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Tartarin glaubte der Kusine eine besondere Genugtuung schuldig zu sein. Er fühlte sich mitschuldig an den schweren Kränkungen, die Georgette ihr zugefügt hatte. In einem französischen Amtszimmer, also gewissermaßen auf dem geheiligten Boden Frankreichs!
Das hochherzige Frankreich nimmt sich stets der Schwachen und Unterdrückten an, es ist stets bereit zu sühnen, wenn es einem Hilflosen ein Anrecht getan hat. Es leidet lieber selbst, als es andere leiden läßt. Diese, hohe Gesinnung beseelte auch Tartarin. Es war ihm nicht genug, daß er die Ohrfeige der Kusine mit seiner eigenen Backe aufgefangen hatte, es drängte ihn, noch mehr für die beleidigte Dame zu tun, obgleich sie eine Deutsche war. Frankreichs Edelmut erstreckt sich selbst auf die Feinde und Besiegten.
Er schlug ihr vor, ihn auf seiner bevorstehenden Dienstreise zu begleiten. Konnte der Präsident der deutschen Republik seine Geliebte so lange entbehren? Das war die Frage. Die Kusine hatte eine ernste Auseinandersetzung mit dem Doktor.
»Mir ist es egal. Ich mache mir aus dem dicken Affen nichts.« So respektlos sprach sie von Tartarin! »Aber wenn du die Reise für praktisch hältst …«
Der Doktor überlegte. Die Fahrt hatte politische Bedeutung; es war gut, daß die Kusine Tartarin umgarnte, so mochte sie die Reise antreten. Auch dem Reichspräsidenten war es recht, denn er ahnte nichts von der Dame und nichts von den zarten Beziehungen, die sie zu ihm unterhielt.
Tartarins Reise galt der Kontrolle der Hochheimer Stahlwerke. Sie war seit Wochen angekündigt. Pariser Blätter lenkten die Aufmerksamkeit ganz Frankreichs auf dieses Werk. Sie wußten schreckliche Dinge zu berichten. Noch immer werde dort, wenn auch in verschleierter Form, Kriegsmaterial fabriziert. Wozu war die Interalliierte Militärkommission da? Warum schritt sie nicht ein? Die Sicherheit Frankreichs war bedroht, das Glück und Leben jedes einzelnen Franzosen! Es schien notwendig, dieses Werk völlig zu schließen.
So tönte es durch die Presse. Die Hochheimer Aktien fielen nach ihrem glänzenden Aufstieg, sie fielen um Hunderte von Prozenten. Die Besitzer waren froh, sie um jeden Preis loszuwerden. Konnte nicht die Entente die Vernichtung des Werkes verlangen? Tartarins Gönner, der allmächtige Deputierte, nahm sich der entwerteten Aktien an. Er kaufte, und Tartarin kaufte mit ihm, auch die Kusine kaufte; und selbst Fräulein Georgette kaufte, obgleich sie ihr und Tartarin ewige Feindschaft geschworen hatte. Auch sonst fanden sich einige opferwillige Franzosen, die sich des schlechten deutschen Papiers erbarmten.
Tartarin wurde in Hochheim gastlich ausgenommen, seiner Begleiterin erwies man alle Ehren, auf die eine rechtmäßige Gattin Anspruch hat.
»Meine Frau interessiert sich in besonderem Maße für Ihre Anlagen. Sie stammt aus einer Familie von Großindustriellen. Sie ist verwandt mit den Amands in Lille, den …«
Die Direktoren waren entzückt, eine Angehörige der französischen Großindustrie kennen zu lernen. Die Kollegin war äußerst huldvoll. Die Kontrolle des Werkes ließ sich über Erwarten günstig an. Bei dem Frühstück wurde die Stimmung noch besser, und bei der nachfolgenden Besichtigung überzeugten sich Herr und Frau Tartarin, daß man Hochheim Unrecht getan hatte.
»Ich sehe, meine Herren, es ist alles bei Ihnen in musterhafter Ordnung. Ich habe nicht das Geringste gefunden, das dem Versailler Vertrag widerspräche. Sie erzeugen nur Friedensartikel. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen Glück zu Ihrer weiteren Arbeit.«
So huldvoll sprach Tartarin zu besiegten Deutschen. Die Kontrollkommissionen sind milde, wo Milde verdient ist, streng nur, wo sie auf bösen Willen stoßen. Es war dafür gesorgt, daß der harmlose Charakter von Hochheim überall bekannt wurde, selbst die Pariser Presse gab in edler Wahrheitsliebe zu, daß sie sich geirrt habe, ja sie riet allen guten Franzosen, Hochheimer Aktien zu kaufen. Natürlich stiegen sie. Tartarin war entzückt, die Kusine war entzückt, nur Fräulein Georgette brütete weitere Rache.
