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Im Jahr, als die Heuschrecken kamen, etwas, das in dem Jahr geschah, als die Heuschrecken kamen, zwei Stimmen, die ich vernahm in jenem Jahr ... Kind! Kind! Es scheint so viel Zeit vergangen seit dem Jahr, als die Heuschrecken kamen und alle Bäume kahl fraßen; seitdem ist so viel geschehen, und es scheint mir so lange her zu sein ...

»Was sagst du da?« fragte ich.

Sagt: »Zwei ... Zwei«, sagt: »Zwanzig ... Zwanzig.«

»Hah? Was sagst du da?«

»Zwei ... Zwei«, sagte die erste Stimme; und »Zwanzig ... Zwanzig«, sagte die zweite.

»Oh, zwei!« rief ich aus, rief ich deinem Vater zu, »und zwanzig ... zwanzig – hörst du es nicht?«

»Zwei ... Zwei«, sagte es da wieder, es war die erste Stimme, vom Fenster her, und »Zwanzig .., Zwanzig«, sagte die zweite Stimme in mein Ohr.

»Kannst du's denn nicht hören?« fragte ich deinen Vater.

»Aber guter Gott! Frau!« sagte dein Vater zu mir. »Wovon sprichst du denn? Es ist ja niemand da! »

»Ei, ich hör sie doch!« sagte ich, und da hörte ich sie nochmals. »Zwei ... Zwei« die eine und »Zwanzig ... Zwanzig« die andre Stimme. »Ei, ich hör sie doch!« sagte ich zu deinem Vater.

»I wo, Frau!« sagte dein Vater. »Du bildest dir das nur ein! Du bist wohl ein bißchen eingeschlafen und hast es geträumt.«

»Aber nein, gar nicht!« sagte ich. »Ich hör sie doch, die Stimmen. Sie sind doch da!« Denn ich wußte es ja, ich wußte es, weil ich sie klar und deutlich hörte.

»Das kommt von deiner Schwangerschaft«, sagte dein Vater zu mir. »Du bist müd und überspannt, und so hast du es dir eben eingebildet.«

Und dann begannen alle Glocken zu läuten, und dein Vater stand auf, um wegzugehn.

»Oh, geh nicht!« bat ich ihn. »Ich wünschte, du gingst nicht«, sagte ich. Ich hatte nämlich, du weißt ja, Kind, so eine Vorahnung, und so war's mir unlieb, daß er weggehen wollte.

Und dann hörte ich die Stimmen nochmals: »Zwei ... Zwei«, die eine, und: »Zwanzig ... Zwanzig«, die andre ... und ich weiß schon, ich weiß ... – ja freilich, guter Gott, denkt es mir nicht, Kind?! – ... die Stunde, die Zeit, der bestimmte Tag im Jahr, an dem das geschah, mir denkt es genau ... denn das war in jenem Jahr, als daheim die Heuschrecken kamen und alle Bäume kahl fraßen.

Aber, sag mal! – Ben! – Steve! – Lukas! I wo! Dich mein ich, Junge, Eugen! Ich glaub wahrhaftig, der Lukas denkt grad in diesem Augenblick an mich, deswegen red ich dich bei seinem Namen an. Also, nun – hah? Wovon sprach ich eigentlich?

»Du hattest grad angefangen, mir von zwei Stimmen zu erzählen, die du mal gehört hast.«

O ja! Das war's! Also, nun, als ich diese Stimme hörte ... – Aber sag mal, was war denn das da? Was?

»Schiffe draußen im Hafen, Mama.«

Was sagst du? Hafen? Schiffe? O ja, freilich, das stimmt schon. Der Hafen ist in dieser Richtung, nicht wahr?

»Nein, Mama, grad in der entgegengesetzten. Du hast die Richtung verwechselt. Der Hafen liegt dort hinaus.«

Was? Dort?? Ei nein, Kind, aber sicher nicht! ... Stimmt das wirklich? ... Na, beschwören will ich's, dann hab ich wirklich die Richtung verloren! Da ist wohl der Tunnel dran schuld, durch den man nach New York reinkommt. Draußen auf dem Land passiert mir so was nicht; wenn ich da irgendein Merkzeichen in der Gegend kenne, dann verlier ich nie die Richtung ... Ei ja, Junge, beschwören will ich's! ... Aber da tutet's ja schon wieder! Klingt aber genau, wie wenn 'ne alte Kuh muht. Und hier also sind wir ganz am Rand des Hafens? Wie bist du nur drauf gekommen, so wo hinzuziehen? Guter Gott! Nun hör dir nur das Getute an! Ich glaube, das ist ein ganz großer Dampfer grad vor der Abfahrt ... Guter Gott! Ihr seid euch doch alle gleich. Dein Vater war auch so. Immer wollte er fortgehn und reisen. Hätt ich ihn gehn lassen, dann wär weiter nichts aus ihm geworden wie ein Wandrer, und er wär übers Angesicht der Erde gewandert ... Kind! Kind! Du sollst mir nicht dein Lebtag ein Wandrer bleiben! Ich mach mir solche Sorgen, wenn ich dran denk, daß du irgendwo in der Ferne unter fremden Menschen weilst ... Du solltest dein Leben nicht allein unter lauter Fremden leben ... Du müßtest dorthin zurückkehren, wo deine Leute herstammen ... Kind! Kind! Es macht mir wirklich Sorge ... Kehr wieder zurück!

 

Also, ich war grad dabei, dir zu erzählen, wie in jener Nacht die erste Stimme – ei! da geht die Dampfersirene ja schon wieder! Wirklich, Junge, ich will dir was sagen, das macht mir wahrhaftig Lust, meine Siebensachen zusammenzupacken und mitzufahren. Ja, weißt du, so alt bin ich ja gar nicht, ich könnte wirklich mal auf Reisen gehn, am liebsten sofort, einfach hier von New York abfahren und mir mal alles ansehen, ich meine diese Länder da drüben, England, wo wir herstammen, Frankreich, Deutschland, Italien – und tatsächlich, ich hab mir immer so gewünscht, die Schweiz mal zu sehen, das muß doch sicher ein schöner Flecken Erde sein; wie die Leute so sagen: das Wunderland der Natur ...

Ei, jetzt hör ich's aber deutlich, jetzt weiß ich, wo das Tuten herkommt, ei ja, in dieser Richtung ist der Hafen ... Und wo ist dann die Brücke, über die wir an jenem Abend gekommen sind?

»Dort, Mama. Gleich hier am Ende dieser Straße. Dort! Komm doch mal ans Fenster und guck hinaus! Erinnerst du dich nicht dran, wie wir hierhergekommen sind?«

Mich erinnern? Aber, Junge, wie kommst du nur drauf, mich zu fragen, ob ich mich erinnere? Guter Gott! Ich schätze, daß ich mich an Dinge erinnere, über die du nie gelesen hast. Daran, wie das Leben sich zugetragen hat, an die Dinge, über die die Bücherschreiber nie schreiben.

Ich nehm an, sie haben alles mögliche in ihren Büchern aufgeschrieben, alle die Kriege und die Schlachten, Kind, und ich glaube schon, daß in dieser Beziehung ihre Bücher ganz ordentlich sind – aber lieber Herrgott! –, wie können diese Leutchen denn wissen, wie es wirklich war, wenn sie damals noch gar nicht geboren waren, nicht dabei gewesen sind und es mit eignen Augen gesehen haben. Daher kommt es auch, daß es einen beim Lesen immer deucht, das wäre alles vor langer Zeit geschehen und in irgendeinem fremden Land. Was können die Leute denn wissen davon, wie es war, davon, wie der Wind wehte, wie die Sonne schien, und wie es im Garten nach Rauch roch, und davon, daß Mutter sang, und davon, wie die Federn abgebrüht wurden, und davon, wie der Fluß damals im Frühling nach dem Regen anschwoll? Und davon, wie die Männer aussahen, als sie auf der Straße am Fluß marschiert kamen an jenem Tag, als sie aus dem Krieg heimkehrten, und von den Dingen, von denen wir damals redeten, und vom Klang der Stimmen der Leute, die nun tot sind, und davon, wie der Sonnenschein kam und ging, und wie traurig mich das machte, und davon, wie die Frauen weinten, als wir da in Bob Pattons Garten standen und die Männer vorübermarschierten und der Staub aufwirbelte, und davon, daß wir dann wußten, der Krieg wäre wirklich gar. Guter Gott, ob ich mich erinnere!? Das sind so Sachen, an die ich mich erinnere, Kind, und ganz so, wie mir's denkt, ist es gewesen.

Mir denkt mein Leben noch zurück zu der Zeit, als ich zwei Jahre alt war, und laß mich dir sagen, mein Junge, von da an gibt's furchtbar wenig, an das ich mich nicht erinnere.

Ei ja! Wirklich! Denkt mir's etwa nicht, wie mich Bob Patton und dein Onkel Georg eines Tages bei der Hand nahmen und runter in die Höhle führten, und dort hatten sie, wie es Buben so machen, aus dem alten schwarzen Schlamm, den es dort gibt, zwei Spottbilder von Willy und Lucinde Patton gemacht – diesen Schlamm nämlich konnte man kneten wie Kitt –, und wie ich da vor Entsetzen kreischte, denn ich erkannte Willy und Lucinde, ich hatte sie gesehn und erinnerte mich sofort an sie; sie waren zwei Sklaven, gehörten dem Captain Patton, o mein Gott! – die schwärzesten Afrikaneger, die man sich nur vorstellen kann –, mein Vater sagte immer, wenn man die mit Holzkohle anstreift, da bleibt ein heller Strich – ihre Eltern waren von den Sklavenhändlern direkt aus dem Dschungel geholt worden –, und die beiden hatten diese leuchtenden weißen Zähne, einfach blendend weiß, wenn sie grinsten – aber oh! diesen Geruch, diesen abscheulichen, alten, schwarzen Niggergeruch, der sich nicht wegwaschen läßt –, meine Mutter konnte diesen Geruch einfach nicht ausstehn, ihr wurde auf den Tod übel, wenn Neger bloß durch die Stube gegangen waren und dieser Geruch in der Luft hing – aber, also da hatten diese zwei Teufelsbuben diese Spottbilder gemacht, zu den Zähnen hatten sie kleine weiße Bachkiesel genommen –, und stell dir vor! – so was einem zweijährigen Kind zu zeigen und sagen, das wären Willy und Lucinde Patton, die ich da sähe – »Gib acht!« sagte Bob zu mir, »die fressen dich auf!« sagte er – und wie ich da kreischte! – ei, das denkt mir doch noch genau so gut wie der gestrige Tag!

Und denkt mir's nicht, wie ich meinen Bruder Will mit hinauf auf den Indianerhübel nahm? Natürlich, die Rede ging, dort wären Indianer begraben, ganz bestimmt wäre dem so, meinten die Leute – aber da war diese kleine Bachrinne ganz voll mit diesem alten, schwarzen, öligen Zeug, das aus dem Hübel heraussickerte –, mein Vater freilich war schon immer der Meinung, daß es sich da um ein Ölvorkommen handelte, das sagte er allen Leuten, weißt du, und prophezeite, eines Tags würde jemand ein Vermögen machen, wenn er dort nach Petroleum bohre – und Will war damals erst zweieinhalb Jahre alt, und Georg hatte ihm erzählt, dieses schwarze Ölgerinnsel würde aus den Indianerleichen herausgepreßt –, und wie Will dann schrie und heulte, als er es ihm sagte. – »Wirklich«, sagte meine Mutter zu Georg, »ich könnte dir den Hals rumdrehen! Hast du nicht mal Verstand genug, um ein Kind nicht mit so einer Geschichte zu schrecken?«

 

Und ja! Noch was! Was sagst du denn dazu? Denkt mir etwa nicht der Winter, in dem einmal ein kleines Rudel Wild den Abhang herunterkam über den Pfad und stehenblieb und mich anäugte, die ich schrie, weil ich die Geweihe sah? Herrgott, ich wußte wahrhaftig nicht, wie ich mir das deuten sollte, ich kannte solche Tiere nicht mal vom Hörensagen, und dann sprangen sie fort, in den Wald zurück, und als ich's meiner Mutter erzählte, da sprach sie: »Ja, da hast du Hirsche gesehn, das waren Hirsche, die du gesehn hast, ganz bestimmt. Die Jäger vertreiben sie droben aus dem Gebirg, und so kommen die Rudel hier herunter.« Und ja, ei gewiß, im nächsten Frühjahr dann war ich vier Jahre alt und kam mir bereits wie ein großes Mädchen vor, und da war es schon so weit, daß ich alles behielt und mich dran erinnerte. Die Yankeetruppen fingen an, durch unsere Gegend durchzukommen, und – hab ich sie etwa nicht gehört, etwa nicht mit meinen eigenen Augen gesehen, die Schurken – die zwei Kerle mein ich, die auf gestohlnen Pferden wie verrückt vorüberritten, ganz so, als wäre die Hölle hinter ihnen losgelassen. Ei, das steht mir so klar im Gedächtnis wie damals, als ich's sah! Ich weiß noch, wie sie aussahen, zwei abgerißne Soldaten, vornübergebeugt im Sattel, und sie schlugen auf die Pferde ein, daß die Tiere das Letzte hergaben. Sie hatten sich rote Farmerkopftücher um den Hals geknotet, und die Zipfel peitschten nach rückwärts, so steif und gerade, als wären sie frisch gestärkt und gebügelt ... na, das wird dir einen Begriff geben, wie schnell die beiden ritten. Und konnte ich da nicht hören, wie überall die Straße entlang die Leute schrien und heulten, daß die Yankees kämen, und wie die Frauen anstellten und auf die Mannsleute einredeten, sie sollten fortgehn und sich verstecken? »O Gott im Himmel«, sagte meine Mutter, »da kommen sie!«, und die Addie Patton kam den Hügel heraufgerannt zu unserm Haus, das arme Ding, ganz von Sinnen vor Schreck, wie du dir vorstellen kannst, und sie weinte und zeterte: »Oh, sie sind da, sie sind da!« heulte sie, »und mein Großvater ist ganz allein drunten im Haus, und sie werden ihn umbringen, sie werden ihn umbringen!«

Freilich, da wußten wir noch nicht, daß diese zwei abgerißnen Yankees allein waren, wir hielten sie für die Vorhut einer Brigade des Generals Sherman, aber, wirklich, die andern sind erst eine Woche später gekommen, und diese beiden Diebsteufel waren ausgerissen, und ich nehme an, sie wollten mal nachsehen, wieviel sie allein stehlen könnten. Ei ja, und dann! Fingen da nicht alle Männer an, auf die beiden Ausreißer zu schießen, sobald es klar war, daß keine Truppen hinterherkamen? Und die beiden saßen ab und verzogen sich, so schnell sie nur konnten, ins Gebirg, und die Pferde ließen sie einfach laufen! Und später, dann, als der Krieg rum war, kamen da nicht Leute von drüben aus dem Bedfort County und reklamierten die Pferde als ihr Eigentum? Weißt du, sie konnten tatsächlich nachweisen, daß es ihre Pferde waren, und erzählten, daß diese beiden Burschen sie ihnen abgenommen hätten. Und, du mein Gott, erzählten sie nicht auch eine Geschichte von Amanda Stevens? Nämlich, wie Amanda eigenhändig Feuer an die Brücke legte am andern Ufer des Sevier, so daß die Yankeetruppen, die von Tennessee herkamen und über den Fluß wollten, eine ganze Woche aufgehalten wurden und dann erst herüberkonnten? Ei ja, und da soll Amanda dagestanden haben, und sie hätte sie ausgelacht, und weißt du ... es wurde auch erzählt, was sie den Yankees übers Wasser zugerufen hätte. Mein Gott, ich sagte damals zwar, das hätte sie bestimmt nicht gerufen, aber Amanda pflegte in der Tat recht grobschlächtig daherzureden, und ... jedenfalls, später behaupteten alle Leute, das wär's, was sie gerufen hätte. »Hallo! Heda!« hätte sie rübergerufen. »Könnt ihr nicht mal über so'n kleines Flüßchen wegsetzen? Na, da taugt ihr aber so ziemlich zu nichts! Hierzuland«, hätte sie gerufen, »halten wir 'nen Mann für 'nen Schlappschwanz, wenn er nicht drüber wegpissen kann!« Und freilich, da hätten die Yankees lachen müssen, wurde erzählt, und das ist also diese Geschichte von der Amanda Stevens.

Und ja! Wurde damals nicht auch erzählt, wie die Yankees beim Einmarsch ins Städtchen den alten Mackery gefangennahmen? Ich vermute, sie wollten ihm eigentlich gar nichts tun, sondern bloß ihren Jux mit ihm treiben, dem großen, fetten Kerl; er hatte diese schwärzlich-gelbliche Haut und dieses krülle Kraushaar, und da wurde freilich behauptet, er hätte Negerblut in den Adern, und – also stell dir vor! – er gab es tatsächlich glatt zu vor all den Yankees, vermutlich in der Hoffnung, daß sie ihn dann freilassen würden. »Schon recht«, sagten die Yankees, »wenn Sie beweisen können, daß Sie ein Nigger sind, dann lassen wir Sie los!« Na, sagte er, das könne er beweisen. »So. Und wie denn?« fragten sie ihn. »Können wir auch selbst rausfinden«, sagte da ein Hauptmann von den Yankees. Und da sagte er zu einem seiner Leute: »Jim, laß ihn ein paarmal die Straße auf und ab laufen!«, und das wurde denn auch ausgeführt, und der Soldat und der alte Mackery rannten ein paarmal in der heißen Sonne die Straße auf und ab, so schnell sie nur laufen konnten. Und als sie dann zurückkamen, war er – der Mackery nämlich – tratschnaß geschwitzt, und die Geschichte geht dann so weiter, daß der Hauptmann von den Yankees auf den Mackery zuging, einmal richtig an ihm roch und ausrief? »Bei Gott, ja! Er hat die Wahrheit gesagt, Jungs! Er issen Nigger! Laßt ihn laufen!« Also, jedenfalls, wie dem auch sei, so wurde erzählt.

Und ja! Und ja! Denkt mir das alles nicht? Nämlich das, daß die Männer aus dem Krieg heimkamen, auf der Straße am Fluß vorübermarschiert kamen auf dem Weg in die Stadt, wo sie aus dem Heer entlassen werden sollten, und daß wir alle da zusammenstanden im Garten vor Onkel Johns Haus, eine ganze Gruppe von Leuten, mein Vater und meine Mutter und wir Kinder alle und die ganze Pattonsippschaft und die Alexandersippschaft und der ganze Pentlandstamm, und auch die beiden Nigger Willy und Lucinde Patton, die dem John Patton gehörten, weißt du, jene, von denen ich dir vorhin erzählte, die standen auch dabei ... und weißt du, wer noch dabei war? Dein Urgroßvater, der alte Bill Pentland, Junge, den die Leute den Hutmacher-Bill nannten, denn er konnte Hüte aus feinstem Filz machen und hatte gelernt, wie man die Wolle dazu mit Kammerlauge behandelt ... oh, das waren schon die besten Hüte, die ich im Leben zu sehn kriegte ... ei, denkt mir's vielleicht nicht, wie eines Tags, als ich noch ein Kind war, ein alter Farmer in unser Haus kam und meinem Onkel Sam einen Hut zum Nachfassonieren brachte und sagte: »Sam«, sagte er, »der alte Bill Pentland hat mir vor zwanzig und etlichen Jahren diesen Hut da gemacht, und er ist heut noch so gut, wie er damals war, und braucht bloß mal nachfassoniert und gereinigt zu werden«, und laß mich dir sagen, Junge, jedermann, der den alten Bill Pentland gekannt hatte, sagte, er wäre sicher ein grundgescheiter Mann gewesen.

 

Nun, Junge, was ich dir sagen möchte, ist, was ich schon immer behauptet habe, nämlich daß du, was auch immer für Begabungen du ererbt haben magst, sie von der Pentlandseite ererbt hast, denn eine Sache ist sicher, Bill Pentland war ein Mann, der es weit gebracht hätte, wenn ihm ein entsprechender Bildungsgang zuteil geworden wäre. Aber Buchgelehrsamkeit hatte er eben nicht, und trotzdem wurde erzählt, daß er in allen Fragen diskurrieren und disputieren konnte und seine Ansicht von der Sache mit guten Beweisgründen vertrat. Kerngesund und rüstig war er, merk dir's, an Leib und Seele bis zur Stunde seines Todes, und da ließ er eines Tages meinem Onkel Sam ausrichten, er solle zu ihm kommen, er habe ihm etwas zu sagen. Sam hat uns dann erzählt, wie es war. Er fand den Alten, wie er sich grad ein Feuer schichtete und ein Kirchenlied dazu sang, vollkommen in Frieden mit der Welt, und gefehlt hat ihm nichts. »Sam«, sagte er, der alte Bill nämlich, »Sam, ich bin froh, daß du gekommen bist; ich möchte ein paar Angelegenheiten mit dir besprechen. Leg dich da hin aufs Bett, so daß wir in Ruhe reden können!« Na, dem Sam hat das bestimmt gepaßt, weißt du, er war zwar mein Onkel, aber der faulste Kerl, der je auf Erden gelebt hat, und er hätte es leicht fertiggebracht, sein ganzes Leben lang einfach herumzuliegen und zu reden. »Ei«, sagte Sam, »was ist denn los mit dir, Vater? Fehlt dir was? Fühlst du dich nicht wohl?« fragte er. »Oh«, sagte der alte Bill, »ich hab mich nie im Leben besser gefühlt, aber es ist nun einmal so, daß ich nicht lange mehr hienieden weilen werde, ich habe mich zu sterben entschlossen, Sam«, sagte er, »und da möchte ich erst mein Haus in Ordnung bringen.« »Aber Vater!« sagte Sam. »Wovon sprichst du denn da? Was meinst du denn damit? Es fehlt dir ja nichts!« »Nein, fehlen tut mir nichts«, sagte der alte Bill. »Na also!« sagte Sam. »Du wirst noch jahrelang unter uns leben.« »Nein, Sam«, sagte der Alte und schüttelte den Kopf, »ich habe gerade beschlossen, daß die Zeit meines Hingangs gekommen ist. Ich habe einen Ruf vernommen. Nun denn, ich habe meine vollen siebzig Jahre gelebt und noch etwas darüber, und auf Erden gibt's nichts mehr zu tun für mich, und so habe ich mich denn im Gemüt vorbereitet.« »Im Gemüt vorbereitet?« fragte Sam, »ei, worauf denn?« »Ei, aufs Sterben, Sam«, sagte der Alte. »Ach, Vater, wovon redest du denn?« sagte Sam. »Du wirst doch nicht ans Sterben denken!« rief er aus. »Doch«, sagte Bill, »ich habe mich im Gemüt darauf vorbereitet, morgen nachmittag zehn Minuten nach sechs zu sterben, und deswegen habe ich nach dir geschickt.« Nun also, sie machten ein mächtiges Feuer an und blieben die ganze Nacht zusammen auf und redeten, und – oh! – weißt du, Sam erzählte, wie der Wind heulte und brauste, wie sie bis spät, spät in die Nacht miteinander sprachen, wie sie dann Frühstück kochten und sich wieder hinlegten und wieder sprachen, wie sie dann die große Mahlzeit kochten und abermals sprachen, wie der Alte sich wohl fühlte und stark war, im Frieden mit der Menschheit und ohne eine Kümmernis in der Welt, aber um Schlag sechs Uhr, mein Junge – und nun erzähl ich dir, von was für einer Menschenart der alte Bill war –, um Schlag sechs Uhr also sah er den Sam an und sprach: »Mach dich fertig, Sam!«, und Punkt zehn Minuten nach sechs sah er Sam abermals an und sprach: »Lebwohl, Sam, meine Zeit ist da, ich geh dahin, mein Sohn!«, und dann wandte er sein Gesicht zur Wand, mein Lieber, und starb. Und starb! Und da kannst du sehn, was für eine Art Mensch der alte Bill war, das zeigt dir doch, was für Willenskraft und welche Entschlossenheit in seinem Wesen staken – und dazu möchte ich dir noch etwas sagen: ... nämlich, wir Pentlands haben das alle in uns stecken, genau dieselbe Fähigkeit, daß wir wissen, wenn unsre Zeit da ist. Mein Vater schied auf dieselbe Weise, mein Lieber, den ganzen Tag über wachte er von Zeit zu Zeit auf und fragte mich: »Ist's schon sechs?« Du verstehst schon, nicht wahr? Der Gedanke ließ ihn nicht los. »Ei nein, Vater«, sagte ich, »es ist erst Mittag.« Also, sechs, sechs, ich überlegte mir hin und her, warum er mich dauernd früge, ob's schon sechs wäre. Und an diesem selben Tag, mein Lieber, als es sechs schlug, genau mit dem letzten Glockenschlage tat er seinen letzten Atemzug, und ich sah meinen Bruder Jim an und flüsterte: »Sechs«, und Jim nickte und sagte: »Ja«, denn freilich, wir verstanden das vollkommen.

Also, da stand er an jenem Tag, der alte Bill Pentland, da stand er mitten unter uns, und – ob ich mich seiner etwa nicht erinnere? Da stand er und sah den vorbeimarschierenden Truppen zu, kerngesund und rüstig, ein Greis, ein Mann, der zweimal verheiratet gewesen war und viele Kinder hatte, acht aus seiner ersten Ehe mit Martha Patton – mein Vater gehörte zu denen – und vierzehn aus zweiter Ehe – ja, so war das –, und dann hatte er noch eine Tochter, mutmaße ich, von jener Frau drunten in Süd-Carolina – aber daß er mit jener Frau verheiratet war, nun, kirchliche Zeugnisse liegen da nicht vor, und so mutmaße ich, daß es stimmt, was darüber geredet wurde ... er aber brachte das Kind in sein Haus und setzte es an den Tisch zu seinen andern Kindern und sprach zu ihnen: »Von diesem Tag an ist sie eure Schwester und so müßt ihr sie als Schwester behandeln.« Und so also war das auch schon in Ordnung. Und nun stell dir vor! Alle Kinder dieses Mannes, oder wenigstens die, die nicht jung starben oder umkamen, gingen und gründeten ihrerseits große Familien, so daß heute allein Hunderte von seinen Nachkommen drunten im Gebirg von Catawba wohnen, und andre in Georgia und Texas und draußen im Westen in Kalifornien und Oregon, und so ist es nun so, daß sie die Nachkommen wie ein Gewebe über das ganze Land ausgebreitet haben, und alle stammen sie von ihm, von diesem einen Mann, er ist der Stammvater, bei ihm fängt es an, er war der Sohn jenes Engländers, der in der Zeit der Revolution in die Yancey County kam und Schächte bohren ließ, um nach Kupfer zu graben. Natürlich wird gemunkelt, daß wir Erbansprüche auf große Ländereien in England hätten – ich weiß, daß mein Onkel Bob eines Tages zu meinem Vater kam, es war kurz nach Bill Pentlands Tod, und sagte, man müßte Schritte tun in dieser Angelegenheit, aber dann haben sie sich dagegen entschieden, weil so ein Verfahren viel zuviel kostet.

Aber, schon recht, er war da an jenem Tage, der alte Bill Pentland, und stand mitten unter uns, als die Truppen aus dem Kriege heimkamen. Und so kamen sie also, weißt du, die Männer waren vergnügt und riefen lustiges Zeug, und die Weibsleute weinten, und dann und wann konnte man sehn, wie ein Mann aus der Marschkolonne heraustrat, und gleich fingen die Frauen wieder an zu weinen, und auf einmal kam da mein Onkel Bob – er war erst sechzehn, stell dir vor, aber mir schien er ein alter Mann zu sein –, er trug einen Zylinderhut, so eine schwarze Ofenröhre – und ich vermute, den hat er in irgendeinem Hutladen einfach mitgenommen – und Schuhe hatte er keine an –, also, da kam mein Onkel Bob, und wir alle fingen zu weinen an.

