etwas aus dessen Werken vorspielen zu lassen. Ja, aber da wollte nichts einschlagen und zünden. Dem großen musikalischen Gefühle Wagners fehlte der zwingende Eindruck des Lebens und der Notwendigkeit in dieser fleißigen Kunst. Mitunter seufzte er: »Ich würde mich ja so freuen, wenn mir noch einmal etwas Großes und Wahrhaftiges in unserer Musik begegnete!« Darum begrüßte er einst (1873) mit aufrichtiger Freude die durchaus ehrliche, echte und unerschrockene Symphoniemusik eines andern Wiener »B«, seines stets neidlos und rührend kindlich Getreuen: Anton Bruckner. Gleich die eigenartige Führung einer Trompetenstimme hatte ihm hier als wirklicher symphonischer Einfall so wohlgefallen, daß diese Trompete ihm, in der so gern gepflegten scherzhaften Weise seines gemütlichen Umganges mit rechten Menschen, gleichsam zum Leitmotive ward für die ihm werte Person des Komponisten. »Bruckner: die Trompete!« Das war auch der Abschiedsruf, nachdem er auf die Bitte seines Verehrers die Widmung der von ihm mit freudigem Staunen durchgesehenen D-moll-Symphonie (Nr. 3) gern angenommen und dabei dem bescheidenen Künstler zu dessen nie vergessener Beglückung gesagt hatte: »Lieber Freund, mit der Dedikation hat es seine Richtigkeit: Sie machen mir mit Ihrem Werke ein ungemein großes Vergnügen!« – Solche »Vergnügen« gab es für ihn wenig genug. Daß er aber in aller Wehmut über den Stand der Dinge um ihn her immer noch gute Laune behielt, das zeigt der heitere Ausruf nach einem solchen Versuche mit einer modernen Symphonie: »Ja, wenn Brahms so schön klänge wie Beethoven, dann wär' er auch ein großer Komponist!« – Durch die akademische Maske konnte es dem Künstler der großen Wahrhaftigkeit, der überall nach dem »Gesange« der musikalischen Seele lauschte, freilich nur »unschön« entgegentönen!

Von allen Masken moderner Symphoniker erschien ihm aber keine abstruser als die dramatische. So sagte er: »Es ist wunderbar, wie entschieden Beethoven, nachdem er in der Eroica so kühne Versuche gemacht, sich über die herkömmliche Symphonieform hinwegzusetzen, späterhin, besonders in der siebenten und achten Symphonie, wieder so ganz auf die ursprüngliche Tanzform derselben zurückgeht, welche zu verlassen immer ein sehr bedenkliches Ding ist. Wenn heute jemand eine ›dramatische Symphonie‹ komponiert, so ist das ein Unsinn; ja, wenn ein ›Mazeppa‹, ein ›Dante‹ über einer symphonischen Komposition steht, dann kann man sich etwas dabei denken, aber ›dramatische Symphonie‹ sagt gar nichts und ist der Gegensatz aller echten symphonischen Komposition überhaupt. Hätten doch die neueren Symphoniker von Beethoven gelernt Maß zu halten und sich in einer bestimmten sicheren Grundform zu bewegen, um künstlerisch verständlich zu bleiben! Wie anders war meine Stellung, der ich die fürchterlichsten Dinge durch die Musik auszudrücken wagen durfte, weil ich mein Drama hatte, das in jedem Moment alles erklärt. Nun aber hat man mir die Manier der dramatischen Freiheit abgelernt, um Symphonie ohne Drama, also auch ohne Verständlichkeit zu schreiben.«

»Ich bin Reaktionär in der Instrumentalmusik bis auf Beethoven zurück,« so erklärte er und sagte weiter: – »aber auch im dramatischen Teile meiner Kompositionen bemühe ich mich um übersichtliche, begreifliche Formen und vermeide die schroffen Übergänge, die unsere Modernen, durch geniale Komponisten wie Liszt und Berlioz verleitet, so gerne wie auf dem Präsentierteller darbieten, damit man staune: welch' merkwürdiger Accord, welche unbegreifliche, nie dagewesene Modulation! u. dgl. m.« »Es ist nicht gut,« fügte er hinzu, »wenn gewisse Eitelkeiten auf ungemein ausgearbeitete Figurationen der Mittelstimmen zur Gewohnheit werden. Bei meinem ›Parsifal‹ will ich mich auch in der Instrumentation einfach halten.« Und er wies darauf hin, wie z. B. das Waldweben im Siegfried durchaus in einer Naivetät der Natur, der Parsifal dagegen in einer Naivetät des Heiligen zu halten gewesen sei, wobei gewisse Modulationen und Intervalle, pathetische Harmonien und sentimentale Melodik gar nicht vorkommen konnten. Einige Töne beim Abendmahlsegen im Vorspiele mußten noch umgeändert werden, weil ein fremder Geist mit hineinklang.

Über den musikalischen Nachwuchs, der mit seinen Mitteln, aber ohne seine Besonnenheit dramatisch komponierte, sagte er: »Wenn mir jemand eine neu komponierte Oper in Partitur zur Beurteilung vorlegt, so kann mir das gar nichts sagen; in den Künsten der Harmonisierung, der übermäßigen Dreiklänge, der Instrumentation und der allgemeinen Schablone moderner Komposition ist man jetzt so weit, daß man vorher wissen kann, man wird nicht gerade auf besondere Rohheiten und Dummheiten stoßen. Aber nach dem Textbuche frage ich; daran erkenne ich, ob der Mensch Sinn für dramatische Poesie hat, und kann danach auch wohl absehen, ob er für dramatische Musik begabt ist, wenn es ihm gelang, für seinen Text den rechten musikalischen Ausdruck zu finden, was freilich in den wenigsten Fällen geschehen ist.«

Mitunter stellte er ein Beispiel eines besonnenen und maßvollen feinen künstlerischen Sinnes auf, gegenüber den modernen Effekthaschern, die, anstatt in klaren Formen, nur mit lauter Überraschungen arbeiteten, und keinen Gedanken hinzubrächten, sondern, indem sie ihr Programm hinter ihrer Musik versteckten, nur immer dunkler und unsinniger schrieben. Dieses Beispiel war – Mendelssohn, dessen Hebriden-Ouvertüre er sich besonders gern vorspielen ließ, wie er ihr auch in den »Bayreuther Blättern« einmal ein schönes Denkmal gesetzt hat. Gerade wie einst in Dresden die Witwe Webers ihm unter Thränen gedankt hatte, weil sie die Werke ihres Mannes erst durch ihn wieder in seinem Geiste und nach seiner Art gehört habe, so hatten ihm ja auch jene größten Verehrer Mendelssohns in London, 1855, offen zugestanden, daß sie die Hebriden-Ouvertüre noch nie so gut gehört und begriffen hätten, als unter seiner Leitung. – »Mendelssohn war Landschaftsmaler erster Klasse, und die Hebriden-Ouvertüre ist sein Meisterwerk,« sagte er uns einmal selbst. »Da ist alles wundervoll geistig geschaut, fein empfunden und mit größter Kunst wiedergegeben. Die Stelle, wo die Oboen allein durch die anderen Instrumente hindurch klagend wie der Wind über die Wellen des Meeres zur Höhe steigen, ist von außerordentlicher Schönheit. Auch ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹ ist schön, und den ersten Satz der schottischen A-moll-Symphonie liebe ich sehr. Die Verwendung nationaler Themen wird keiner dem Komponisten verübeln, besonders wenn er sie so künstlerisch verwendet wie Mendelssohn. Seine zweiten Themen, seine Adagios, wo das Menschliche hervortreten soll, sind freilich bei weitem schwächer. Bei der Sommernachtstraum-Ouvertüre muß man bedenken, daß ein Fünfzehnjähriger sie geschrieben hat, und wie formvollendet ist da schon alles, wenn auch noch lange nicht so concis gefaßt und fein empfunden wie in den ›Hebriden‹; auch scheint mir das Hauptthema vergriffen: das sind keine Elfen, sondern Mücken. Aber wie stümperhaft kam ich mir vor als junger Mann, nur vier Jahre jünger als Mendelssohn, der ich erst mühsam anfing Musik zu treiben, während jener schon ein ganz fertiger Musiker war und auch als gesellschaftlicher Mensch die anderen völlig in die Tasche steckte. Ich wußte damals nichts Besseres zu thun, als ihm nachzuahmen, was ich freilich seitdem gründlich verlernt habe.« – Ein Unglück aber, welches für den deutschen musikalischen Geist von Mendelssohn ausging, sah Wagner darin, daß er, anstatt eine eigenartig bedeutende Spezialität in der musikalischen Landschaftsmalerei, wie Schubert im deutschen Liede und Löwe in der Ballade, zu bleiben, vielmehr zum Typus in allen Gattungen, und zwar zum Typus der Verweichlichung und Verzierlichung gestempelt ward, »um der – wie er sich ausdrückte – durch Beethoven erschreckten Musik eine moderne Erholung zu verschaffen.« »Dabei aber,« sagte er, »hatte Mendelssohn alles Talent, das den Nachahmern fehlte, welche dagegen ihr Talent damit nur verdarben.«

Solch ein lebensvolles, unbedingtes, naives Talent, in seiner Art echtdeutsch, in seiner Äußerung grundehrlich, das war ihm Carl Löwe als Balladenmeister. Gern sang er uns selber Löwesche Balladen mit unnachahmlichem Ausdrucke vor, besonders den schaurigen »Edward«, die phantastische »Elvershöh« und die selten gehörte, dämonisch-lustige »Walpurgisnacht«. Wie sich da aus dem schlichten Naturtone der musikalisch beseelte Sprachausdruck mit energischen Accenten zum ergreifenden und erschütternden Pathos, ohne jede aufgetragene Pathetik und Rhetorik, natürlich steigerte, dies war ein lebendiger Beweis für die Eigenart und Macht der deutschen Sprache, durchaus verwandt demjenigen, den Wagner uns in seinen eigenen dramatischen Werken geliefert hat. Doch auch in der reinen Lyrik fand er innige Befriedigung, wenn sie deutscher Seele wahr und warm entquoll, ohne sich in weichliche Sentimentalität zu verlieren, die niemandem fremder war als ihm. Besonders schätzte er von je die Lieder von Robert Franz, die auf seinem Flügel lagen, als er die »Nibelungen« schuf. Schuberts »Sei mir gegrüßt« war eines seiner Lieblingslieder, das er sich noch zuletzt in Italien wiederholt vorsingen ließ und mit tiefer Ergriffenheit vernahm.

Man hat Wagner mit besonderem Nachdruck als einen Gegner Schumanns dargestellt. Damit hat man aber den Sachverhalt fast lächerlich umgekehrt. Von einer Gegnerschaft des Dramatikers gegen den Lyriker kann keine Rede sein. Was aber stets zu beklagen bleibt, ist die schlimme Erfahrung, daß vom ersten Anfang an gerade »Schumannianer« die heftigsten und blindesten Gegner Wagners waren und geblieben sind. Wer ihm treu anhing, mußte es erleben, auf jener Seite als sittlich verloren zu gelten; denn hier sah man in Wagner – und sprach es wohl auch gelegentlich aus – schier nichts Geringeres als den persönlichen Bösen. Wo Liebe zu seinen Werken erwachte, da suchten die Gegner sie bei Zeiten zu ersticken durch alle Mittel der Macht, die in den Sphären der Erziehung, der Gesellschaft, der Kunstausübung, der Kritik auf ihrer Seite war. Wagner dagegen ließ dem echten Künstler Schumann selber alle Gerechtigkeit so gern widerfahren wie allem Echten, das er erkannte und liebte. Konnte jener zwar ihm nicht eben viel Neues und Besonderes sagen, so freute er sich doch an den musikalischen Feinheiten und sinnigen Zügen besonders der früheren Klavierwerke und Lieder, so schätzte er doch, und mehr als irgend ein »Mendelssohnianer« seiner Zeit, sein wirkliches Talent, seinen ehrlichen Ernst, seine deutsche Eigenart, wo sie zu ihrem Heile und zum besten der Kunst in ihren Grenzen blieb, die einen so reizvollen Heimgarten umschlossen. Wie anders als die offene und verhohlene Feindlichkeit der Gegner klang doch aus seinem Munde im freundlichen Abendgespräche das scherzhaft-gemütliche Wort: » Schumann war eigentlich ein lieber guter deutscher Kerl mit einer gewissen Anlage zur Größe; aber sie haben ihn elend verdorben!« – In seinen Schriften (VIII. 317) hatte er Schumann ausdrücklich »den begabtesten und sinnvollsten der Nachbeethovenschen Musiker« genannt. Daß Schumann selber einst, mit Mendelssohn in seltener Einigkeit, in seinem »Tannhäuser« die Zeichen der Begabung nicht hatte finden können, und in seinem sonst so achtungswerten Bemühen um Förderung der neudeutschen Musik gerade dem Einen Wagner gegenüber durchaus kühl, zurückhaltend, ja, in manchem scharfen Ausdrucke seiner Kritik entschieden ungerecht gewesen war, das trug ihm der größere Mensch und Künstler nicht nach – er war es von seinen Zeit- und Kunstgenossen gewohnt geworden! Aber das konnte er nun einmal immer weniger gutheißen, daß uns eine liebenswürdige Sondererscheinung, gegen ihre eigene Art und Neigung, zum Wahrzeichen einer Partei nicht immer deutscher Männer und Frauen gemacht ward, welche die »edle« und »keusche« deutsche Musik eigens gegen die schädlichen Dämonen und das geheime Gift des Wagnerischen Kunstwerks zu verteidigen berufen sein wollten. Nicht, weil es ihn hätte beunruhigen können (wie es jene für ihren Meister beunruhigte), daß seine, Wagners, eigene Musik vorübergehend darunter zu leiden habe, sondern, weil es ihn wahrhaft besorgt machen mußte, daß edle Anlagen seines Volkes, die in der That zum Größten berufen schienen, in den alten Traumwinkel gescheucht würden und dort um ihr volles Leben kämen, dem er selber durch sein ganzes Wirken und Schaffen eine neue, eine so große und weite Möglichkeit zu eröffnen gesucht hatte. Ach, wenn nur das »das deutsche Wesen« wäre, die süße Träumerei, der ätherische Zartsinn, was oft genug bei uns Deutschen in der Versenkung nach Innen zugleich mit der Kraft auch die Form nach Außen hin, und damit das Künstlerische vermissen läßt – und nicht vielmehr auch das, was Wagner uns wieder gebracht: Stolz und Stärke, Urrassen- und Gestaltungskraft, sieghafte Heiterkeit und tragische Erhabenheit, unendlicher Gehalt und große Form – dann könnten wir uns nur vor jeder romanischen und slawischen Macht in den Staub werfen aus lauter Deutschheit: wir hätten keine »Helden« mehr – und »Helden nur können uns frommen!« Das ist der Sinn Wotans und Wagners.