Hochheim war ein Musterwerk an Friedlichkeit, in dem benachbarten Niederheim dagegen erregte vieles Tartarins Bedenken. Die Leute fabrizierten zwar nur Eisenbahnschienen, aber Eisenbahnschienen sind zweifellos aus Stahl, und …
»Sehen Sie, meine Herren, aus Stahl kann man auch Kanonen, Säbel, Bajonette und wer weiß was herstellen.«
Die Direktoren suchten zu beweisen, daß ihre Anlagen dazu ungeeignet seien, aber sie konnten nicht bestreiten, daß Kanonen aus Stahl seien. Mit einem ungläubigen, überlegenen Lächeln hörte der Held ihre Erklärungen an.
»Ich weiß Bescheid, meine Herren, meine Frau stammt aus der Großindustrie. Sie kennen die Amands in Lille … ihre Verwandten? Jedenfalls bedarf Ihre Fabrikation der genauesten Prüfung. Ich muß Ihre Bücher, Ihre Zeichnungen, Ihre Pläne durchsehen.«
Die Leute begriffen hie Gerechtigkeit dieses Verlangens nicht. Die Direktoren protestierten, der deutsche Verbindungsoffizier, der Tartarin begleitete, protestierte. Sie behaupteten, die Forderung des Helden sei durch den Versailler Vertrag nicht begründet, sie schlugen vor, telegraphische Auskunft aus Berlin einzuholen.
»Meine Herren, ich bedarf keiner Belehrung, ich kenne meine Pflicht und lasse mich in ihrer Erfüllung nicht beirren. Die Unterlagen, die ich zu meiner Kontrolle bedarf, müssen mir ausgeliefert werden. Ich muß sie haben.«
Das war richtig. Im Hotel wartete Tartarins Gönner, der allmächtige Deputierte, der Vertreter des konkurrierenden französischen Syndikats, er mußte die Unterlagen haben.
Tartarin kümmerte sich nicht um den Widerspruch der Deutschen. Da man es nicht gutwillig gab, mußte er sich das Nötige mit Gewalt nehmen. Bücher, Zeichnungen, Patente, Pläne, ein Haufen von Papieren wurden aus dem Privatbureau des Direktors in das Hotel geschafft. Der allmächtige Deputierte mußte sich daranhalten, wenn er die Stöße durcharbeiten wollte. Aber er war Fachmann, es gelang ihm bald, das herauszufinden, was für Frankreich von Interesse war. Zwar entdeckte er nichts Kriegsgefährliches, um so mehr befriedigte es ihn, daß die Feinde sich mit Eifer der Friedensindustrie widmeten. »Tüchtige Kerle!« murmelte er mehrmals bei der Durchsicht der Akten. »Aber wir werden es nachmachen.«
Das Wiedersehen zwischen Tartarin und seinem Gönner war ungemein herzlich. Der große Mann behandelte ihn nicht mehr als untergebenen Schützling, sondern als gleichberechtigten Freund. Er geruhte ihm auf die Schulter zu klopfen.
»Passen Sie auf! Ihre Karriere ist noch nicht zu Ende. Wenn ich erst Minister bin … Sie wissen, ich vergesse meine Freunde nicht.«
Tartarin drückte ihm die Hand. »Es ist Zeit, daß Sie das Ministerium stürzen. Frankreich braucht einen starken Mann. Wenn ich einen Wunsch für die Zukunft aussprechen darf …«
»Reden Sie ganz offen: Wählen Sie sich einen Posten aus! Sie haben unserm Syndikat einen großen Dienst erwiesen, Frankreich muß ihn belohnen.«
Die Freude des Wiedersehens wurde dadurch noch erhöht, daß die Begleiterin des allmächtigen Deputierten und die Tartarins gute Freundinnen aus ihrer Pariser Zeit waren.
»O meine Titine!«
»O meine Colette!«
Sie lagen sich in den Armen und schluchzten.
»Daß wir uns hier wiederfinden!«
»Nach so langer Trennung.«
»Erinnerst du dich noch an Gaston?«
»Weißt du noch, wie wir mit dem rothaarigen Engländer in Vincennes waren?«
»O die guten alten Zeiten.«
»Es ist herrlich, daß ich dich wiederhabe.«
Aufs neue lagen sich die Freundinnen in den Armen. Das siegreiche Frankreich streckte dem besiegten Deutschland die Hand zur Versöhnung entgegen. Die beiden edlen Frauen, die sich die Liebe zum Lebenslauf gewählt hatten, verkörperten die Zukunft, die Verbrüderung der Völker. Die Französin drückte die Deutsche an ihre Brust. Ausgelöscht war der Haß des Krieges.