»Ei herrje!« sagte der Bob. »Das ist aber wahrhaftig 'ne hübsche Heimkehr«, sagte er. Nun, du verstehst schon, wie er das meinte; er wollte 'nen Spaß machen, um uns aufzuheitern. »Ich hatte geglaubt, ihr würdet euch freuen, mich wiederzusehn«, sagte er. »Und statt dessen fangt ihr alle an zu flennen. Ei, wenn's euch so leid tut, daß ich wieder da bin, geh ich gleich wieder fort!«

»O Bob! Bob!« sagte seine Mutter. »Du hast ja keine Schuh an, du armes Kind. Du gehst ja barfuß!«

»Hab meine Schuh zerrissen vor lauter Eile heimzukommen«, sagte da der Bob. »Hab sie mir glatt von den Füßen abgelaufen«, sagt er, »aber wenn ich gewußt hätt, daß ihr mich so empfangt, dann hätt ich mich nicht so geeilt.« Und natürlich, auf diese Antwort hin mußten wir alle lachen.

Aber ich sag dir, Kind, das war ja gar nicht der Grund, weshalb die Frauen weinten. Es waren so viele ausgezogen, die nie wieder heimkehren würden, und daran dachten die Frauen, daran haben sie gedacht, und dann – gingen wir dann nicht alle ins Haus, die ganze Schar? Und hatten sie da nicht schon eine ganze Woche lang gekocht und gebacken? Und, laß mich dir sagen, das war eine Mahlzeit! Da gab's keine so kleinen Kleckserchen zu essen wie heutzutag ... aber Brathühner, es müssen wohl zwei Dutzend gewesen sein, und gekochten Schinken und Schweinebraten und geröstete Maiskolben und Süßkartoffeln und grüne Bohnen und gehäufte Teller voll Maisbrot und heiße Biskuits und Pfirsich- und Apfelklößchen und alle möglichen Arten Marmelade und Gelee und massenhaft Kuchen und so viel Apfelwein, als man nur trinken kann, und – guter Gott! – ich wünsch dir wirklich, du hättest sehen können, wie Bob und Rufus Alexander und Fate Patton einhauten! Ei, wie meine Mutter sagte, man hätte denken können, die hätten, seit sie in den Krieg gezogen waren, keine richtige Mahlzeit mehr gegessen.

Ei, war ich da nicht schon ein großes Mädchen, bereits fünf Jahre alt, und hab ich das nicht alles miterlebt? Und das steht alles noch so klar vor mir, wie ich selber hier vor dir sitze – und viele andre Sachen dazu, von denen du, mein Junge, trotz all deiner Buchbelesenheit nie was gehört hast. Zum Beispiel, ja, lernten wir nicht, alle Dinge selbst tun, alles, was wir aßen, im Garten ziehen und auf dem Feld anbauen, die Wolle nehmen und sie färben, ja, und in den Wald gehn und Sumach und Walnußborke sammeln und die grünen Außenhüllen von den Walnüssen und Holunderbeeren, denn damit wurde gefärbt, und lernten wir nicht auch, die Wolle so lange in Copperaswasser durchspülen, bis wir ein hartes, waschfestes Schwarz hatten, das nie den Glanz verlor? Das Zeug, was man heutzutag kriegt, kann sich daneben überhaupt nicht sehen lassen, sag ich dir! Hab ich nicht gelernt, das alles mit meinen eigenen Händen zu tun, und hab ich etwa nicht die feinsten Töne Rot und Grün und Gelb rausgekriegt, die du dir nur vorstellen kannst? Und lernte ich nicht Flachs spinnen und bleichen und eigenhändig feine Hemden und Bettlaken und Tischtücher machen? Ei ja, denkt mir da nicht ein Tag? Oh, der starke, widerliche Geruch von abgebrühten Federn im Garten, als meine Mutter Hühner rupfte, und der Geruch von Rauch und der Geruch von frisch gespleißtem Kienholz beim Hackklotz, und alles das ... deinen starken Geruchsinn, Junge, hast du nämlich von mir ... und dazu der Wind, der im hohen, rauhen Gras sauste und pfiff, und es machte mich so traurig, dem zuzuhören – es war im selben Jahr, als meine Schwester Sally gestorben war –, und ich saß am Spinnrad und spann und spann und das kann ich mir noch alles vorstellen, genau wie es war – und da kamen Leute auf der Straße am Fluß vorbei, und ich konnte sie »Hurra! Hurra!« rufen und schreien hören, und ich vermute, sie kamen aus der Stadt, wo sie bei der Präsidentschaftswahl gewählt hatten. »Hurra!« schrien sie, die einen »Hurra! Für Hayes!« und die andern: »Hurra! Für Tilden!«

Guter Gott! Ob ich mich erinnere?! Nun, da kann ich schon sagen: ja! Mir denkt vieles, von dem du nie gehört oder geträumt hast, Junge.

 

»Ja, Mama. Aber wie war denn das mit den Stimmen, die du damals gehört hast?«

Nun ja, gewiß, das will ich dir grade erzählen:

»Zwei ... Zwei«, sagte die erste Stimme, und »Zwanzig ... Zwanzig«, sagte die andre. »Was?« sagte ich. Und wieder kam es: »Zwei ... Zwei« und »Zwanzig ... Zwanzig«. »Hah? Was?« sagte ich. Und nochmals sagte die erste Stimme: »Zwei ... Zwei«, und die andre »Zwanzig ... Zwanzig«.

So war's. Und was hätt ich davon halten sollen? Ich hab erst neulich wieder darüber nachgedacht. Ich weiß nicht. Recht sonderbar ist so was schon, wenn man's bedenkt, nicht wahr? Ei, weißt du, an genau dem gleichen Tag ... es war der siebenundzwanzigste September ... und daran erinnere ich mich, weil ich am fünfundzwanzigsten jenes Gespräch mit Ambros Radicker hatte ... Ja, genau an diesem Tag war es ... um elf Uhr morgens, dein Vater war in seiner Werkstatt und meißelte die Buchstaben aus an einem Grabstein, den jemand draußen in Beaverdam, dem die Frau gestorben war, bei ihm bestellt hatte ... und da kam Mel Porter zu ihm herein. Dein Papa erzählte, Mel wäre zu ihm in die Werkstatt reingekommen und hätte ihn einfach wortlos angeguckt und den Kopf geschüttelt. Dein Papa sagte, Mel hätte tatsächlich so betrübt und bedrückt ausgesehen, als wäre ihm etwas ganz Furchtbares widerfahren, und so sprach denn dein Papa zu ihm: »Was ist denn los, Mel? So traurig hab ich dich ja noch nie gesehn.«

»Oh, Will, Will«, sagte Mel und stand da vor deinem Papa und schüttelte den Kopf, »wenn du bloß wüßtest, wie sehr ich dich beneide. Da hast du dein gutes Handwerk und kannst arbeiten, und Sorgen hast du keine. Ich würde alles, was ich besitze, hergeben, wenn ich mit dir tauschen könnte.« »Was redest du denn da für Zeug, Mel?!« sagte dein Papa. »Ein erstklassiger Rechtsanwalt mit einer guten Praxis – und du möchtest tauschen mit mir, einem Steinmetzen, der mit seinen Händen schaffen muß und nie weiß, wo der nächste Auftrag herkommen soll?« So sagte dein Papa. »Es ist ein Fluch und eine Plackerei«, sagte dein Vater, denn ganz so pflegte er sich auszudrücken, du weißt ja, wie er zu reden pflegte, viel Federlesens machte er nicht. »Es ist ein Fluch und eine Plackerei, Mel«, sagte dein Papa, »und ein bittrer Tag war's für mich, als ich dieses Geschäft hier anfing. Ich muß warten, bis die Leute sterben, und dann geben die Familienangehörigen, diese undankbare Bande, gewöhnlich den Auftrag einem meiner Konkurrenten. Hätt ich den Beruf erwählt, für den ich geschaffen war, dann hätt ich wie du Rechtswissenschaft studiert und eine Anwaltspraxis gegründet.« Nun ja, so unrecht hatte er nicht mit dieser Behauptung; alle Leute, die ihn kannten, sagten, daß dein Vater mit seiner Beredsamkeit fein zum Advokaten getaugt hätte; die Gaben hatte er gewiß dazu. Und Mel sagte darauf: »Ach, Will, Will«, sagte er, »du solltest Gott auf den Knien danken, daß du nicht Advokat geworden bist. Du hast zum mindesten immer genug zu essen, und außerdem, wenn du abends heimgehst und dich ins Bett legst, kannst du schlafen.«

»Aber Mel«, sagte dein Papa, »was in aller Welt ist dir denn schiefgegangen? Ganz gewiß machst du dir Sorgen über was.« »Ach, Will«, sagte Mel, »es sind diese Männer da. Ich kann nachts nicht schlafen, weil ich mir Gedanken um sie mache.« Nun, er sagte nicht, was für Männer er meinte, er nannte die Namen nicht, aber dein Papa wußte ja gleich, wen er da meinte, und wie der Blitz kam ihm der Gedanke, daß die Rede von Ed Mears war und Lawrence Wayne und drei anderen Mördern, die drunten im County-Gefängnis saßen, und die Mel Porter vor Gericht verteidigt hatte. Und bei denen war er gerade gewesen. Dein Papa sagte, daß er es ihm ansah, denn seine Schuhe und sein Hosenboden waren mit dem alten roten Lehmstaub bedeckt, den es drunten in der Niggertown gibt. Das also war's.

»Nun ja, Mel«, sagte dein Papa, »ich versteh schon, daß es dich ziemlich hart ankommt, aber Vorwürfe brauchst du dir wahrhaftig nicht zu machen. Du hast alles getan, was nur von dir erwartet werden kann, du hast wirklich dein Bestes getan, und ich seh also nicht ein«, sagte er, »weshalb du dir Vorwürfe machen solltest.«

»Ach, Will«, sagte Mel, »es ist die Aufregung, diese furchtbare Aufregung. Ich habe alles in meinen Kräften getan, um diese Männer zu retten, und nun sieht es so aus, als ließe sich weiter nichts tun, es sieht wirklich so aus, als sollten sie gehenkt werden, und da kommen ihre Frauen und Kinder und ihre Gesippen zu mir und bitten mich, ich solle sie retten, und, Will, Will«, sagte er, »ich hab mein Hirn durchgehechelt, um einen Ausweg zu finden, und es gibt keinen, und es sieht aus, als müßten sie baumeln. Ich will dir was sagen«, sagte Mel, und dein Papa erzählte, daß er sehr niedergeschlagen dreinschaute, »das ist ganz schauderhaft, wenn man's bedenkt. Kannst du dir vorstellen, alle die kleinen Kinderchen, die nun ohne Ernährer aufwachsen sollen und dazu mit diesem furchtbaren Schandfleck auf dem Namen, eben zu wissen, daß sie die Kinder von Männern sind, die wegen Mordes gehenkt wurden. Das ist doch schauderhaft, Will, einfach schauderhaft«, sagte Mel, »und der Gedanke läßt mich nachts nicht schlafen.«

Nun ja, dein Papa kam abends zum Essen heim, und er erzählte mir die ganze Sache und sprach: »Ich will dir was sagen, den Mel kommt das schwer an, meinst du nicht? Mich deucht, er hat alles in seinen Kräften getan, fühlt sich aber trotzdem irgendwie verantwortlich, so, daß er etwa denkt, er hätte doch etwas unterlassen, was diesen Leuten das Leben hätte retten können.« So sagte er, und dann: »Ich konnte nicht anders, der Mel tat mir wirklich leid, er war geisterbleich im Gesicht und sah aus, als hätte er 'ne Woche lang kein Auge zugetan.« »Hm!« sagte ich drauf. »Nun hör mich mal an. Da ist irgendwie irgend etwas sehr Ausgefallnes an dieser Sache. Ich hab noch nie von 'nem Advokaten gehört, der nicht schlafen konnte, weil ein Klient von ihm an den Galgen sollte, und du kannst deinen letzten Dollar drauf wetten, daß Melvin Porter nicht deswegen nicht schlafen kann. Advokaten kriegen mit der Schlaflosigkeit zu tun, wenn sie Angst haben, sie bekämen ihr Geld nicht, oder sie liegen wach, weil sie drüber nachdenken, wie sie jemanden ausschmieren können, und wenn er dir so eine Geschichte erzählt hat«, sagte ich, »da kannst du dich drauf verlassen, daß er nicht die Wahrheit sprach. Da ist irgendwie ein Haar in der Suppe, waschecht ist das Garn nicht«

»Doch«, sagte dein Papa, »ich glaub, da irrst du dich. Meiner Meinung nach tust du ihm Unrecht.«

»I wo!« sagte ich. »Sei doch so kein Gimpel! An der Geschichte ist kein Wort wahr. Bei dir braucht einer bloß ans Mitgefühl zu appellieren, da glaubst du ihm alles.«

 

Und freilich, genau so ein Kerl war er ja, dein Vater. Er fluchte und tobte und führte sich wüst auf, und dann wieder log ihm irgendeiner was Großes vor und schlug die sanfte Saite in ihm an, und gleich wurde er gutmütig und schenkte dem Schwindler alles, was er hatte. Da fällt mir ein, dieser Melvin Porter hatte einen Bruder, diesen elenden alten Halunken Rufus Porter – wie man so sagt, wenn ein gerechter Gott im Himmel ist, dann kriegt er nun die verdiente Strafe –, er hatte so ein vom Suff gedunsnes Gesicht, rot wie 'ne Persimone – mein Gott, hab ich selber als Mädchen ihn nicht in der Kirche beim Meeting der Sons of Temperance gesehn? Da ging er Arm in Arm mit Jeter Alexander den Mittelgang hinunter, um das Gelübde zu unterzeichnen, und der Whisky, den die beiden dann nachher tranken, lieber Gott, wenn du das widerliche alte Zeug in ein Dock geschüttet hättest, dann hätte ein Schlachtschiff drin schwimmen können. Also, er kam zu deinem Papa und beschwatzte ihn so, daß dein Papa bei der Bank für ihn bürgte auf einen Wechsel über vierzehnhundert Dollar, ach, mich ekelt, wenn ich bloß dran denke! ... Ich sagte zu deinem Papa: »Der Rufus Porter ist so einer, der gehenkt gehört, und da würde ich noch eigenhändig beim Aufknüpfen helfen!« Aber er, mit seiner breimäuligen Stimme, hatte zu deinem Papa gesagt: »Es wird in Ordnung gebracht, Will, du kannst dich drauf verlassen, daß ich zusehe, daß du keinen Pfennig verlierst!« Dabei aber hatte er keinen einzigen Dollar auf seinen Namen stehn. Und dann sagte ich zu deinem Vater: »Beschwören will ich's, ei, wie konntest du nur so ein Narr sein und Bürgschaft für ihn leisten!«

»Nun ja«, sagte dein Papa, »er hatte mir auf seinen Eid versichert, er würde die Sache in Ordnung bringen. Er sagte, eher wolle er als Erdarbeiter mit dem Pickel schanzen gehn, als mich 'nen Pfennig verlieren lassen.«

»Ja«, sagte ich, »und du also warst Narr genug, ihm das zu glauben.«

»Nun ja«, sagte dein Papa, »es ist mir eine Lehre gewesen. Mich wird keiner mehr reinlegen«, sagte er.

»Schon gut«, sagte ich. »Wir wollen mal abwarten und zusehen.«

Na, es dauerte keine zwei Jahre, da versuchte Rufus Porter denselben Schwindel noch mal bei ihm. Der Kerl hatte die Unverfrorenheit, wie er leibte und lebte zu deinem Papa in die Werkstatt zu gehn und ihn zu bitten, auf einen Wechsel über fünfhundert Dollar für ihn zu bürgen. Dein Papa wurde so wütend, daß er ihn beim Kragen packte, ihn hochhob und ihn raus auf den Stadtplatz trug. »Wenn du noch mal hier reinkommst, du gottverdammter Bankert aus dem Gebirg, dann schlag ich dich tot!« sagte er zu ihm. Du weißt ja, sehr gewählt pflegte sich dein Vater nicht auszudrücken, wenn er wütend war. Ei, und ja! Stand da nicht der alte Bill Smathers, der damalige Chef der Polizei, grad auf der Treppe vorm Stadthaus und sah es mit an? Und gleich rief er rüber: »Ja, und wenn ich da bin, wenn er's tut, dann komm ich rüber und helf Ihnen, ihn totschmeißen, Mister Gant!« Und dann sagte er noch: »Da haben Sie ganz das Rechte getan, Mister Gant. Jammerschade ist nur, daß Sie ihn nicht gleich totgeschlagen haben.«

Als dein Papa heimkam und es mir erzählte, da sprach ich: »Ja, und ganz und gar recht hat er gehabt, der Bill Smathers! Du hättest sofort ganze Arbeit machen sollen, ganz genau das! Es wäre eine große Erlösung gewesen.« So sagte ich, denn, wie du verstehen wirst, ich war bitter geladen; da hatten wir sechs Kinder großzuziehen, und der Mann geht hin und wirft sein Geld weg an diesen elenden alten Schurken. So ein Tor, ich hätt ihm den Hals rumdrehn können! »Nun hör mich mal an«, sagte ich zu ihm, »laß es dir wirklich zur Lehre dienen, gib ihm nie wieder einen Pfennig und leihe keinem Menschen Geld, ohne mich zuvor befragt zu haben. Du bist verheiratet, deine ersten Pflichten sind die, die du deiner Frau und deinen Kindern gegenüber hast.« Na ja, und da versprach er mir, er würde es nie wieder tun, und ich hab es ihm, vermute ich, geglaubt.

Nun, mein Lieber, es dauerte keine drei Tage, da fing er wieder an zu saufen, er kam stinkbesoffen heim, und ich erinnere mich, wie sie uns aus Ambrose Radickers Saloon Nachricht zukommen ließen, er säße dort, und es wäre wohl besser, wir holten ihn heim. Nun freilich, die Leute wußten einfach nicht, was sie mit ihm anfangen sollten, und so dachten sie, es wäre das Gescheiteste, uns zu verständigen. Ich ging selber hin. Ach, Gott! ... Nun, Kind, du hast deinen Papa erst gekannt, als er schon alt und abgetakelt war, und ich nehm an, selbst dann erschien er dir noch schlimm genug. Aber, Kind, Kind! Du hast keine Ahnung, keine Ahnung hast du, du hast ihn nicht richtig erlebt ... Der Nigger dort bei Radicker erzählte mir, weißt du, der alte, pockennarbige Nigger, daß dein Vater mehr Whisky trinken konnte als vier Männer zusammen genommen ... Er erzählte mir, daß er mit eignen Augen sah, wie dein Papa an der Bar stand und, ohne innezuhalten, zwei Literflaschen Roggenwhisky trank. »Ja, und das läßt du zu!« sagte ich zu Ambrose Radicker. Na, ich sah ihm ins Auge, als ich ihm die Meinung sagte, er machte ein schönes Schafsgesicht, kann ich dir sagen. »Du«, sagte ich zu ihm, zu Ambrose, »da stehst du da, ein verheirateter Mann und selber Familienvater, und Stolz und Ehre verbieten dir nicht, das Geld aus der Tasche eines Mannes zu nehmen, der Frau und Kinder zu ernähren hat. So einer wie du gehört geteert und gefedert und aus der Stadt hinausgejagt.« Ja, das ist's, was ich ihm sagte, ganz genau so sagte ich's, und du kannst dich drauf verlassen, daß ich bitter auf ihn geladen war.

Nun ja, ich vermute, der Vorwurf saß. Er schwieg eine Minute, aber, das kannst du glauben, daß auf seinen Mienen allerhand zu lesen war. Ei, dieser tödlich beschämte Ausdruck, weißt du, er sah aus, als wäre er froh, wenn sich im Augenblick die Erde auftäte und ihn verschlänge. Und dann freilich sprach er: »Ei, Eliza«, sagte er, »wir wollen ihm doch das Geld nicht abnehmen. So arg nötig haben wir's nicht. Mir wäre dein Wohlwollen lieber als alles Geld, was er hier verzecht. Es gibt einen Haufen Leute, die hier reinkommen und trinken und sich trotzdem benehmen. Also, weißt du, wir bemühn uns nicht, ihn hier hereinzuziehen. Ich selber wär der glücklichste Mensch auf Erden, wenn Mister Gant den feierlichen Eid leisten würde, nie wieder Alkohol zu trinken, wahrhaftig. Aber freilich müßte er zu seinem Eid stehen. Denn, wenn es einen Menschen gibt, der nie einen Tropfen trinken sollte, dann ist's er«, sagte Ambrose. »Ja, wenn Mister Gant eben ein Glas trinken würde und dann wieder fortgehn, dann wär's ganz in der Ordnung, aber bei ihm ist es eben so, daß ein Glas nicht mehr bedeutet wie ein Regentropfen ins Auge« – genau so drückte er sich aus –, »er muß gleich 'ne halbe Flasche trinken, um überhaupt zu merken, daß er was getrunken hat«, sagte Ambrose und schüttelte den Kopf, »und ich will dir was sagen, es ist schwer mit ihm umzugehn. Es ist einfach so, daß man nicht weiß, was man mit ihm anfangen soll. Niemand kennt sich aus mit ihm, man weiß nicht, was er die nächste Minute anstellen wird«, sagte Ambrose. »Ja, wir haben schon oft einen schrecklich schweren Stand mit ihm gehabt.«

»Ach, du ahnst ja nicht«, sagte Ambrose zu mir, »was ihm manchmal alles einfällt; ich hab mein Lebtag keinen Menschen gekannt, der überzwerchere Vorstellungen im Kopf hatte. Stell dir vor«, erzählte Ambrose, »eines Abends war er hier und fing an, wegen Lydia zu heulen und zu toben. Er beschwor es, daß Lydia aus dem Grabe auferstanden wär und ihn heimsuche, weil er so ein verludertes Leben führe. ›Da ist sie!‹ schrie er, ›da! ... da!! Seht ihr sie nicht?‹ Dazu deutete er im Lokal herum und behauptete dann, sie sähe ihn über meine Schulter an. ›aber nein, Will‹, sagte ich zu ihm, ›da ist doch gar niemand. Das bildest du dir bloß ein.‹ ›Doch!‹ schrie er, ›da steht sie ja. Du hast dich vor sie gestellt, um sie vor mir zu schützen! Mach, daß du da wegkommst, oder ich bring dich um!‹ Und da warf er auch schon eine halbvolle Whiskyflasche nach mir; es ist überhaupt ein Wunder, daß er mich nicht traf, ich sah die Flasche kommen und duckte mich in letzter Sekunde, aber ein ganzer Satz Gläser auf dem Gestell hinter der Bar ging in Scherben. Und dann kniete er nieder und begann zu Lydia zu beten und sagte: ›O Lydia, Lydia, verzeih mir doch, Baby, sag, daß du mir verzeihst!‹ Und dann sprach er von ihren Augen. ›Da ... da ... sie starren mich an!‹ sagte er. ›Seht ihr's denn nicht? O Gott, erbarm dich meiner! Sie ist aus dem Grabe auferstanden, um mich zu verfluchen!‹ Es war wirklich so, daß einem das Blut in den Adern gerann, wenn man ihm zuhörte«, sagte Ambrose zu mir. »Wirklich, mein Nigger, der Dan, kriegte eine solche Angst, daß er ausriß und sich zwei Tage lang nicht sehen ließ. Nun, du weißt ja, wie abergläubisch diese Nigger sind, bei so einer Sache wird ihnen sterbensangst«, sagte Ambrose zu mir, und da sagte ich zu ihm: »Ei freilich, und ich will dir was sagen, ich bin gar nicht so sicher, ob das nicht schließlich und endlich bloß purer Aberglaube ist.«

Nun, Ambrose sah mich sehr komisch an, wahrhaftig, das tat er, und er sagte: »Aber Eliza, du glaubst doch wohl nicht, daß irgend was dahinter ist, was?« »So sicher bin ich nicht«, sagte ich, »ich könnte dir schon äußerst sonderbare Dinge erzählen, Dinge, die ich selber erlebt habe, und ich kann sie mir nicht anders erklären als so, daß es eben ganz bestimmt, wie man so sagt, ›eine Stimme von jenseits des Grabes‹ gibt.« Na, auf seinem Gesicht war da allerlei zu lesen, sag ich dir, und einen Augenblick später sah er mir stracks ins Auge und fragte: »Wer war Lydia? Hat Mister Gant eine Frau namens Lydia gekannt?« »Ja«, sagte ich, »aber das war, ehe du ihn kennenlerntest.« »Wohl seine erste Frau?« fragte er daraufhin, »die Verstorbene?« »Genau die«, sagte ich. »Ganz genau die. Und er hat gar manchen Grund, sich ihrer zu erinnern, und außerdem hat er um ihretwillen viel zu bereuen«, sagte ich. Na, eine ausführlichere Antwort gab ich ihm nicht, ich sagte ihm auch nicht, daß dein Papa schon zweimal verheiratet gewesen war, und daß er drunten im Osten des Staates eine Frau geheiratet und von ihr geschieden worden war, ehe er Lydia heiratete. Lydia war die einzige, um die die Leute bei uns im Städtchen wußten. Seine Heirat mit Maggie Efird wollte ich ihm nicht auf die Nase binden, ich war, nehme ich an, zu stolz dazu, denn in jenen Tagen erachtete man es für eine Schande, mit einem geschiedenen Mann etwas zu tun zu haben, und was gar eine geschiedne Frau angeht, ei, ich sage dir, ganz natürlich hielt man sie für nicht besser als eine Dirne. Und hätte ich um jene erste Ehe vor meiner Hochzeit gewußt, da kannst du sicher sein, ich hätte nichts mehr mit ihm zu tun gehabt. Ich hätte mich in den Tod hinein geschämt, ehe ich mich so sehr erniedrigt hätte. Aber freilich, das hat er mir nicht gesagt. Du lieber Gott, nein! Ich war bereits ein Jahr mit ihm verheiratet, als es herauskam.

Dann freilich gestand er es ein, er mußte es zugeben.

Ei ja, sagte da nicht die alte Mrs. Mason ... – Kind, wie oft hab ich an die alte Mrs. Mason denken müssen; die arme alte Frau, was die alles durchzumachen hatte! Dein Papa war ihr Schwiegersohn gewesen, und so lebte sie während des ersten Jahres nach unsrer Hochzeit mit uns zusammen, bloß um achtzugeben, daß sein Leben wieder in Ordnung käme und John und Ella Beals, ihr Sohn und ihre Schwiegertochter, wieder zusammenfänden. John Beals nämlich und Lydia, die mit deinem Vater verheiratet war, waren Mrs. Masons Kinder aus erster Ehe; sie hatte einen Mann namens Beals geheiratet. Sie sagte damals zu mir: »Eliza, ich werde dir mit allen Kräften beistehn. Es wird in Ordnung kommen, wenn er von Ella läßt. Wenn die beiden voneinander bleiben und Ella wieder zu John zurückfindet und mit ihm lebt, wie sich's für eine anständige Ehefrau gehört, dann betrachte ich mein Lebenswerk für getan. Dann werd ich in Frieden sterben können«, sagte sie ... weinend, weißt du. »Ach, du weißt ja nicht, was ich durchgekämpft habe, Eliza«, sagte sie zu mir.

Und dann erzählte sie mir die ganze Geschichte. Wie sie ihn kennenlernten, nämlich sie und ihre Tochter Lydia, wie dein Papa bei ihnen im Haus Wohnung nahm, als er in den Süden kam, nach Sydney. Denn das war so: er war zu uns in die Südstaaten gekommen, er arbeitete als Steinmetz für John Arthur in Sydney, sie hatten damals viel Arbeit beim Bau des Staatsgefängnisses. Anfangs hatte er wohl wenig Freunde, vermute ich, denn er war ja ein Yankee, und das waren die Wiederaufbaujahre, und die Stimmung war noch sehr bitter gegen die Yankees.