Solch ein »Held«, dem seine eigene Heldennatur aus der ganzen Ehrfurcht des Großen vor dem Großen zujauchzte: das war eben Beethoven. Zu diesem Meister wieder zurückgekehrt, möchte ich nur noch eine bezeichnende Anekdote erwähnen, welche Wagner mit humoristischer Lebendigkeit erzählte, als eben eine Mendelssohnsche und Beethovensche symphonische Komposition nacheinander am Klavier vorgetragen worden waren. » Mendelssohns Landschaftsmalerei,« äußerte da Wagner, »ist immer wie mit einem elegischen Trauerton überzogen, wobei ich an Bendemanns ›Trauernde Juden‹ denken muß. Das erinnert mich an ein seltsames Opernhauskonzert in Dresden im Jahre 1848, mitten in der Revolutionszeit. König und Hof waren trübe gestimmt, auf dem ganzen Publikum lastete der düstere Druck einer Ahnung von nahen Gefahren und Umwälzungen. Dazu gab es ein höchst melancholisches Programm: obenan Mendelssohns schottische Symphonie, dann ein Gesang de profundis, und so gings fort – nur am Schlusse stand Beethovens C-moll-Symphonie. Wie die Stimmung im Saale immer drückender ward, frug ich endlich ganz entsetzt vom Dirigentenpult herab meine nächsten Musiker: ›Mein Himmel, was sollen wir thun – was sollen wir thun mit diesem schrecklichen Mollprogramm?‹ Da raunte mir der Geiger Lipinski zu: ›Warten Sie nur – beim ersten Strich der C-moll ist alles fort!‹ Und richtig: die Symphonie beginnt – welches Aufjauchzen, welche Begeisterung, aller Druck gehoben, Lebehochs auf den König, und wie erlöst verließ die jubelnde Menge das Haus. Das – schloß er – das ist das Unsägliche dieser Kunst.«


Etwas von diesem »Unsäglichen«, was Wagner an Beethoven über alles bewunderte, wird jeder ihm selbst zusprechen müssen, der ohne Vorurteil an seine Werke und seine Person herantreten konnte. Man hat sich ja wohl auch im Laufe von etwa fünfzig Jahren an das Unsägliche der Werke insoweit gewöhnt, daß man sich scheut, jetzt noch wie vor kaum zwanzig Jahren zu äußern, diese Werke »sagten« eigentlich »Nichts« oder mindestens »Unsangbares«. Anders steht es noch heute mit der Person ihres Schöpfers. Der Deutsche hat es niemals recht vertragen können, daß er berufen war, die größten Persönlichkeiten aus seines Volkes Mitten erstehen zu sehen. Er hat sie von jeher klein haben wollen, zugleich aber das Recht beansprucht, allen deutschen Stolz, wozu das Vorhandensein solcher Größen berechtigte, gegen sie selber anzuwenden. Wenn ich im Vorhergehenden versucht habe, das Bild von der Person Wagners ein wenig lebendiger und klarer werden zu lassen, durch die Mitteilung einzelner Aussprüche, die ich selbst von ihm vernommen, so hatte ich zugleich schon angedeutet, welche Schwierigkeit ein solcher Versuch mir bereiten mußte. Nicht aber nur deshalb, weil die Persönlichkeit an sich »unsäglich« ist, sondern auch, weil wir andern, die wir davon sagen und hören, sie notgedrungen mit einem ungehörigen Maßstabe messen. Große Männer tragen ihren eigenen Maßstab in sich. Wir aber sind nur allzu geneigt, ja, wir sind sogar zunächst darauf angewiesen, sie nur mit dem unsrigen zu messen, welcher nirgends ausreicht. Wir erfassen also auch vor allem andern in ihnen eben dasjenige, was uns an uns selbst erinnert. Das kann aber das Große, das Geniale, das Heroische nicht sein, sondern vielmehr das Kleine, das Zufällige, das sogenannte »Menschliche«. Ja, dies wird uns sogar um so viel mehr bei den großen Männern auffallen, und einen besondern Eindruck machen, als wir uns von ihnen zuvor ein ideales Bild aus ihren Werken gemacht hatten. Das war auch gerade das Rechte. Denn in den Werken tritt ja eben das hervor, was den Mann zum Großen macht, das Innerste und Bedingende seines ganzen Wesens, das, was wir so schwer verstehen, wenn wir ihm selber gegenüber treten. Nicht, weil er dann »nur als Mensch« sich zeigt, sondern, weil wir dann nur noch als Menschen ihn beurteilen, als Menschen mit ihm verkehren, ihn unwillkürlich für unseresgleichen nehmen, aber erwarten, er solle uns nun auch ganz als seinesgleichen behandeln. »Ganze Menschen oder gar keine« wünschte sich Wagner einmal: »Nur keine halben, die ziehen uns herunter, wir aber ziehen sie nie herauf.« Und Carlyle meinte bekanntlich, wenn kein Held dies vor seinem Kammerdiener bleibe, so liege es am Kammerdiener. – Den Werken gegenüber befinden wir uns in der ganz natürlichen Stellung der Emporschauenden, der Verehrenden. Das Beste des Menschenwesens, das Edelste in unserer eigenen Natur, das wird in dieser Stellung zum Idealen lebendig. Wir sind »reines Subjekt des Erkennens«, wie der Philosoph sagt. Anders der Person gegenüber. Da spricht der »Wille« sein Wort darein, und mit dem Willen aller Wahn des »Ich« und »Du«. –

Gewiß sind es große Augenblicke, wenn wir dem Großen ins Auge blicken. Wir fühlen uns selbst in eine ganz besondere Erregung, in ein Hochgefühl des Daseins gesteigert. Aber wie nun gleichsam alles Leben in uns sich auf diesen Augenblick konzentriert, so sehen wir auch von dem Andern, dem Großen, doch nur eben diesen Augenblick, und zwar einen Augenblick der Beziehung auf uns, auf dieses kleine, erregte Ich mit dem falschen Maßstab. Nichts stimmt dann zusammen. Mißverständnisse sind fast unvermeidlich. Völlig selbstlose Hingebung ist nun einmal das Seltenste auf Erden. Darin liegt wieder ein Teil der Tragik des Großen. Wir sind nicht imstande, in jedem solcher großen, uns ganz befangenden Augenblicke uns zu vergegenwärtigen, welch ein Mensch da vor uns steht, nämlich: welche Summe von Kräften nicht nur, sondern vor allem von Leiden, von nur ihm möglichen Erlebnissen. Das kann uns das Kunstwerk im Moment sagen, indem es ein Ewiges symbolisch konzentriert. Aber der lebendige Mensch sagt es dem Menschen nicht ebenso. Zu laut spricht der Augenblick zu uns Augenblickswesen. Wenn jeder, der mit dem Großen zusammenkommt, in jedem Momente dieses Verkehrs sich vergegenwärtigte, welches Leben und Leiden, welches Streben und Kämpfen, welche Fülle von Wollen und Entsagen, von Hoffen und Enttäuschung jetzt eben sich berührt fühlt von dieser kleinen Einzelheit, die den gewaltigen Lebensweg kreuzt, – mit dem Anspruche kreuzt, daß sie so wichtig genommen werde, wie der Augenblick ihr selber wichtig ist – ja, wenn jeder sich dies immer vergegenwärtigt hätte: dann hätte es keinem beikommen können, sich jemals »enttäuscht«, »verletzt«, »unterschätzt« zu fühlen von dem großen Manne, und nach dieser persönlichen Erfahrung kurzweg auch über dessen ganze Persönlichkeit abzuurteilen, und zur Rettung aus der selbst geschaffenen Klemme endlich wie jeder beliebige Gegner zu erklären: man müsse Person und Sache, Charakter und Künstler trennen! Wenn aber Etwas dazu dienen kann, Licht zu verbreiten über die Person des großen Mannes, so ist es vielmehr die Erkenntnis, wie all seine Werke, und alles das in seinen Werken, was uns als Kunst so tief ergreift, wie dies gerade aus den Tiefen seines eigenen Menschenwesens entsprossen, nur Ausdruck seiner wahren Persönlichkeit ist, und von einem andern »Ich« gar nicht hätte geleistet werden können. »Das Gedicht meines Lebens, alles dessen, was ich bin und fühle«, nannte er selbst sein Nibelungenwerk. Ein Künstler, von dem sich der Mensch trennen ließe, der hätte solche Werke niemals geschaffen. Er hätte künstliche Werke geschaffen, – nicht Kunstwerke, welche immer »Menschenwerke« im höchsten Sinn des Wortes sind. – Aber es ist nun einmal nicht anders: der Mensch erkennt sich und seine Art in all ihren großen Fähigkeiten und Möglichkeiten, den guten wie den bösen, an den Werken und Gestalten des genialen Künstlers; er verrät aber auch sich selber in all seinen kleinen Eigenschaften bei seinem Verkehre mit dem wahrhaft großen Menschen. Nur, wer niemals Mensch und Künstler trennt, wird beide recht verstehen.

Wenn uns nun vor allem daran sollte gelegen sein, im großen Menschen nie den großen Künstler zu vergessen, so ist es diesem dagegen sein ganzes Leben hindurch das leidenvolle Bedürfnis: sich, den gefeierten oder verketzerten Künstler, zugleich von warm schlagenden Menschenherzen als Menschen verstanden und geliebt zu wissen. – Man hat sich früher gewundert über einen gelegentlichen Ausspruch Wagners: »Nur die Freunde, die den Künstler lieben, sind fähig ihn zu verstehen.« Obwohl doch schon Goethe gesagt hatte: nur wer ihn liebe, könne von ihm lernen; so schloß man nun kurzweg: Wagner verlange blinde Schwärmerei gegenüber seinen Werken. Aber er sprach nicht von Schwärmern und nicht von Werken, sondern von Menschenseelen. Er fügte selbst hinzu: »Ich erkläre ein für allemal, daß wenn ich von ›mich verstehen‹ oder ›mich nicht verstehen‹ spreche, dies nie in dem Sinne geschieht, als meinte ich etwa zu erhaben, zu tiefsinnig oder zu hochgegeben zu sein; sondern ich stelle an den, der mich verstehen soll, einzig die Forderung, daß er mich so und nicht anders sehe, wie ich wirklich bin, und in meinen künstlerischen Mitteilungen genau eben nur das als wesentlich erkenne, was meiner Absicht und meinem Darstellungsvermögen gemäß in ihnen von mir kundgegeben wurde.« Vom »Gefühlsverständnisse« sprach er, an welches allein er sich wende; – von sich, sprach er, als Menschen, dessen ganzes Wesen sich in seinen Werken auszudrücken suchte, und von den Freunden, welche diesen Quell seines Schaffens vor allem nur dann recht verstehen könnten, wenn sie volle Sympathie eben mit dem Menschen fühlten. Keiner von uns wird zögern, ganz dasselbe als Forderung zu erheben, wo immer er an Freundschaft im Leben für sich und sein Wirken appelliert! Und wir alle werden schließlich auch noch das meiste Verständnis für Wagner als Menschen zu gewinnen vermögen, wenn wir ihn selbst als Freund, unter und mit seinen Freunden, zu beobachten Gelegenheit haben. Eine solche Gelegenheit aber bieten der Briefwechsel Wagners mit seinem großen Freunde Liszt und die Briefe an seine alten Dresdener Freunde reichlich dar. Diese »Erinnerungen« ohnegleichen mögen hier auf eine Weile für mich weiter reden von Wagner als Menschen. Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt. 2 Bände. Breitkopf & Härtel, Leipzig. – Richard Wagners Briefe an Theodor Uhlig, Wilhelm Fischer und Ferdinand Heine, ebendort. – Die Erlaubnis zum Abdruck der oben angeführten Stellen aus diesen Werken hat die Verlagshandlung von Breitkopf & Härtel mit dankenswerter Bereitwilligkeit dem Verfasser erteilt.