In gehobener Stimmung setzten sich die beiden Paare zu Tisch. Hausse in Hochheimer Aktien, Wiedersehen, Zukunftsaussichten … man konnte schon etwas draufgehen lassen. Man unterhielt sich mit der lauten Fröhlichkeit, die eine berechtigte Eigentümlichkeit Frankreichs ist.
Die Deutschen an benachbarten Tischen machten »Pst, pst!« »Ruhe, Ruhe!« schallte es herüber. Der Ärger der Deutschen erhöhte nur das Vergnügen der Franzosen. Sollten sie den Feinden zuliebe auf ihre nationale Eigenart verzichten und ihre Stimme mäßigen? Nie und nimmer!
Selbst die Musik wurde durch die laute Unterhaltung übertönt. Der Kapellmeister fühlte sich in seiner Künstlerwürde gekränkt. Er klopfte den angefangenen Gassenhauer ab und ließ so laut, als es seine sechs Mann vermochten, »Deutschland, Deutschland über alles« spielen.
»Bravo!« klang es von verschiedenen Tischen.
»Unverschämtheit!« rief der allmächtige Deputierte. Seine Freundin kreischte. Tartarin war empört.
»Das wagen die Boches uns zu bieten! Ruhe mit dem Schandlied!«
Einige deutsche Herren sprangen auf und näherten sich dem Tisch der Franzosen. Diese erkannten die ganze Größe der Gefahr, die ihnen drohte. »Vive la France!« hätten sie gern gerufen, aber sie taten es nicht, um die Menge nicht zu reizen. Es war nicht Feigheit, sondern weise Vorsicht, daß sie sich von dem Wirt in ihre Zimmer geleiten ließen. Dort konnten sie ihrer Erbitterung Luft machen.
»Das wagt man einem französischen Offizier in Ausübung seines Dienstes zu bieten!«
»So behandelt man einen Abgeordneten der Republik.«
»Sie sollen es büßen!«
»Diese Frechheit, diese unerhörte Beleidigung!« –
Tartarin und die Kusine hatten sich in Berlin schon häufig gesehen, aber ihre Zusammenkünfte waren dort nur von kurzer Dauer, überwacht durch die Eifersucht des Doktors und Georgettes, wenn nicht gar durch die des Präsidenten der deutschen Republik. Jetzt auf der Reise waren sie zum erstenmal allein wie Jungvermählte, wie Mann und Frau. –
Beide hatten schon den größeren Teil ihrer Kleidungsstücke abgelegt. Die Kusine putzte sich in bloßen Füßen und im Nachthemd die Zähne vor dem Waschtisch. Tartarin stand in bunt karrierten Unterhosen da, galant und feurig, wie ein Franzose in solchen Augenblicken zu sein pflegt. Er wurde zärtlich.
»Liebst du mich? Liebst du deinen kleinen Tartarin?«
Sie ließ sich durch den Kuß auf den Nacken nicht stören, sondern setzte in aller Ruhe ihre Toilette fort.
»Wäre ich sonst hier?« Dabei spülte sie die Zahnbürste aus und begann ihre Haare, soweit sie falsch waren, abzustecken.
Tartarin wurde unternehmender. Da klopfte es draußen an die Tür. Das Paar sah sich betroffen an. War es Georgette, der Doktor, der Präsident der Republik?
»Öffnen Sie! Ich komme im Auftrage der Polizei, ich habe mit Ihnen zu reden.«
»Ich bin französischer Offizier. Die Polizei mag sich …«
»Sie müssen sich legitimieren. Sie übernachten mit einer Dame, mit der Sie nicht verheiratet sind.«
»Ich bin Mitglied der Interalliierten Kommission. Ich pfeife auf alle Deutschen.«
»Dann muß ich die Tür aufbrechen lassen.«
Die Kusine legte sich ins Mittel. Sie hatte ihre Erfahrungen und wußte, daß Widerstand zwecklos war. Der Beamte trat ein. Tartarins Legitimation war in Ordnung. Der Mann der Moral verbeugte und entschuldigte sich. »Aber Ihre Begleiterin?«
»Ich bürge für die Dame.«
»Das nützt mir nichts. Dadurch wird sie nicht Ihre Frau.«
Die Kusine hatte sich unterdessen angezogen. Sie war bereit, dem Beamten zur Feststellung ihrer Personalien zu folgen.
»Irgend jemand hat uns verklatscht.«
»Jawohl, eine telegraphische Anzeige aus Berlin ist bei uns eingegangen.« Die Rache Georgettes!
Tartarin blieb allein. Ein Held kann auch ohne Liebe leben.