Ei ja! Hat er mir nicht selbst erzählt, wie bitter er auf uns geladen war, als er von Baltimore herunter in die Südstaaten kam? »Ein reiner Zufall, daß ich hierher kam«, sagte er. »Ich hatte fest vor, in den Westen zu gehn. Das war der Ehrgeiz meiner Jugend. Und ich wär auch hingegangen. Aber da schrieb mir John Arthur, ich solle kommen, er hätte haufenweis Arbeit für mich.« In Wirklichkeit nämlich hielt er uns für eine Rebellenbande und dachte, Gehenktwerden wär noch ein zu guter Tod für uns – ei, damals wollten diese Yankees sogar Lee und Jefferson Davis als Hochverräter vor Gericht stellen! –, und er, dein Papa, hatte seinen ältesten Bruder Georg in der Schlacht bei Gettysburg verloren, und da versteht es sich, daß er sehr gegen uns war. Aber dann sah er, wie die Dinge lagen, und dann änderte er seine Meinung und schimpfte auf die Regierung wegen der Gesetze über die Gleichstellung der Schwarzen. Da drunten in Sydney nämlich, als er mit John Arthur zusammenarbeitete, und dort beim Bau des Staatsgefängnisses in Columbus in Süd-Carolina, da sah er es. Da sah er die schwärzesten Nigger, die du dir nur vorstellen kannst, da sah er sie trinken und mit Weibern herumziehen und das Geld des Steuerzahlers vergeuden, da sah er sie, sie hatten die besten schwarzen Kammgarnanzüge an, dicke Zigarren im Mund, stell dir das bitte vor, und diese ekelhaften, stinkenden Kerle legten die Beine auf die Mahagonischreibtische. Ei, haben wir das nicht alles später im Kino gesehen? Ja, nämlich in dem Film »Die Geburt einer Nation«, der nach dem Roman von Tom Dixon gedreht wurde. Dein Papa sah ihn und sagte: »Die Darstellung entspricht in allen Stücken der Wahrheit. Ich selber habe schlimmere Dinge mitangesehn.« Aber damals, als er nach Sydney kam, da war er gegen die Sache des Südens.

Also, er zog als zahlender Haus- und Tischgast zu Lydia und der alten Mrs. Mason. Die alte Frau sagte mir, daß sie es zuließ, »freilich«, sagte sie, »wir waren froh, daß er zu uns ins Haus zog. Wir lebten da ganz allein, wir brauchten einen Mann im Haus, und wir fühlten uns sicherer, als er zu uns zog. Und ich will dir was sagen«, sagte sie zu mir, »Will war gewiß äußerst tüchtig, so im Haus herum, mein ich. In dieser Beziehung hab ich nie seinesgleichen gekannt.« So sagte sie, und hierin freilich mußte ich ihr einfach recht geben. Man muß sogar dem Teufel seine Ehre lassen, Junge. Obschon er ein Wandrer war, obschon es ihn immer in die Ferne zog, dein Papa, Junge, war ein vortrefflicher Hausvater. Beßre gibt's nicht. Ei, laß dir sagen, im Haus gab es keine Arbeit, die er nicht tun konnte und tat. Er konnte jede Reparatur machen, alles in die Reihe bringen, alles eigenhändig tun, das muß ich zugeben. Wenn ich morgens runterkam, brannte immer schon ein gutes Feuer im Herd; bei ihm brauchte man nicht zu warten, man brauchte auch nicht im Herd rumzustochern, damit das Feuer auch brannte. Nun ja, er aß gern, und so schürte er immer tüchtig ein. Aber, du lieber Gott! Wie ich immer zu ihm sagte: »Nun, bei deiner Art Feuer anzumachen, ist's kein Wunder. So hat man freilich gleich 'ne heiße Herdplatte, wenn man zum Feuermachen 'ne ganze Kanne Petroleum braucht. Barmherzigkeit!« rief ich so manches Mal, »mit diesem Petroleum steckst du uns eines Tags das Haus überm Kopf an! So sicher, wie ich hier vor dir stehe.« Ach Kind, Kind! Diese Vergeudung, diese Verschwendung! Eine ganze Kanne Petroleum zum Feueranmachen! Ach, die Flammen rauschten zum Schornstein hinauf, so, daß das ganze Haus bebte, weißt du.

 

Aber um auf diese erste Ehe zurückzukommen, Junge. Wir müssen da gerecht sein, wir müssen billig denken, er war nicht allein der Schuldige. Es war nicht nur sein Fehler. Die alte Mrs. Mason gab es ohne weiteres zu, als ich zu ihr sagte: »Sie müssen doch etwas von dieser Ehe gewußt haben, als er zu Ihnen und Lydia ins Haus zog; schließlich hatte er doch in derselben Stadt gelebt, und da müssen Sie doch von dieser Geschichte mit Maggie Efird gehört haben, ehe er zu Ihnen zog. In so einer kleinen Stadt ist das doch gar nicht anders denkbar! Sie müssen davon gewußt haben.« Nun ja, da gab sie es unumwunden zu und sagte: »Ja, wir wußten es. Aber natürlich war die Sache so, daß man erzählte, daß Will sie heiraten mußte, der Vater und die Brüder von Maggie Efird zwangen ihn dazu, und ich vermute, daß er sie deshalb nachher so haßte. Und daß er sich deshalb von ihr scheiden ließ.« So sagte Mrs. Mason.

Und da sah ich ihr stracks ins Auge und sprach: »Und Sie wußten das, und haben mir kein Wort davon gesagt, und haben zugelassen, daß ich ihn heiratete, ihn, einen geschiedenen Mann! Warum haben Sie mir's nicht gesagt?« Ich mußte sie das fragen, verstehst du, sie hätte von sich aus nie ein Wort davon zu mir gesagt, und hätte ich gewartet, bis sie es mir sagte, dann wär ich nie im Leben dahintergekommen. Ich fand es nämlich nicht durch sie heraus, weißt du; wir waren erst ein paar Monate verheiratet, als die Sache durch einen Zufall ans Licht kam. Du kennst seine alte Kommode aus Walnußholz. Eines Tags suchte ich dort nach einem Platz, wo ich seine Hemden hinsetzen könnte, und da fand ich in der untersten Schublade ein Bündel alter Briefe und Papiere, die hatte er wohl dort reingesteckt, vermute ich, weil er sie gelegentlich verbrennen wollte. Na also, ich nahm die Papiere heraus, ich hatte gar nicht die Absicht, sie mir anzusehn, ich wollte sie einfach in den Ofen stecken und verbrennen, ›er hat sie da wohl vergessen, bestimmt wollte er sie selber verbrennen, diese Papiere‹, sagte ich zu mir ... aber auf einmal hatte ich so eine bange Ahnung, ich weiß nicht, wie ich's anders nennen könnte, weißt du, es traf mich wie ein Blitz, ganz plötzlich, ich glaube, die Vorsehung hatte dafür gesorgt, daß diese Schriftstücke von mir gelesen werden sollten ... ja, und da war sie also, die amtliche Urkunde darüber, daß seine Ehe mit Maggie Efird gültig geschieden sei ... da konnte ich's sehen, da konnte ich's lesen, da starrte es mir schwarz auf weiß ins Gesicht.

Also, weißt du, ich wartete, bis er heimkam, und dann stand ich da, diese Papiere in der Hand, und sagte: »Da sind alte Briefschaften, die ich fand, als ich deine Kommodenschubladen sauber machte. Brauchst du sie noch?« Verstehst du, ich ließ es mir nicht anmerken, ich tat so unwissend, wie du dir's nur vorstellen kannst. Na, auf seinem Gesicht hättest du allerlei lesen können, sag ich dir, wahrhaftig, so war's. »Gib mir diese Papiere«, sagte er und griff schnell danach. »Hast du sie gelesen?« fragte er. Darauf antwortete ich nicht. Ich sah ihn einfach an. Na, und da machte er ein Schafsgesicht, wahrhaftig, ein Schafsgesicht, und sagte: »Ich hatte immer die Absicht, mit dir darüber zu sprechen, hatte aber Angst, du würdest es nicht verstehen.«

»Verstehn?« sagte ich. »Ei, was ist denn da dran zu verstehn? Da steht so klar und deutlich wie die Nase in deinem Gesicht, daß du ein geschiedner Mann bist. Und mir hast du nie eine Silbe davon gesagt. Du hast mich dich heiraten lassen im guten Glauben, daß du Witwer wärst, und daß Lydia die einzige wäre, mit der du je verheiratet warst. Das also verstehe ich sehr wohl.«

»Nun ja«, sagte er, »jene erste Heirat war ein schwerer Fehler. Ich bin gegen meinen bessern Willen hineingeschlittert. Ich wollte dich wegen der Sache nicht aufregen.« »So, so«, sagte ich da, »da muß ich dich aber jetzt fragen, was ich gern wissen möchte, nämlich: was war denn da los? Warum bist du geschieden worden?« »Ei«, sagte er da, »die Scheidung wurde wegen Unverträglichkeit ausgesprochen. Sie weigerte sich, ehelich mit mir zu leben, sie war in einen andern Mann verliebt und hatte mich bloß jenem andern zum Trotz geheiratet. Nach der Hochzeit dann hatte sie nicht das Geringste mit mir zu tun, wir haben nie wie Eheleute zusammengelebt.« »Und wer hat die Scheidungsklage angestrengt«, fragte ich, »du oder sie?« Und da sagte er, schnell wie der Blitz: »Ich. Die Scheidung wurde zu meinen Gunsten ausgesprochen.«

Na, ich ließ es mir nicht anmerken, ich sagte kein Wort drauf, aber ich wußte, ich wußte sogar ganz bestimmt, daß er log. Ich hatte die Urkunde von A bis Z gelesen, und da stand, daß die Scheidung zugunsten der Ehefrau ausgesprochen worden war. Also, Maggie Efird war von ihm geschieden worden, so war's. Ich hatte es selber gelesen. Aber ich schwieg davon und fragte ihn weiter: »Und du sagst somit, daß sie nie als Ehefrau mit dir gelebt hat, was?«

»Keine Minute«, sagte er. »Ich schwör dir's.«

Na, das war denn doch ein bißchen viel, es war aalglatt gelogen, weißt du. Und die alte Mrs. Mason erzählte mir dann die Geschichte von Maggie. Sie war ein hübsches Mädchen, die es ziemlich toll trieb, hatte einen Schwarm von Verehrern, ehe sie deinen Papa heiratete, und freilich – das also war der Grund –, er war gezwungen, sie zu heiraten. Aber obschon ich das damals noch gar nicht wußte, ich sah deinen Vater an, weißt du, schüttelte den Kopf und sagte zu ihm: »Nein, nein. Das glaub ich dir nicht. Das klingt mir zu überzwerch. Dieses Garn ist nicht waschecht. Du, weißt du, du kannst mir nicht erzählen, daß du mit dieser Frau achtzehn Monate verheiratet warst und nichts mit ihr zu tun hattest. Ich kenn dich doch«, sagte ich und sah ihm stracks ins Auge, »ich weiß, was du für einer bist, und daß dich nichts auf der Welt von ihr abgehalten hätte. Du hättest sie irgendwie gekriegt, und wenn du ein Loch in die Mauer hättest schlagen müssen!« Na, das war zuviel für ihn, er konnte mir nicht ins Auge blicken, er wandte sich ab, weißt du, machte ein Schafsgesicht und grinste.

»Was willst du also nun mit diesen alten Papieren anfangen?« fragte ich ihn. »Du wirst sie wohl nicht länger brauchen; ich glaube kaum, daß du sie noch benötigen könntest«, sagte ich, und da sagte er darauf: »Nein, schon der Anblick ist mir verhaßt. Sie liegen auf mir wie ein Fluch und eine Sorge, und ich möcht sie nie wieder vor Augen kriegen. Ich werde sie verbrennen.«

»Ja, das solltest du«, sagte ich. »Sie erinnern dich nur an Dinge, die du vergessen möchtest. Also solltest du sie vernichten.«

»Genau das werde ich tun«, sagte er. »Bei Gott! Das tu ich.«

 

»Aber immerhin«, sagte ich zu Mrs. Mason, um auf diese alte Frau zurückzukommen, »immerhin, Sie und Lydia müssen doch das alles gewußt haben, als er zu Ihnen ins Haus zog. Sie müssen gehört haben, daß er mit Maggie Efird verheiratet und von ihr geschieden worden war, aber ganz gewiß!«

»Nun ja«, sagte sie, »gewußt haben wir es wohl.« Sie gab's also zu. Und dann fuhr sie fort und erzählte mir die ganze Geschichte, alles kam heraus, so wie es gewesen war, und so will ich dir die Geschichte jetzt erzählen, damit du siehst, daß dein Papa nicht der Allein-Schuldige war.

Der Lydia freilich will ich keinen Vorwurf machen. Ich kannte sie, eh ich deinen Vater kannte, schon damals, als sie von Sydney nach Altamont zogen, und Lydia dort an der Academy Street einen Hutladen aufmachte, grad an der Ecke, wo jetzt das Greenwood Hotel steht. Meinen ersten im Laden gekauften Hut hab ich mir bei ihr gekauft, und zwar kaufte ich ihn mir von meinen Ersparnissen aus dem Geld, das ich damals als Schullehrerin verdiente, als ich in jenem Winter in der Yancey County Schule hielt. Ich verdiente damals bei freier Station zwanzig Dollar im Monat, und – laß dir sagen – ich kam mir reich vor. Ei guter Gott, ja! Hab ich mir damals nicht genug erspart, um die Anzahlung auf das erste Grundstück, das ich je besaß, zu leisten? Ich mein jenes Eckgrundstück auf der Südseite des Stadtplatzes, wo dein Vater später, als wir geheiratet hatten, sein Geschäftshaus erbaute, ja, Junge, das war das Grundstück, und dabei war ich erst zweiundzwanzig, als ich es kaufte, und – mein Gott! – kam ich mir großartig vor! Da war ich also unter die Grundstückbesitzer und Steuerzahler aufgerückt und stand wie etwa der Captain Bob Patton und der alte General Alexander und andere Eigentümer von Grund und Boden, denn (Kind! Kind! wir waren ja so arm, wir hatten in den Jahren nach dem Bürgerkrieg so schwere Zeiten durchgemacht, und das brachte mich wohl darauf, daher wohl kam der Antrieb) ich war entschlossen, selber etwas zu besitzen, das mein Eigentum wäre. Ei ja, denkt mir's nicht, wie ich meinen ersten Steuerzettel bekam?! Ich lief in die Stadt, so schnell ich konnte, einen ganzen Dollar und dreiundachtzig Cent hatte ich zu bezahlen, und mir war, als brenne mir das Geld 'n Loch in die Tasche! Wahrhaftig! Ach, was für'n Gänschen muß ich doch gewesen sein! Ich hatte nämlich Angst, mein Grundstück könnte mir weggenommen und auf dem Zwangswege versteigert werden, ehe ich mit dem Geld für die Steuer hinkäme!

Also, wie ich dir bereits sagte, ich kannte Lydia, ehe ich deinen Vater kannte, und dort an der Nordostecke des Stadtplatzes war ihr Hutladen, wo ich mir meinen ersten im Laden gekauften Hut kaufte. Ja, so war es. Nun, Junge, gegen Lydia sage ich nichts. Soweit ich weiß, war sie ein ehrbares Frauenzimmer; sie arbeitete schwer, und alles war in Ordnung, bis dein Papa auf der Bildfläche erschien. Nun war sie aber zehn Jahre älter als dein Vater, und daher kamen die Schwierigkeiten, da drückte der Schuh, da saß der Dorn im Fleisch. Und so darf man deinen Papa nicht allein verurteilen; als er zu Mrs. Mason und Lydia ins Haus zog, war er Mitte der Zwanzig, aber Lydia war sechsunddreißig Jahre alt. Wäre sie ein junges Mädchen gewesen, und er hätte sie auf Abwege gebracht, dann könnte man ihn mit mehr Recht tadeln, aber man kann sagen, was man will, Lydia war wirklich alt genug, um Bescheid zu wissen. Freilich, dein Vater war ein stattlicher Mann, sah fein aus, und alle Frauen waren hinter ihm her, aber sie hätte sich auskennen sollen, eine Frau in ihrem Alter hätte zuviel Stolz, zuviel Achtung vor sich selbst haben müssen ... aber sie stellte ihm nach und warf sich weg an ihn, ja, das tat sie ... ei, ich wäre eher gestorben, als so was zu tun! ... Aber sie tat es, ihre eigne Mutter, die alte Mrs. Mason erzählte es mir, sie gab es zu, weißt du, sie sagte: »Ach, die Lydia ... die Lydia«, und schüttelte den Kopf, »sie war ganz verschossen in ihn.«

Sie war also ihr Lebtag eine anständige, achtbare Frau gewesen, auch da drunten in Sydney hatte sie ihren Hutladen gehabt, und dort in der Stadt war sie wohl bei jedermann wohlangesehn – freilich aber hielt man sie wohl schon für 'ne alte Jungfer –, und stell dir vor – dann ging sie hin und benahm sich so. »Ach, es war schrecklich«, sagte die alte Frau, »sie ließ ihn keinen Augenblick in Frieden, sie stellte ihm auf Schritt und Tritt nach.« Und wie es dann kam, kannst du dir denken. Du kennst ja deinen Vater, er gehörte zu denen, von denen man sagt, daß sie nicht erst innehalten und ihre Gebete aufsagen, wenn sich's um 'ne Frau handelt. Es war eben dieselbe alte Geschichte, kein Jahr war vergangen, da hatte er sich ganz und gar mit ihr eingelassen, und sie war in andern Umständen und behauptete, er hätte sie ruiniert und müsse sie heiraten.

Ja, und er wußte nicht, was er tun sollte. Er hat es mir selber erzählt, hat es zugegeben und gesagt: »Heiraten wollte ich sie nicht. Ich war nicht verliebt in sie«, sagte er. Er überlegte sich die Sache hin und her und beschloß, sie zu einem Doktor nach Washington zu schicken. So schrieb er seinem Bruder Gil. Gil lebte damals dort, zusammen mit deiner Tante Mary, das war vor der Zeit, als Gil deinem Vater in den Süden folgte und nach Altamont kam. Damals arbeitete Gil in Washington als Gipser und Stukkateur, und er und dein Vater hielten zusammen wie Brüder, und dein Vater wußte, daß er sich auf Gil verlassen konnte. Sie fuhr hin, er schickte sie, und nun weiß ich nicht genau, was passierte; Gil sprach nichts davon, und fragen wollte ich nicht; aber ich vermute, daß es vor der Zeit kam. Lydia und Gil saßen im Zug und fuhren zurück in den Süden; auf irgendeiner kleinen Station auf der Strecke ließ der Schaffner den Zug halten, und er und Gil schleppten Lydia auf den Bahnhof, und am nächsten Tag schon stand sie auf und fuhr heim. Man muß es ihr lassen, Mut hatte sie. Also, ich nehme an, daß es so kam.

 

Aber natürlich kam die Sache heraus. Es sprach sich herum, und dein Vater mußte sie heiraten. Und vermutlich waren die Leute in Sydney bitter auf ihn geladen. Da war er, ein Yankee, oder: wie man damals sagte, ein verdammter Yankee, in die Stadt gekommen und hatte gleich zwei Frauen ins Unglück gestürzt. Wäre es bloß eine gewesen, nun ja, vermutlich hätte man es dann für nicht so schlimm gehalten, aber gleich zwei, das war zuviel für die Leute. Der Boden wurde ihm zu heiß unter den Füßen, er mußte wegziehen. Und damals dann entschloß er sich für Altamont. Lydia hatte Schwindsucht, er dachte, die Bergluft täte ihr gut, und ich nehme auch an, daß er Angst hatte, er hätte gleichfalls die Schwindsucht; er hatte mit ihr gelebt und befürchtete, er hätte sich bei ihr angesteckt. Als ich ihn zum erstenmal sah, sah er aus wie ein Toter, ach, dürr wie ein Stecken und so fahl im Gesicht; ich nehme an, es war von all den Schwierigkeiten und Sorgen, die er gehabt hatte. Also, Lydia hielt Ausverkauf, verkaufte ihr kleines Hutlager und machte den Laden zu. Sie und die alte Mrs. Mason fuhren voraus nach Altamont, dein Vater schickte sie, er aber blieb noch einige Zeit in Sydney und versuchte, sein Marmorlager loszuschlagen und, soweit es ging, alles zu Geld zu machen. Und so erklärt es sich also, daß ich Lydia und Mrs. Mason schon kannte, ehe ich ihn kennenlernte, nämlich damals, als Lydia in Altamont auf der Ostseite des Stadtplatzes in einem alten Holzhaus, das dort an der Ecke stand, ihren Hutladen aufgemacht hatte. Damals also war das.

Und nun, Junge, erzähl ich dir von Ella Beals. Bis zu jener Zeit, wohlgemerkt, bis zu jener Zeit, ehe er nach Altamont zog, hatte sie nichts mit deinem Vater zu tun gehabt. Gekannt freilich hatte sie ihn, denn sie war ja, du bist doch im Bild, die Frau von Lydias Bruder John. Aber guter Gott, Ella und John Beals dünkten sich zu fein, weißt du, viel zu fein, um etwas mit deinem Vater zu tun zu haben, einem gewöhnlichen Steinmetzen, der obendrein auch noch die Familie in Schande gebracht hatte. Oh, die beiden schnaubten und tobten, weißt du, weil er Lydia ins Unglück gestürzt hatte, sie sprachen überhaupt nicht mit ihm, wollten nicht das geringste mit ihm zu tun haben, und er selbst sagte mir, daß sie ihn haßten, genau so, wie er sie haßte. Und dann, als er gerade ein halbes Jahr mit Lydia und der alten Mrs. Mason in Altamont wohnte, verbot es ihr der Stolz doch nicht, zu ihnen ins Haus zu ziehen. Und das war so, daß sie eben mußte, weil sie vermutlich kein andres Obdach hatte. Dieser John Beals nämlich war ein unfürsorglicher Taugenichts, der es nirgends lang aushielt; er konnte seine Frau nicht ernähren, und so schrieb er an seine Mutter und seine Schwester, an Lydia und die alte Mrs. Mason, und sie schrieben zurück, Ella solle zu ihnen kommen. Dein Vater wußte nichts davon. Sie hatten Angst, es ihm zu sagen, und so dachten sie, lassen wir sie erst mal kommen, dann werden wir ihn schon umstimmen. Und ganz wie sie gerechnet hatten, so kam's. Er kam zum Essen heim, und da saß Ella Beals – so eine feine Dame bitte, großartig aufgedonnert, gepudert, mordsmäßig im Staat –, und er hatte keine Ahnung gehabt, daß sie da wäre. Nun, ich glaube, ihr Anblick brachte ihm bittre Erinnerungen ins Gedächtnis zurück, er haßte sie so, daß er ihr nicht mal ein Grußwort gönnte, sondern seinen Hut wieder nahm und weggehn wollte, aber sie ging auf ihn zu – oh, mit ihrem feinen Hut und dem primadonnenhaft gekämmten Haar und den vornehmen Allüren! – und legte ihm die Arme um den Hals und sagte mit ihrer zuckersüßen Stimme: »Willst du mir nicht 'nen Begrüßungskuß geben, Will?« Stell dir vor, Junge, dieses gerißne Luder! Später pflegte ich immer zu sagen, dein Vater hätte ihr auf der Stelle den Hals rumdrehen sollen, das wär 'ne Erlösung gewesen! Also sie sagte zu ihm: »Können wir nicht Freunde sein, Will?« Stell dir vor, nachdem sie sich in Sydney so gegen ihn benommen hatte! Und so schmierte und poussierte sie sich an ihn heran, da und dort, in Gegenwart seiner Frau und seiner Schwiegermutter! »Können wir nicht Vergangnes Vergangenheit sein lassen, Will?« fragte sie ihn, und sie kriegte ihn so weit, daß er sie küßte und zu allem Ja sagte. »Das ist dir recht geschehn«, sagte ich später zu ihm, »weil du so ein Narr warst. Ein Mann, der nicht mehr gesunden Menschenverstand beweist, verdient nichts Besseres als das, was ihm widerfährt.« Und da pflichtete er bei, er gab es zu, weißt du, und sprach: »Du hast recht.« So also kam Ella Beals zu den dreien ins Haus.

Diese Ella Beals war so eine kleine, weißhäutige Brünette ... eine Haut wie Milch, rabenschwarzes Haar und kohlschwarze Augen. Sie hatte diese leichte, zuckrige, verschlafne Art zu reden, ganz weich und langgezogen, ganz so, als wäre sie grad von einem guten, langen Schlaf erwacht. Ich hätt's ihm ja sagen können, als ich sie zum erstenmal sah, daß sie nichts taugte. Sie war ein Aas, wenn ich je eins gesehn hab, so ein Luder, das den Männern den Kopf verdreht, sie auf Abwege bringt und sie bis auf den letzten Heller schröpft. Natürlich, sie sah gut aus, das läßt sich nicht bestreiten, hatte 'ne gute Figur und diese milchweiße, makellose Haut. »Ei ja«, sagte ich später immer zu ihm, zu deinem Vater, wenn er damit großtat, wie hübsch die Ella anzusehen war, »ei ja, das ist wohl wahr, ich glaub dir's gern, aber eine ganze Menge Frauen würden so hübsch aussehen, wenn sie nie 'nen Finger krumm machten, um was zu arbeiten. Auch wir übrigen brächten es zuweg, wenigstens manche von uns, wenn wir nicht zu kochen und waschen brauchten und Kinder großzuziehen hätten.« Nun, da gab er es zu, natürlich, und sagte: »Ja, da hast du recht.«

Und nun stell dir also vor, wie sich dieses Luder deinem Vater gegenüber benahm, und das unter den Augen seiner Frau! Da saß sie, putzte sich auf und machte sich hübsch, bloß um ihn ins Garn zu locken. Tag für Tag trieb sie es, sie lebte überhaupt nur noch für die Stunde, wenn er heimkäme, und droben im Oberstübchen lag die Lydia auf ihrem Sterbebett und hustete mit jedem Atemzug ihre Lunge heraus und wußte um die Sache. Ei, mußte er's vielleicht nicht selber zugeben? Hat er mir nicht erzählt, wie Lydia zu ihm sagte – das arme Ding wußte natürlich, daß der Tod nahe war – »Will, ich bin krank«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich nicht mehr für dich tauge. Ich weiß, daß ich nicht mehr lang zu leben habe. Und, Will, du kannst hingehn, wo du willst, du kannst tun, wie dir beliebt, Will, es ist mir gleich, denn ich liege am Sterben, aber Will«, und er erzählte, wie sie ihn dabei ansah, » eine Sache darfst du mir nicht antun, eine Sache kann ich nicht ertragen. In meinem eignen Haus! Meinem eignen Haus! Will, du mußt meines Bruders Frau in Ruhe lassen!«... Oh, er hat es mir erzählt, hat es zugegeben, weißt du, und gesagt: »Ach Gott! Das ist ein Verbrechen, das mir schwer auf der Seele liegt. Und ich glaube, wenn ein gerechter Gott im Himmel ist, werde ich dafür gestraft werden.« – Und diese arme, alte Frau, Mrs. Mason, tat die ganze Hausarbeit, kochte und plackte sich ab für die drei andern, und diese kleine, gepuderte Dirne – etwas anderes war sie ja nicht – lag im Haus herum, auf der Lauer nach dem Mann, und rührte nicht ein einziges Mal nur einen Finger, um zu helfen, wirklich, man hätte sie teeren und federn sollen.

Und dann also, als Lydia gestorben war, blieb Ella einfach im Haus und dachte nicht dran, wegzuziehn. Und da war es auch längst so weit, daß dein Papa sich in sie vergafft hatte, er war ganz verschossen in sie, weißt du, und wollte sie im Haus behalten. Und um diese Zeit kam dann John Beals eines Tags nach Altamont, um seine Frau zu besuchen. Vermutlich erkannte er sofort, was los war, er sah, wie die Dinge standen, und ich nehme an, es ging ihm gegen den Strich, es war wohl ein bißchen mehr, als er vertragen konnte. Ich hielt ihn zwar immer für einen ziemlich armseligen Gesellen, so einen Mann, der in solchem Falle nicht mal aufmuckt und es zuläßt, daß seine Frau es toll treibt – aber anerkennen muß ich doch, daß er wohl schließlich und endlich noch ein wenig Murr in den Knochen hatte; er hatte damals keine Arbeit, aber er ging nach Johnson City in Tennessee und fand dort eine Anstellung in einer Hotelverwaltung. Und dann schrieb er zurück an Ella und verlangte, daß sie zu ihm käme.