Wo wir Wagner, den Einsamen, so recht aus der Tiefe seines Herzens reden hören, da ist's der Schrei nach Menschen, nach Freundschaft, den wir vernehmen. Sei es im Tone einer festen, glücklichen Überzeugung: »Von je erkannte ich in der Männerfreundschaft das edelste und herrlichste menschliche Verhältnis; es ist erhebend, einen Freund zu haben, aber erhebender noch, ein Freund zu sein.« Sei es aus sehnsuchtsvoller Verzweiflung, dem edelsten, aber fernen Freunde aus den Qualen der Verlassenheit zugerufen: »Ach liebster, liebster, einzigster Franz! Gieb mir ein Herz, einen Geist, ein weibliches Gemüt, in das ich mich ganz untertauchen könnte, das mich ganz faßte, – wie wenig würde ich dann nötig haben von dieser Welt, wie gleichgültig würde mir all dieser müßige Tand erscheinen, den ich in letzter Zeit (in Verzweiflung) wie zu phantastischer Zerstreuung um mich sammeln zu müssen, mich verleitet fühlte!« »Doch ich schwatze ins Gelag hinein,« schließt Wagner diesen Ausruf aus der Rheingoldzeit. »Weise mich zurecht, wie ich es verdiene; aus mir wird doch nichts mehr als ein phantastischer Lump!« – –

Wer Wagner als Menschen verstehen will, muß sich vor allem das ungeheure Wesen und das unerschöpfliche Bedürfnis einer künstlerischen Phantasie, wie es die Seine war, vergegenwärtigen. »Hast du noch rechte Lust zum Leben unter dem majestätischen Volke der Philister?« fragt er Liszt, und fährt fort: »Ach, haben wir Phantasie, dann geht es wohl noch zur Not!« Damals war ihm sein kleiner Dresdener Papagei, sein » spiritus familiaris« gestorben, und er schrieb zugleich nach Dresden: »Denen, die mich auslachen könnten, müßte ich Bücher darüber schreiben, was einem Menschen, der mit allem nur auf die Phantasie angewiesen ist, solch ein kleines Geschöpfchen sein und werden kann.« – Ja, gerade auch in der Tierliebe des großen Mannes waltet ein Teil seiner künstlerischen Phantasie. Man vgl. H. v. Wolzogen, Richard Wagner und die Tierwelt, Leipzig, Hartung und Sohn. Da lebt nun solch ein liebes, treues Geschöpf außer uns, etwas wie ein Freund, in seiner eigenen, beschränkten Wirklichkeit, und zugleich schafft sich die Phantasie des Menschen in dieses Tier hinein eine Steigerung des seelischen Lebens, etwas wie eine künstlerische Personifikation. So vereinigt sich die Kraft des Künstlers, welche sich sonst nur Bilder von Menschen schaffen konnte, mit der Erfüllung der Sehnsucht des Menschen nach lebendigen, mitfühlenden Seelen. Denn nicht nur ein Anregungsbedürfnis, auch das Mitteilungsbedürfnis treibt den Mann mit der großen Phantasie des Künstlers immer wieder anderen, fühlenden Wesen zu. Schon als Jüngling pflegte Wagner, mit übervoller Seele nach Mitteilung sich sehnend, seine lebhafte Phantasie zu entzünden an irgend einem zufälligen Moment in der Erscheinung, dem Gebahren eines Menschen. Den griff er dann stürmisch auf als den erwünschten Freund, schüttete glühend sein Herz ihm aus, – mußte dann plötzlich bemerken, daß nichts einschlug, alles mißverstanden ward, suchte nun mühsam zu retten, was noch zu retten wäre, machte dadurch die Sache noch verworrener und ärgerlicher, bis er endlich, als jener nun schon Freundschaftsansprüche erhob, schroff abbrechen mußte, um nur sich selber aus der Lüge des Verhältnisses zu retten. Ja, und dann war es auch wieder nicht allein die vergrößernde Phantasie, welche im andern mehr sah, als an ihm war, oder mitunter wohl auch eine zufällige, unbedeutende Äußerung als Zeichen bösen Willens, arger Art nehmen mochte. Darüber sagt uns ein Brief an Liszt von 1858 noch etwas sehr Merkwürdiges aus: »Auf Reisen, im Wagen u. s. w. suchte mein Blick stets unwillkürlich im Auge der mir Begegnenden zu lesen, ob sie zur Erlösung, zur Weltüberwindung fähig und bestimmt seien. Ich trug meinen Gott mit unwillkürlichem Wunsche in die Seele des andern hinein, und der Verlauf unseres Umganges war gemeiniglich die immer schmerzvoller werdende Enttäuschung, bis zum endlich oft heftigen Fallenlassen und Aufgeben des Betreffenden.« Konnte dieser Betreffende ahnen, daß er einem edlen Wahne zum Opfer fiel, welcher aus dem Gebiete der Phantasie schon übergriff in das der Religion und der Metaphysik? – Oft auch war es nur das Herz, das gute Herz, welches dem großen Manne einen Streich spielte. Wenn ein hartes Wort, Blitz und Donner, die Atmosphäre geklärt haben würde, scheute er sich wohl den Freund, den ihm Vertrauenden zu verletzen, und schwieg, verwickelte sich dadurch in das ihm Entsetzlichste, ein unwahres Verhältnis, zum Schaden des andern und zur nagenden Pein des eignen Gemütes – bis dann einmal doch die Nebel durchrissen werden mußten, und nun gerade das Übermaß der Güte in seinen Folgen als grausame Härte, als »Undank« erscheinen mochte.

Ach, und dieser Begriff des Undanks und der Dankbarkeit! Welche Zerrbilder werden so leicht daraus bei den Kreuzungen der Lebenswege großer und kleiner Menschen! Wie wahr ist doch das scherzhafte Wort Wagners, das er einmal im Gespräch nur so hinwarf: »Wenn ich notwendig einen Thaler brauche, und es giebt mir jemand einen Groschen, dann fordert er dafür meine ewige Dankbarkeit!« Wie oft hatte er dann selbst zu entsagen, sich mit unlösbaren Fesseln zu schleppen, nicht nur, weil er den Thaler nicht bekommen, sondern, weil er den Groschen angenommen hatte! Einem Liszt konnte er zurufen, als es galt, in der ersten schweren Exilszeit die verlassene Frau aus Dresden in die Schweiz nachkommen zu lassen: »Sieh, ich hänge an keiner Heimat, aber ich hänge an dieser armen, guten, treuen Frau, der ich fast noch nichts als Kummer bereitet habe, die ernst sorgend, und ohne Exaltation ist, und die doch an mich ungezogenen Teufel sich ewig gefesselt fühlt. Gieb sie mir, dann giebst du mir alles, was du mir je wünschen möchtest, und sieh – dafür würd' ich dir dankbar sein! ja – dankbar!« – Aber ein andermal auch: »Ich danke dir nicht, denn dafür kannst du dir selbst nur danken, und zwar durch die Freude daran, daß du bist, was du bist.« Und endlich einmal nach tausend Danksagungen: »Hier hört das Wort ›Dank‹ auf von Inhalt zu sein!« –

Aber dies war eben Liszt, »Franziskus der Einzige«, »der wie ein Riesenherz mir entgegenragt« – Er, dem Wagner zur Zeit der Walküre schrieb: »Du hast mir zum ersten und einzigen Male die Wonne erschlossen, ganz verstanden zu sein: sieh, in dir bin ich rein aufgegangen, nicht ein Fäserchen, nicht ein noch so leises Herzzucken ist übrig geblieben, das du nicht mitempfunden. Aber nun sehe ich, daß nur dieses wirkliches Verstandensein ist, wogegen alles andere reines Mißverständnis oder unerquicklicher Irrtum. – Aber was will ich denn anderes noch, nachdem ich dies erlebt habe?« – Und weiter: »Die Welt ist schlecht, schlecht, grundschlecht; nur das Herz eines Freundes kann sie aus ihrem Fluche erlösen. Aber so respektieren wir sie auch nicht und zwar in nichts, was irgendwie Ehre, Ruhm, oder wie sonst die Alfanzereien heißen, aussieht. Sie gehört Alberich. Niemand anders. Fort mit ihr! Genug – du kennst nun meine Stimmung: sie ist keine Aufwallung, sie ist fest und solid wie Diamant. Nur sie giebt mir Kraft, die Last des Lebens weiter zu schleppen. Aber ich muß in ihr fortan unerbittlich sein. Ich hasse jeden Schein mit tödlichem Grimm. Ich will keine Hoffnung, denn sie ist Selbstbelügung. Aber – ich werde arbeiten. Du sollst meine Partitur haben. Das ist genug. Ich bin im zweiten Akt der Walküre: Wodan und Fricka! Wie du siehst, muß mir das gelingen.« –

Aus solchen Leiden also, die nur in der Liebe sich äußern konnten, ist die Tragödie der »Walküre« entstanden. Das muß man im Gedächtnis behalten. Dabei beachte man die alles veredelnde Macht einer wahrhaftigen Kunst. Man sehe es, wie da auch diese »Welt«, die in ihrer menschlichen Kleinheit so verachtete Welt, die erhabene Größe künstlerischer Gestaltung empfängt: Wodan und Fricka. So schuf der Künstler, auch darin »unerbittlich« groß, er, der nicht nur das Ideal in sich trug, sondern auch alle Kraft es zu verwirklichen, nun aber verbannt aus der Heimat, in absoluter Geistes- und Herzenseinsamkeit, von Tag zu Tag mit Lebenssorgen ringend, von draußen her kaum etwas Anderes erfahrend als das alte Geschwätz und Getändel, das Mißverständnis und die niederen Ansprüche einer gar nie zu »revolutionierenden« Alltäglichkeit – inmitten all dessen ihm ebenbürtig nur eben jener Eine: Liszt der Freund. –


Was war das Einzige dieser Freundschaft? Gab es denn am Ende nicht bedeutende Männer genug, selbst in Wagners Schweizer Exil, recht namhafte Männer, die uns heute noch viel gelten, für deren Gesellschaft wir viel gegeben hätten? Konnten sie ihm nicht doch mehr sein als jene arme Welt, die »Alberich« gehörte? – Ja, wenn es der Geist, das Talent allein thäte. Aber gerade die Geistreichen, die selbst Begabten, doch nicht hinanreichend an das große Genie, – so gingen sie neben ihm her, verschlossen und verfangen in ihre eigenen Interessen, Beschäftigungen, Bestrebungen, in die kleineren Zauberkreise ihrer Talente – da der Professor der Ästhetik – hier der Novellist – dort der Philolog u. s. f. Sie vermochten es nicht, über sich hinaus den Größeren und Größeres Wollenden als Menschen zu verstehen. Seine Erscheinung reizte sie zum Widerspruch gegen seine »Ansichten«, und damit widersprachen sie nicht diesen, sondern gleich dem Innersten seines Wesens. Nur der Dichter, Herwegh, ging freundlich mit ihm, sympathisch gefesselt; aber an dem übermäßigen Wollen, das er anerkannte, erlahmte sein eigener Mut zu völliger Unthätigkeit. »St. Georg ist noch faul, doch soll er arbeiten!« heißt es von ihm in Wagners Briefen. Da war aber auch der hochbegabte Geist, der witzige, grobe Schwabe Friedrich Vischer – »der durchaus gutartige blonde Germane« nach Wagners Beschreibung. Der fühlte sich als »auch Einer«, wenn Wagner etwa die »Walküre« vorlas. Und einmal, in angeregtem Kreise, – so ward es uns nicht von Wagner, aber glaubwürdig von der anderen Seite her mitgeteilt – trat dem leidensvollen Künstler mitten unter den geistreichen Professoren das Herz auf die Zunge, und er ließ sich hinreißen, mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit das recht klägliche Bundestags-Deutschland jener Tage aus der Tiefe seines Mitempfindens heraus durch ein besonders starkes Wort zu kennzeichnen – nicht etwa in der spöttischen Pariser-Gamin-Weise Heinrich Heines, – sondern in jener Stimmung, von der es in Wagners Königsliede vom Siegesjahre 1870 heißt: »Vergraben durft' ich manchen Schmerz, der lange mir genagt das Herz, blickt' ich auf Deutschlands Schmach dahin!« – Da verstand der kluge Professor mit all seiner Hegelschen Philosophie so wenig den Mann, das Leben und Leiden, das da so heftig explosiv sich äußerte, daß er sich plötzlich als berufenen Vertreter Deutschlands empfand und beleidigt fortlief, da er das »Vaterland« nicht könne schmähen hören! – Nun gut, eine patriotische Aufwallung, die sich am Ende erklären und gewiß verzeihen läßt. Aber gerade er hätte später, bei seiner Anlage für den Humor, die ganze Sache wohl anders ansehen können, selbst, wenn er Wagner den Menschen nie verstanden hätte. Doch leider nein! So viel man weiß, blieb er sein verletzter Gegner und hatte auch für den Künstler kein ehrendes Wort mehr übrig. So wenig groß konnten auch die Nicht-Kleinen sein!