Ella aber wollte nicht. Sie schrieb ihm, und in dem Brief stand, sie liebe ihn nicht mehr und könne nie mehr mit ihm leben, und so wolle sie bleiben, wo sie nun wäre. Oh! Sie hatte sich das fein ausgedacht, mein Lieber, sie wollte sich scheiden lassen und deinen Vater heiraten, und er natürlich war einverstanden – bitte, stell dir das vor, dieser mondsüchtige Narr, er überhäufte Ella mit Geld und Geschenken, und die arme alte Mrs. Mason, die sich wie ein Nigger für die beiden abschaffte, kam weinend und bettelnd zu Ella und flehte sie an, sie solle, wie sich's gehört, zu ihrem Manne zurückkehren. Aber Ella natürlich nahm keine Vernunft an; sie war zu nichts zu bewegen, denn oh! – verstehst du, sie war irrsinnig verliebt in deinen Papa und entschlossen, ihn zu kriegen.

Also, John Beals schrieb ihr einen Antwortbrief, diesmal meine er es ernst, sagte er, er sei am Ende mit seiner Geduld. »Entschließe dich auf der Stelle, was du tun willst«, schrieb er, »denn ich laß mir das nicht länger bieten. Es steht dir frei, selber zu kommen; andernfalls aber werde ich kommen und dich holen; von vornherein jedoch möchte ich, daß du dir über eine Sache klar bist. Falls ich kommen und dich ihm abnehmen muß, dann werde ich vorbereitet kommen, und dann wird dieser verdammte Yankee tot im Hause zurückbleiben, wenn wir zusammen weggehn.«

Nun, darauf antwortete sie ihm überhaupt nicht, aber, laß dir erzählen, mein Lieber, dieser John Beals kam. Er setzte sich in den Zug und kam, um sich seine Frau zu holen. Und oh! Die alte Mrs. Mason zitterte und bebte, als sie mir das erzählte. »Ich kann dir sagen, Eliza«, erzählte sie, »es war furchtbar. Ella hatte sich oben im Zimmer eingeschlossen und wollte nicht mitgehn, und unten im Eßzimmer ging John auf und ab und sagte: ›Wenn sie in einer halben Stunde nicht mitkommt, jag ich ihm 'ne Kugel in den Hirnkasten! Und wenn es meine letzte Tat auf dieser Welt sein sollte!‹ Und Will ging, bleich wie ein Gespenst« – wie die alte Frau sich ausdrückte – »draußen auf der Veranda auf und ab und rang die Hände, und Ella droben im ersten Stock weigerte sich, mit John wegzugehn.«

Nun ja, irgendwie müssen sie sie doch überredet haben, sie sah wohl ein, daß es sonst nicht ohne Blutvergießen abgehen würde, und so ging sie eben mit John nach Tennessee – aber Kind! Kind! das war ihr verhaßt, sie wollte nicht, sie war bitter und verfluchte sie alle. Also, genau so war die Sache und freilich war das, ehe ich deinen Papa heiratete.

Und dann, als wir verheiratet waren, fuhr Ella fort, an deinen Vater zu schreiben. Regelmäßig kamen die Briefe, bis ich es für meine Pflicht und Schuldigkeit hielt, an John Beals zu schreiben und ihn davon zu unterrichten, daß seine Frau ungehörigerweise mit einem verheirateten Mann im Briefwechsel stehe, und daß er als der Gatte dieser Frau nach Recht und Billigkeit diese Sache abzustellen habe. Na, ja, und dann kam eben jener Brief, weißt du. Ella schrieb ihn deinem Vater, und so einen Brief hab ich mein Lebtag nicht gesehn. Sie schrieb ihm, daß ich ihrem Mann geschrieben hätte, und sie beschimpfte deinen Vater mit jedem Schimpfwort, das ihr nur eingefallen sein kann, und sie schrieb: »Hätte ich gewußt, daß du sie heiraten wolltest, dann hätte ich ihr alles gesagt, was ich von dir weiß, und du kannst sicher sein, keine Frau würde dich geheiratet haben, wenn ich ihr alles gesagt hätte, was ich von dir weiß. Aber nun soll sie dich haben, ich gönn's ihr, denn wie sehr ich sie auch gehaßt haben mag, ihre Strafe wird ärger sein als das Ärgste, was ich ihr hätte wünschen können.«

Nun, er brachte den Brief heim und schmiß ihn mir ins Gesicht. »Da hast du ihn!« sagte er. »Verdammt sollst du sein! Das hast du mir eingebrockt. Und ich will dir weiter nichts sagen, als daß du hier an meinem Tisch an ihrem Platze sitzt, weil sie von mir weggehen mußte, denn das ist sicher: – wenn sie nicht gegangen wäre, säßest du nicht da – das kannst du dir merken!«

Kind! Kind! Ich war wohl jung und stolz damals, und als er so redete, erbitterte es mich sehr. Ich stand auf und ging hinaus auf die Veranda und wollte weitergehn und ihn überhaupt da und dann verlassen, aber ich trug mein erstes Kind im Leib, und es hatte geregnet, und ich konnte die Blumen riechen, die Rosen, die Lilien und das Jelänger jelieber am Zaun und all die reifenden Trauben an den Reben, und es wurde dunkel, und ich konnte die Nachbarn auf ihren Veranden reden hören, und ich hatte keine andre Bleibe, die ich hätte aufsuchen können, ich konnte ihn nicht verlassen, und »Guter Gott!« sagte ich. »Was soll ich tun? Was soll ich tun?«

Also, wie ich dir vorhin sagte, dein Papa ging rauf in die Stadt in Ambrose Radickers Saloon und betrank sich, und Ambrose erzählte mir, wie dein Papa sich einbildete, er sähe Lydia wieder, sie wäre aus dem Grabe auferstanden, um ihm zu erscheinen. Und dazu sagte ich: »Ja, das mag schon sein, vielleicht irrt er sich nicht.«

»Und dann«, erzählte mir Ambrose, »damit noch nicht genug, das ist noch nicht alles. Einmal kam er hier ins Lokal und behauptete, Dan wäre ein Chinese.« Nun, Junge, freilich, du erinnerst dich doch an Dan, den großen gelben Nigger, der die vielen Pockennarben im Gesicht hatte. Also, dein Vater in seiner Betrunkenheit war auf einmal ganz besessen von der Vorstellung, daß Dan ein Chinese wäre.

»Aber sicher«, erzählte mir Ambrose, »er behauptete, Dan wäre ein Chinese, und Dan wäre von irgend jemand hergeschickt worden, um ihn zu töten, und lauter so Zeug. ›Verdammt sollst du sein!‹ sagte er zu Dan, ›ich weiß, weshalb du dastehst, und hier auf der Stelle mach ich jetzt Schluß mit uns beiden, Gott verdamme dich!‹ sagte er, denn genau so redete er ja, ›ich werde dir das Herz aus dem Leib schneiden!‹ sagte er und lachte dazu, daß einem das Blut in den Adern gerann«, erzählte Ambrose, »und dann nahm er das große Tranchiermesser, das dort auf dem Schanktisch beim Schinken liegt, und kam hinter die Bar gerannt, um den Nigger zu packen. Es war furchtbar, der arme Nigger erschrak fast zu Tod, und natürlich mußten wir eingreifen. Dan hatte ihm nie was zuleide getan«, erzählte Ambrose, »Dan hatte keinem Menschen was zuleide getan, und so mußten wir eingreifen, und wir nahmen Will das Messer ab, und dann versuchte ich ihm gut zuzureden. ›Ei, Will‹, sagte ich, ›was hast du denn gegen den Dan? Dan hat dir doch nichts zuleide getan.‹ So sagte ich«, erzählte Ambrose.

»Aber er sagte drauf: ›Der Kerl ist ein Chinese, und sein Anblick ist mir verhaßt!‹ Na, na, du weißt ja, Eliza«, sagte Ambrose zu mir, »er war von Sinnen, und Vernunft annehmen, das konnte er nicht. ›Aber ganz bestimmt ist er kein Chinese‹, sagte ich zu ihm, ›das weißt du doch selbst ganz genau‹, sagte ich zu Will. ›Du kommst doch seit Jahren hier ins Lokal und kennst den Dan und weißt, daß er kein Chinese ist.‹

›Ei nein, gewiß nicht, Mistah Gant‹, sagte der Dan da, denn wie die Nigger so sind, er wollte halt auch seine Sache sagen, ›ei, Sie kennen mich doch und wissen, ich bin kein Chinese.‹

›Ja, aber sicher ist er einer!‹ sagte Will drauf, ›und – bei Gott! ich mach ihn kalt!‹

›Aber hör doch, Will‹, sagte ich, ›er ist wahrhaftig kein Chinese, und außerdem, wenn er schon einer wäre, so wäre das doch kein Grund, ihn totzuschlagen. Nimm doch Vernunft an‹, sagte ich, ›ein Chinese ist ein Mensch wie jeder andre, und wenn eine Sache sicher ist, so ist es die, daß Chinesen hier auf Erden aus dem selben Grund leben wie wir andern, denn sonst wären sie ja nicht da. Und es ist doch wohl nicht recht, hinzugehn und 'nen Menschen zu töten, der einem nichts zuleide getan hat, bloß weil man sich einbildet, er wäre ein Chinese, nicht wahr?‹ So sagte ich.

›Doch! Bei Gott!‹ schrie er da. ›Sie sind eine Bande von höllischen Teufeln, sie haben mein Herzblut getrunken, und nun sitzen sie da und warten, daß mir der letzte Atemzug rasselnd aus der Kehle fährt!‹ Das sagte er.«

Und dann erzählte Ambrose Radicker weiter und sagte zu mir: »Und das war nicht das einzige Mal, daß er sich so aufführte.« »Was?« sagte ich, denn natürlich, du verstehst schon, ich wollte Ambrose nicht wissen lassen, daß ich darum wußte, daß dein Papa die Chinesen nicht ausstehn konnte. »Was?« sagte ich zu Ambrose, »du sagst also, daß er sich schon öfters so aufgeführt hat?« »Sehr viele Male«, sagte er, und dann: »Das ist doch wohl sonderbar, sehr sonderbar, irgend etwas daran kommt einem recht unheimlich vor. Er hat irgendeine tiefsitzende Abneigung gegen Chinesen, er muß mal Schwierigkeiten mit ihnen gehabt haben.«

»Nein, da irrst du dich«, sagte ich. Ich sah ihm stracks ins Auge. »In diesem Leben nicht«, sagte ich. »Ei, was willst du damit sagen?« fragte er, und du kannst versichert sein, er sah mich mit einem sehr seltsamen Blick an.

»Mehr kann ich nicht sagen«, erklärte ich ihm. »Es gibt Sachen, die man nicht versteht.«

»Hat er dir davon gesprochen?« fragte er mich.

»Ja«, sagte ich, aber mehr wollte ich dem Ambrose nicht davon erzählen.

 

Ich hätt's dem Ambrose ja sagen können, aber ich überlegte mir's, und: »Ich dachte, lieber nicht«, wie ich dann deinem Papa sagte. Und er sagte drauf: »Ja, ich bin froh, daß du's nicht getan hast. Das war richtig. Ich bin froh, daß du weiter nichts gesagt hast.« Und dann versuchte ich, es aus ihm herauszubringen, ich wollte auf vernünftigem Wege von ihm erfahren, warum er die Chinesen nicht leiden könne. »Was ist's denn, Mann?« fragte ich. »Was hast du nur für 'nen Grund?« O Kind, Kind! Er hatte diese Abneigung schon immer gehabt, diesen furchtbaren Haß, die eingefreßne Bitterkeit. »Also, hör mich an, Mann«, sagte ich, »du mußt doch irgendeinen Grund haben, weshalb du so auf die Chinesen geladen bist. So eine Abneigung hat doch Ursachen. Hat dir jemals ein Chinese eine Kränkung angetan? Warst du je mit einem bekannt?« Darauf schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein. Ich war mein Lebtag mit keinem Chinesen bekannt, aber der Anblick war mir schon immer verhaßt, seit ich in meinen Jugendjahren auf den Straßen von Baltimore zum erstenmal Chinesen sah. Und das erste Wesen, das mir begegnete, als ich aus der Fährbootstation in San Francisco herauskam, war ein Chinese mit seiner abscheulichen gelben Haut, und sofort war mir die ganze Stadt verleidet. Den Grund aber weiß ich nicht. Bei Gott! Ich weiß ihn nicht! Seltsam ist es schon, wenn man drüber nachdenkt, es sei denn, man nimmt an« – das sagte er und sah mir ins Gesicht –, »daß ich, wie man so sagt, in einem früheren Leben, in einer andern Inkarnation mit Chinesen zu tun gehabt haben könnte.« Da sah ich ihm stracks ins Auge und sagte: »Jawohl. Das glaube ich auch. Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen, das ist ganz richtig. Genau das war es! Aus diesem Leben stammt deine Abneigung nicht.« Und da blickte er mich wieder an, und, ich kann dir sagen, mein Lieber, auf seinen Mienen stand allerlei zu lesen.

Und ja! Viele Jahre später, du weißt schon, wann das war, nämlich zur Zeit des Boxeraufstandes – kam er da nicht eines Tages ganz aufgeregt mit der Neuigkeit heim? »Endlich ist es soweit!« sagte er. »Seit Jahren hab ich es prophezeit. Der Krug ist einmal zu oft zum Brunnen gegangen. Sie haben China den Krieg erklärt, und ich melde mich freiwillig und geh mit! Bei Gott, ich tu's.« Oh, ganz aufgebracht war er gegen die Chinesen, mein Lieber, und da wollte er alles im Stich lassen, Familie und Geschäft, bloß um mitzugehn und gegen sie zu kämpfen. »Nein, nein, das wirst du nicht!« sagte ich. »Du bist ein verheirateter Mann und hast eine Familie zu ernähren, und deine Kinder sind klein, und du gehst nicht! Wenn sie Soldaten brauchen, sollen andre sich freiwillig melden; dein Platz ist hier. Außerdem«, sagte ich, »sie würden dich ja doch nicht nehmen, sie könnten dich nicht gebrauchen, du bist zu alt. Sie brauchen junge Männer.«

Na, das hat ihm wohl 'nen Stich gegeben, daß ich so einfach sagte, er wär 'n alter Mann. Gleich wurde er hitzig und sagte: »Wie ich hier vor dir stehe, bin ich noch tauglicher als neun Zehntel von den andern, denn wir leben in einer entarteten Zeit, und wenn du glaubst, ich könnte es diesen Nichtsen und Wichten, die du, eine Zigarette im Mundwinkel, überall in den Billardsälen rumlungern siehst, nicht gleichtun – elende, morsche Jämmerlinge, die sie sind! –, dann, Weib, helfe dir Gott; denn der Geist der Wahrheit ist nicht in dir, und du gleichst den Vögeln, insofern du dein eignes Nest beschmutzest!« Und dann setzte er noch hinzu: »Selbst jetzt kann ich noch mehr Arbeit leisten als vier von diesen Schmachtlappen.«

Nun ja, nachdem er die Sache so darstellte, mußte ich zugeben, daß er die Wahrheit sprach; freilich, dein Vater war furchtbar stark. Mein Gott, wie oft hab ich das erzählt gekriegt! Von Leuten nämlich, die zufällig in die Werkstatt kamen, als er grad auf der einen Seite von einem Steinklotz von sieben Zentnern anhob, während sich am andern End zwei Nigger anstrengten und abschwitzten und das Gewicht kaum bewältigen konnten, und deswegen sagte ich auch zu dem Chirurgen Wade Eliot, damals, als wir deinen Papa zum erstenmal ins John Hopkins Institute nach Baltimore brachten: »Meine Theorie ist, Herr Doktor, und meine Diagnose ...« na ja, und da sagte ich ihm, daß nach meiner Meinung dergleichen Überanstrengungen die Krankheit deines Vaters mitverursacht haben. Und wie oft hab ich ihn gewarnt! »Warum eigentlich tust du solche Sachen! Eh du dich versiehst, hast du 'ne Sehnenzerrung weg, oder du hast dir 'nen Bruch gehoben. Laß das doch die Nigger schaffen, dafür bezahlst du sie ja!« Aber davon wollte er nichts wissen. »Wie könnte ich denn das?« sagte er. »Wenn ich mich auf diese Nigger verließe, dann wär ich verlassen.« Und so, sagte ich zu Doktor Eliot, mit solcher Arbeit hätte dein Vater sein Leiden beschleunigt, und der Doktor pflichtete mir bei und sagte: »Ja, das mag wohl sein, ja, ganz bestimmt.«... Aber um auf diesen Plan, gegen China mitzukämpfen, zurückzukommen, also: »Du gehst nicht mit!« sagte ich da zu deinem Vater. »Du hast Rücksichten auf Frau und Kind zu nehmen, und so kannst du nicht gehn.« Ich setzte meinen Willen durch, weißt du, und er sah es ja auch ein und gab nach und sagte sogar, ich hätte recht – aber oh! Kind! Kind! Du kannst dir nicht vorstellen, wie das bei ihm war! – Kalifornien, China, überallhin! – wenn ich ihn fortgelassen hätte, wär er hingegangen! So ein sonderbarer Mann.

Wahrhaftig, einen Menschen mit so einem Wandertrieb im Leib hab ich mein Lebtag nicht gesehn, beschwören will ich's, er war wie ein Stein im Geröll und wär ein Wandrer gewesen, weiter nichts, und wär nach Kalifornien, China und überallhin gegangen, einfach, weil er keine Ruhe in sich hatte, und hätte überhaupt nie Eigentum erworben, wenn ich ihn nicht geheiratet hätt. Eines Tags schrieb ihm Truman aus Kalifornien ... dieser Professor Truman war der Schwiegervater jener beiden Mörder Ed Mears und Lawrence Wayne, von denen ich dir gleich erzählen werde im Zusammenhang mit den warnenden Stimmen »Zwei ... Zwei« und »Zwanzig ... Zwanzig«, die ich an jenem Abend hörte; die beiden hatten Schwestern, Töchter Trumans, geheiratet, ja, so war's ... er aber war ein Gelehrter und ein Gentleman und, du kannst versichert sein, von einem Mörder hatte er nichts, weißt du, er war zu vornehm, viel zu vornehm und ehrenhaft dazu, und man sah's ihm auch an, immer in Lackschuhen und Anzügen aus feinstem schwarzem Tuch ... er also war's, der deinem Vater schrieb, er solle nach Kalifornien kommen. »Der Herrgott hat mit Verschwenderhänden seine Gnadengaben über dies Land ausgeschüttet«, schrieb er, oh, dieser gepflegte Gentleman, in seinem schönen Englisch mit den herrlichen Redeblumen! »Kommen Sie«, schrieb er, »dies ist das Wunderland der Natur; der Fülle und des Reichtums ist hier mehr, als sich's der Geiz selber träumen läßt, und die Schätze liegen noch unerschlossen. Wenn Sie jetzt kommen, werden Sie in fünfzehn Jahren ein reicher Mann sein.« So redete er ihm brieflich zu, nach Kalifornien zu kommen, und schrieb: »Verkaufen Sie aus! Machen Sie alles, was Sie haben, zu Geld, und kommen Sie hierher!« »Hm!« machte ich, als mir's dein Vater erzählte, und sagte, »ihm scheint aber furchtbar viel dranzuliegen, daß du dorthin ziehst, nicht wahr?« »Ja«, sagte dein Vater, »das ist Neuland, und bei Gott! ich zieh hin!« Und dann, plötzlich, ziemlich betreten, sagte er, zu mir: »Was hast du eigentlich?«

Ich sagte es ihm nicht, sah ihn einfach an, verlor kein Wort darüber, und dann sagte ich bloß: »Er sagt, du solltest hinziehen. Und was sagt er von deiner Frau und deinen Kindern? Was soll aus denen werden?« Und da sagte dein Papa: »Ei, das läßt sich doch machen. Er schreibt mir ja, ich solle euch mitbringen, er sagt wörtlich: ›Verkaufen Sie sofort und bringen Sie Eliza und die Kinder mit‹, so drückt er sich aus.« »Das dacht ich mir schon, genau das!« sagte ich darauf, und »Was hast du denn eigentlich?« fragte dein Papa dann wieder, aber ich sah ihn bloß an und sagte es ihm nicht.

Ich hätt's ihm ja sagen können, aber ich wollte nicht, daß er sich deswegen Gedanken machen sollte. Ei Kind! Gesagt hab ich's ihm nicht, aber ich wußte es, ich wußte es! Ich will dir erzählen, was dieser Mann bei seinem Abschiedsbesuch zu mir sagte, Junge. »Ich kam, um Ihnen Lebewohl zu sagen«, sagte er, und da war allerhand auf seinem Gesicht zu lesen, ganz gewiß. »Es tut uns leid, Sie von hier wegziehn zu sehen«, sagte ich, »Sie werden uns fehlen.« »Ja«, sagte er und blickte mir stracks ins Auge – oh, dieser Blick! Na, du weißt schon! – »Und Sie, Sie werden mir fehlen«, sagte er. Er blickte mir stracks ins Auge, weißt du, und legte diesen Nachdruck auf das ›Sie‹. Nun ja, da wollte ich eben ablenken und sagte: »Meinem Mann sowohl wie mir, Sie werden uns beiden fehlen.« Und dann wollte ich ihn ein bißchen aufheitern, sagte: »Also hören Sie mal«, ich meinte das spaßhaft, »ich hoff, Sie werden uns wirklich nicht vergessen, wenn Sie in Kalifornien sind, ich hoff, Sie schreiben uns mal. Wenn es dort wirklich so wundervoll ist, wie behauptet wird, und man das Gold einfach auf der Straße auflesen kann, dann möcht ich wirklich Bescheid kriegen, ei ja, wenn dem wirklich so ist, dann möchte ich auch dort wohnen, wir würden dann unsre Sachen packen und ebenfalls hinziehen, wirklich, mir wär's lieb, wenn Sie uns das schreiben könnten, denn dann gefiele mir's dort gewiß.« Und dann, Kind, viele Jahre später, als dein Vater seine Reise nach Kalifornien machte, dieses törichte, vollkommen sinnlose Unternehmen, mein Junge, diese Geldvergeudung, da war meine erste Frage bei seiner Heimkehr: »Nun, hast du den Professor Truman aufgesucht?« »Ja«, sagte er drauf, und auf seinen Mienen war allerhand zu lesen, »aufgesucht hab ich ihn.« »Und wie geht's ihm?« fragte ich da, denn natürlich, ich wollte etwas herausfinden. »Was macht er?« »Na ja, was wird er schon machen?« sagte dein Papa und auf seinem Gesicht war allerhand zu lesen, »weißt du, er hat nichts getan als geredet, die ganze Zeit, die ich mit ihm zusammen war, hat er geschwätzt, ei wahrhaftig, ich glaub, der verdammte alte Herr war in dich verliebt, Herrgott, das glaub ich.« Nun wohl, da hab ich stillgeschwiegen, ich wollte nicht, daß er sich Gedanken drüber machen sollte, Kind, aber ich hatte es ja damals in Trumans Augen gelesen, ich wußte Bescheid, ich wußte Bescheid.

Beschwören will ich's, ich hab nie einen Menschen gesehn, der so eine Wanderlust im Leibe hatte wie dein Vater. Und doch, vielleicht hatte Amanda Stevens recht mit dem, was sie von den Männern sagte. Das ist so eine Geschichte von damals, weißt du, als alle ihre Söhne in den Bürgerkrieg zogen. Sie hatte acht, und alle acht gingen in den Krieg. Und freilich, mein Lieber, da kamen die Leutchen zu ihr ins Haus und beglückwünschten sie dazu, daß sie alle ihre Söhne ins Feld geschickt hätte, und sagten ihr, wie stolz sie drauf sein könne. »Ins Feld geschickt!« sagte da Amanda. »Ich hab keinen von ihnen ins Feld geschickt. Sie sind samt und sonders heimlich hier um Mitternacht ausgekniffen, ohne mir ein Wort davon zu sagen. Wenn ich könnte, würde ich sie, jeden einzeln, zurückholen ... hierher, wo sie hingehören, damit sie hier auf der Farm ihre Schuldigkeit tun.« »Aber sind Sie denn gar nicht stolz auf Ihre Söhne?« fragten die Leutchen. »Stolz? Ei du guter Gott!« sagte da Amanda, du weißt ja, sie hatte eine furchtbar grobschlächtige Art zu reden, »worauf soll ich denn stolz sein? Sie sind sich alle gleich. Ich hab noch keinen Mann gesehn, der's an einem Platz fünf Minuten aushalten konnte, ohne daß ihn die Lust ankam, wegzulaufen. Ach!« sagte sie, »sie benehmen sich einfach alle, als hätten sie Terpentin im Hintern.« Nun freilich, sie war erbittert darüber, daß die Söhne alle, ohne ein Wort zu sagen, ausgekniffen waren, so daß sie die ganze Arbeit auf der Farm allein tun mußte.

Ich will dir was sagen, Amanda Stevens war tatsächlich eine ausgezeichnete Frau, sie wurde siebenundachtzig und war gesund und rüstig an Körper und Geist bis zur letzten Stunde. Ja, sie ging sogar noch überall hin, mitten im Winter, um auszuhelfen, wenn jemand krank war. Und natürlich wurden Geschichten von ihr erzählt, hui, hui, ich entsinn mich noch, daß ich dazu bemerkte: »Aber nein, das hat sie doch sicher nicht gesagt, das muß ein Irrtum sein!« und damals sagte ich das auch und dazu: »Ei, das geht über die Hutschnur! So kann sie doch nicht zu ihrer eignen Tochter gesprochen haben!« Das war, als ihre Tochter Clarissa den John Burgin geheiratet hatte, denselben John Burgin, von dem ich die ganze Zeit schon erzähle, Sohn. Er ist ein entfernter Vetter von dir, mütterlicherseits, und Ed Mears hatte ihn erschossen, und deswegen sagte ich zu deinem Papa an jenem Tag, als er heimkam und mir von Melvin Porters Besuch in der Werkstatt erzählte: »Sollen sie hängen, diese Mörder! Sie haben kalten Bluts den John Burgin umgebracht, einen guten, aufrechten Mann, der eine Frau und kleine Kinder hat und nie einem Menschen was zuleide tat«, so sagte ich und behauptete: »Das ist einfach böswilliger, kaltblütiger Mord, und gehenkt werden ist noch zu gut für die Täter.« Also, John Burgin hatte Clarissa Stevens geheiratet, und ihr erstes Kind kam sieben Monate nach der Hochzeit. Nun wohl, es war ja in Ordnung, freilich, niemand sagte dem Mädchen was nach, die Leute kamen gar nicht auf den Gedanken, sie könnte vor der Ehe etwas Unrechtes getan haben, aber sie selber schrie und heulte, als hätte sie den Verstand verloren.