Verstehen wir nun besser die Klage Wagners, die wohl einen tiefen Blick in die Seele des großen Menschen thun läßt? »Was Unsereins im Umgange mit heterogenen, gänzlich uns fremden Menschen sich aufopfert, welche Leiden und Martern uns hieraus erwachsen, das kann gar kein anderer auch nur annähernd empfinden; diese Qualen sind um so größer, als sie eben von niemand sonst begriffen werden, und weil die uns abgelegensten Menschen wirklich glauben, wir wären eigentlich doch nur ihresgleichen; denn sie verstehen eben gerade nur so viel von uns, als wir wirklich mit ihnen gemein haben, begreifen aber nicht, wie wenig dies von uns ist.« – Ja: Unsereins! Das klingt nun wohl sehr stolz. Und man liebt es im allgemeinen nicht, wenn diejenigen stolz sind, die ein Recht daraus haben. Gott sei Dank, daß es noch solchen Stolz und solche Stolzen unter uns geben konnte! Worauf ist aber dieser Stolz begründet? – Gar nicht auf das, worauf man »so im allgemeinen« stolz zu sein pflegt: nicht auf das Mehr des Talents oder gar des Erfolgs, des Ruhmes – wie oft ist das nicht einmal etwas anderes als das Mehr der Markstücke! Aber auf das, woraus das Können und die ganze Kunst erst so übermächtig hervorquellen konnte: auf das Mehr – ja, dieses »Weltmeer« der Empfindungs- und Leidensfähigkeit, der Phantasie des Herzens, welche doch eigentlich das ist, was »Genie« heißt. Und dies ist das Menschliche. –

Und dies, nur dies ist es eben, was Wagner mit Liszt so ganz einzig freundschaftlich verband, was ihn vollberechtigte, ihm gegenüber von »Unsereins« zu sprechen, Liszt und sich, stolz und froh, in einem Atem zu nennen, und hätte der große Franz auch niemals eine Taste berührt, niemals einen »Dante« geschaffen! – Daß Liszt uns Wagner gerettet, weil er den Schöpfer des »Lohengrin« als Genie erkannte, und weil er ihn mit dem Nibelungenmetall über Wasser hielt, wo er nur konnte: das war nur das äußere Rettungswerk. »Ich verzichte auf Ruhm,« schrieb ihm Wagner, »und namentlich auch auf das verrückte Gespenst des Nachruhms, weil ich die Menschen viel zu sehr liebe, um sie, meiner Eitelkeit zu Liebe, in Gedanken zu der Armut zu verurteilen, von der allein der Nachruhm Dahingeschiedner sich ernährt. Nur der Wunsch, meine Freunde zu erfreuen, verlockt mich noch zu künstlerischem Schaffen.« Unendlich weit scheinen sich entscheidende geistige Eigenschaften Liszts und Wagners voneinander zu entfernen. »Du bist ein europäisches Weltkind, wogegen ich ganz spezifisch germanisch auf die Welt gekommen bin.« So bezeichnet es Wagner einmal selbst. Und seinen Dresdener Freunden schrieb er gleich anfangs über Liszt: »In meinem Denken begreift er mich nicht, mein Handeln ist ihm durchaus zuwider: dennoch achtet er mich in allem, was ich denke und handle, hält auf das Sorgfältigste alles zurück, womit er mich irgend verletzen könnte, und scheint sich mit ganzer Seele nur Einem noch zu widmen: mir zu nützen.« Aber nicht im Nützen, – im Widmen lag der unendliche Wert. Sie hatten es ein jeder im andern erkannt, das zwingende Gesetz des Daseins, das ein jeder ausleben mußte. Liszt verstand in Wagners Leben sein Leiden, »fühlte sein schlagendes Herz«. Und Wagner sagte wiederum von sich und Liszt und von des Freundes Frömmigkeit: »Wohl! wohl! Jetzt leiden wir, jetzt müssen wir verzagen ohne einen Glauben an ein Jenseits: auch ich glaube an ein Jenseits – liegt es auch über mein Leben hinaus, so liegt es aber nicht über das hinaus, was ich empfinden, denken, fassen und begreifen kann, denn ich glaube an die Menschen. Nun frage ich dich: wer teilt im Grunde des Herzens meinen Glauben mehr als du, der du an mich glaubst, der du die Liebe kennst und bewährst, wie wohl keiner sie noch übte und bethätigte? Sieh, du verwirklichst ja deinen Glauben in jedem Augenblicke deines Lebens; ich weiß also tief und innig, was du glaubst, und sollte die Form verspotten, aus der sich solch ein Wunder ergoß? Ich müßte wahrlich weniger – Künstler sein, als ich bin, um dich nicht mit Wonne zu begreifen.« Der Mensch verstand hier den Künstler, wie der Künstler den Menschen. Es war wie ein Ahnungstraum von der Menschheit der Zukunft, die nach Wagner die »Lieblosigkeit« nicht kennen sollte – wie von den »Inseln der Seligen«, die ihm ein wirklicher Traum seines letzten Lebensjahrs einmal gezeigt: jenseits des Weltmeers im strahlenden Sonnenschein liegend und lockend zum ewigen Frieden des Wahnes! –


Doch diese selige Welt ohne Lieblosigkeit – es bedurfte nicht nur der Exzessivität künstlerischer Phantasie oder menschlicher Natur, um sie einem Wagner herzlich nahe zu bringen. In diesen Irrtum dürfen wir nicht verfallen gegenüber der Kolossalerscheinung Lisztscher Freundschaft. Überall, auch im bescheidensten Kreise bürgerlich-heimischer Traulichkeit, wo nur wirklich unbedingte Liebe den großen Menschen umgab, ohne die störenden Reizungen aus fremden Sphären, wo er die » gesunden Sinne und fühlenden Herzen« traf, für welche einzig er auch nur geschaffen haben wollte: da fühlte er sich wohl, wahrhaft Mensch, da war er jener unendlich liebenswürdige und fürsorgliche Freund, dessen Genie nicht nur in der Phantasie, sondern im Herzen wurzelte. Da erkennen wir den wahren Wagner, auch wo kein »Riesenherz« ihm entgegenragt, – auch wo er jenen liebevoll gemütlichen Kreis nur wieder in der Phantasie, nur aus der Ferne, sich sehnsüchtig vergegenwärtigen tonnte. In solch ein sympathisches Verhältnis lassen uns jene Briefe aus dem Schweizer Exil an seine Dresdener Freunde blicken, von denen er dort gleich anfangs (1849) schreibt: »Die kleine Schar meiner Dresdener Freunde macht mir unendliche Freude! Wie geht doch über alle Verschiedenheit des Charakters, der Fähigkeiten, der Lebensordnungen und Ansichten das eine sichere Gefühl der Liebe, das all' unser Staat und Gesellschaft so gründlich auszurotten sich Mühe geben! Mich macht's glücklich und läßt mich nicht nur diese, sondern alle Menschen lieben, wenn selbst der roheste Kerl mich freundlich grüßen läßt, – wie meine Frau es mir berichtet. Grüßen Sie die Freunde vom Grunde meines Herzens!« Diese Briefe sind noch viel zu wenig gelesen worden, und doch würden sie Wagner den Menschenherzen näher bringen als tausend Broschüren und alle Zeitungen der Welt! Wie sie schon durch ihre uns wesentlich näheren Adressaten vertraulicher wirken müssen, so bringen sie die beruhigende Ergänzung zu dem erschütternden und durchaus genialen Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt. Spricht dort gleichsam wie unter den Sprößlingen einer höheren Welt ein übermenschliches Leiden sich vorwaltend aus: hier treffen wir im schlicht-menschlichen Verkehr auch die ganze Fülle des harmlos-herzlichen Scherzes, der Wagner so eigen war, wenn die Stimmung ihm nur das Scherzen nach Herzenslust erlaubte. Solche Stimmung bereiteten und erhielten ihm in der schlimmsten Zeit jene Braven von Dresden.

Da war vor allem auch ein »blonder Germane«, der feinsinnige und warmfühlende Theodor Uhlig, der stets still und ruhig fortwirkende »Kammermusikus«, den Wagner im herzlichsten Tone ganz so neckisch-impulsiv anredet, wie wir es als seine eigenste Art aus dem persönlichen Verkehre noch bis in die letzten Zeiten kennen und lieben lernten: »Uli, Uli, blonder Mensch!« – »Guter, lieber Mensch!« oder auch: »O du schlechter Mensch, homo malus!« und: »O du Mensch, homo terribilis!« Einmal heißt's: »Uhlig, Uhlig, du bist ein Herrgottstausendsakramenter! Du hast mich nicht übel lange auf einen Brief warten lassen. Inzwischen hab' ich die Walküre fertig gemacht!« Ein andermal: »Mensch! Mensch! Mensch! Schaff dir den Hafis an. Dieser Perser ist der größte Dichter, der je gelebt und gedichtet hat. Wenn du ihn dir nicht augenblicklich anschaffst, verachte ich dich in Grund und Boden. Schreib die Kosten zu den Tannhäuserauslagen.« Uhlig besorgte für Wagner, während er im Exile weilte, seine Klavierauszüge, den nötigen Verkehr mit den Theatern, und schrieb Besprechungen in der Brendelschen Zeitschrift, die man noch heute nachlesen kann. Was er auch thut, erfreut Wagner innig und er kargt mit den Ausdrücken seines Dankes nicht. Dabei sorgt er sich bis ins Kleinste um Uhligs und seiner Familie Gesundheit und laßt nicht ab dringende Ratschläge zu geben. »Ist dein ältester Junge wieder gesund? Was Teufel ist mit den Kindern immer los? Du wirst wieder schön mager geworden sein. Bald möchtest du wieder Apostelkostüm tragen und mit mir Mittags um zwölf zwischen Blumen am Wasser spuken.« Denn Uhlig war damals, wie Wagner selbst, ein großer »Wassermann«. Dem wiederholten Drängen des Freundes, zu ihm nach der Schweiz zu ziehen, sich völlig zu erholen, konnte Uhlig leider nicht folgen. Zu früh raubte ihn der Tod, schon 1853. »Mögest du Schlaf gewonnen haben. Dies vor allem der herzlichste Wunsch deines Richard Wagner«, so endete der letzte Brief. –

Daneben nun Wilhelm Fischer, der Ältere, der gereifte, künstlerisch-praktische, ernst-gediegene, fleißige »Chordirektor« am Dresdener Theater! Er, der zuerst für den unbekannten Komponisten des »Rienzi« dort eingetreten war, was dieser ihm nie vergaß. »Allerliebster Bruder Fischer!« hören wir da; oder auch: »O du allervortrefflichster Mensch, Mann, Bruder, Freund, Chordirektor und Notenabschreiber«, und »o du guter, väterlicher Bruder« noch von Venedig 1858 aus der Tristanzeit, mit dem Schlusse: »was machen Mama und Papa in der Oberseegasse? Könnte ich Euch nur alle einmal wiedersehen (nach zehn Jahren Trennung). Ich hätte so eine Herzstärkung nötig.« Und nicht lange Zeit vorher: »Wie du eigentlich dazu kommst, so viele Plage mit dem Plunder (Lohengrin) und überhaupt mit mir zu haben, ist wohl eine ernstlich bedenkliche Sache, und ein anderer wie du hätte wohl leicht schon die Geduld verloren! Gott geb' es, daß ich noch einmal dazu komme, dir für deine treue, rührende und wohlthätige Freundschaft so zu danken, wie es mir oft ums Herz ist, wenn ich in Gedanken bei dir bin. Wie oft sprechen wir, Minna und ich, von unseren guten Alten, dem Fischer und Heine, und namentlich versetzen wir uns da immer in die ersten Zeiten unserer Ankunft in Dresden, wo wir so plötzlich die guten, die besten Freunde fanden. Das ist auch das Erquickendste, was ich von den Erinnerungen aus der Rienzizeit habe! Daß sich nun diese Liebe noch so lange, und bis weit über die Trennung hinaus erhalten, ist gewiß eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens. Seid du und Heine auf das Innigste gegrüßt.« –