»Nun wohl«, sagte der Arzt, »dem Säugling fehlt nichts, mit dem Säugling ist alles in Ordnung, aber wenn nicht bald jemand kommt und es fertigbringt, daß die Wöchnerin zu schreien aufhört, dann wird das Kind hier bald keine Mutter mehr haben.«

»Werd ich schon fertigbringen«, sagte Amanda, »oder wenigstens wissen, warum sie so tobt«, und so ging sie sofort hinein ins Schlafzimmer und setzte sich ans Bett neben ihre Tochter. »Jetzt hör mich mal an«, sagte sie, »ich denk nicht dran, diese Albernheiten von dir länger mitanzusehn.« »Ach«, sagte die Tochter, »ich sterbe vor Scham, ich werd nie wieder den Kopf hochtragen können«, und fing wieder an zu flennen und zu plärren, nun, du wirst dir's schon vorstellen können. »Ei, was ist denn los?« fragte Amanda. »Was hast du denn getan, daß du dich so aufregst?« »Ach«, sagte die Tochter, »ich hab nichts getan, aber mein Kind ist vor der Zeit zur Welt gekommen!« »Herrgott! Ist das alles?« sagte die alte Frau, ganz grob heraus, weißt du, »ich dächte, du hättest mehr Verstand, als dich über so eine Sache aufzuregen.« »Ach«, sagte die Tochter, »nun werden sie mir nachreden, daß ich mich vor der Ehe vergangen hätte.« »Ei Herrgott! Dann laß sie's doch sagen!« sagte Amanda. »Was geht das dich an! Dann sag ihnen, dein Arsch gehöre dir, und du könntest mit ihm tun, was dir paßt!« Das ist wörtlich, was sie sagte, weißt du, und natürlich wurde es weitererzählt. Als ich die Geschichte deinem Papa erzählte, sagte er: »Guter Gott, du weißt, daß sie so was nicht gesagt hat!« Aber so wurde erzählt.

 

Also – ich sagte zu ihm: »Du gehst nicht!« Ich bestand darauf, weißt du, und als er sah, daß es mein Ernst war, mußte er natürlich nachgeben, aber wie ich dir erzählte, diesen Wandertrieb hatte er stets in sich, immer zog es ihn irgendwohin, nach Kalifornien, nach China – ja, und was ich dir von seiner Abneigung gegen die Chinesen erzählte, damit ging's ihm genau wie mit der Unruhe im Wesen, solang er lebte, verwand er sie nicht. Viele Jahre später war es – ei, erinnerst du dich nicht dran? Du warst doch dabei! Nein, doch nicht! Du warst damals auf der Universität ... – also, es war im letzten Kriegsjahr, und wir brachten ihn nach Baltimore ins Hospital, Lukas war dabei, ja, und Ben war dabei ... – ich will dir was sagen, ich hab oft dran denken müssen, der arme Ben! Wir waren alle drauf gefaßt, daß dein Vater jeden Tag sterben könne, und dabei hatte er noch volle fünf Jahre zu leben, und Ben war es, Ben, der sterben mußte. Wir dachten im Traum nicht daran, daß Ben sterben müsse, daß er, ein Jahr später schon, tot und begraben sein würde. Und unvorstellbar ist, wie sich dein Papa dann benahm, krank und ausgezehrt wie er war von diesem furchtbaren Krebs – mein Gott, wie er nur dazu imstande war, ein dahinsiechender Mann, aufgefressen von diesem verderbten Wuchergewächs, dessen Wurzeln ihm überall durchs Gewebe reichten!

Der Doktor Wade Eliot sagte zu mir: »Ich kann mir nicht erklären, was Ihren Mann aufrechterhält, Mrs. Gant. Ich rechnete nicht damit, ihn wiederzusehn, als er das letztemal das Hospital verließ«, erklärte er mir und sagte: »Er ist ein außerordentlicher Fall, in meiner ganzen Praxis ist mir so keiner vorgekommen.« »Nun, Herr Doktor«, sagte ich drauf, »Ihre Meinung hat Gewicht, ein großer Chirurg wie sie, der Tausende von Menschen operiert hat, muß wohl die Zeichen und Symptome kennen.« Nun, du verstehst schon, worauf ich hinauswollte, ich wollte ihn ausfragen, wollte ihn dahin kriegen, daß er mir seine Theorie zum besten gab. »Sie haben doch sicher irgendeine bestimmte Vorstellung von seinem Fall, Herr Doktor, und wenn dem so ist, dann möchte ich sie wissen. Seine nächsten Angehörigen haben schließlich ein Recht, zu wissen, wie es um ihn steht«, sagte ich, »und ich bin aufs Schlimmste gefaßt. Wie lange also«, fragte ich, »hat Mister Gant noch zu leben?« Und dazu sah ich dem Arzt fest ins Auge.

Ei, ich sag dir, mein Lieber, der Mann warf seinen Kopf zurück und lachte. »Wie lange er noch zu leben hat!« rief er aus. »Ei, vermutlich so lang, bis wir beide längst im Grabe liegen!« Und laß dir sagen, mein Junge, was ihn anbetrifft, so hat sich Wade Eliot damals gar nicht so sehr geirrt. Da stand er also, ein Mann in den besten Jahren, sah prächtig aus, kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, daß er bald nicht mehr unter den Lebenden weilen würde, und berühmt war er auch ... war er doch der Arzt, der zu Woodrow Wilson ans Krankenbett geholt wurde ... man erzählte sich, daß er Tausenden das Leben gerettet habe ... und dann, als sein Stündlein geschlagen hatte, da konnte er sich selbst nicht helfen und starb! Alles ward getan, um ihn zu retten, sämtliche Hilfsmittel der medizinischen Wissenschaft, wie man so sagt, wurden aufgeboten, aber – es nützte nichts, der Doktor Wade Eliot lag tot in seinem Grabe, zwei Jahre, nachdem dein Vater starb. Ich erinnere mich, daß ich zu Dr. McGuire sagte, als ich die Nachricht in der Zeitung las: »Da sieht man wieder einmal, daß einem nichts helfen kann, wenn das letzte Stündlein geschlagen hat. Ich weiß nicht, wie ich's nennen soll«, sagte ich, »aber so sicher wie ich geboren bin, da hat eine höhere Macht die Hand im Spiel, und auf ihren Befehl müssen wir abtreten, den Ärzten und allem zum Trotz.« »Ja, da haben Sie ganz recht«, sagte McGuire drauf zu mir, »es gibt da etwas, von dem wir nichts wissen«, und dabei war es so, daß er selber auch nur noch ein Jahr zu leben hatte, denn du weißt ja, er soff sich tot aus Kummer über diese Frau, die sich so gegen ihn benommen hatte. Der Nigger im Hospital daheim erzählte deinem Bruder Lukas, daß McGuire dort spät in der Nacht hinkam und oft so betrunken war, daß er auf allen vieren treppauf krabbeln mußte wie ein großer alter Bär, und wenn er dann in der Frühe gleich zu operieren hatte, mußte ihn der Nigger in ein kaltes Bad setzen, in dem große Eisbrocken herumschwammen, und der Nigger sagte, das hätte er gar manches Mal gemacht und ihn dann zu Bett gebracht.

»Ich sag Ihnen offen, Mrs. Gant«, sagte Dr. Eliot zu mir, »daß ich mit dem besten Willen nicht behaupten kann, ich verstünde diesen Fall. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Ihren Gatten am Leben erhält, aber er lebt, und ich möchte keine weiteren Prophezeiungen machen. Es ist nicht ein Mann, sondern vier, und heute noch hat er mehr Lebenskraft in sich, als wir beiden zusammen.« Und das freilich stimmte. Bis zu seinem Ende konnte dein Papa Mahlzeiten essen, wie sie die meisten Leute nicht vertragen können, Mahlzeiten, wie sie einen gewöhnlichen Menschen ins Grab bringen, ei, so zum Beispiel zwei Dutzend frische Austern, ein ganzes Backhuhn, einen gedeckten Apfelkuchen und zwei oder drei Kannen Kaffee dazu, ei! So viel hab ich ihn wieder und wieder essen sehn! Und alle möglichen Gemüse dazu, Maiskolben, Süßkartoffeln, grüne Bohnen und Spinat und dergleichen. Also, Dr. Eliot sprach sich da ganz offen aus, er gab einfach zu, daß er keine Voraussagungen machen könnte. »Aber hören Sie mal«, sagte er zu mir, »ich wünsche, daß Sie auf ihn achtgeben, ehe er hier in die Klinik reinkommt. Ich möchte gleich an ihm operieren, und dazu muß er imstande sein.« »Schön«, sagte ich, »er wird dazu imstande sein, glaub ich. Er hat mir versprochen, daß er sich hält, und außerdem passen wir gut auf ihn auf. Nun sagen Sie mir, Herr Doktor, was darf er denn essen? Soll er Diät halten? Darf er Austern haben?« fragte ich. Nun, da lachte Wade Eliot, weißt du, und sagte: »Hören Sie, Austern ist 'ne ziemlich seltsame Diät für 'nen Schwerkranken.« »Das schon«, sagte ich, »aber er hat sich so sehr drauf gefreut. Er hat Austern immer gern gegessen, und erinnert sich stets dran, wie er hier in Baltimore in seiner Jugend die offnen Austern dutzendweis aus der Schale aß, und nun hat er sich so sehr drauf gefreut, und mir wär's schrecklich, wenn ich ihn hierin enttäuschen müßte.« »Ach, das ist schon recht«, sagte Wade Eliot und lachte, »lassen Sie ihn Austern essen. Umzubringen ist der Mann ja überhaupt nicht. Aber hören Sie mal, was mir Gedanken macht, ist nicht so sehr sein Essen wie sein Trinken. Passen Sie auf, daß er nüchtern bleibt. Ich möchte nicht, daß er erst über einen Rausch weggebracht werden muß, wenn er hierher ins Krankenhaus kommt. Also: jagen Sie ihm Gottesfurcht ein, Mrs. Gant, ich weiß, Sie bringen das fertig. Sagen Sie ihm, daß er die Operation nicht übersteht, wenn er sich vorher noch mal besäuft. Sagen Sie, das hätte ich gesagt.«

Schon gut, ich sagte ihm, was Wade Eliot gesagt hatte. »Austern sind dir erlaubt«, sagte ich, »der Doktor sagte, das wäre recht und richtig, aber er besteht drauf, daß du keinen Tropfen trinkst, denn sonst würde man dich wohl in der langen Truhe heimschicken müssen.« »Ei Herrgott!« sagte dein Papa drauf, »du weißt doch, Frau, daß ich so was in meinem Zustand von selber nicht tu. Wenn mir einer 'nen Whisky anböte, ich würde das Glas glatt zum Fenster rausschütten. Schon beim Anblick von dem Zeug wird mir übel, der Magen dreht sich mir rum.« Also, er versprach mir, nichts zu trinken, freilich, und ich nehme an, wir alle glaubten es ihm.

Na, es dauerte keine vierundzwanzig Stunden, da ging er aus und soff herum und kehrte gegen zwei Uhr morgens stinkbesoffen zurück und brüllte, und, ich will dir was sagen, Mrs. Barrett, die jenes Boarding House grad gegenüber dem Hospital hatte, tat mir aufrichtig leid, ei, so eine gute Frau, sehr religiös, weißt du, ging immer in die Kirche, und all das. Also da stand sie da, mußte sich ihren Lebensunterhalt verdienen, hatte auch noch eine erwachsne Tochter zu ernähren, deren Mann mit 'ner andern Frau durchgebrannt war – und da kommt also dieser Mensch, dein Papa, mitten in der Nacht rein und heult und brüllt und behauptet, das wär 'n Hurenhaus, und jetzt wäre er da, und die Weiber sollten sich mal sehn lassen. Wie du dir vorstellen kannst, mit seinem Radau weckte er das ganze Haus auf. Die Leute standen auf, um zu sehen, was los wäre, und Mrs. Barrett kam und klopfte an meine Tür, und da stand sie zitternd im Nachthemd und rang die Hände: »O Mrs. Gant«, sagte sie, »Sie müssen Ihren Mann zum Schweigen bringen, oder es ist mein Ruin! Sehen Sie, daß Sie ihn wegbringen«, sagte sie, »in meinem Hause ist mir nie so was vorgekommen, und wenn es sich herumspricht, ist der Ruf meines Hauses verloren.« Und ihre Kinder, weißt du, sie hatte noch zwei kleine Buben, die hatte sie rauf auf den Speicher geschickt, und dort hockten sie im Dachstuhl wie Affen, und überall auf den Gängen standen die Hausgäste und tuschelten, und dein Bruder Ben schämte sich so entsetzlich und war so erbittert, weil sich dein Papa so benahm, daß er sagte: »Bei Gott, es geschah ihm recht, wenn er stürbe. Nachdem er sich so aufgeführt hat, wär mir's schnurz.«

Nun wohl, ich erwischte die Flasche, sie war noch ein Drittel voll, dein Vater hatte sie in einer seiner Taschen stecken, und es dauerte nicht lang, da bettelte er mich an um einen Trunk. »Nix da!« sagte ich. »Keinen Tropfen mehr! Jetzt hörst du auf mich! Du bist ein schwerkranker Mann, und wenn du es so weitertreibst, dann kommst du nicht mehr lebendig heim nach Altamont!« Das sagte ich, und da sagte er drauf, das war ihm ganz gleich. »Mir wär's lieber, es wär jetzt rum, ich möcht diese Schmerzen und Todesqualen nicht noch länger ausstehn«, sagte er. Und er tobte und wollte was zu trinken haben, aber wir gaben ihm nichts; ich nahm die Flasche und leerte sie in den Ausguß, so daß das überhaupt nicht mehr in Frage kommen konnte, ja, und dann endlich schlief er ein. Ich nahm seine Kleider und schloß sie in meinen Koffer ein, so daß er nicht noch mal ausbrechen konnte.

Dann ließen wir ihn schlafen, und er schlief seinen Rausch aus. Am nächsten Morgen um zehn wachte er auf und war scheinbar wieder in Ordnung, Frühstück wollte er keins, er sagte, dann würde ihm übel werden, aber ich kriegte ihn so weit, daß er wenigstens einen guten heißen Kaffee trank, den ihm Mrs. Barrett brachte. Sie war wirklich eine gütige, gutherzige Christin, und dein Papa sagte ihr, es täte ihm leid, daß er sich so benommen hätte. Wir redeten ihm dann zu, er solle aufstehn und mit uns ausgehn, wir hatten alle noch nicht gefrühstückt und wollten in einen Lunchroom ein bißchen weiter unten an der Straße essen gehn. »Nein«, sagte er, »ich mag nicht aufstehn, mir ist's nicht gut. Geht alleine. Mir ist's lieber, ihr geht und eßt was«, sagte er.

Nun, es war so, daß er nichts mehr zu trinken hatte, denn ich hatte die Flasche ausgegossen, und weggehn konnte er auch nicht, weil ich seine Kleider weggeschlossen hatte, und so dachte ich, es ist alles in Ordnung, wir können ihn eine Weile sich selbst überlassen. Wir gingen also aus und aßen, und als wir nach einer Stunde wiederkamen, ei, da hatte er wieder getrunken. Er lag auf seinem Bett, war ein bißchen wirr im Kopf und sang so ein Liedchen vor sich hin. »Aber Mama«, sagte Ben, »du hast uns doch gesagt, du hättest ihm die Flasche abgenommen und das Zeug weggegossen.« »Ei, das hab ich auch getan«, sagte ich. »Na, da muß er eben noch 'ne Flasche gehabt haben, die dir entgangen ist«, sagte Ben, »denn das ist sicher, er hat sich tüchtig die Gurgel geschwenkt, seit wir weggingen.« »Was es auch war«, sagte ich, »hier in seinem Zimmer war der Stoff nicht, als wir weggingen. Ich hab alles von oben bis unten genauestens abgesucht, wie mit dem feinzinkigen Kamm durchgekämmt, und du kannst deinen letzten Dollar drauf wetten, daß kein Whisky und nichts dergleichen in seinem Zimmer war.« »Schon gut«, sagte Ben, »irgendwie muß das Zeug reingesickert sein, und ich möchte ausfindig machen, wer es ihm gebracht hat. Laß uns Mrs. Barrett fragen, ob er in der Zwischenzeit Besuch gehabt hat.« »Ei ja«, sagte ich, »danach müssen wir uns erkundigen.«

So gingen wir drei hinunter ins Erdgeschoß, um Mrs. Barrett zu fragen, ob jemand deinen Papa besucht habe. »Nein«, sagte sie, »seit Sie weggingen, hat niemand den Fuß in dies Haus gesetzt. Gerade auf so was war ich nämlich gefaßt und habe deswegen aufgepaßt, und wenn irgend jemand reingekommen wäre, hätte ich's bestimmt bemerkt.« »Nun, nun«, sagte ich, »das ist aber wirklich recht sonderbar. Dieser Sache muß ich unbedingt auf den Grund gehen. Ihr Jungen kommt mal mit!« sagte ich zu Ben und Lukas, »wir werden dieses Rätsels Lösung finden und herausbringen, was los war.«

Wir gingen wieder hinauf ins Obergeschoß, und als wir in sein Zimmer kamen, da hatte dein Vater schon wieder was zu trinken gehabt, weißt du – man konnte es ihm sofort ansehen, konnte es ihm auf den Kopf zusagen, denn er war besoffen wie ein großer Herr. Ich ging stracks auf ihn zu und sagte: »Hör mal, du hast irgendwoher Whisky gekriegt, und nun sagst du mir auf der Stelle, wer ihn dir gegeben hat!« »Ich? Wer? Ich? I wo!« sagte er mit ganz betrunkener Stimme. »Ei, Baby, du kennst mich doch, du weißt doch, ich rühr keinen Tropfen an!« Und dazu wollte er mich umarmen und küssen und all das, na, du weißt schon. Gut, wir guckten also noch mal nach, Ben, Lukas und ich, wir stöberten das Zimmer von oben bis unten durch, aber einen Sinn hatte es nicht; es war kein Whisky da, denn sonst hätten wir ihn bestimmt gefunden.

Na, ich überlegte mir die Sache, und plötzlich wie der Blitz kam mir eine Eingebung, und warum ich nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen war, weiß ich nicht. »Kommt, ihr Kinder«, sagte ich zu den Buben und blinzelte ihnen zu, »kommt mit. Wir gehn hinunter in die Stadt, um die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen!« Und zu deinem Papa sagte ich: »Wir kommen in 'ner Stunde wieder. Dann mußt du fertig sein, denn um drei Uhr wirst du ins Hospital aufgenommen.«

Nun ja, das paßte ihm, genau das wollte er. »Ja, geht nur!« sagte er, denn natürlich wollte er allein sein, um weitertrinken zu können. Wir ließen ihn also allein, wir gingen den Korridor entlang in mein Zimmer, ich ließ Ben und Lukas miteintreten und zog leis die Tür hinter uns zu. »Aber Mama!« sagte Lukas, »wovon redest du denn? Wir können doch nicht hinunter in die Stadt gehn und ihn hier allein lassen, während er trinkt. Irgendwoher muß er das Zeug kriegen, und ich werde aufpassen, daß er weiter nichts kriegt, und wenn ich mich zu ihm ins Zimmer setzen und ihn bewachen muß!« »Nein«, sagte ich, »warte!« Und er fragte: »Ei, wie soll ich denn das verstehn?« Und ich sagte: »Ei, siehst du's denn nicht ein?«, und ich war wütend auf mich selbst, weil mir nicht gleich eingefallen war, daß dieser elende alte Nichtsnutzer Gus Tolly aus Seneca in Süd-Carolina, der manchmal zu uns nach Altamont ins Haus kam, das Zimmer neben dem Zimmer deines Vaters hatte. Er hatte dasselbe Leiden wie dein Vater, und auch er wartete, daß er drüben im John Hopkins Institute aufgenommen werden könne, und diese beiden also hatten, so tüchtig, wie sie's nur konnten, sich die Gurgel geschwenkt. »Es ist dieser alte Lump Gus Tolly«, sagte ich zu Lukas, »der hat deinem Papa den Whisky gegeben.« »Gott verdamm ihn!« sagte Lukas, »dem Kerl werd ich den Hals rumdrehn!« und wollte zur Tür hinaus. »Nein, bleib hier!« sagte ich. »Warte noch eine Minute! Ich werde ihm dann das Nötige sagen.«

Also, wir warteten. Und sicher! Es dauerte keine fünf Minuten, da ging die Tür am Zimmer deines Vaters ganz sachte auf, und er kam herausgeschlichen, und dann hörten wir, wie er an Gus Tollys Tür klopfte. Wir hörten sogar, wie Gus Tolly fragte: »Na, sind sie fort?« Wir warteten noch ein Augenblickchen, dann rückten wir an. Ich ging stracks hin und klopfte an Gus Tollys Tür. »Wer ist draußen?« »Machen Sie die Tür auf, da werden Sie's schon sehn.« Na, er machte die Tür auf, und ich kann dir sagen, er zog ein schönes Schafsgesicht. »Ei, Mrs. Gant, Sie sind's?« sagte er. »Ich dachte, Sie wären alle in die Stadt gegangen.« »Na«, sagte ich, »also dieses eine Mal haben Sie sich nasführen lassen.« »Mr. Gant ist hier drin bei mir«, sagte er. Er hatte 'ne Stimme, als hätte er Brei im Maul, und da stand er am Türspalt und steckte seine alte rote Nase heraus, die wie 'ne Salzgurke war, ganz mit Warzen bedeckt. »Wir haben uns grad ein bißchen unterhalten«, sagte er. »Ja«, sagte ich, »und mir sieht's aus, als hätten Sie noch was getan. Wenn das bloß Unterhaltung gewesen war, dann muß ich's aber eine starke Unterhaltung nennen, nachdem sie sich den Leuten so auf den Atem schlägt und das Zimmer so mit Geruch anfüllt, daß man sich nicht in die Nähe traut.« Na, du weißt schon, was ich meine, nämlich diesen alten, üblen Geruch von Roggenwhisky ... der lag da so dick wie ein Nebel, du hättest die Luft mit dem Messer schneiden können. »Ich hab mich doch selber mein Lebtag unterhalten«, sagte ich, »aber solche Wirkungen hab ich nie an mir verspürt.« »Ei, ich seh's ja schon«, sagte da der Lukas, »Sie habe ja eine ganze Flasche voll von dieser Unterhaltung drinnen auf dem Tisch stehn.«

Also, wir marschieren rein in die gute Stube, und da saß er, dein Papa, am Tisch und goß sich grad aus 'ner Literflasche was zu trinken ein. Na, wenn Blicke töten könnten, dann wären wir drei auf der Stelle tot gewesen, denn er schoß uns die schwärzesten, bittersten Blicke zu, die du dir nur vorstellen kannst. Und dann fing er an zu fluchen und toben. Natürlich, ich nahm ihm das Zeug und die Flasche ab, und da verlegte er sich aufs Bitten und Betteln, und wollte nur noch einen einzigen Schluck haben. »Nix da!« sagte ich, »du gehst jetzt rüber ins Hospital, und was mehr ist, du gehst sofort. Wir werden keine Minute länger warten.« Das war natürlich die einzig mögliche Art, ihn zu behandeln, ich hatte ihn oft genug in diesem Zustand erlebt und wußte, wenn wir ihn nicht gleich rüber in die Klinik brächten, dann wäre er imstand, einen unterirdischen Gang zu graben, bloß um noch mehr Whisky zu kriegen. »Jawoll«, sagte der Lukas, »jetzt mußt, du mitgehn, und wenn ich dich rüberschleppen muß! Und der Ben wird dabei helfen.« »Nein«, sagte da der Ben, »verdammt will ich sein, wenn ich dabei helfe! Ich möcht nichts mehr mit ihm zu tun haben, meinetwegen kann er tun, was ihm beliebt.« »Wenn wir ihn hierlassen«, sagte der Lukas drauf zu Ben, »dann säuft er sich tot.« »Soll er sich totsaufen«, sagte der Ben, »mir ist's verdammt schnurz. Laß ihn doch, wenn er's gern möchte. Vielleicht fänden wir übrigen dann ein bißchen Frieden, wenn er's täte. Er hat immer nach seinem Willen gelebt«, sagte Ben, »er hat immer nur an sich selbst gedacht, und mir ist's gleich, was aus ihm wird. Ich hatte mich auf diese Reise gefreut, hatte geglaubt, wir andern könnten uns bei dieser Gelegenheit mal ein bißchen unsres Lebens freuen, und er ist hingegangen und hat uns alle vor den Leuten entehrt und uns den Spaß verdorben. Ihr könnt euch um ihn bekümmern, wenn's euch beliebt, aber ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.« Nun, zu verstehen ist es ja von Ben, er war erbittert, er hatte sich auf die Reise gefreut, hatte sein Geld dafür gespart, hatte sich 'nen netten neuen Anzug angeschafft, und dann, stell dir vor, benahm sich dein Papa so. Freilich, wir alle drei waren bitter enttäuscht. Wir hatten es uns so gedacht, daß wir ihn im Hospital einliefern würden und dann ein bißchen Zeit für uns selber hätten in Baltimore – aber nein, da wurde nichts draus, dein Vater führte sich so auf, daß man ein ganzes Regiment Soldaten gebraucht hätte, um auf ihn achtzugeben.

 

Schon gut, er wollte nicht mit, natürlich nicht, aber er sah ein, daß es uns ernst war und ihm nichts anderes übrigblieb, und so brachte ihn Lukas rüber auf sein Zimmer, und ich schloß meinen Koffer auf und gab seine Kleider heraus, und wir zogen ihn an. Und dann packte ich die paar Sachen zusammen, die er drüben im Hospital brauchen würde, Nachthemden, Bademantel, Pantoffeln und so weiter, und da wurde ich gewahr, daß er kein frisches Hemd mehr hatte. Selbst das Hemd, das wir ihm grad angezogen hatten, war so schmutzig, daß ich mich schämte, ihn so gehen zu lassen, und außerdem wußte ich, drüben im Hospital würde er frische Hemden brauchen, sobald er wieder aufstehn durfte nach der Operation. »Ei, wo in aller Welt sind denn deine Hemden?« fragte ich ihn. »Was hast du denn mit ihnen angefangen? Ich hab dir sechs frische Hemden eingepackt. Du kannst sie doch nicht verloren haben. Wo sie nur sind?« fragte ich. »Oh, sie haben sie, sie haben sie!« begann er drauf in diesem jämmerlichen Ton und fing an zu toben und sich aufzuführen. »Laß sie sie haben. Diese Höllenteufel haben mich ausgepowert und auf den Ruin gebracht, sie haben mein Herzblut getrunken, und nun können sie auch den Rest noch haben.« »Wovon redest du denn da?« fragte ich. »Was meinst du denn?« »Ei Mama«, sagte Lukas, »er meint die Chinesen aus der Wäscherei. Seine Hemden sind dort, ich hab sie selbst hingegeben, aber das war schon vor 'ner Woche, und ich dachte, er hätte sie längst wiedergekriegt.« »Schon gut«, sagte ich, »da gehn wir also hin und holen die Hemden jetzt ab. In dem Hemd, das er jetzt anhat, kann er nicht rüber ins Hospital zur Aufnahme gehn, oder wir müßten uns schämen.«

Nun freilich, das paßte ihm gerade. Er sagte: »Ja, geht nur«, und versicherte, er wäre fix und fertig, wenn wir zurückkämen ... aber natürlich wollte er uns bloß los sein, um noch weiterzutrinken. Aber ich sagte: »Nix da! Wenn wir dies Haus verlassen, kommst du mit.«

So gingen wir denn weg, er voran mit Lukas, und hinterher kamen Ben und ich. Nun freilich, Ben war so ein stolzer Mensch, er weigerte sich, deinem Papa zu helfen. »Ich werde seinen Handkoffer tragen und mit Mama hinterdrein gehn«, sagte er, »aber an seiner Seite laß ich mich nicht sehn.« »Was hast du denn?« sagte der Lukas da, »er ist dein Vater so gut wie meiner, und du schämst dich doch nicht seiner, nicht wahr?« »Ja, bei Gott, das tu ich!« sagte der Ben, wortwörtlich so sagte er es, »und ich will nicht, daß die Leute denken, daß ich ihn kenne. An mir also wirst du keinen Beistand haben, sein verdammter Krankenpfleger bin ich nicht. Ich hab mein möglichstes getan.«

Somit gingen wir also die Straße bergab, einen oder zwei Häuserblöcke unterhalb des Hospitals in jene Wäscherei, die dort in einem alten Backsteinhaus an der Ecke war, und als wir eintraten, konnten wir sie freilich sehn, diese zwei Chinesen, meine ich. Sie standen da an den Bügelbrettern und plätteten aus Leibeskräften. »Na, das ist ja wohl der Laden«, sagte ich. »Jawoll, richtig, das ist er«, erklärte der Lukas. Also, wir waren eingetreten, und einer von den Chinesen fragte deinen Papa, was er wünsche, und dein Papa sagte: »Gottverdammt noch mal, meine Hemden will ich.« »Schön«, sagte der Chinese, »ticki, ticki, bitte.« Weißt du, er sagte wirklich: »Ticki.« Nun, dein Papa hatte über den Durst getrunken und verstand das Wort nicht. Er regte sich gleich auf und sagte: »Zum Teufel Ticki! Ich will kein Ticki, ich will meine Hemden!« Da sagte ich zu deinem Papa: »Wart mal und reg dich nicht auf! Laß mich mit ihm sprechen. Wenn deine Hemden hier sind, werd ich sie schon kriegen.« Also, ich dachte, ich könne mit dem Chinesen reden und mich mit ihm verständigen, und so sagte ich zu ihm und blinzelte ihm leicht zu: »Nun, sagen Sie mir, was Sie wollen. Was also ist es?« Und der Chinese sagte: »Ei, ticki, ticki.« Nun, dachte ich bei mir, der Mann ist doch nicht verrückt, ich sah es ihm an, daß er nicht verrückt war, daß er mit diesem Ticki sich uns gegenüber verständlich machen wollte. »Wollen Sie damit sagen, daß die Hemden noch nicht fertig sind?« fragte ich. Ich dachte, vielleicht sind sie noch nicht fertig, nein, doch nicht, eigentlich nahm ich das nicht an, denn der Mann hatte ja 'ne ganze Woche Zeit gehabt, um die paar Hemden zu waschen und zu bügeln. Das ist wirklich lange genug, dachte ich. Aber da sprach der Chinese wieder. »Nein«, sagte er, »ticki, ticki.« Und dann fing er an, mit dem andern Chinesen zu babbeln, und die beiden kamen an den Ladentisch und quatschten und plapperten auf uns ein in ihrer schauderhaften ausländischen Sprache. »Bei Gott!« rief da dein Papa, »jetzt mach ich ein Ende! Jetzt mach ich ein Ende! Das hab ich mir nicht träumen lassen, daß es so weit käme.« »Sei still!« sagte ich zu ihm, »laß mich dieser Sache auf den Grund gehn! Wenn deine Hemden hier sind, werd ich sie schon kriegen.« Nun, mittlerweile hatten die beiden Chinesen miteinander geredet, ich nehme an, der zweite sagte dem ersten, daß wir ihn nicht verstanden hätten, denn der erste brachte nun so einen Zettelblock, auf dem was gekritzelt stand – ich sagte später zu Lukas, es hätte ausgesehn, als wären Hühner über ein Beet gelaufen –, und der Chinese deutete auf den Zettel und erklärte: »Ticki das, ticki.«

»Ach so!« rief ich. Freilich, nun kam mir die Erkenntnis, plötzlich und wie ein Blitz. Ich kann heut noch nicht begreifen, wieso ich es nicht gleich verstand: »Aber natürlich!« rief ich aus, »er meint Ticket mit seinem ›Ticki‹, er will den Empfangsschein haben, ehe er die Hemden herausgibt!« »Ja, ja«, sagte der Chinese und lächelte und grinste, denn nun hatte er mich verstanden, »ticki, ticki!« »Na freilich«, sagte ich und blinzelte ihn an, »Sie wollen das Ticki.« Nun, du wirst es dir vorstellen können – weil dein Vater tobte und sich so aufführte, hatte ich die Sache nicht gleich verstanden. Und nun sagte ich zu deinem Vater: »Der Mann sagt, er hätte dir einen Wäschezettel gegeben, und den möchte er sehen.« »Ich hab keinen Zettel«, sagte dein Vater, »ich will meine Hemden.« »Aber sicher hast du so einen Zettel gekriegt«, sagte ich. »Was hast du damit gemacht? Du wirst ihn doch nicht verloren haben?« »Nie einen gehabt«, brummte er, eben so, wie ein Betrunkner so was sagt. »Aber ganz bestimmt«, sagte da der Lukas. »Ich erinnere mich jetzt genau, daß ich dir den Zettel gab«, sagte er zu deinem Papa. »Ei, was hast du denn mit dem Zettel gemacht, wo ist er denn? So sprich doch! So sprich doch!« sagte er und schüttelte deinen Vater, denn der Junge war ganz aufgeregt und empört, daß dein Vater den Zettel verschlampt haben könnte. »Ei, so stell dich doch nicht hin und brumme wie ein Idiot!« sagte er. »Gottverdammt, wo hast du denn den Zettel?« Na also, es blieb uns nichts andres übrig, als deinem Vater die Taschen durchzusuchen, wir stöberten alles durch, was er dabei hatte, aber der Zettel war nicht zu finden. Er war einfach nicht mehr da. Da wandte ich mich also an den Chinesen und sagte: »Ja nun«, sagte ich zu ihm, »Mr. Gant hat den Zettel verlegt, aber ich will Ihnen was sagen: – Geben Sie uns seine Hemden, und sobald sich der Zettel findet, bring ich ihn Ihnen her.« Ich sagte das, um den Mann freundlich zu stimmen. »O nein«, sagte der Chinese, und radebrechte, das könne er nicht tun, und er fing an zu plappern und zu babbeln, vermutlich um uns zu sagen, er wisse ja nicht, welche Hemden, und könne nicht sagen, wo sie wären, und er könne sie uns keinesfalls herausgeben, wenn wir den Zettel nicht brächten. Na, und da und dann fing die Schwierigkeit an. Dein Papa packte den Chinesen an der Gurgel und schrie: »Gottverdamm dich, Kerl, ich bring dich um!« und schlug nach ihm über den Ladentisch hinweg und schrie: »Höllenteufel, der du bist! Du hast mich ausgepowert und auf den Ruin gebracht, mit Hunden hast du mich ans Tor des Todes gehetzt, aber nun mach ich Schluß mit dir, und wenn ich selbst dahinfahre, dich nehm ich mit aus dieser Welt.«

Nun wohl, Ben und Lukas hatten ihn zwar gleich gepackt und rissen ihn weg von dem Chinesen, aber der Schaden war schon geschehn. Kreischend und heulend war der andre Chinese fortgerannt, und nun kam er mit einem Schutzmann zurück. »Was ist hier los? Was bedeutet das hier?« fragte der Schutzmann und sah uns alle an. »Sie haben mich bestohlen!« sagte dein Vater, »und nun stehen sie da, diese furchtbaren, entsetzlichen, blutgierigen Höllenteufel, und planen, wie sie mich zugrunde richten können.« Ei, er hätte uns alle auf den Ruin gebracht, wenn er weitergeredet hätte, aber Lukas schüttelte ihn und sagte: »Nun schweig still, oder du wirst im Gefängnis landen, du hast schon Schererei genug gemacht!« Und ich freilich, der ich nun diplomatisch sein mußte, wandte mich an den Beamten und sagte: »Nur ein kleines Mißverständnis, es wird sich alles gleich aufklären.« »Wieso«, sagte der Polizist. »Was ist vorgefallen?« Und da erklärte ich also: »Wir wollen meinen Gatten hier ins Hospital bringen« – du verstehst doch, ich hielt für weise, ihn wissen zu lassen, daß dein Papa ein Schwerkranker war, »und wir kamen hier vorbei, um ein paar Hemden abzuholen, die wir in die Wäsche gegeben hatten.« »Nun«, sagte der Beamte, »und stimmt da was nicht? Wollen die da die Hemden nicht rausrücken?« »Nun wohl«, sagte ich, »es scheint, sie haben Mr. Gant einen Wäschezettel gegeben, den er aber vermutlich verlegt oder verloren hat. Jedenfalls, wir konnten den Zettel nirgends finden. Die Hemden aber sind bestimmt hier im Laden. Sie müssen da sein. Mein Sohn, hier der Matrose, hat die Hemden vor einer Woche hergebracht.«

Na, der Beamte äugte den Lukas an, und, laß dir's gesagt sein, der Junge machte 'nen guten Eindruck. Da stand er da, blitzsauber in seiner Seemannsuniform, er war auf Urlaub gekommen von seiner Marinestation in Norfolk, und wie Mrs. Barrett zu mir gesagt hatte, so war's. »Das ist mir ein schöner Bursch«, hatte sie gesagt und: »Wissen Sie, Mrs. Gant«, hatte sie gesagt, »es tut einem gut, ihn anzusehen. Man spürt sofort, daß ein Land nicht zu Schaden kommen kann, solange junge Männer wie er es verteidigen.«

»Aber sicher, Captain«, sagte Lukas – weißt du, ich glaub, daß er ihn Captain nannte, hat dem Beamten gutgetan –, »die Sache ist ganz in Ordnung. Die Hemden sind bestimmt hier, denn ich hab sie selber hergebracht, aber mein Vater muß den Zettel zufällig verlegt haben.« »Schön«, sagte der Schutzmann zu mir, »würden Sie die Hemden vom Ansehn wiedererkennen?« fragte er. »Ei guter Gott!« sagte ich, »ja, da können Sie sich drauf verlassen. Ich würde sie sogar im Dunkeln greifen können, einfach nach dem Format. Ei, wissen Sie«, sagte ich und sah dem Mann stracks ins Auge, »wie Sie sich denken können, wird hier im Laden wohl kaum ein weiteres Hemd sein, das einem Mann von seiner Statur passen dürfte.« Das sagte ich, und der Schutzmann maß deinen Vater mit einem schnellen Blick und lachte. »Na«, sagte er, »da haben Sie wohl recht. Also, ich sag Ihnen, was wir machen. Sie gehn hinter den Tisch ans Gestell und klauben sich Ihr Paket heraus, und ich bleib hier, bis Sie es gefunden haben.«

Also, das taten wir. Ich ging ans Gestell, und der Schutzmann blieb im Geschäft, bis ich die Hemden gefunden hatte. »Da sind sie ja!« rief ich schließlich aus. Sie waren beinah im untersten Bündel, ich muß wohl fünfzig Pakete aufgemacht haben, bis ich das rechte hatte. Und ich will dir was sagen, diesen Chinesen paßte das gar nicht. O je, sie sahen uns mit bittren, bittren Augen an. War der Schutzmann nicht dagestanden, dann hätte ich wahrhaftig Angst gehabt, denn freilich, niemand kann die Chinesen beurteilen oder sagen, was diese beiden getan haben würden, besonders nachdem dein Papa so gegen sie gestürmt und gewettert hatte. Mir denkt noch, daß ich später, nachdem wir deinen Vater ins Krankenhaus eingeliefert hatten, zu Lukas sage, daß ich froh wäre, daß wir so glimpflich aus diesem Laden herausgekommen wären. »Dieser Blick, den diese Chinesen in den Augen hatten«, sagte ich, »behagte mir gar nicht. Ich kriegte 'ne Gänsehaut.« »Ja«, sagte der Lukas drauf, »mir ist's genau so gegangen. Verdammt will ich sein, wenn ich nicht glaube, daß Papa da recht hatte. Überhaupt, ich würde einem Chinesen nicht weiter trauen, als ich 'nen Elefanten werfen kann.« So sagte er, und ich sagte: »Nun ja, Kind, dein Papa hegt diese Abneigung gegen sie seit Jahren, weißt du, und da kannst du versichert bleiben, daß da etwas dahinter steckt, was wir nicht verstehn können.«

 

Und genau dasselbe sagte ich auch zu Ambrose Radicker, als ich damals vor langer Zeit in seinem Ausschank jenes Gespräch mit ihm führte. Und er gab es zu. »Es ist etwas Unverständliches«, sagte er zu mir, »ganz sicher, und dein Mann ist ein wahrer Schrecken, wenn es ihn anpackt. Ich weiß einfach nicht, was ich dann mit ihm anfangen soll.« »Na«, sagte ich drauf, »ich kann dir sagen, wie du es anfangen mußt, damit es nicht soweit kommt. Schenk ihm keinen Alkohol aus, wenn er reinkommt und trinken will. Weißt du, der beste Weg, Schwierigkeiten zu entgehn, ist immer noch, daß man sie vermeidet.« Darauf sagte er: »Gewiß, das ist ein wahres Wort«, und ich sagte: »Also, warum verfährst du nicht danach? Warum lädst du dir die Schererei auf? So sehr fehlt's dir doch nicht am festen Willen, als daß du dich gegen dein beßres Urteil in so eine Peinlichkeit hineinziehen ließest, so einfältig bist du doch nicht!« »Nun ja«, sagte er, »aber was kann ich da tun?« »Ei«, sagte ich, »du brauchst ihm einfach nichts auszuschenken, wenn er das nächste Mal hier reinkommt und saufen will ... das ist, was du tun kannst.« »Aber Eliza«, sagte er da, »wozu soll denn das gut sein? Er würde bloß dem alten Rufus Porter das Geld geben und ihn hierherschicken, daß er 'ne Flasche kauft, und da sehe ich's wirklich lieber, daß er sein Geld für sich selber ausgibt, anstatt es an diesen elenden alten Halunken zu hängen.« »Ach, du wirst doch nicht behaupten wollen«, sagte ich, »daß er das je getan hätte, was?« »Aber ja«, sagte Ambrose, »ganz genau das hat er gemacht, und zwar viele Male. Rufus kommt hier herein in die Schankbar, kauft den Whisky für Will, und dann sitzen die beiden zusammen in Wills Werkstatt und saufen.« »Aha!« sagte ich. »Somit ist mir manches erklärt! Endlich also ist die Katz aus dem Sack gehüpft!« Ich nämlich wußte nun und konnte mir sofort vorstellen, wieso dieser Gauner Rufus Porter eine solche Macht über deinen Papa bekam und ihn sogar so weit beschwätzt hatte, daß er damals auf seinen Wechsel bürgte; er hatte ihn einfach besoffen gemacht, und wenn er besoffen war, konnte man deinen Papa zu allem überreden.

»Ja also!« sagte ich, als dein Vater heimkam und mir erzählte, Mel Porter wäre zu ihm in die Werkstatt gekommen, tiefbetrübt darüber, daß jene Mörder an den Galgen sollten. »Sollen sie baumeln!« sagte ich. »Und ich wünschte nur, Mels Bruder, dieser elende alte Rufus, würde mitgehenkt.« »So Sachen solltest du wirklich nicht sagen!« sagte dein Papa. »Ich kann's nicht leiden, wenn du so was sagst.« Nun ja, ich war bitter geladen auf den Rufus. Und dein Papa sagte: »Ich kann mir nicht helfen, der Mel tut mir richtig leid; da hat er sich nach allen Regeln angestrengt und eingespannt, und nun macht er sich Gedanken und Kummer, weil diese Leute trotzdem gehenkt werden sollen.« »I wo, keine Spur!« sagte ich, »wenn du dir so einen Bären aufbinden läßt, dann bist du wahrhaftig noch leichtgläubiger als ich. Aber du kennst den Mel Porter nicht so gut wie ich. Merk dir, was ich dir jetzt sage. Sein Kummer hat bestimmt einen anderen Grund.« »Glaube ich nicht«, sagte er. »Ich bin überzeugt, du irrst dich.« »Schon recht«, sagte ich, »wir wollen mal abwarten und zusehen.«

Na, und lang zu warten brauchten wir nicht. In derselben Nacht noch brachen jene Männer aus dem Gefängnis aus. Alle fünf kamen sie mit heiler Haut davon, und keiner von ihnen wurde wieder gefangen. »Aha! Was hab ich dir gesagt!« sprach ich da zu deinem Papa. »Und du warst wirklich einfältig genug zu glauben, daß sich Mel Porter Gedanken machte, weil diese Leute gehenkt werden sollten, was? Nun, da hast du's ja.« »Also, ich geb zu, daß du im Recht warst«, sagte er, »Mel Porter wußte wohl um den Plan, und das hat ihm Gedanken gemacht.« »Aber natürlich wußte er drum! Ganz bestimmt. Das war's, was ihm das Herz abdrückte!« sagte ich, denn nun konnte ich's mir lebhaft vorstellen, wie Mel davon wußte, daß diese Männer ausbrechen wollten, wie ihm das Sorgen machte, wie er Angst hatte, es könne schiefgehn und zu weiterem Blutvergießen führen, denn diese Männer waren verzweifelte Kerle, wie sie vor nichts zurückschrecken, und hätten sicher jeden totgeschlagen, der sich ihnen in den Weg gestellt hätte, und also ist es ganz verständlich, daß es Mel Porter wie eine Last auf dem Gewissen lag. »Eine furchtbare Sache«, sagte dein Vater, »ach, ich mag gar nicht dran denken, so zuwider ist sie mir.«

»Aber was hältst du davon?« sagte dein Vater. »Dock Hensley kam vor ein paar Tagen zu mir ins Geschäft und wollte mir zwei Einlaßkarten geben, so daß du und ich die Hinrichtung sehn könnten. Stell dir so einen Menschen vor! Da war er vor 'nem halben Jahr noch mit zweien von diesen Männern dick befreundet, und nun wartet er nur auf den Augenblick, wenn er den Schnäpper am Galgen springen lassen kann.« »Ei ja«, sagte ich, »die drei haben zusammengesteckt wie Dieb und Hehler!« – Du mußt nämlich wissen, Junge, Ed Mears und Lawrence Wayne und Dock Hensley waren zwanzig Jahre lang Busenfreunde – »und ich will dir was sagen«, sprach ich zu deinem Vater, »ich weiß nicht, ob Ed und Lawrence schlimmere Gesellen sind als Dock. Nein, gewiß sind sie's nicht. Das sind Bohlen aus demselben Holz und mit demselben Pinsel geteert, sie sind alle drei gewalttätige Kerle, und Dock Hensley hat mindestens soviel Blut vergossen wie die beiden andern, und ich mutmaße sogar, daß ihm das selber bewußt ist. Der einzige Unterschied besteht darin, daß Dock Hensley das Polizeiabzeichen trug und folglich stets von der Autorität des Gesetzes geschützt wurde.« Ei natürlich, jedermann sagte dasselbe, damals nämlich, als Dock Hensley des Totschlags an Reese McLendon angeklagt war. Natürlich, er wurde freigesprochen aus Gründen der Notwehr, und weil sich's um einen Polizisten in Ausübung dienstlicher Obliegenheiten handelte. Aber damals schon sagte ich zu deinem Papa: »Du weißt so gut wie ich, daß das vorsätzlicher, kaltblütig begangner Mord war und sonst nichts.« Ich muß natürlich zugeben, dieser Reese McLendon war ein furchtbar starker Kerl, und wenn er sich mit Schnaps vollgeschleuzt hatte, war er ein wahrer Schrecken, und ich vermute, daß er auch ein paar Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Aber: – er und Dock Hensley waren eng befreundet, alte Kumpane, weißt du, und waren immer gut miteinander ausgekommen. Und dann wurde McLendon wegen Betrunkenheit und nächtlicher Ruhestörung verhaftet, und die Geschichte geht so weiter, daß er im Gefängnis einen solchen Lärm machte, daß sie ihn aus der Zelle holen mußten. Damals wurde erzählt, er hätte so laut gebrüllt, daß man's über den ganzen Stadtplatz hörte. Er wurde runtergeführt in das sogenannte Verlies. Das Verlies war weiter nichts wie ein alter Keller mit festgestampftem Erdboden, hatte auch eine Zeitlang der Stadt als Stall für Maultiere gedient. Und daran eben knüpfte Hensleys Verteidigung an. Er sagte, er wär runtergegangen, um zu sehn, ob er dem McLendon nicht zureden und ihn zur Vernunft bringen könne, damit er endlich aufhöre mit dem Gebrüll, aber McLendon hätte, erzählte Hensley, ein altes Hufeisen, das da auf dem Erdboden lag, aufgegriffen und ihn, als er eintrat, angefallen und versucht, ihm mit dem Hufeisen den Schädel einzuschlagen.

Und so behauptete er, er hätte aus Notwehr gehandelt und daß es so war, daß es entweder sein eignes oder McLendons Leben galt. Er erzählte, er hätte dem McLendon das Hufeisen aus der Hand gerungen und ihm damit einen tödlichen Schlag auf die Stirn versetzt. Nun, die Zeugen bei der Verhandlung sagten aus, daß Hensley über und über mit Blut besudelt aus dem Keller raufgekommen wäre und gesagt hätte: »Holt mal 'nen Doktor für den Reese, ich befürchte, ich hab ihn totgeschlagen.« Und natürlich, als der Arzt dann kam, war gar nichts für ihn zu tun, er konnte bloß feststellen, daß McLendon tot war. Der Arzt sagte aus, es hätte ausgesehen, als hätte Hensley den McLendon hundertmal mit dem Hufeisen getroffen, er sagte, die ganze eine Seite des Kopfs wäre zu Brei zermalmt gewesen, und daß McLendon in seinem Blute schwamm. Die Zeugen sagten, es hätte furchtbar ausgesehn.

Dein Papa ging zu jener Verhandlung gegen Hensley, und als er heimkam, erzählte er mir davon. »Ich will dir was sagen«, sprach er, »mein Lebtag hab ich keine Rede gehört, die Zeb Pentlands Ansprache an die Geschworenen an Rang gleichkäme.« – Du weißt ja, dein Vetter Zebedäus war Staatsanwalt. – »Es war meisterhaft«, sagte dein Vater, »ich wünschte wirklich, du hättest ihn reden hören.« »Na, und –?« fragte ich da, »was werden die Geschworenen tun? Werden sie Hensley verurteilen?« »Du lieber Gott! Natürlich nicht!« antwortete dein Papa. »Er wird freigesprochen werden, man wird es mit Notwehr begründen. Aber nicht für 'ne Million Dollar hätt ich heut in seinen Schuhen stehen mögen. Diese Rede Zeb Pentlands wird er sein Lebtag nicht vergessen, an die wird er denken bis an den Rand des Grabes. Er wurde bleich im Gesicht, als er sie anhörte.« Im Verlauf des Verfahrens kam es heraus – Zeb Pentland erbrachte den Nachweis –, daß Dock Hensley seit dem Tage, an dem er Polizist geworden war, achtzehn Menschen erschossen oder sonstwie totgeschlagen hatte, und dein Vater erzählte, wie Zeb Pentland sich an die Geschworenen wandte und sprach: »Sie haben einen Mann, der jedes Mitleids und jeglicher Barmherzigkeit bar ist, mit dem Polizeiabzeichen und dem Dienstgewehr versehen und ausgerüstet, Sie haben mit der Wahrung der Gesetze einen Menschen betraut, der Menschenblut nicht anders vergießt, als man eine Fliege totschlägt, und diesem Mann, der unterm besondern Schutz der Gesetze steht, haben Sie eine geladne Pistole in die Hand gedrückt, und dennoch möchten nun einige von Ihnen diesen tollwütigen Hund wieder frei umherlaufen lassen, so daß er toben und zerstören und unschuldigen, wehrlosen Leuten das Leben nehmen kann. Sehen Sie sich ihn an, wie er hier vor Ihnen auf der Anklagebank sitzt! Wie er sich duckt, wie er zittert! Sehen Sie das Kainszeichen auf seiner Stirn, sehen Sie seine Hände an, die vom Blut seiner Opfer besudelt sind! Die Erschlagnen stehen aus ihren Gräbern auf und zeigen mit dem Finger auf ihn und klagen ihn an, und wenn das vergossene Blut eine Zunge hätte, dann würde es ebenso laut nach Sühne schreien, wie es die Zungen der Frauen und Kinder tun, die er zu Witwen und Waisen gemacht hat!« Na also, dein Vater sagte, daß es eine Meisterrede war, und erzählte, wie Hensley bleich und zitternd dasaß, ganz so, als wären die Geister der Erschlagenen erschienen, um ihn anzuklagen. Ja, genau so. Aber natürlich wurde er freigesprochen, wie es jedermann vorausgesagt hatte.

Aber – guter Gott! – damals konnte ich Dock Hensley schon längst nicht mehr ausstehen. Seine Nähe war mir unerträglich seit einem Abend viele Jahre zuvor, als dein Papa und ich bei ihm und seiner Frau zum Dinner eingeladen waren. Stell dir vor, mein Lieber, was dieser Mann da auf dem Tisch, auf dem Eßtisch, an dem für uns gedeckt war, stehen hatte! Ei, es war der Schädel eines Niggers, den er totgeschossen hatte. »Na, daß ein Mensch nicht mehr Feinfühligkeit hat!« sagte ich zu deinem Papa. Stellt also so ein Ding da mitten auf den Tisch, seinen Gästen vor die Nase, dazu in Anwesenheit seiner eignen Kinder, und benutzt es – bitte, stell dir das vor! – als Zuckerschale. Und dann prahlt er auch noch damit, ganz so, als hätte er etwas ganz Großes getan! Das Schädeldach war abgesägt und diente als Deckel und da, wo das Kugelloch war, hatte er eine Ausgußzotte anbringen lassen, weißt du, für den gestoßnen Zucker. Der Magen drehte sich einem um, ich konnte keinen Bissen essen. Auf dem Heimweg dann sagte ich zu deinem Papa: »In diesem Haus bin ich das letztemal gewesen! Mit einem Menschen, der so wenig Barmherzigkeit im Leibe hat, möchte ich nichts mehr zu tun haben.« »Ja«, sagte dein Vater, »es macht einem das Blut in den Adern gerinnen«, und von diesem Tage an setzte auch er nie wieder den Fuß über Hensleys Schwelle. Er konnte den Menschen nicht mehr ausstehn. Und seine Unausstehlichkeit war auch der Grund, wenigstens wurde es behauptet, aus dem Hensley schließlich Selbstmord beging. Gilmer wohnte damals bei mir im Haus, und er war es, der mir die Neuigkeit brachte. Er kam rein zu mir in die Küche, erzählte, Hensley hätte sich totgeschossen, und sagte: »Es war ein furchtbarer Anblick. Ich war als erster zur Stelle«, erzählte er, »ich hörte den Knall, es war gleich hinterm Neubau des Amtsgerichts, und als ich hinkam, da lag er hingefläzt hinter einem Haufen aufgeschichteter Backsteine. Wir konnten zuerst gar nicht sagen, wer es war, denn der Schuß hatte ihm das ganze Schädeldach abgerissen. Oh, ein grauenhafter Anblick, sage ich Ihnen!«

»Nun«, sagte ich da zu Gilmer, »überraschend kommt mir das nicht. Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen.« Ich nehme an, das Gewissen plagte Dock Hensley so, daß er das Leben nicht länger ertragen konnte. Und diese Gewissensqualen hatten schon, wie ich weiß, Jahre zuvor angefangen. Damals ging deine Schwester Daisy mit Amy Hensley zusammen in die höhere Mädchenschule, und eines Tages plapperte Amy die Sache heraus: »Ach, mein Daddy«, sagte das Kind, »wir wissen nicht, was wir mit ihm anfangen sollen. Wir haben Angst, daß er den Verstand verliert. Mitten in der Nacht wacht er auf und schreit und heult, daß wir befürchten, er wird verrückt.« »Aha! Da hörst du's!« sagte ich damals zu deinem Vater. »Da haben wir es. Der Schuldige fleucht, auch wenn ihn keiner verfolget.« »Ja«, sagte er drauf, »ich vermute, es gibt einen Haufen Taten, an die sich Dock Hensley nicht erinnern möchte. Die vielen Verbrechen lasten auf seiner Seele, und vergessen kann er sie nicht. So sicher wie ich hier vor dir stehe«, sagte dein Vater, »er leidet die Pein des schuldbeladnen Gewissens, und mich soll es nicht überraschen, wenn er eines Tages Selbstmord begeht.«

Aber dann freilich vergingen Jahre, in denen es schien, als käme Dock Hensley wieder ganz in Ordnung. Er verließ den Polizeidienst und wurde so ein religiöser Fanatiker. Er war ein Eckpfeiler der Methodistenkirche und saß Sonntag für Sonntag in der Kirche in der Ecke, in der die Amensager sitzen, und ja – was sagst du dazu? –, er wurde Grundstücksmakler, fuhr in einem großen, teuren Auto in der Stadt herum, machte ein Geschäft mit dem Verkauf der Landlose für ein Villenviertel, das er Hensley Heights nannte – bitte! –: Hensley Heights! – und lauter so Sachen, weißt du, und vermutlich ging es ihm wie uns allen, die wir mit Grund und Boden spekuliert haben, er machte eine Zeitlang Geld oder glaubte wenigstens so.