Da haben wir auch schon den Dritten, Heine – aber nicht Heinrich, Henry oder Harry, sondern Ferdinand oder » Nante«, Wagners »altes Heimmännel«, den biedern, gemütlichen, überaus tüchtigen Mann, Regisseur und Familienmenschen, mit Frau und Kind, »Mama und Papa in der Oberseegasse«, mit dem Sohne, der nach Amerika wollte und nach Japan kam, und all den kleinen Interessen und Beziehungen des sächsischen Bürgerlebens, die Wagner nicht aufhört scherzhaft lebendig zu erhalten. Aber mitunter giebt es auch da recht ernste Dinge zu tiefer Teilnahme: »Ich erlebe jedesmal eine ganze Weltgeschichte, wenn ich mir vorstelle, daß die Heinerei – nach Amerika auswandert! – Als ich Ende Juni (1849) vom Lande nach Paris zurückkam, trat Wilhelm (der Sohn) eine Stunde vor meiner Abreise von Zürich noch bei mir ein: ich habe den gesunden, tüchtigen Jungen nun einmal über alles gerne, und freute mich seiner; wie er mir ganz trocken sagte, mit Europa wäre es nun zunächst noch nichts, er ginge nach Amerika, und Vater, Mutter und Geschwister würden in ein paar Jahren auch nachkommen, da fand ich das so vernünftig und natürlich, daß ich mir ganz gelassen eine Prise nahm und sagte: ›Das ist gescheut!‹ – Sieh, das war ein weltgeschichtlicher Moment: da hörte alles persönliche, winzige, kümmerliche Menschenbewußtsein auf; sondern groß, nackt und offen standen wir beide auf der Erdkugel, die wir Welt nennen, und begriffen mit einem Überblicke das ganze Gefüge dieses Balles. – Nun aber geht mir denn doch oft das weltgeschichtliche Bewußtsein etwas aus, und eine unbeschreibliche Wehmut faßt mich bei dem Gedanken: – ›die alten Heines gehen auch – nach Amerika!‹ – da balle ich dann oft noch die Fäuste und knirsche mit den Zähnen, auch ein urweltlicher Fluch fährt mir dann wohl zum Leibe heraus! – – Nun, bis Ihr fortgeht, sehen wir uns schon wohl noch einmal: wir geben uns ein Rendezvous, und ich treffe ein; das verspreche ich dir!« Und dann heißt's bald darauf wieder im Tone des Humors: »hol's der Teufel, wir werden nicht verhungern, – geht es gar nicht mehr, so schreibe ich an meinen Gönner, den Wilhelm, nach Amerika, daß er mir irgend einen Posten als letztem deutschen Mohikaner verschafft, – dann packt Ihr uns mit ein, und wir segeln zusammen ab.« »An Europa hänge ich nun zwar noch mit allen Fasern fest: mein Werk ist hier zu verrichten und zwar mit allen Waffen meines Geistes«, so fährt er dann mit ernster Miene fort. Daß die ersten Schritte dazu in Paris geschehen sollen, das will ihm nicht einleuchten. »Mein Widerwille ist grenzenlos, denn es gilt wahrlich dabei nur zu renommieren, und wovor? Großer Gott, nur vor den Lumpen, vor keinem ehrlichen, gescheiten Kerl! – Nun wir werden sehen!« – Ja wohl, wir sehen es nun! – Der gute alte Fischer zwar erlebte kein Wiedersehen und keinen Triumph mehr. Als Wagner nach dreizehn Jahren endlich aus Paris nach Deutschland heimkehren durfte, da war der treue Freund schon vor zwei Jahren gestorben, und der große Mann schrieb ihm den bekannten schönen Nachruf, ihm und dem Meister Spohr zusammen. – Aber das »liebe alte Heinemännel«, das lud Wagner sich noch 1868 zu der ersten Aufführung der »Meistersinger« nach München ein (»gern würde ich die Kosten dieser Expedition übernehmen«) mit dem herzlich-gemütlichen Schlusse, ganz wie vor zwanzig Jahren: »Grüß Mama Heine und dank' ihr noch für die delikaten Heringe und Kartoffeln im Campo vacchino!« Und an diese traulichen deutschen Abendmahlzeiten bei Hering und Kartoffeln aus den stürmischen Rienzitagen, und nach sonstigen aufregenden Erlebnissen in der alten Dresdener Zeit, daran erinnert auch noch folgende, bedeutsame ältere Briefstelle: »Seitdem ich mir ganz klar bin, daß unsere ganze öffentliche Kunst keine Kunst ist, sondern nur künstlerisches Handwerk, daß sie mit allen Fundamenten, auf die sie ausgebaut ist, ohne Erbarmen zum Teufel fahren muß, seitdem habe ich auch erst rechte Freude am Kunstwerk gewonnen, an dem Kunstwerk, das der Zukunft ganz naturgemäß von selbst entwachsen wird. Bruder Fischer wird den Kopf gewaltig und bedenklich zugleich schütteln, wenn er von diesen meinen neuesten Kunstansichten hört, versichere ihn aber, daß diese neuesten Ansichten durchaus nur die alten sind, nur klarer, weniger vermanscht, und deshalb mehr vermenscht.« »Sieh, gutes Heinemännel« – so schließt der feurige Kunstrevolutionär, »da sind wir denn gerade wieder im Zuge, als ob gar nichts vorgefallen wäre, und es scheint, als ob wir unverwüstlich immer noch die Alten wären!« (Die Revolution und die Flucht lagen dazwischen!) »So soll es denn auch sein und bleiben! Kommt das Neue aus mir selbst, so ist es im Grunde genommen doch immer nur das Alte; kommt aber das Neue von Außen dazwischen, nun, so wirft man es aus dem Wege, so gut man kann, und geht es gar nicht anders, so reicht man sich selbst über den Ocean die Hand herüber, wenn du dich auch ein bißchen auf die Zehen dabei wirst stellen müssen. Wenn du nach Amerika kommst, wer weiß, ob ich dir da nicht von Kamschadka entgegentrete, über welche Gegend ich mich etwa aus Sibirien durchzuschmuggeln haben würde, wenn die Russen hier reine Wirtschaft gemacht haben sollten. Nimm mich dann nur gut auf und ignoriere mich als Amerikanischer Republikaner nicht etwa, wenn ich in meiner abgerissenen königlich sächsischen Hofuniform vor dich treten sollte! – Einstweilen aber, so lange wir noch in Europa so ganz nahe bei einander sind, wollen wir doch gehörig von uns hören lassen; also: schreib mir recht tüchtig und sag' Bruder Fischern, daß er mir schreibe, – alles durcheinander, was vorkommt, – gerade, als ob wir abends bei Heringslake miteinander kohlten: das ist das Rechte, und hat echten heimischen Duft.« –


Ja: »so war Wagner« – wie er selber oft schalkhaft zu sagen pflegte, wenn er in häuslicher Gemütlichkeit irgend etwas ganz Gleichgültiges geäußert oder gethan, ironisch gleichsam im Sinne seiner zukünftigen eifrigen Biographen und Lebensphilologen. Die »Heringslake« der Mama Heine aber erinnert mich an die »Hängelampe«, über dem runden Familientische, die er sich als ein Urbild der Gemütlichkeit noch mitunter mit rührendem Scherz ersehnte, als er schon, der vollendete Meister des »Parsifal«, in seinem reichen Wahnfriedsaale und im Kreise seiner letzten Freunde saß, in einem äußeren »Behagen«, wie er es wohl nicht geahnt hätte jemals noch zu erleben. Ach, es war ihm auch nicht so oft gegönnt; denn die Welt ließ seinem »Wahne« keinen »Frieden« und seinem Ideale selber nicht das Glück ungestörter Verwirklichung. Ja, mißgönnte man ihm nicht selbst das bißchen »Luxus«, wovon er einst geschrieben: »Muß ich mich wieder in die Wellen der künstlerischen Phantasie stürzen, um mich in einer eingebildeten Welt zu befriedigen, so muß wenigstens meiner Phantasie auch geholfen werden. Ich kann dann nicht wie ein Hund leben, ich kann mich nicht auf Stroh betten und mich in Fusel erquicken, ich muß irgendwie mich geschmeichelt fühlen, wenn meinem Geiste das schwere Werk der Bildung einer unvorhandenen Welt gelingen soll.« Diese »unvorhandene Welt« war ihm damals das Gedicht seines Nibelungenrings, dessen Ausführung die »vorhandene« Welt überhaupt für unmöglich hielt. Liszt hat von diesem Werke einmal witzig gesagt: »die Götter konjugieren darin das Sein, die Nibelungen das Haben.« Der Nibelungische Instinkt, der an dem Sein in Wagner einen so harten Anstoß nahm, der wandte seinen Grimm gegen jede Spur des Habens bei dem Künstler, – ein Haben, welches bei irgendwelchem ganz phantasielosen und zu nichts Edlem dadurch angeregten Mitbürger der »Welt des Alberich« höchst einfach und ganz »selbstverständlich« gefunden worden wäre! Diesen Leuten wäre wohl der Wagner in Paris vom Jahre 1840 immer der Liebste gewesen, der da wirklich sozusagen mit »Hund, Stroh und Fusel« die Hungersnot des deutschen Genies bis auf die Hefe erprobt und sich dort auch den Keim seiner Todeskrankheit geholt hatte. Doch schon damals hatte er einen kleinen, armen, aber warmen Kreis von Liebe und Freundschaft um sich gezogen, ein Vorbild jener schönen Dresdener Gemütlichkeit, welche doch wohl niemals in gleicherweise rein und schön ihm zu Teil werden sollte. Dafür ward er – wie der alte Pariser Freund Kietz zu sagen pflegte – den andern »zu groß«. – Und das war sein Leiden, der ja groß sein mußte, aber Mensch mit Menschen sein wollte. Dann überkam ihn wohl eine Bitterkeit, wenn er sich so hoch und fern von allen gestellt fand, daß der Kreis seiner späteren Freunde bei seinem Eintritt das leichte Gespräch sofort fallen ließ und in ehrfürchtigem Schweigen nur sein Wort erwartete, während ihm gerade der unbefangen schlichte Verkehr die Wohlthat der Ruhe, der Erholung hätte gewähren sollen. Das hatte er noch bei seinen Dresdenern gefunden, welche von dem Einen, so viel Größeren, den sie als Solchen ein für allemal anerkannt, nichts mehr trennen konnte, bei dem sie auch in aller Ferne, und durch Nibelungen und Tristan fort, ausdauerten, selbst über kleine Mißverständnisse und Ärgerlichkeiten hinweg, wie sie denn bei dem guten alten Fischer, dem Kinde einer andern Zeit, kaum ausbleiben konnten. Aber alle Verschiedenheit des Denkens, des Gewohntseins, ja, der Stellung, überwog auch hier, in diesen kleinen Verhältnissen, wie bei Liszt, das Menschliche, als die gegenseitige Treue, der feste Glaube, der immer wieder am alten Flecke stand, wenn das Wölkchen vorbeigezogen war. Wie viele spätere hastige Freunde des großen Mannes wußten nicht auszudauern, wenn der Donner einmal rollte, sondern liefen hinaus, bevor Wagner nach furchtbarem Ärger sein humoristisch-versöhnliches: »ich werd' mich ärgern« ausgerufen, – liefen hinaus, und kamen nicht wieder; aber draußen, da schalten sie dann noch über das schlechte Wetter, wenn längst die Sonne wieder schien! Wie viele haben sich damit ein unendliches Glück verscherzt, und auch ein Verschulden auf sich geladen gegen das Glück des großen Mannes. Er hatte wahrlich ein volles Recht, sowohl zum Glücksbedürfnis, als auch zum furchtbaren Ärger. Sollte doch Einer von uns, – mit der soviel geringeren Phantasie und Nervenzartheit, mit dem soviel leichter wiegenden Lebensinhalt – sollte doch der diese unaufhörliche, wütende Masse elendester Reizungen und Beschimpfungen erleben, wie solch ein Mann bis in sein höchstes Alter, bei seinen erhabensten Werken! Ob er dann wohl auch aus solcher Herzenstiefe heraus den von seinem Ärger unschuldig Betroffenen liebreich zu versöhnen verstünde? Das ist die Frage.


Über die Größe des Genies, die nun immer klarer aus den Nebeln der Zeiturteile hervortritt, vergißt man leicht und gern die Nebel selber, mit denen seine Sonne ihren ganzen Erdentag hindurch zu ringen hatte, um bis zur Empfindung der Menschen durchzudringen. Freilich ist es überaus widerlich, die unwürdige Art sich zu vergegenwärtigen, wie man in unserem Vaterlande mit einem seiner größten Söhne verfahren ist. Ein gar übel Gegenbild gegen die hier dargestellte Persönlichkeit des Künstlers würde sich ergeben aus den gesammelten Erinnerungen an seine Gegner. Will man aber recht begreifen, warum Wagner – der übrigens auf persönliche Angriffe fast niemals wiederum persönlich erwidert hat – der Welt des deutschen Kunsturteils überhaupt nicht gerade ein wohlwollend mildes Antlitz zu zeigen pflegte, so wird man sich wohl dazu verstehen müssen, das Wohlwollen und die Milde sich näher anzusehen, womit eben diese Welt ihm begegnet war. Dann wird man es auch seinen Anhängern am Ende verzeihen, daß sie damals, der überschäumenden Feindseligkeit gegenüber, bei der Verteidigung des erkannten und geliebten Edlen und Großen mitunter in das Feuer einer für deutsche Jugend wohl nicht unehrenvollen Begeisterung sich hineingeredet haben. Man muß wissen, was möglich war, um gegen das gerecht zu sein, was nötig war und nicht anders sein konnte. Es ist ein schwacher Trost, daß es »schon lange her«, seit ein Moritz Hauptmann seinerseits auch »nicht anders konnte«, als mit voller, glaubwürdiger Autorität über »die Absurditäten und Faseleien dieser Musik« abzusprechen und die Tannhäuserouvertüre »ein verunglücktes, ungeschickt konzipiertes Produkt« zu nennen. Man muß sich daran erinnern, daß noch in den sechziger Jahren der damals schon über vierzig Jahre lebendige »Holländer« in angesehenen Musikzeitungen gelegentlich ein »musikalisch-dramatisches Scheusal« hieß. Habe ich doch selbst wieder ein Jahrzehnt später beliebte Komponisten ernsten Stiles, voll Eifers für die deutsche Kunst, darüber in Streit geraten hören, was »scheußlicher« sei, die »Meistersinger« oder das Vorspiel dazu? Nicht lange zuvor fand ein feinsinniger Kunstschriftsteller, dessen Stil um seiner vornehmen Eleganz willen gerühmt ward, »die ganze Zukunftsmusik eigentlich doch nur unbeschreiblich komisch«. Wenn 1858 die große Wiener Presse es geradezu für einen »Mißgriff« erklärte, daß man den »fanatisch melodielosen« Lohengrin überhaupt »gebracht« habe, so darf man das Tempo des Fortschritts in der Anerkennung »der Kenner« daran ermessen, daß es noch 1868 für den damals angesehensten, und bis auf den heutigen Tag durch einen gewissen würdigen Ernst ausgezeichneten Berliner Kritiker eine »Kasteiung« war, die »kindisch stammelnde« Phrase dieses Werkes anhören zu müssen. Ja, noch 1873, also drei Jahre vor Bayreuth, meinte einer dieser Herrn ohne Scheu vor allgemeiner Empörung: »die Karrikatur der Musik sei die blechgepanzerte Oper Lohengrin.« Auf Jahrzehnte hinaus hatte die Kritik in Wagners Werken nur das »Blech« hören dürfen, und sie äußerte sich auch demgemäß stark instrumentiert. Als dann 1869 das »Rheingold« zuerst auftauchte, nannte es kurzweg der schlagende Witz jener Weisen, noch ehe sie einen Blick in die Partitur hatten werfen können, mit den früheren Urteilen in vollständiger Harmonie: »das Reinblech«, und alle Welt lachte und glaubte, Wagners Lebenswerke damit gerecht geworden zu sein. Das Allerschlimmste aber ereignete sich doch erst, als dieses Lebenswerk nun wirklich in Bayreuth 1876 zum Leben kam, als der greise Künstler am Ziele seines unvergleichlichen künstlerischen Strebens seinem Volke jene ideale Bühne geschenkt hatte, um welche gar bald das Ausland uns beneidete, und den idealen Stil der Kunstdarbietung dort zu verwirklichen begann, nach welchem unsere größten Meister wie nach einem gelobten Lande ausgeschaut. Einst hatte er von diesem Lebenswerke in seiner Not an Liszt, den einzigen Vertrauten, geschrieben: »So – das Rheingold ist fertig: Mit welchem Glauben, mit welcher Freude ging ich an die Musik. Mit wahrer Verzweiflungswut habe ich fortgefahren und geendet. Ach, wie auch mich der Fluch des Goldes umspann! Glaub' mir: so ist noch nicht komponiert worden. Ich denke mir, meine Musik ist furchtbar!« Ja, so fanden sie auch die Herrn aus der Welt, die Alberich gehört, aber ohne eine Spur von Verständnis für die Tragik des Künstlerwesens, welche uns so scharfe Lichtstrahlen wirft auf die Tragik des Werkes, das ihm eine ideale Befreiung von höchster Lebensnot bedeuten durfte. Wie muß uns Alberichs Goldfluch ergreifen, wenn wir Wagners Leben und Leiden bei seiner Schöpfung kennen! Aber als Jene ihn zuerst in die Ohren bekamen, nannten sie ihn in der großartigen Wiedergabe durch den genialen Karl Hill: – »eine Nachmittagspredigt«. Ein Mann und Künstler wie Wagner trat vor sie hin und bot ihrem Verständnisse, das die Zeitgenossen darüber »belehren« wollte, ein Werk dar wie der »Ring des Nibelungen« an einer Stätte wie Bayreuth, und wie empfingen sie die Gabe – wie bestanden sie, die Vertreter des deutschen Kunstsinns, vor diesem Erlebnis? Nicht wüst und lästerlich genug wußten sie in allen deutschen und österreichischen Blättern zu schmähen über den »Wagnerrummel«, das »hirnverbrannte Unternehmen eines Irrsinnigen«, »die Pferdearbeit der Bayreuther Schreckenstage«, bis sich Einer gar zu dem unglaublichen Worte von der »musikalisch-dramatischen Affenschande« verstieg. Diese Abscheulichkeit erklärt sich etwa aus jenem witzig gefundenen Urteil über die Musik, welche »der geschickte Affe der Realität« sein sollte, der den »bekannten melodischen Konversationston dem mythologischen Viehstall abgelauscht« habe. Diese Ausdrücke sind nicht vereinzelt gefallen; sie sind typisch für die ganze Art des Urteilens. Eine geistvollere Belehrung über den Stil der Musik konnte das raffiniert abgeschreckte Publikum in diesen Berichten der Fachmänner überhaupt nicht finden, welche ihm noch nebenbei verrieten, daß Wotans Abschied »herzzerreißend und ohrenschindend« sei, und daß die »Walküre« überhaupt nur wegen ihrer zahlreichen, wenn auch »verwässerten Mendelssohniaden« gefalle, denen man »immer gern begegne, selbst bei Wagner«. Bei dieser Gelegenheit ward dann Mendelssohn der »letzte große Deutsche« genannt, und die Wagnerianer, die es nicht glauben wollten, hießen »Korybanten und Bilderstürmer«. Sie konnten es ertragen, wenn sie andererseits es hinnehmen mußten, daß die Dichtung ihres Meisters »stümperhaft aufgebaut, in verlotterter Sprache verfaßt, von verblasenen Gestalten bevölkert, und von einem niederträchtigen Geist durchwaltet« sei, dergestalt, daß die zartsinnigen Kritiker »sich scheuten, den Namen Poesie daran zu verschwenden«. »Die Effekte des Cirkus waren das Einzige, was Beifall und Stimmung hervorzurufen vermochte«, – damit verließen unsere täglichen Lehrer und Leiter das Festspielhaus ihres großen Feindes, nachdem sie eben erst erklärt, daß »kein scenischer Moment gelungen sei, außer einem Blitz im Vorspiel«. Und – »das Unternehmen von Bayreuth ist zum Tode verurteilt; denn diese Werke sind verabscheuungswürdig und bühnenwidrig« – damit zog sich ein leidlich berühmtes internationales Haupt der Großkritik mit deutschem Namen in die moralisch reineren Sphären seiner geliebten Pariser Theaterwelt zurück. Als es – Dank dieser Arbeit der gesamten Meinungsmacherei – erst sechs Jahre darauf im »toten« Bayreuth – dennoch – zum zweiten Festspiel, dem »Parsifal«, kam – da kam auch dieser kritische Totschläger wieder zum Vorschein und verlangte für seine Verdienste »freien Eintritt« zum Bühnenweihfestspiel. – –

In jüngeren Jahren hatte Wagner einmal gesagt: »Ich brauch' ein sanft umschließendes Element, um mich froh zur Arbeit zu fühlen; dies ewige mich Zusammenballenmüssen zur Abwehr giebt mir nur Trotz und Verachtung, aber keine Liebe zur Expansion, zur Produktion.« Der greise Mann zwischen Sechzig und Siebenzig ließ nach seiner Bayreuther That den wilden Lärm durch die papierne Welt des Zeitgeistes brausen und schuf seinem Volke derweilen im Frieden seines Hauses das neue, das letzte Werk: das fromme Drama der »Versöhnung«. –

Es war zur Zeit der Komposition dieses Werkes. Der schon kränkelnde Künstler fühlte sich recht unwohl und erging sich zur Erholung einsam im Hofgarten hinter seinem Hause »Wahnfried«. Da überfiel ihn plötzlich ein evangelischer Prediger aus einem fränkischen Dorfe, der zu einer geistlichen Versammlung nach Bayreuth gekommen war. Es mochte wohl ein Weniges aus der Weltpresse bis zu der Landpfarre gedrungen sein: kurz, der sichtlich tieferregte Theologe hielt dem Nibelungendichter eine ganz ehrliche Bußpredigt über die Sündhaftigkeit seiner »Seejungfern«. Ruhig wies da Wagner über sich nach den Wipfeln der alten Eichen und sprach: »Hören Sie dort die Vögel zwitschern und singen? Nennen Sie die auch sündhaft? Dies und nichts anderes sind meine Rheintöchter!« Und er ging an seinem still harrenden Grabe vorbei in sein Haus zurück und sandte dem verstummten Eiferer die Dichtung des »Parsifal« hinaus. Ich weiß nicht, wie der Gute mit den »Blumenmädchen« fertig geworden ist. Hoffentlich hat ihn der Blick in des Dichters Auge und das Wort, das er dort von ihm vernahm, die unschuldige Heiterkeit und Grazie der reinen Natur auch darin erkennen lassen, welche der Künstler bei der Ausführung dieser Scene nicht genug sich bemühen konnte zum lebendig überzeugenden und wohlthuenden Ausdruck zu bringen. –

Über jenen seelsorgerisch eifrigen Mann mögen wir lächeln – aber verlachen wir ihn nicht! Er wenigstens meinte es ehrlich und gut. Nur stand er mehr unter dem Banne des Geistes einer ihm fremden Zeitungswelt als im Segen seiner eigenen Religion – einem Wagner gegenüber. Es war eine nachklingende Mahnung an das böse Werk der großen Verleumdung und Verlästerung, welches 1876 gegen den Schöpfer der Bayreuther Bühne von allen Seiten her gerichtet und ausgeführt worden war. So weit hatte dieses Gift im Volksgemüte um sich gefressen. Seit dem Erscheinen des »Parsifal« ist dann freilich ein Umschwung zu bemerken gewesen, nicht nur in der immer wachsenden Teilnahme, erst des ausländischen, dann allmählich auch des deutschen Publikums für Bayreuth, sondern auch in der Art der Kritik über Wagner. Solche Dinge wie 1876 sind nicht wieder möglich geworden. Wir wollen hoffen, daß in der That das Leben des »Parsifal« und nicht nur Wagners Tod den Anlaß zu dieser Besserung gegeben hat. Aber bedenklich und bedauerlich bleibt immer die Erfahrung, daß gerade der wohlfeile und frivole Witz, welcher nun 1882 in der vor der Erhabenheit des »Parsifal« verlegen gewordenen feindlichen Presse (eingestandenermaßen, nun vor ihren Lesern nicht ganz und gar zur witzlosen Bewunderung bekehrt zu erscheinen), wirklich an jene armen, unschuldigen Zaubermädchen sich noch zu heften gesucht hatte, – daß dieser Witz ganz ernstlich von nichtchristlicher Seite aufgegriffen und daraus eine Anklage wegen Religionsverderbs bei dem theologischen Tribunal einflußreicher, rechtgläubiger Geistlichkeit gesponnen und in »offenen Schreiben« zum allgemeinen Besten des christlich-deutschen Volksgeistes ausgehängt werden konnte. – In solchen Symptomen äußerte sich die alte Gegnerschaft noch spärlich, aber begehrlich nach Wagners Tode fort.

Er aber ist von uns geschieden als der Schöpfer des »Parsifal«. Den Abschluß seines ganzen Künstlerlebens fand er in den Sphären einer zur Kunst gestalteten Religiosität, einer in den Dienst des Religiösen gestellten Kunst. Davon ging auch auf die letzten Jahre seines Lebens, auf sein Wesen und seinen Verkehr mit den Menschen, die ihn liebten und verehrten, die edle Weihe eines geistigen Friedens aus, in welchem man sich wahrhaft wohl fühlte. Da war eine sichere Bergung vor den draußen sich umtreibenden Geistern der modernen Irren und Wirren, mit denen unsere Zeitgenossen noch einen so ernsten Kampf zu kämpfen haben, bis sie sich zu einem Frieden durchzuringen vermögen werden, dessen lebendiges Vorbild dort in Wahnfried die Freunde des großen deutschen Künstlers und Weisen beglückte. Aus jenen Friedenszeiten von Wahnfried stammen alle die Aussprüche, welche im ersten Teile dieser Erinnerungen mitgeteilt worden sind. Wohl drang auch dorthinein einmal die Dummheit der Welt, selbst bis in die seligen Gefilde der Kunst. Doch darüber konnte der Weise nur herzlich lachen. Es war so schlimm nicht, wie die Bosheit und Fremdheit, welche ihm die Herzen seines Volkes zu verderben und zu entziehen suchte. Die gute, liebe Dummheit aber schickte ihm ab und zu freundliche Briefe nach Wahnfried, welche ausnahmsweise keine Autographenwünsche enthielten, sondern – so niedliche kleine Vorschläge, wie er etwa den »Walkürenritt« hätte »besser« komponieren sollen. Die bessere Komposition des unterzeichneten Verehrers lag auch gleich bei! Der Komponist des schlechteren Walkürenrittes erzählte dann gern, wie dankbar er seinem Schwager Ollivier, dem französischen Minister von 1870, für den guten Rat geblieben sei, welchen er so oft im Leben zu befolgen hatte: » Ne répondez pas!« Er wird sich wegen dieses Nichtantwortens nicht zu verantworten haben! Er hatte Besseres zu thun. Der ihm eigene Geist sorglicher Güte schloß uns beglückte, letzte Freunde mit in den hehren Kreis der großen Heroen der Weltkultur ein, in das Pantheon aller Künstler und Weisen, das er sich in seinem letzten Bayreuther Heim geschaffen hatte. Dies nannte er seine eigentliche »Kammermusik«. Und so sagte er auch einmal: »Was unsere großen klassischen Dichter schufen, bleibt in gewisser Weise doch Kammermusik.« Es ward da in der reichen »Kammer« um ihn wohl immer einsamer, je mehr die Welt von ihm sprach. Aber er hatte seine Tröstung und wußte zu trösten mit dem Edelsten und Besten der menschlichen Geistesarbeit.