Ich weiß noch, damals, als ich jene Baugrundstücke von William Jennings Bryan kaufte, sagte mir Bryan, daß Hensley als sein Agent ein paar Geschäfte für ihn getätigt hätte, und Bryan schien mir mit diesen Käufen recht zufrieden zu sein, denn er strich den Mann sehr heraus und sagte: »Ich will Ihnen was sagen, Mrs. Gant, dieser Mr. Hensley ist ein feiner, aufrechter Mann. Bei all den Käufen und Verkäufen, die er für mich abgeschlossen hat, hab ich ihn nie grobschlächtig daherreden hören, und er hat auch nie ein Wort in den Mund genommen, das man nicht in Gegenwart einer Dame sagen könnte.« Hm, dachte ich da für mich hin, da haben sich aber die Zeiten geändert, aber gesagt freilich hab ich nichts, ich ließ Bryan einfach weiterreden. »Ja«, sagte er, »in all meinen Geschäften mit ihm hab ich ihn aufrecht und ehrlich erfunden, und was mehr ist, jeden Sonntag morgen kann man ihn in der Kirche auf seinem Platz sitzen sehen. Und ein Mann wie er, der von sich selber zugibt, daß er keinerlei Schulbildung genossen hat, hat erstaunliche und tiefe Kenntnisse von der Heiligen Schrift! Ich habe mit ihm über Stellen aus allen möglichen Büchern der Bibel gesprochen, und ich hab ihn allerorten gutbeschlagen gefunden. Und heutzutag ist es wirklich selten, daß man einen Businessman findet, der ein solches Interesse an geistlichen Dingen hat, und Hensley ist sicher eine Zier für die ganze Gemeinde.« Da sagte ich drauf: »Ei ja, Mr. Bryan, da haben Sie wohl recht, aber in dieser Gemeinde hat sich ein Haufen Dinge zugetragen, von denen Sie nichts wissen, denn Sie sind ja erst vor kurzem nach Altamont gekommen, und immerhin mag es da eine Zeit gegeben haben, in der Dock Hensley gar so keine Zier für die Gemeinde war, wie er es jetzt ist.« »Ei«, fragte mich da Bryan, »wann war denn das?« »Schon gut«, sagte ich, weißt du, ich hatte nicht vor, die Sache auszuplaudern, ich blinzelte ihn bloß an und erklärte, »vielleicht ist's besser, den begrabenen Hund nicht wieder auszubuddeln. Es mag wohl sehr lange her sein, tatsächlich, Mr. Bryan, es war etwa im Jahr Ihrer ersten Präsidentschaftskandidatur.«

Na, mein Lieber, da warf er den Kopf zurück und lachte. Haha! Und dann sagte er: »Ei gewiß, dann ist es bestimmt sehr lange her, und es lohnt sich wohl kaum noch, davon zu sprechen, aber eine Wette möchte ich eingehn: – wenn hier je etwas geschah, das ich gern wissen möchte, dann brauchte ich bloß zu Ihnen zu kommen, Mrs. Gant, denn Sie erinnern sich sicher dran.« »Ei ja«, sagte ich, »ich halt zwar nichts von Leuten, die mit ihren Gaben dicktun, aber daß ich ein ziemlich gutes Gedächtnis hab, ist mir immer zugestanden worden.« »Da pflichte ich voll und ganz bei«, sagte er, »erst neulich erzählte ich meiner Frau von Ihnen und sagte, wie selten es wäre, einen Menschen kennenzulernen, der so ein lebhaftes Interesse an allen Vorgängen nimmt. Wie ich zu ihr sagte, ich glaube in der Tat, daß Sie sich an alles erinnern, was Ihnen je geschah.« »Nun«, sagte ich, »das ist übertrieben und geht zu weit. Es mag immerhin noch ein paar Sachen geben, an die ich mich nicht recht deutlich erinnere, Sachen, die sich zugetragen haben, ehe ich zwei Jahre alt war. Aber seit dieser Zeit ist mir nicht viel entfallen.« »Jawohl«, sagte er und lachte übers ganze Gesicht, »darauf würde ich jede Wette eingehn.« Und dann kam die Rede wieder auf Dock Hensley. Weißt du, ich wollte den Mann nicht in den Augen eines anderen herabsetzen, ich wollte seine guten Seiten anerkennen, und so sagte ich: »Nun wohl, Mr. Bryan, gegen jeden läßt sich was sagen, denn es gibt niemanden, der nicht seine Fehler hätte. Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet«, zitierte ich. »Das ist wahrhaftig wahr«, sagte er, »wir alle sollten barmherzig sein.« »Und was ich Ihnen auch immer von Dock Hensley erzählen könnte, das ihm nicht zur Zier gereicht«, sagte ich, »einer Sache können Sie voll und ganz versichert sein, Mr. Bryan. Hensley hat immer sein Heim hochgehalten, er ist ein guter Familienvater und hat stets zu seiner Frau und seinen Kindern gehalten, und was er auch sonst angerichtet haben mag, eines unmoralischen und leichtfertigen Lebenswandels hat er sich nie schuldig gemacht, in diesem Punkte kann ihm keiner etwas nachreden.« Und das, mein Sohn, ist die Wahrheit. In jenem Prozeß damals wurde versucht, etwas Derartiges über Hensley ans Licht zu bringen, um so ein schlechtes Licht auf seinen Charakter zu werfen; sie versuchten also nachzuweisen, daß er seiner Frau untreu und hinter andern Frauen hergewesen wäre, aber das, mein Lieber, ist ihnen nicht gelungen. So mußten sie selbst dem Teufel seine Ehre lassen, moralisch hat Hensley sich reingehalten.

 

Also, er kam zu deinem Vater und bot ihm die Eintrittskarten für die Hinrichtung an, und dein Vater sprach: »Sie sind mit diesen Männern seit zwanzig Jahren gut Freund gewesen, Mr. Hensley, und ich verstehe einfach nicht, wie Sie nun das Herz haben können, sie hinzurichten.« »Ja, ich weiß schon«, sagte er, »es ist schauerlich, aber irgendeiner muß es tun. Für mich gehört es zum Beruf, dazu bin ich vom Volk gewählt worden, und außerdem, ich glaube, dem Ed und dem Lawrence ist es lieber, ich bin es, der die Sache macht. Ich hab mich mit den beiden drüber unterhalten«, erzählte er (es wurde in der Stadt herumgesprochen, daß er die beiden drunten im Gefängnis besucht hatte, und daß die drei zusammenhockten wie Dieb und Hehler und lachten und vergnügt waren), »und da haben sie mir gesagt, es wäre ihnen lieber, ich tät's als irgendein Fremder.« »Trotzdem«, sagte dein Vater, »ich würde annehmen, daß es Ihnen auf die Nerven ginge. Ich begreife nicht, wieso Sie nachher noch auf Nachtruhe rechnen können.« »Pah! Pah!« sagte Hensley drauf, »so was regt mich nicht auf. Ich hab das ja so oft schon gemacht. Aufzuknüpfen brauch ich ja nicht, es ist außerdem ein Schnappgalgen, und ich brauch bloß den Schnäpper springen zu lassen, da ist die Sache erledigt. Ich denk mir nicht mehr dabei, als wenn ich 'nem Hinkel den Hals rumdrehte.« Nun, dein Vater sagte nachher zu mir: »Was hältst du davon? Kannst du dir so einen Menschen vorstellen? Allem Anschein nach muß er des menschlichen Mitgefühls und der Barmherzigkeit vollkommen bar sein.« Das sagte er.

Es kam nie heraus, ob Dock Hensley mit unter der Decke gesteckt hatte oder nicht – das heißt, ob er darum wußte, daß diese zum Tod Verurteilten aus dem Gefängnis auszubrechen planten –, aber falls er drum gewußt hätte ... nun ja, sonderbar sah es schon aus, daß er da deinem Vater diesen Besuch machte. »Ich will dir was sagen«, sagte dein Vater zu mir, es war einen oder zwei Tage nach dem Ausbruch aus dem Gefängnis, »ich glaub, wir haben Dock Hensley doch zu schlimm eingeschätzt. Ich glaub, er hat die ganze Zeit um den Plan gewußt, und deswegen hat er es mit der Hinrichtung so leicht genommen.« »Nun ja, sonderbar ist es schon«, sagte ich, »aber warum ist er dann zu dir ins Geschäft gekommen und hat dir die Karten angeboten? Warum war er so darauf aus, daß wir hinkommen und die Henkerei mitansehn sollten?« »Das erklär ich mir so«, sagte dein Vater, »daß er es tat, um jeden Verdacht von sich abzulenken.« »Nein«, sagte ich. »Keine Spur! Ich glaub es einfach nicht. Er wartete bloß auf den Augenblick, an dem er seine Freunde henken könnte, jawohl, und hat sich im voraus schon an der Vorstellung geweidet.« Natürlich wollte dein Papa das nicht glauben; er sagte, daß ein Mensch so hartherzig sein könne, das möchte er lieber nicht denken.

Man erzählte später, der Ausbruch wäre schon Wochen im voraus geplant und John Rand, der Kerkermeister, wäre im Einvernehmen gewesen, so daß die Verurteilten, wie man so sagt, Reißaus nehmen konnten. Natürlich war dem John Rand nichts nachzuweisen, und es mag ja sein, daß er ein ehrlicher, ordentlicher Kerl war, aber immerhin, sehr, sehr sonderbar war die Sache schon. Sie fanden ihn, weißt du, gefesselt und geknebelt in der Zelle, sauber gewickelt wie ein Säugling und mit 'nem Schnuller im Mund, und am Leib hatte er auch nicht einen einzigen blauen Flecken, der bewiesen hätte, daß er irgendwelchen Widerstand geleistet hatte. Seine Aussage ging darauf hinaus, daß er zu Ed und Lawrence in die Zelle reinkam, um den beiden ihr Nachtessen zu bringen, und die beiden wären dann über ihn hergefallen, hätten ihn überwältigt und mit Stricken gebunden. Dann hätten sie ihm die Schlüssel abgenommen und die andern drei Mörder befreit, und dann wären sie alle fünf entwischt. Diese anderen drei hatten mit Ed und Lawrence gar nichts zu tun, es waren einfach gewöhnliche, gemeine Mörder, Leute aus dem Gebirge, oder, wie sich dein Vater ausdrückte, »Bankerte aus dem Gebirg«. Sie saßen da drunten in Sicherheit, und warteten drauf, daß sie mit Ed und Lawrence zusammen gehenkt werden sollten, und es wurde erzählt, daß Ed zu Lawrence sagte: »Hopp! Setzen wir die auch frei, wenn wir schon dabei sind.«

 

Also, John Rands Aussage hatte so ein Häkchen, und den Leuten gefiel diese Geschichte nicht. Und dann, ein halbes Jahr später, wurde John Rand auf einmal Businessman, er machte ein schönes großes Installationsgeschäft auf an der South Main Street, und zwar mit einem Lager, das ihn Tausende von Dollar gekostet haben muß. »Da schau hin«, sagte dein Papa. »Weißt du, was geredet wird? Sie sagen, daß John Rand bestochen war, so daß er diese Leute entwischen ließ.« »Na«, sagte ich drauf, »da werden die Leute wohl recht haben. Sehr, sehr komisch ist es schon, daß ein Mann, der sein Lebtag nicht über fünfzig Dollar Monatsgehalt hatte, auf einmal so einen Laden auftut. Wo soll denn das Geld hergekommen sein? Das sieht ein bißchen allzu aalglatt aus, das mußt du doch zugeben.« »Aber sicher«, sagte dein Papa, »was ich mich frage aber ist: wer hat ihn denn bestochen? Wo kommt das Geld her?« »Ei«, sagte ich, »es kommt aus dem Yancey County, wo die Gesippen und Anverwandten von Mears und Wayne wohnen. Ganz genau dort ist es hergekommen.« »Na«, sagte dein Papa, »sind diese Leute denn wohlhabend?« »Sie haben genug«, sagte ich. »Genug. Und sie hätten ihren letzten Pfennig hergegeben, damit diese Männer freikämen.« Nun, du weißt ja, daß ich natürlich weiß, wovon ich da spreche. »Hör mal«, sagte ich zu deinem Papa, »ich hab mein Lebtag unter diesen Leuten gelebt, ich kenn sie besser als du. Ich bin unter ihnen aufgewachsen, und ich kann dir sagen, in einem solchen Falle wird hier vor nichts haltgemacht.« Ei, Junge, es wurde erzählt, daß Geld aus allen Ecken und Enden herfloß wie Wasser – man sprach von Tausenden von Dollar –, und dieses Geld wurde all an die Verteidigung dieser beiden gehängt – ei ja, da fällt mir ein, daß der alte Judge Truman allein – natürlich der Bruder von jenem Professor Truman, von dessen Töchtern eine den Ed Mears und eine andre den Lawrence Wayne geheiratet hatten – also, ja, wurde nicht behauptet, daß allein der alte Judge Truman, einer der größten Rechtsanwälte im Yancey County, über zehntausend Dollar für die Verteidigung aufgewandt hatte? »Du kannst versichert sein«, sagte ich zu deinem Papa, »daß das bloß ein Tropfen auf einen heißen Stein war, und daß Ed und Lawrence, wo sie auch nun stecken mögen, gut mit Geld versorgt sind, und zu bedauern brauchst du sie infolgedessen nicht.« »Nun ja«, sagte er, »ich bin froh, daß ihnen die Flucht geglückt ist. Des Blutvergießens ist genug gewesen, ich kann nicht einsehn, was es für einen Sinn haben sollte, daß man noch mehr vergießt.«

Da aber schüttelte ich den Kopf. »Nein«, sagte ich, »das ist falsch. Sie hätten gehenkt werden sollen, und mir tut's leid, daß sie der verdienten Strafe entgangen sind, obschon ich froh bin, daß wir beide in der Sache handelten, wie wir gehandelt haben, denn ich möchte nicht das Leben eines Menschen, sei er nun schuldig oder unschuldig, auf dem Gewissen haben.« »Auch ich«, sagte er da, »bereue es nicht.« »Aber trotzdem darfst du nicht vergessen«, sagte ich zu deinem Vater, »und du weißt es ja auch so sicher, wie du hier vor mir stehst, daß diese beiden höllenmäßig schuldig sind.« Ja, Junge, genau so drückte ich mich aus, höllenmäßig schuldig waren diese beiden, sie hatten gemordet, sie waren des vorsätzlichen und kaltblütig begangnen Mordes so schuldig, wie es nur je ein Mörder war. Vor Gericht stellte es sich klipp und klar heraus. Die beiden waren an einem Samstagnachmittag, als ausgezahlt wurde, in jenes Selenitbergwerk gegangen und hatten Händel gesucht, weiter nichts. Sie waren auf eine Rauferei aus, und, wie ich damals schon zu deinem Papa sagte, wenn sie einen Raubüberfall geplant hätten, dann wäre es doch wenigstens ein richtiger Grund gewesen – aber beileibe nein! –, sie wollten einfach Krach anfangen und hatten sich Pistolen eingesteckt. Natürlich hatten sie beide getrunken, und wenn sie betrunken waren, da war stets der Teufel los mit ihnen. Und so beschimpften und beleidigten sie zunächst mal den Zahlmeister, einen anständigen Mann und ordentlichen Staatsbürger, wie sich beim Prozeß herausstellte, und die beiden wollten ihn am Auszahlen verhindern. Da kam John Burgin ins Büro rein und versuchte ihnen gut zuzureden, um sie zur Vernunft zu bringen. »Nun, Jungs«, sagte er, »das gefällt mir nicht, daß ihr euch hier so aufführt. Warum macht ihr nicht, daß ihr weiterkommt, eh ihr in Scherereien geratet?« »Verdammter Kerl«, sagte Lawrence Wayne, »was geht's dich denn an, was wir machen?« »Es geht mich weiter nichts an«, sagte John Burgin, »aber es gefällt mir nicht, daß ihr euch so aufführt. Ich möchte nicht, daß ihr in Scherereien geratet, und ich weiß, morgen früh, wenn ihr aufwacht, wird euch die Sache leid tun.« »Mach du dir keine Gedanken drüber, was wir morgen früh tun werden«, sagte Lawrence Wayne. »Mach dir lieber Gedanken über dich selbst. Grad so Leute wie du sind's, die morgen früh überhaupt nicht aufwachen werden. Ich hab deine verdammte Fresse nie ausstehen können, und also: – scher dich weg, solang du noch auf zwei Beinen gehn kannst!« »Schon recht, ich geh weg«, sagte John, »ich möchte keine Schererei mit euch haben. Ich wollte euch bloß sagen, daß ihr euch euren Frauen und Kindern zulieb benehmen möchtet, aber wenn ihr es so auffaßt, dann geh ich.« Und dann, wurde erzählt, wandte John den beiden den Rücken und ging weg, und Ed Mears zog seine Pistole und wandte sich betrunken grinsend, wie gesagt wurde, an Lawrence und sprach: »Glaubst du, Lawrence, daß ich den treffe?« und schoß dem John Burgin, der ihm im Leben nichts zuleid getan hatte, eine Kugel in den Hinterkopf. Und dann natürlich fing die Schießerei erst an, die beiden schossen den Zahlmeister und den Zahlmeisterassistenten nieder – die beiden waren sofort tot – und rissen dann aus. »Stell dir so etwas vor!« sagte ich zu deinem Vater. »Soweit ich sehe, bestand da kein Entschuldigungsgrund, keinerlei Provokation. Die beiden waren einfach auf Totschlag aus, und Gehenktwerden ist die einzige ihrer würdige Behandlung.« »Ja«, sagte er, »aber trotzdem bin ich froh, daß wir handelten, wie wir gehandelt haben.«

Und nun, Junge, werde ich dir erzählen, wie das war.

 

»Zwei ... Zwei«, sagte die erste Stimme und: »Zwanzig ... Zwanzig«, die andre.

Ich weiß genau, wann es war, ich werde dir's gleich sagen: – es war am siebenundzwanzigsten September, mein Lieber, zwanzig Minuten vor zehn Uhr abends. Der Grund, aus dem ich das so genau weiß, war ... – nun, das wird sich später herausstellen, wenn ich weitererzählt habe. Aber zwei Tage zuvor, also am fünfundzwanzigsten, hatte ich jene Aussprache mit Ambrose Radicker. Ja, damals war es. Und wiederum kurz zuvor war es, daß dein Vater ein paar Tage lang herumgesoffen hatte, und so hatten sie nach uns geschickt, wir sollten kommen und ihn heimholen. Nun, nach meinem Dafürhalten war es nicht länger zum Aushalten mit ihm, ich wollte das einfach nicht länger mitmachen, und so ging ich also selber rauf in die Schankbar, um mit Ambrose zu sprechen.

Nun, und was mir Ambrose damals erzählte, das war, ich merkte es, die Wahrheit. Das waren natürlich diese Sachen, wie schwer mit deinem Papa umzugehen war, wenn er trank, und wie er in seinem Delirium auf die Chinesen loszog. Man muß dem Teufel seine Ehre lassen, Ambrose, obschon er ein Saloon-Keeper war, sagte die Wahrheit und war, wie ich glaube, aufrichtig gegen mich. »Ich habe mein Bestes versucht«, sagte er zu mir, »aber wenn du noch irgendeinen Vorschlag wüßtest, wie man ihn vom Trinken abbringen könnte, dann sag ihn mir, und ich werde danach handeln.« Ja, und dann, am Abend des siebenundzwanzigsten, da kam Ambrose auf seinem Nachhauseweg auf einen Sprung zu uns herein, wir hatten schon zu Nacht gegessen, und dein Vater las mir aus der Zeitung vor, und Ambrose sagte zu ihm: »Will, du mußt mir versprechen, daß du das Trinken sein läßt. Es tut mir in der Seele weh, zusehen zu müssen, daß ein Mensch wie du, ein Mann von deinem Verstand und von deiner Beredsamkeit, sich so zugrunde richtet. Es gibt nichts auf der Welt, was du nicht erreichen könntest, wenn du dir's fest vornähmst.« »Ganz richtig«, sagte ich da zu Ambrose, »gescheit genug ist er zu allem. Ich glaub nicht, daß hier im Städtchen jemand aufzutreiben ist, der von Natur auch nur halb so begabt ist wie er, und er könnte es weit bringen, wenn dieses verfluchte Verlangen nach Alkohol nicht wäre. Eine Sache ist sicher«, sagte ich, »von meinen Leuten hat er's nicht gelernt, denn du kennst ja meinen Vater, den Major Pentland, und weißt, daß er im Leben keinen Tropfen Alkohol getrunken hat, und Leute, von denen er weiß, daß sie trinken, läßt er nicht ins Haus.« »Ja, das weiß ich«, sagte Ambrose, »er ist gewiß ein feiner Mann und eine Zier für die Gemeinde.« Und zu deinem Vater sagte er: »Du hast doch alles, Will, was 'nen Mann glücklich machen kann, eine feine Frau, viele Kinder, ein gutgehendes Geschäft, und schon um deiner Angehörigen willen, Will, solltest du's nicht mehr so treiben und das Trinken ganz sein lassen.« Nun, da gab dein Vater zu, daß Ambrose recht hatte, und versprach, weißt du, nie wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken. Und Ambrose ging dann weiter. Und das war an jenem Abend, genau am siebenundzwanzigsten September.

Nun, und dann hörte ich die Stimmen. »Zwei ... Zwei«, sagte die eine, und: »Zwanzig ... Zwanzig«, sagte die andre. »Herrgott!« sagte dein Vater, »es ist niemand da, Frau!« Weißt du, er ging ans Fenster und guckte hinaus. »Es ist nichts zu hören«, sagte er, »du hast es dir nur eingebildet.«

»Aber ich hör sie doch!« sagte ich; aber natürlich, ich war meiner Sache so sicher, wie ich dasaß. »Jetzt hör ich sie schon wieder!« Und freilich, ganz deutlich hörte ich es, »Zwei ... Zwei«, sagte die erste Stimme vom Fenster her, und »Zwanzig ... Zwanzig«, flüsterte die zweite in mein Ohr.

Und da begann auch schon die Glocke zu klingen, weißt du, die alte Glocke oben auf dem Amtsgericht war es, und sie beierte so hart und schnell, wie es nur möglich ist. »Du guter Gott!« sagte ich, »es ist was passiert! Was es nur sein kann?« fragte ich deinen Vater. Und da konnte man schon Leute rufen und schreien hören, das ganze Wohnviertel hinauf bis zum Stadtplatz, ich konnte sogar das Scheppern von Glasscherben hören, als droben an Curtis Black's Hardware Store die Schaufensterscheiben eingeschlagen wurden, weil sich ein paar Männer dort im Laden die neuen Gewehre holten, ja, das taten sie nämlich, und dein Papa, nun, wie Männer eben sind, wollte natürlich gleich dabeisein; er griff nach seinem Hut und sagte: »Das muß ich sehen, ich geh schnell mal hin.«

»Oh, geh nicht!« sagte ich zu ihm. »Geh nicht. Ich wünschte, du gingst nicht. Du solltest mich in diesem Zustand nicht allein lassen«, sagte ich. »Herrgott!« sagte er, »ich bin ja in 'ner halben Stunde zurück. Du bist doch hier gut aufgehoben, und nichts kann dir passieren.« Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte so eine Vorahnung, ich weiß wirklich nicht, wie man es sonst nennen könnte, weißt du, eine Vorahnung von etwas Schauderhaftem, Schauderhaftem, einem herannahenden Unheil. »Ich wünschte, du gingst nicht«, sagte ich, aber er war schon fort und zur Tür hinaus.

 

Als er zur Tür hinausging, sah ich auf die Uhr, und der Minutenzeiger stand genau auf acht, und so war es Punkt zwanzig Minuten vor zehn.

So wartete ich. Ich spürte es, weißt du, ich wußte zwar nicht, was es war, aber ich spürte es kommen, und ich hörte, wie die Uhr auf dem Kaminsims, die alte Uhr im Holzgehäus, weißt du, tock-tock, tock-tock machte und die Minuten abtickte, und laß dir sagen, das war die längste Zeit, die ich je gewartet habe, und jede Minute kam mir vor wie eine Stunde. Und dann schlug die Uhr zehn.

Und dann hörte ich es. Es kam von dem Weg oberhalb unsres Hauses heruntergekrochen, ich hörte, wie die Drähte am Zaun klangen, und dann einen Fall und Geräusche im Blumenbeet vorm Haus, und dann kroch es leise und leicht an der Vorveranda entlang, auf die Tür zu, die von draußen ins Wohnzimmer führt. »O du mein Gott!« sagte ich, denn mir war blitzhaft klar geworden, wer es war. »Nun kommen sie, nun sind sie da, und was soll ich tun, allein und verlassen im Haus mit den Kindern, wie soll ich ihnen gegenübertreten, diesen gewalttätigen Mördern?«

Ich ging zur Tür. Wie ich in meinen Umständen die Kraft und den Mut aufbrachte, das weiß ich nicht, aber Kind! Kind! Die Kraft und der Mut, diesen Männern gegenüberzutreten, muß mir von einer höheren Macht verliehen worden sein. Ich riß die Tür auf. Es war eine stockfinstere Frühherbstnacht, es hatte geregnet, und der Regen hatte aufgehört, und – guter Himmel! – die Dunkelheit schien mir so dick, als ob man sie mit der Axt aufspalten könne, und alles war still und schwer und ein wenig frostig – deswegen hatten wir ja zuvor den Lärm auf dem Stadtplatz so deutlich hören können –, aber nun, mein Lieber, war da kein Laut, kein Wort.

»Schon recht!« rief ich ins Dunkel hinaus, mit fester Stimme, so, wie man singt, so, als fürchtete ich mich vor gar nichts. »Ich weiß, daß du da bist, Ed! Du kannst reinkommen.« Er antwortete nicht. Ich horchte. Ich konnte seinen Atem hören. Er atmete schwer. »Nun, du wirst doch sicher keine Angst vor mir haben. Ich bin ganz allein, weiter niemand wie 'ne wehrlose Frau, vor der man sich nicht zu fürchten braucht.« Ich wußte freilich, daß ihn das ärgern würde.