Seltsam mochte es erscheinen, daß die Musik dabei durchaus nicht etwa die erste Geige spielte. Wie über dem Bau des großen Bibliotheksaales in Wahnfried – nach Wagners Scherzwort – ein eigentlicher Musiksaal »vergessen« worden war, so fehlte dem großen Musiker in seiner letzten Zeit oft der hilfreiche Klavierspieler, und ein Orchester zu hören oder gar zu leiten ward ihm selten mehr zu teil. Da waren es rechte Lichtblicke aus der Centralsonne seines Lebens, welche doch die Musik blieb, wenn Liszt ihm fast alljährlich zum Besuche kam. Zauberte dann der unvergleichliche Meister uns Beethoven oder eigne Werke am Flügel in das idealste Leben, so half Wagner wohl in seiner eigensten Weise der Ergriffenheit der Hörer zur heitern Lösung, indem er sich einmal ganz spontan aus einem Herzenstriebe auf den Boden warf und zu seinem großen Freunde hinkroch mit dem Ausruf: »Franz, zu dir darf man nur auf allen Vieren kommen!« –

Gerade an Liszt hat man mit vollem Rechte seine liebevolle Teilnahme für alle Kleinen und Kleinsten gerühmt, welche musikalisch produzierten: daher denn auch er bis an sein Ende niemals einsam war. Wagner dagegen hat man Gleichgültigkeit gegen die Talente seiner Zeit vorgeworfen. Dies ist nicht richtig. Selbst wer die Einsamkeit seines hohen Alters mit ihm erlebt hat, muß dem widersprechen. Man hat sich eben auch hierbei stets gegenwärtig zu halten, wie Wagners Geist, ja, seine ganze Persönlichkeit, von einem bestimmten Ideale, das freilich eine Welt umspannte, durchaus und völlig eingenommen war. Mußte es ihm nun als sein einziger Lebenszweck gelten, für dieses Ideal nach innerem Gesetz unablässig zu wirken und alles dem Bestreben nach seiner Verwirklichung unterzuordnen, so können wir ihm dafür nicht dankbar genug sein. Denn nur diesem gewaltigen idealen Triebe, den man mit Unrecht als »einseitig« bezeichnen würde, verdanken wir alle selber die unvergleichliche Wohlthat – diese großartigste Liebesthat – der reichsten idealen Freuden. Sehr vieles, was einem Liszt, geschweige Einem von uns, wohl noch etwas zu sagen und zu bedeuten vermochte, da er stets mitten im Leben der Musik stand und ganz diesem Elemente angehörte, das mußte einem solchen Geiste, mit dem Ideale einer künstlerischen Kultur im einsamen Sinne, minder bedeutungsvoll, ja, oft ganz eindruckslos bleiben. Dennoch hat es gerade Wagner zeitlebens verlangt nach wirklichen Talenten, nicht bloßen Nachahmern, Ausnutzern und Erkünstlern, nein, nach naiv Produzierenden, die »etwas konnten«. »Kinder, macht Neues – Neues – und abermals Neues!« hatte er einst Raff zugerufen. Das blieb sein Wahrspruch. Nichts konnte ihm erfreulicher sein, als wenn er auf solche Talente traf. Aus Italien brachte er sich noch von einer der letzten Reisen das Quintett des damals noch jungen Sgambati mit und ließ es sich und seinen Freunden eigens von der Meininger Kapelle in Wahnfried vorspielen. Immer wieder, bis in jene letzten Tage, suchte er junge Musiker an sich heranzuziehen und durch seinen Umgang zu bilden. Ich erinnere besonders an Anton Seidl und an Engelbert Humperdink. Nichts beklagte er dann so sehr, als wenn die Jünglinge nur von ihm etwas wissen wollten, von den ältern Meistern der Musik aber nur wenig wußten, und selbst gegen seine älteren Werke ihm kühler zu werden schienen, sobald ein Klang aus den entrückten Welten der »Nibelungen« und des »Tristan« erscholl. Das ward unter seiner Anleitung bald anders, wenn der Betroffene sich nur wirklich mit Pietät und Liebe seiner Lehre hingab. Dann erweiterte sich der obige Wahrspruch zu einem: »Kennt das Alte und schafft Neues.« Wohl mußte ihm daran gelegen sein, gerade auch dem unerhört Neuen, welches von ihm selber ausgegangen war, bei den jungen Talenten die Sicherung der echten Tradition für seine stilgetreue Wiedergabe zu verschaffen. Doch liebte er es viel weniger, daß seine eigenen Werke oft am Klavier durchgenommen wurden, wenn es mehr der Ergötzung als der Belehrung zu gelten schien. Bei solcher Gelegenheit nannte er seinen »Tristan« eine »Extravaganz«, die einmal geschaffen werden mußte, womit man aber »nicht spielen« dürfe. Und nicht nur durch solche und ähnliche Lehren und unersetzliche Anweisungen, überhaupt durch die lebensvolle Einführung in den Kreis des höchsten Geisteslebens und der wahren Bildung, ja, auch mit so mancher unbekannt gebliebenen stillen Wohlthat zur Linderung der Lebensnöte, wozu sein gutes Herz stets überschwänglich bereit war: so sorgte Wagner väterlich bis zuletzt für manchen Jüngling und erhob sie dergestalt über sie selber durch das, was sie von ihm und nur von ihm gewinnen konnten. –

Brauche ich noch zu erwähnen, daß die erzieherisch bildende Wirkung Wagners nicht allein auf Musiker sich beschränkte? Ich nenne hier nur das eine leuchtende Beispiel: Heinrich von Stein († 1887). Dieser kam nach Bayreuth als ein, wie es schien, in früher Jugend bereits ungemein sicherer und fertiger Anhänger Dührings, und unter dem neubeseelenden Einflusse der großen Persönlichkeit des weltweisen Künstlers erwuchs er bei seiner ungewöhnlichen Begabung in kurzer Zeit zum bedeutendsten Schüler der Wagnerischen Weltanschauung, zum edelsten Vertreter seiner geistigen Kultur, zum Philosophen und Dichter dieses kleinen Jüngerkreises von Wahnfried. Fand er mit den Anderen in den »Bayreuther Blättern« zunächst das Organ für seine Äußerung und Fortbildung von dem großen Lehrer selbst sich geschaffen, so trat er doch auch hinaus vor die lernende Jugend und säte als Universitätslehrer einen fruchtbaren Samen. Seine volle Bedeutung wird erst die Zukunft ermessen. Solche Schüler wie einen Stein aber hat nur ein Lehrer, der an Kraft, Weisheit und Liebe allen andern vorleuchtet. Und wie er für die geistige Schule gesorgt, so auch für die künstlerische. Kam auch jene wirkliche Schule für alle edle deutsche Musik nicht zu stande, die Wagner, mit der Beihilfe Liszts, Wilhelmjs u. a., in Bayreuth hatte begründen wollen, so gelang es ihm doch noch, trotz allem Widerstande, auf dem Grunde der Darstellung des »Parsifal« (1882) das große Werk der lebendigen musikalisch-dramatischen Schule für seinen eigenen Stil in der fortlebenden Einrichtung der Bayreuther Festspiele der Zukunft zu sichern. Und auch hier dachte er nicht nur an seine Kunst, sondern auch an das Publikum, an jene zahlreichen »Söhnen Germaniens«, denen nur ein karges Los gefallen ist. Sein letztes Werk war die Begründung der » Stipendienstiftung«, welche Unbemittelten den Besuch der Festspiele ermöglicht. Der Verein, der seinen Namen trug, sollte eben diese Stiftung und die »Bayreuther Blätter« allein erhalten. Die Wohlhabenden sollten ihre Opfergaben für nichts Anderes spenden, als für die materielle und geistige Unterstützung der Ärmeren. Daraus sollte sich allmählich das noch unerreichbare Ideal der »Unentgeltlichkeit« aller Bayreuther Kunstdarbietung entwickeln. Als 1876 die Patrone ausblieben, und das Deficit wuchs und wuchs, – da soll Wagner schon einmal zum Schrecken der fürsorglichen Freunde erklärt haben: ehe er ein einziges Billet verkaufen ließe, ehe er einen Groschen Geld für sein Kunstwerk nähme, würde er das Haus mit der Bayreuther Garnison anfüllen lassen! Das entsprach vollkommen seiner Grundanschauung von den Beziehungen zwischen der echten Kunst und dem Publikum. Die »Patrone« sah er niemals als »Billetkäufer« an; sie hatten nur die ganze Sache durch freie Spenden zu ermöglichen gehabt. Alle Agitation, welche »Rechte« gegen Geld versprach, war und blieb ihm verhaßt. Sich anders entschließen zu müssen, wie 1882, um den »Parsifal« überhaupt zur Darstellung bringen zu können, das war ihm eine verzweifelte Herzenspein. In solcher Stimmung hatte er zwanzig Jahre vor Bayreuth die Komposition des Nibelungenwerkes ganz aufgegeben und damals schon geschrieben: »Ich habe meinen jungen Siegfried noch in die schöne Waldeinsamkeit geleitet; dort hab' ich ihn unter der Linde gelassen und mit herzlichen Thränen von ihm Abschied genommen – er ist dort besser dran als anderswo. Soll ich das Werk wieder einmal aufnehmen, so müßte mir dies entweder sehr leicht gemacht werden, oder ich selbst müßte es mir bis dahin möglich machen können, das Werk im vollsten Sinne des Wortes der Welt zu schenken.« Und das nannte er ein andermal seine » Tragik«, daß sein größtes Unternehmen ihm zugleich seinen »Lebensunterhalt« verschaffen müsse.

»Lieber Liszt, lassen wir die Krämer aus!« Durch Wagners ganzes Leben klingt dieser Ruf aus der Zeit der Not. Aber »die Krämer« ließen ihn nicht aus. Sie wußten wohl warum. So kam es, daß die Werke des Künstlers, und auch die einst »unmöglichsten«, auf den Bühnen draußen immer »populärer« wurden, die Statistik ihrer Aufführungen ins Unglaubliche stieg – während Bayreuth noch mühsam von Festspiel zu Festspiel sich durchhalf und auf Besuch und Einnahmen sehen, rechnen und wieder rechnen mußte, um das Erbe seines Begründers in seinem Sinne würdig erhalten und vor allem auch mit jedem Male und jedem »Erfolge« wieder weiter entwickeln zu können. Hier wirkte Wagners persönlicher Geist in der Treue und Pietät seiner Freunde fort. Da fiel es denn auch anders aus als dort, wo die Werke populär sind, weil sie Mode wurden und Geld bringen. Wo blieb doch oft vor dieser Popularität der Werke die Achtung vor der Person des Künstlers! Nicht aber, daß man die Werke giebt, sondern, wie man vor der Person des Künstlers besteht, das ist die Gewissens- und Kulturfrage bei der Erscheinung eines solchen großen Mannes. Darum gilt es immer wieder an diese Person in ihrer Ganzheit und Echtheit zu erinnern. In den Festspielen aber überlebt sicherlich die allergrößte und allerdeutlichste Erinnerung an Wagners Art und Wirken. Fragen wir: was ist deutsch? – Die Antwort giebt: Wagner, der Mensch und der Künstler. – Fragen wir: was ist Wagners Kunst, die eigenste, echte Kunst des großen Menschen? – Die Antwort giebt: Bayreuth.


Wenden wir zuletzt noch unsere Augen auf dieses bedeutendste Lebenswerk Wagners, und betrachten wir mit einem durch unsere Erinnerungen an seine Person geklärten Blicke die Eigenart des Stiles seiner Kunst, welche der ideale Ausdruck der Eigenart seines ganzen Künstlerwesens ist. Wir haben schon bemerkt, worauf es ihm überall bei Werken musikalischer Kunst vorzüglich ankam: nämlich – auf energische Unmittelbarkeit und charaktervolle Deutlichkeit des Ausdrucks, wie in der Beethovenschen Symphonie, – ferner auf innig empfundene seelische Wahrhaftigkeit und Zartsinnigkeit, wie in Mozarts und Webers Melodie und in den intimen Kompositionen Bachs und Beethovens, – und endlich auf eine fein durchgebildete künstlerische Form, welche dem Stoffe mit der klaren Bestimmtheit eines einheitlichen Stiles durchaus entspricht. Diese drei Eigenschaften suchte er auch in seinen eigenen Werken so vollendet wie möglich zur Geltung zu bringen. Die Energie seiner musikalischen Sprache und die Seele seiner Melodie sind denn auch mit der Kraft unbezwinglicher Wahrheit durch alle Hemmnisse hindurch an das Herz des Publikums gedrungen. Dagegen hat man daselbst noch immer jenes Dritten, seines so stark ausgeprägten künstlerischen Formensinnes, viel zu wenig geachtet. Man hat sich vorreden lassen, daß Wagner gerade dasjenige sich selbst habe zu schulden kommen lassen, was ihm das Widerlichste war, und was er den modernen Musikern auf das Ernsteste warnend vorhielt: nämlich eine unbesonnene Mißachtung der Form und eine unkünstlerische Entfeßlung der Leidenschaft mit blinder Aufbietung sinnlicher Effektmittel zur nervösen Reizung der Affekte.

Obwohl ein Blick in die ungeheure künstlerische Arbeit einer Wagnerischen Partitur genügt, um davon zu überzeugen, daß hier nicht lediglich eine wilde Leidenschaft mit der Musik ihr willkürliches Spiel treibe, so lagen doch die Verhältnisse in der musikalischen Welt derart, daß Wagners Kunst einem solchen schweren Mißverständnisse nur zu leicht anheimfallen konnte. An den deutschen Operntheatern herrschte bereits eine völlige Stilverwirrung. Von einer klassischen Tradition der deutschen Meisterwerke waren nur noch sehr geringe Spuren übrig. Dazwischen hatte sich die ganze Flut der italienischen und französischen Opernmusik gedrängt. In der beherrschenden Meyerbeerschen Prunkoper war die unkünstlerische Stilvermengung sogar zum Kunstprinzip erhoben worden. Mitten in ein Repertoire, wo all' diese verschiedenen Stile und Nichtstile durcheinanderschwirrten, traten nun die Werke Wagners mit ihrem neuen Stile, welcher die höchsten und schwersten Aufgaben an die Künstler stellte. Was sollten die Künstler damit anfangen, da es nirgends eine Schule dafür gab? War doch der Schöpfer dieser Werke selbst gerade zu der Zeit, da sie unerwarteter Weise Repertoirestücke wurden, nicht in der Lage auf irgend ein deutsches Theater mit praktischer Belehrung dauernd einzuwirken. Die Künstler, davon entwöhnt, einer idealen Kunst, wie etwa bei Gluck, und noch unter Spontinis Leitung, eine stilistisch geregelte, plastisch edle Gesamtwiedergabe zu verschaffen, waren vielmehr durch die französische und Meyerbeersche große Oper auf die erregenden Einzeleffekte leidenschaftlicher Accente und pathetischer Glanztiraden hingewiesen worden. Nun griffen sie natürlicherweise auch in den neuen Werken Wagners nach dem ihnen zunächst Begreiflichen, den darin enthaltenen affektiven, pathetischen und dämonischen Elementen, welche denn auch auf das immer erregungssüchtige Publikum unmittelbar eine fascinierende, aber auch verwirrende Wirkung ausüben mußten. Die große Kunstform des neuen Stiles ward von den unbelehrten, allmählich aber ihrer neuen Wirkungen sicheren Reproducenten leichthin über Bord geworfen. Das gewaltige Bild des musikalischen Dramas, welches zu seiner Deutlichkeit der größten Korrektheit in der Wiedergabe bedurfte, ward mit einem ungestümen, breiten Pinselstriche und in allgemein verschwimmenden Zügen al fresco, und ganz inkorrekt hingemalt. Die ungeregelte Mittelverschwendung, wie die affektive Verwirrung jedes feineren Kunstsinnes, welche hierbei als nächstersichtliche Ergebnisse sich zeigen mußten, boten also den ohnehin mehr musikalisch als dramatisch beanlagten Gegnern nur zu reichliches Material dar für ihre Behauptung: Wagners Musik bedeute den Tod aller wahren und reinen Kunst.

Gerade das Gegenteil von alledem war Wagners Meinung und machte das künstlerische Wesen seines Stiles aus. Er, dessen Blick in den Tiefen der Welttragödie das unstillbar vernichtende Spiel dämonischer Leidenschaften erblickt, und in der neueren deutschen Musik denselben ruhelos bewegten Willen übermächtig Ton und Stimme hatte gewinnen sehen, er erkannte es auch so tief und klar wie nur je ein Künstler, daß diese schrecklichen und tragischen Wahrhaftigkeiten des Daseins nur durch die edel besonnene Macht der großen Kunst gebändigt und beruhigt, ja, auf das endliche Ziel einer übersinnlichen, harmonischen Verklärung hingewiesen werden könnten. Aus der tönenden Bewegung der Gemütskräfte in dem erregenden Geisterreiche der Musik sollte das großartige Bild des sichtbaren Dramas aus der Scene wie ein befriedender Regenbogen über den Stürmen und Wolken des Gewitters sich ausspannen, um in den ruhig bewegten, einfach großen und typisch bedeutsamen Linien einer deutlichst ausgeführten Gesangsmelodie und eines plastisch ausdrucksvollen Gebärdenspieles den künstlerischen Sinn des Zuschauers von aller sinnlichen Leidenschaftlichkeit abzuziehen und ganz zu fesseln an das erhabene Traumbild des Dramas, wie es im majestätisch abgemessenen Tempo des monumentalen Stiles dort drüben in würdiger Ferne über dem mystischen Abgrunde der Musik als eine verklärte Erscheinung aus anderer idealischer Sphäre vorüberzieht. – Um die erhabene Ruhe dieses idealen Bildes auf keine Weise zu stören, ward auch die unvermeidliche Unruhe der Bewegung in dem hundertfältig komplizierten Organismus der Musikausführung den Augen des Publikums entzogen; und ebenso sollte auf der Scene jede allzuheftige, gewaltsame, oder gar unschöne Bewegung, jede auf das Einzelne ablenkende, modern nuancierende, nervös spielende Mimik ferne gehalten bleiben, um den edel beruhigenden Eindruck des großen Stiles nicht zu beeinträchtigen.

Die psychologischen Feinheiten des modernen Charakterschauspiels gehören, wie dessen eigener Ursprung, in das Shakespearetheater, d. h. in den wohlbeschränkten Raum des recitierten Dramas. Dort nur ist es dem Publikum möglich, aus intimer Nähe jeder Bewegung und jedem Mienenwechsel der Schauspieler zum geistvoll durchgeführten Ausdrucke der modernen dramatischen Seelenmalerei mit detailliertem Interesse genau zu folgen. Nun aber hat man die Eigentümlichkeiten des recitierten Dramas in die weiten Räume des Operntheaters verpflanzt, welche allein durch die Wirkung der Musik, und die daraus sich ergebende Entfaltung eines großen scenischen Zauberreiches bedingt waren. Dadurch ist eine höchst bedenkliche Stilverwirrung hervorgerufen worden. In den großen tempelartigen Raum des musikalischen Theaters gehört nur das großstilisierte, in die Weite und auf die Menge wirkende Idealgebilde der musikalischen Tragödie. Das Streben unserer großen klassischen Dichter ging aber nun im Gegensatze zu jener lokalen Stilversetzung vielmehr dahin, womöglich auf dem Boden des recitierten Dramas selbst solch einen hohen Stil idealer Kunst zu gewinnen. Dabei fand es sich, daß sie dreierlei immer wieder beirrte, erschreckte und erstaunte: der überragende Realismus Shakespeares, die Unfähigkeit der Schauspieler zum Idealen, und die rätselhafte idealische Wirkung der Musik, selbst in der merkwürdig zwitterhaften Form der Oper. Nur durch die schöpferische Macht dieser Musik sollte aber jener ideale Stil des Dramas ermöglicht werden. Wenn Goethe und Schiller auf den Sturm und Drang der »Räuber« und des »Götz« hernach mit meisterhafter Besonnenheit ihre stilistisch abgeklärten Beruhigungen durch den Idealismus einer »Iphigenie« oder »Braut von Messina« folgen ließen, und dadurch das damalige deutsche Publikum einigermaßen in Verwirrung setzten: so könnte man sagen, daß in Wagners Kunstwerk sich beides vereinigt finde, einerseits nämlich der Realismus des Dramas idealistisch verklärt durch die fundamentale Mitwirkung der Musik, andererseits aber der Sturm und Drang der modernen Musik aufgegangen in die erhabene Ruhe der stilgerechten Darstellung eines idealen Dramas.

Diese seinem eigentümlichen Kunststile lebendig entsprechende Darstellung allmählich immer vollkommener auszubilden und ihre Tradition zu fixieren, das war Wagners Ansicht und Hoffnung bei der Begründung des Bayreuther Theaters und bei den dortigen Festspielen. Sein letzter größerer Aufsatz in den »Bayreuther Blättern« (1882, XII.) zur Erinnerung an die ersten Aufführungen des »Parsifal« sprach sich noch einmal deutlich darüber aus. Hier war die Möglichkeit vorgezeichnet und dargeboten, dem an sich tief gemütvollen, weniger aber künstlerisch angelegten deutschen Geiste in der Verbindung seiner reinsten Manifestationen, Musik, Mythos und idealistischer Lebensauffassung, die vorbildlich symbolische Form von künstlerischem Stile zu geben. Hier konnten sich die tausendfältig zersplitterten Richtungen und Interessen des deutschen Geistes wieder zusammenfinden in dem friedvoll schönen Reiche des ihm ureigenen Gemütes, woraus emportauchend das verklärte Bild eines dramatischen Weltgleichnisses den deutschen Geist in die Sphäre des Allgemeinmenschlichen bis zum Religiösen emporzuheben vermochte. Hier konnte man erkennen lernen, was Wagner als stilbildender Künstler wollte, und am künstlerischen Erlebnisse selbst erfahren, worin auch die reformatorische Kulturbedeutung des Mannes bestehe.

Wie dieses sein Kunstwerk wurzelt im Wesen der Musik, so auch seine eigentümlich reformatorische Kraft und Bedeutung überhaupt. Er selbst hat die Musik einmal seinen »guten Engel« genannt, der ihn als Künstler bewahrt, ja in Wahrheit erst zum Künstler gemacht habe, von einer Zeit an, wo sein empörtes Gefühl, wie er sagt, »mit immer größerer Bestimmtheit gegen die herrschenden Kunstzustände sich auflehnte«. Bedeutsam fügte er hinzu: »Daß diese Auflehnung nicht außerhalb des Gebietes der Kunst, vom Standpunkte weder des kritisierenden Litteraten, noch des kunstverneinenden, socialistisch rechnenden, politischen Mathematikers unserer Tage aus geschah, sondern, daß meine revolutionäre Stimmung mir selbst den Drang und die Fähigkeit zu künstlerischen Thaten erweckte, dies verdanke ich nur der Musik.«

So begann Wagner zur Zeit der Revolutionen, dem deutschen Geiste entsprechend, allerdings ein reformatorisches Werk als musikalischer Künstler; und nur als ein solcher vermochte er es heutzutage zu vollenden. Bieten sich dem Reformator auf politischem Gebiete auch nur die vorhandenen politischen Mittel zur Benutzung dar – welche ganz anderen Mittel waren Wagner dem Künstler zubereitet worden durch die unvergleichlich gewaltige Entwicklung gerade der deutschen Musik! Nach jenem furchtbarsten politischen dreißigjährigen Kriege, zur Zeit der allgemeinen Entdeutschung, war die Musik als einzige Stimme des noch unerstorbenen deutschen Gemütes einst erwacht. Über alle geschichtlichen Wehen und Wechsel von anderthalb Jahrhunderten hinweg hatte sie dann auf dem freien Felde der Kunst sich fortgebildet, im echten deutschen Geiste, von Bach bis Beethoven! Da war eine ideale und eine deutsche Welt entstanden, auf deren Grunde wohl der erhabene Bau eines großen Kunstwerkes sich erheben konnte, wenn nur der rechte Baumeister kam, – mochte auch sonst die ganze reale Welt noch so sehr dawider sprechen. Auch dies war eine Realität, auch hier war ein Deutschland, wo die edelsten deutschen Kräfte unter der Pflege der deutschen Meister heimisch geblieben waren. Hier, von dem freien Gebiete der Kunst aus, konnten die veredelten Kräfte des deutschen Gemütes, denen inmitten der politisch-socialen Welt und des modernen Materialismus die frei entwickelte Mitwirkung versagt blieb, – von hier aus konnten sie zur unmittelbaren Wirkung gelangen auf hunderttausende von Seelen der Kinder jener politischen Welt, und konnten sie die Segnungen ahnen lassen von etwas Anderem, als was sie täglich umgiebt und niemals wirklich zu befriedigen vermag. Es mußte nur eben auf die großen Erreger und Ausbilder der künstlerischen Gemütskräfte der Nation noch ein Mann wie Wagner folgen, welcher alle diese Kräfte mit mächtiger Energie zusammenfaßte und durch eigentümliche große Thaten, welche die Aufmerksamkeit der ganzen Nation auf ihn lenkten, der großen Kunst selber das vergessene Ansehen einer eigenen idealen Kulturwelt von höchster nationaler Bedeutung verschaffte. In dieser eigenen und freien Welt der Kunst konnte auch heute noch für und auf das deutsche Volksgemüt reformatorisch gewirkt werden. Der lange Kampf für die Sicherstellung dieser Möglichkeit hat das Kunstwerk als solches selbst zu keinerlei Konzession, wenn auch seinen Meister zu mancherlei Entbehren und Entsagen genötigt. Das Kunstwerk lebt, wie er es geschaffen hat, und mehr noch, es hat die Stätte gefunden, so lange wir es nach seinem Wunsche und in seinem Sinne zu erhalten und fortzuführen vermögen: Bayreuth.

Den »Heldengesang« von Bayreuth, den können wir unsern Lesern nur eben in Bayreuth selbst ertönen lassen. Mögen sie durch unsere Erinnerungen an den Menschen, der so ganz Künstler war, um so lebhafter sich angetrieben fühlen, auch den Künstler dort an seiner Heimstatt aufzusuchen, wo er zu den Menschenseelen seine allverständliche und auch vor dem Tode nicht verstummte Sprache spricht. Hatten wir aber zuvor versucht, unsere Leser mitlauschen zu lassen jener für immer verklungenen, doch stets in uns nachklingenden »Kammermusik« aus den Räumen von Wahnfried, – werden sie uns nicht am Ende gestehen: auch diese Kammermusik war ein Heldengesang?! Ein Heldengesang von den Upanishaden Indiens bis zu jenem letzten mitlebenden Weisen unserer Zeit: Carlyle. Von ihm, dem berühmten »Heldenverehrer«, der noch kurz vor seinem Tode, 1881, als letzte Gabe »Religion und Kunst« von Wagner erhalten hatte, war ein Gespräch in Wahnfried ausgegangen, in dessen Verlaufe Wagner uns sagte: »Die Napoleoniden haben keinen Heroismus, ihnen fehlt der Glaube. Die Persönlichkeiten treten zurück hinter der Thätigkeit ihrer Phantasie, ihres militärischen und diplomatischen Talentes. Dieser Mangel wäre bei den Griechen als Unschönheit empfunden worden, und ein Held mit ihm wäre ihnen undenkbar gewesen. Friedrich der Große war vollkommener Held, die Persönlichkeit war das Große an ihm. Das Gegenteil jener herzlosen Diplomatik der bloßen Intelligenz, die außerhalb ihres Feldes nur Komödie zu spielen weiß und sich erbärmlich klein zeigt. Von diesen Leuten erwartet keiner, daß sie sich selber opfern sollen.« So verstand Wagner das wahre Heldentum. Alle diejenigen aber, die ihn als den Schöpfer großer Werke der Kunst verehren, sollen an ihn, an seiner Persönlichkeit, die uns noch heute lebendig nahe steht, von neuem erlernen, was Heldenart ist, im Leiden und im Wirken: deutsche Heldenart. Die reine Gestalt unseres Helden erwächst uns allen nach wie vor am Klarsten und Größsten aus dem rechten Verständnisse seiner Werke und Worte. Sie ist das Unsterbliche. Halten wir dieses fest, so wird auch jeder kleine Zug seines persönlichen Lebens nur ein neues Licht auf das erhabene Bild werfen, dem unsere Bewunderung und Liebe gilt. Wenn wir aber nun an dem großen Beispiele unserer Zeit uns vergegenwärtigen, was unsere Helden sind, dann werden wir auch nur noch mächtiger auf den innigen Lebenswunsch unseres Volksgeistes hingedrängt: möge unser Held, dessen wir hier in mannigfachen Erinnerungen gedacht, der Letzte nicht gewesen sein in der stolzen Reihe, deren Er vor allen würdig war. – –

Ende.

 


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