Nun, es war in der Tat zu viel für seinen Stolz, er richtete sich auf und kam ins Zimmer herein. »Ich fürcht mich vor niemandem«, sagte er, »keinem Mann und keiner Frau.« »Das dacht ich mir schon«, sagte ich. »Es wurde wenigstens erzählt, daß du keine Angst vor dem John Burgin hattest, als du ihn hinterrücks niederschossest, und sicher braucht sich ein Mann, der so viele Menschenleben auf dem Gewissen hat, nicht vor einer Frau zu fürchten, die allein und schutzlos und verlassen in ihrem Hause sitzt. Und ich weiß sogar noch mehr«, sagte ich, »nämlich daß du vor mir keine Angst hast.«

»Nein, Eliza«, sagte er, »die hab ich nicht. Deshalb bin ich ja hier. Du hast nichts von mir zu befürchten, und ich kam, weil ich weiß, daß ich dir trauen kann, und daß du mich nicht verrätst. Du mußt mir helfen! » Nun, der Anblick dieses Menschen war zuviel für mich, er sah aus wie ein gehetztes Wild, und – laß dir sagen, mein Junge – so einen Blick in Menschenaugen, wie ich ihn an jenem Abend sah, möcht ich mein Lebtag nicht wieder sehen. Wenn der Mann in der Hölle gewesen und wieder zurückgekommen wäre, hätte es nicht schlimmer sein können. Es war zu viel für mich, als ich diesen Blick in seinen Augen sah, hätt ich ihn nicht verraten können, ganz gleich, was er auch begangen hätte. »Es ist schon recht, Ed«, sagte ich. »Von mir hast du nichts zu befürchten, ich werde dich nicht verraten. Und du kannst dem Lawrence sagen, er soll hier reinkommen; ich weiß, daß er draußen ist.«

Na, da sah er mich sehr, sehr sonderbar an. »Wie meinst du das?« fragte er. »Lawrence ist nämlich nicht draußen. Wir sind nicht zusammen.« »Ja, er ist draußen«, sagte ich. »Ich weiß, daß er draußen ist. Ich bin dessen ganz sicher. Und so kannst du ihm sagen, er soll ruhig hier reinkommen.« »Ei, wieso willst du denn das wissen?« sagte er ziemlich betreten. »Das will ich dir sagen, Ed«, sagte ich. »Ich hörte Warnstimmen. So wußte ich, daß ihr zwei kämt.« »Warnstimmen?« sagte er, und wurde etwas erregt. »Ei, wer hat dich denn gewarnt? Ist jemand dagewesen? Und wie soll es denn jemand gewußt haben?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Aufzuregen brauchst du dich nicht, Ed. Es ist schon richtig, daß jemand da war und mich warnte, daß ihr zwei kämt, aber es war niemand, vor dem du auf dieser Welt Angst zu haben brauchst. Die andre Welt freilich«, sagte ich, »ist eine andre Sache, und darüber weiß ich keinen Bescheid. Dem, was dort ist, wirst du selber entgegentreten müssen.« Nun, er sah mich an, die Augen quollen ihm schier aus dem Kopf. »Geister?!« sagte er. »Ja«, sagte ich. »Das war es, ganz richtig, Geister. Nun weiß ich zwar nicht, wer sie waren, aber sie kamen hierher, um mich zu warnen, und wisperten mir ins Ohr und sagten, ihr zwei, du und Lawrence, wäret hierher unterwegs und wärt in zwanzig Minuten hier.«

Nun, auf seinem Gesicht stand da allerlei zu lesen, und schließlich sagte er: »Nein, Eliza, du irrst dich bestimmt. Ich möchte dich nicht beunruhigen, aber wenn sie hier waren, um dich zu warnen, dann dreht es sich um etwas anderes, und nicht um Lawrence und mich. Darauf kann ich schwören!« »Wie soll ich das verstehn?« fragte ich. »Ganz wie ich dir sagte«, sagte er drauf. »Lawrence ist nicht bei mir. Wir haben uns vorm Gefängnis getrennt. Wir haben beschlossen, daß es das beste wäre, wenn er nach Süd-Carolina ginge. Und ich geh über das Gebirg. Und wenn wir davonkommen, werden wir uns hoffentlich draußen im Westen wiedertreffen.« »Schau mir ins Auge«, sagte ich. »Sagst du da die Wahrheit?« Nun, er sah mir stracks ins Auge. »Ja«, sagte er, »so wahr mir Gott helfe, es ist so.«

Also, ich blickte ihn an, und da sah ich freilich, daß er die Wahrheit sprach. »Nun ja«, sagte ich, »dann war es eben etwas anderes, und was es war, weiß ich noch nicht, aber es wird sich schon herausstellen.« Und dann fragte ich ihn: »Nun, sag mir, Ed, warum du zu mir ins Haus gekommen bist. Was willst du von mir?« »Ei«, sagte er, »ich muß mich heut nacht durchs Gebirg schlagen, Eliza, und ich hab keine Schuhe, ich bin barfuß.« Nun, vermutlich war ich zuvor so aufgeregt gewesen, daß ich's gar nicht gemerkt hatte, aber nun sah ich ihn mir an, wie er vor mir stand, abgerissen, blutend und barfuß, und da muß ich sagen, einen seltsamen und wunderlichen Anblick bot er schon. Er hatte keine Schuhe und keinen Rock an, bloß ein paar alte, zerrißne Hosen, die aussahen, als hätte er während seiner ganzen Gefängniszeit in ihnen geschlafen, und ein schmutziges, altes Flanellhemd, an dem unter der Schulter ein großer Fetzen ausgerissen war, und sein wirres Haar war verklebt wie eine Fasermatte oder ein Vogelnetz und hing ihm ins Gesicht, und sein Bart war mindestens sechs Wochen gewachsen, und es sah aus, als hätt er sich in der ganzen Gefängniszeit nicht das Haar schneiden und rasieren lassen. Wirklich, bei seinem Anblick wäre ein Grizzlybär zu Tod erschrocken, und, wie ich später zu deinem Vater sagte, die Helfer hatten Ed mit allem zur Flucht ausgerüstet, bloß nicht mit dem Allernötigsten. Sie hatten ihm eine Pistole und Patronen besorgt, damit er Menschen niederschießen könne, ganz so, als ob er noch nicht genug Leute getötet hätte, aber sie hatten nicht Verstand genug gehabt, an Schuhe und einen warmen Rock zu denken. »Wenn das nicht wirklich alles übertrifft, was ich je gehört habe!« sagte ich zu deinem Papa.

»Ich brauch die Schuhe unbedingt«, sagte Ed. »Krieg ich sie nicht, dann werde ich mir im Gebirg die Füße zerschneiden, und wenn ich nicht gehn kann, bin ich erledigt und werde geschnappt werden.« »Gewiß«, sagte ich, »so ist's.« »Also, Eliza«, sagte er, »deswegen kam ich zu dir. Ich wußte, du würdest mich nicht verraten, und ich könne mich auf deine Hilfe verlassen. Nun, du siehst ja selbst, ich hab 'nen furchtbar großen Fuß, und der einzige Mann, von dem ich hier in der Stadt weiß, daß seine Schuhe groß genug für mich sind, ist Mr. Gant. Wenn du mich also bloß ein Paar alte Schuh von ihm haben läßt, was für ist ja ganz gleich, dann will ich sie dir gern bezahlen. Geld hab ich genug«, sagte er, und da zog er eine große Rolle von Dollarnoten aus der Tasche, und ich sah, daß er in dieser Beziehung heil und versehen war. »Ich werde dir jeden Preis zahlen, den du verlangst.« »Nein, Ed«, sagte ich, »dein Geld will ich nicht.« Weißt du, Junge, ich hätt's nicht nehmen können, es kam mir wie Blutgeld vor. »Ich werde dir die Schuhe schenken«, sagte ich und ging an den Wandschrank und holte sie heraus, ein Paar feine neue Schuhe, mein Lieber, die sich dein Papa erst vor ein paar Monaten gekauft hatte, und in gutem Zustand waren sie auch, denn dein Vater hielt sehr auf seine Sachen und ließ ihnen jede Pflege angedeihn. »Hier sind sie«, sagte ich, »hoffentlich passen sie dir.« Er zog sie also an, und – sieh da! – sie paßten ihm, als wären sie für ihn gemacht. Und weißt du, obschon dieser Mensch gemordet hatte, er bewies nun doch ein wahres Empfinden; er nahm meine Hand, Tränen standen ihm in den Augen, und er sagte: »Ich werd es mein Lebtag nicht vergessen, was du an mir getan hast, Eliza, und wenn sich je eine Gelegenheit bietet, daß ich's dir wettmachen kann, dann werd ich's tun.« »Nun«, sagte ich da, »du kannst etwas tun für mich, und zwar kannst du's hier und jetzt tun.« »Was ist es?« fragte er. »Dein Geld will und möchte ich nicht, Ed«, sagte ich, »und die Schuh geb ich dir gern und hoff, daß sie dir zu einer glücklichen Flucht verhelfen – Schuhe nämlich brauchst du dazu –, aber was du nicht brauchst, ist diese Pistole, die du da in deiner Hüfttasche stecken hast.« Die Pistole, weißt du, konnte ich erkennen, sie zeichnete sich bei jedem Schritt, den er tat, deutlich ab. »Blut«, sagte ich, »hast du genug vergossen, und komme, was will, ob dir die Flucht glückt oder nicht glückt, ich möchte nicht hören, daß du nochmals Menschenblut vergossen hättest. Und so kannst du mir die Waffe hierlassen und weitergehn. Wenn sie dir auf die Spur kommen, nützt sie dir doch nichts.«

Er sah mich an, einen Augenblick war er unschlüssig, dann gab er mir die Pistole. »Da hast du vermutlich recht«, sagte er. »Sie wird mir wohl doch nicht viel nützen, und außerdem, mir ist's gleich, ob sie mich fangen oder nicht. Ich hab so viele Verbrechen begangen, daß es mir gleich ist, was aus mir wird. Mir wär's recht, wenn es ausgestanden wär«, sagte er. »Nein«, sagte ich, »so sollst du nicht denken, das hör ich nicht gern von dir. Du hast eine Frau, die durch dick und dünn zu dir gehalten hat, und kleine Kinder hast du auch, und so sollst du an deine Familie denken. Geh irgendwohin, wo dich keiner kennt, und fang von neuem an, und, wenn es soweit ist, schick nach deiner Familie, und ich kenne deine Frau«, sagte ich und sah ihm ins Auge, »ich kenne sie und weiß, daß sie zu dir kommen wird.«

Nun, das war zuviel für ihn. Er konnte nicht sprechen und wandte sein Gesicht ab. Und schließlich sagte er: »Schon recht, ich will's versuchen.« »Und nun«, sagte ich, »geh. Ich möchte nicht, daß du hier im Haus angetroffen wirst. Und ich hoffe, daß es dir in allen Stücken gut geht.« »Lebwohl«, sagte er, »ich versuche, von nun an ein beßres Leben zu führen.« »Ja«, sagte ich, »das solltest du. Du mußt all das viele Unheil, das du angerichtet hast, wiedergutmachen, und so gehe denn und sündige hinfort nicht mehr.« So sagte ich.

Nun, er ging. Ich hörte, wie die Drähte am Zaun klangen, und sah ihn die Straße hinaufgehn; ich vermute, er ging den Berg gleich hinterm Haus hinauf. Es glückte ihm, zu entkommen. Wiedergesehn hab ich ihn nie.

Nun, es dauerte keine zehn Minuten, und da kam er, du weißt schon wer, dein Papa nämlich, ganz aufgeregt über die Neuigkeit, die er mir verkünden zu können glaubte.

»Nun«, sagte er, »sie sind aus dem Gefängnis ausgebrochen, alle fünf sind sie entwischt. Hensley und ein ganzer Haufen Männer haben die Fenster an Black's Hardware Store zertrümmert, um sich mit Gewehren zu versehn. Nun ist er mit einem Häschertrupp hinter den Flüchtigen her.«

»Ja«, sagte ich, »und du mußtest in die Stadt hinauflaufen, um ausgerechnet das herauszufinden, nicht wahr? Wenn du das nächste Mal so fortrennst, dann bring mir wenigstens eine Neuigkeit zurück, die auch wirklich eine ist.« »Ei«, sagte er, »wieso hast du's denn gehört? Weißt du es wirklich schon?« »Ob ich's wirklich schon weiß?« sagte ich. »Ei, ich weiß mehr von der Sache, als du je davon erfahren wirst, und meine Informationen sind aus erster Hand, und obendrein brauchte ich dazu keinen Fuß vor die Schwelle zu setzen.« »Wieso?« fragte er. »Wie war denn das? Wie soll ich das verstehn?« »Ich hatte Besuch in deiner Abwesenheit«, sagte ich. »Wer war da?« fragte er. Ich sah ihn an. »Ed Mears war da«, sagte ich. »Guter Gott!« rief da dein Papa. »Dieser Mörder, sagst du, war hier?! In meinem Haus! Hast du Alarm geschlagen? Hast du die Nachbarn gerufen?« »Nein«, sagte ich. »Nun, dann muß ich's tun«, sagte er. »Jetzt! Sofort! Diese Minute noch!« Er wollte weglaufen, aber ich hielt ihn zurück. »Nein«, sagte ich. »Das wirst du nicht tun. Du bleibst hier. Ich hab ihm versprochen, ihn nicht zu verraten, und dieses Versprechen müssen wir halten. Bleib also ruhig da!« Er überlegte sich's ein Weilchen. »Nun gut«, sagte er dann. »Ich nehm an, du hast recht. Schließlich ist's wohl am besten so. Aber, bei Gott, das ist wahrhaftig die sonderbarste Sache, die mir je zu Ohren gekommen ist.«

Also richtig, sie entkamen, und keiner von den fünf Ausbrechern wurde wieder eingefangen. Jahre später dann machte dein Vater jene Reise nach Kalifornien, und dort erzählte ihm Truman, daß Ed und Lawrence, seine Schwiegersöhne, zu ihm ins Haus kamen, nach Colorado, wo er damals lebte, und nach einem halben Jahr oder so sind dann die beiden Frauen ihren Männern dorthin nachgefahren. Lawrence Waynes Frau, die Mary Truman, starb ein oder zwei Jahre später in Colorado an der Schwindsucht, und was nachher aus Lawrence wurde, weiß ich nicht für gewiß. Das Gerücht ging, er hätte sich in Kansas angesiedelt und wieder geheiratet; er soll viele Kinder haben und noch immer dort leben, mein Lieber, als ein Mann von Wohlstand, der in seiner ganzen Gemeinde die höchste Achtung genießt.

Aber was aus Ed Mears wurde, weiß ich. Seine Geschichte habe ich von Dock Hensley. Truman hatte bereits deinem Vater erzählt, daß Ed draußen in Colorado in einem Bergwerk arbeitete, und als es soweit war, da schickte Ed nach seiner Frau, und Addie kam. Sie lebte, wie Truman erzählte, ein Jahr oder so im Gebirg mit ihrem Gatten zusammen, aber dann kehrte sie ins Haus ihres Vaters zurück. Oh, und der hat es dann deinem Vater erzählt, warum. Er sagte, es wäre grauenhaft gewesen, und die Frau hätte es nicht länger ertragen können. Sie sagte, Ed würde verrückt, manchmal sei er ganz von Sinnen und schrie und tobte, daß die Geister der Männer, die er erschlagen hatte, aus dem Grab erstanden seien, um ihn heimzusuchen. Nun, als mir dein Papa es wiedererzählte, da sagte ich: »Da siehst du's, nicht wahr? Da hast du's ja gehört, wie es geht, nicht wahr? Der Schuldige fleucht, auch wenn ihn niemand verfolget. Das bleibt immer wahr.« »So ist's«, sagte er drauf. »So sicher, wie ich geboren bin, ist es das schuldbeladne Gewissen.« Und Truman erzählte deinem Vater weiter, daß er seine Tochter nicht zu Ed zurückgehen ließ, sondern sie in den Osten zurückschickte, wo sie Ed nie mehr sehen würde. »Aber natürlich«, erzählte er deinem Vater, »hat Ed mich bedroht; er drohte, er wolle mir das Leben nehmen, aber ich sah, daß der Mensch wahnsinnig werden würde, und so ließ ich sie nicht zu ihm zurückgehn.« So erzählte er.

Also, Addie kehrte in die Heimat zurück und ließ sich scheiden. Cash Jeter war es, der die Klage für sie führte. Das war lange, bevor Cash Jeter in den Senat gewählt wurde; damals war er einfach ein Rechtsanwalt. Die Geschichte geht so, daß er sich im Verlauf des Verfahrens in Addie verliebte, und dann hat er sie, einen Monat nachdem die Scheidung rechtsgültig wurde, geheiratet. Na, ich sagte damals zu deinem Papa: »Lang gewartet haben sie nicht, was? Mir scheint, sie hätten wenigstens die Anstandszeit abwarten können.« »Ach, Herrgott!« sagte dein Vater und zitierte den Hamlet: »›Das Fleisch vom Leichenschmaus ward kalt zum Hochzeitsmahl gereicht, und das, Horatio, war Sparsamkeit, wie sie sich rächt.‹« »So ist's«, sagte ich, »ja so war es, ganz so.«

Ja, und dann, einige Zeit später, wurde Dock Hensley von der Behörde in die Südweststaaten geschickt, er sollte dort jemanden aufgreifen, der gemordet hatte. Hensley erzählte bei seiner Rückkehr, wie er in Mexiko zufällig den Ed Mears traf. Auf einem Dampfer, der irgendwo zwischen Texas und Mexiko verkehrt – Hensley war, wie ich vermute, auf der Spur jenes Mörders, nach dem er fahndete –, sah er, so erzählte er, den Ed Mears von Angesicht zu Angesicht. »Er hat sich 'nen Bart stehn lassen«, erzählte Hensley, »aber trotzdem, ich erkannte ihn gleich. Immerhin, er hat sich sehr verändert, er ist nicht mehr derselbe Mensch, den wir hier kannten, er sah aus wie ein Toter, wie ein Schatten seines früheren Selbst. Wirklich«, sagte Hensley, »Ed war nur noch ein Bündel Haut und Knochen, nicht mehr Fleisch an ihm als an einem Eichhörnchen«, genau so drückte er sich aus. »Na«, fragte ich da den Dock Hensley, »hat er Sie erkannt? Hat er Sie angesprochen?« Denn, du verstehst schon, ich wollte die Geschichte hören. »Ei, Herrgott, ja«, sagte Hensley. »Wir hausten dort vier Tage zusammen und feierten Wiedersehn als gute alte Kumpane.«

Und dann erzählte er mir genau, wie die Begegnung war. »Nun freilich«, sagte er, »als Ed mich so plötzlich an Deck des Dampfers erblickte, da dachte er, ich wäre hinter ihm her, und er kam stracks auf mich zu, um sich mir auszuliefern. Er sagte: ›Schon recht, Dock, ich weiß, daß du hier bist, um nach mir zu fahnden, und ich bin bereit, mit dir zurückzukehren.‹ ›Nein, Ed, da irrst du dich‹, sagte ich, ›ich bin hier auf einer andern Fährte. Du bist es nicht, hinter dem ich her bin, dich soll ich nicht festnehmen, und selbst wenn ich es wollte, ich habe nicht die Autorität dazu, denn ich hab keinen Haftbefehl, der auf dich lautet.‹ ›Schön‹, sagte der Ed drauf, ›ich kehr ohnehin eines Tages von selber zurück. Ich hab noch einen Menschen zu töten, eh ich sterbe; dann können sie mich festnehmen und mit mir machen, was sie wollen.‹« Nun, Dock Hensley fragte dann: »Ei, Ed, wer ist's denn, den du umbringen willst?« Und darauf sagte Ed: »Es ist Cash Jeter.« Und dann erzählte mir Dock Hensley, wie bitter Ed Mears den Cash Jeter haßte, weil der die Scheidung durchgesetzt und Eds Frau, die Addie, geheiratet hatte.

Dock Hensley erzählte auch, was sich dort zutrug, ehe er wieder heimreiste. Da schrieb nämlich Ed einen Brief und bat Hensley, ihn zu Hause dem Cash Jeter auszuhändigen. Hensley behauptete, er habe selber gesehn, was in dem Brief stand; er habe so was sein Lebtag nicht zu lesen gekriegt, sagte er. »Ich mag zum Mörder geworden sein«, schrieb Ed, »und gar manches Verbrechen, für das ich büßen muß, lastet auf meiner Seele, aber so tief bin ich nie gesunken, daß ich einem Manne das Weib von der Seite stahl. Und nun kannst du dein Haus richten und dich auf mich gefaßt machen, denn ich werde zurückkommen. Es mag einen Monat dauern, oder ein Jahr, oder vielleicht auch zehn Jahre, aber ich werde kommen. Ich habe mit dir abzurechnen, und also: mach dich gefaßt.« Nun ja, und dann erzählte Hensley, wie es war, als er dem Cash Jeter den Brief überbrachte. Jeter riß den Brief auf und las ihn, und, wie Hensley sagte, Jeter erbleichte und fing an zu zittern, und ich vermute freilich, daß von diesem Tag an sein Leben einer Hölle auf Erden gleichkam, bis eben die Nachricht einlief, Ed wäre tot. Denn es kam so, daß Ed nicht lange genug lebte, um seinen Vorsatz wahrzumachen, er wurde bei einer Schießerei in einer Schankbar in Mexiko getötet, aber du kannst versichert sein, sonst wär er gekommen.

Also, so ist es gewesen; ganz richtig, genau das hat sich zugetragen.

 

Schließlich jedoch stand ich immer noch vor einem Rätsel: – was konnte nur dieses »Zwei ... Zwei« und »Zwanzig ... Zwanzig« bedeuten?

»Herrgott noch mal!« sagte dein Papa, »es bedeutet gar nichts! Es ist doch überhaupt nie vorgefallen, du hast dir das alles nur eingebildet.«

»Abwarten«, sagte ich da, »abwarten und zusehen.«

Lang dauerte es nicht; lang brauchten wir nicht zu warten.

Eines Tages vor dem Mittagessen, es wird so gegen ein Uhr gewesen sein, fingen meine Wehen an. Ach du guter Gott, es war so, als hätt sich etwas in mir losgerissen! Und dein Vater war zugegen, er war früh heimgekommen, er stand draußen hinterm Haus im Garten und löste das Fett aus einer Schlachtsau, die er zum Einpökeln gekauft hatte. »Ei, warum in aller Welt«, rief ich aus, »hast du sie denn gekauft?!« O Kind! Kind! Diese furchtbare Verschwendung! Diese schauderhafte Maßlosigkeit! Ich hab's ihm wirklich oft gesagt, wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätt er bestimmt jeden Pfennig, den er vereinnahmte, ausgegeben, damit Metzger und Bäcker, Bauer und Schankwirt schön warm liegen! Er konnte da einfach nicht widerstehen, weißt du. Also, ich sagte zu ihm: »Wie kommst du nur dazu, noch eine ganze Schlachtsau zu kaufen?« Denn wir hatten Schinken und Speckseiten in der Vorratskammer hängen, die er bereits gekauft hatte, ich bitte dich, sechs geräucherte Schinken, und da kommt der Mann, wie er leibt und lebt, nach Hause und bringt eine ganze Schlachtsau mit. »Ei Mann!« sagte ich. »All das Schweinefleisch bringt uns ja um!« Ja, das sagte ich; wir hatten ja selber einen Haufen Hühner zum Schlachten, und außerdem hatte er mir am selben Tage einen zwölfpfündigen Rostbraten vom Markt runter ins Haus geschickt. »Wir werden uns krank dran essen«, sagte ich, »und die Kinder werden wir ins Bett stecken müssen, denn so viel Schweinefleisch kann niemand vertragen, es tut kein gut.« Also, stell dir vor, so eine Vergeudung, weißt du – Kind, Kind, wie oft bin ich dagesessen und habe darüber geweint, daß er hinging und das Geld so hinauswarf. »Ach Gott«, sagte ich, »so einen Vielfraß hab ich mein Lebtag nicht gesehn!« Ich wollte damit an seinen Stolz appellieren. »Du denkst doch wirklich nur an deinen Bauch! Nun setz dich doch mal hin und überleg dir die Sache in aller Ruhe! Wie in aller Welt willst du je zu Vermögen und Besitz kommen, wenn alles, was du verdienst, durch den Schlund in den Magen geht? Beschwören will ich's, Mann, ich glaub gar, daß bei dir das Hirn selbst im Magen sitzt!« Also, das ging gewöhnlich so, daß dein Papa in der Stadt irgendeinen alten Farmer traf mit einem ganzen Wagen voll Zeug, das der Mann gern loswerden wollte, damit er wieder einspannen und heimfahren könne. Und dein Papa kaufte ihm dann einfach alles ab. Ei, ich hab dir doch oft davon erzählt. Dieser Dummkopf! Stell dir ihn vor! Kaufte er nicht mal so einem Farmer vierzig Dutzend Eier ab?! Ich hätt sie ihm an den Kopf schmeißen können, so ärgerte ich mich! Es war in der besten Legezeit, und unsre Hühner legten mehr als genug. »Ei«, fragte ich ihn, »wie kommst du nur drauf, mir so einen Streich zu spielen?« »Nun ja«, sagte er da und macht ein Schöpsengesicht, »er ließ mir die Eier das Dutzend für sieben Cent, und da schien's mir ein guter Kauf. Töricht, da nicht zuzugreifen.« »Was schert mich denn das?« sagte ich drauf, »und wenn er sie dir das Dutzend für zwei Cent gegeben hätte, es war hinausgeworfnes Geld. Wir werden sie nicht verbrauchen können.« »Aber natürlich können wir das«, sagte er, »die Kinder werden sie schon essen.« »Ei, um Himmels willen, Mann«, sagte ich, »wie kannst du nur so daherreden? Die Kinder werden sich so an Eiern überessen, daß sie ihr Lebtag kein Ei mehr sehn können. Sie werden sie nie aufessen, die Eier werden einfach faul werden, weiter nichts!« Na, und da machte er erst recht ein Schöpsengesicht, ja, ein Schöpsengesicht, und sagte: »Nun, ich glaubte, das Richtige zu tun. Und so hab ich mich wohl geirrt.«

Und ja! Kam er nicht eines schönen Tags mit 'ner ganzen Wagenladung Melonen heim? Siebenundzwanzig Wassermelonen, ich bitte dich, und der Himmel weiß, wieviel Cantaloupemelonen es waren, ein paar hundert müssen es schon gewesen sein. »Daß du aber nicht wirklich mehr Vernunft hast!« sagte ich. »Ach, die werden wir schon aufessen«, sagte er. »Die werden schon gegessen werden. Die Kinder werden sie schon aufessen.« Ja, und dann hat sich der Lukas wirklich daran übergessen. »Na«, sagte ich zu deinem Papa, »und jetzt haben wir auch 'ne Doktorrechnung obendrein zu bezahlen für die Melonen!« Ach, und all die andern Male ... da kam er heim, sozusagen mit ganzen Wagenladungen voll Maiskolben, Tomaten, grünen Bohnen, Zwiebeln, Rettichen, Roterüben, Weißrüben, Süßkartoffeln, allen möglichen Gartengemüsen und allen Arten Obst, Pfirsichen und Birnen, Äpfeln und Pflaumen, und dabei hatten wir doch den Garten mit dem Baumstück hinterm Haus, wo alles wuchs, was wir brauchten. Aber nein! Ich hatte ja vollauf zu tun, um Mittel und Wege auszusinnen, damit das Zeug nicht zukäme. Wie oft hab ich zu ihm gesagt: »Wie erwartest du eigentlich von mir, daß ich mich auch noch um die Kinder bekümmere, nachdem du diese Haufen Zeug hier ablädst?« Also, da stand ich – in andern Umständen, weißt du – und kochte ein, was ich nur einkochen konnte, und er stand hinterm Haus und löste das Fett aus. Ach! Und dieser Geruch! Dieser alte, starke Geruch von unausgeschmelztem Schweinefett! Und dabei war die Vorratskammer schon bis oben voll! Und was ich alles bis zu jenem Tage schon eingekocht hatte! Vierhundertsiebenunddreißig Krüge mit eingekochten Kirschen, Pfirsichen, Apfel- und Traubengelee, Pflaumenmus, Quittenmarmelade, Birnschnitzen, Tomatensauce, Chow-Chow, gepickelte Gurken und lauter so Sachen – also: die Kammer war voll bis an die Decke, aber eins laß dir gesagt sein, Junge, essen konnte der Mann, essen, das konnte er, dein Papa, ei, ich hab doch wirklich in meinem Leben einige rüstige Esser kennengelernt, aber ich hab nie einen gesehn, der das Futter verstauen konnte wie er! Das hatte er, glaub ich, von seinen Leuten da droben in Pennsylvania; er erzählte oft, wie es da in seiner Jugend war auf der Farm. Da kamen sie vom Acker heim, die ganze Familie, erzählte er, und dann hauten sie ein, und jedes aß so viel, daß es 'nen Ochsen arbeitsunfähig gemacht hätte. Hab ich vielleicht nicht mit meinen eigenen Augen gesehn – damals, als wir dort zu Besuch waren –, wie die alte Frau, seine Mutter, deine Großmutter, mein Junge, auf einen Sitz ein ganzes Huhn aufaß und dann drei große Stücke gedeckten Apfelkuchen, und dann sagte sie noch zu deiner Tante Augusta: »Tochter, hier! Leg mir noch mal vor!« Ei, und die alte Frau war damals schon hoch in den Siebzigern. Und so traf sie auch der Tod. »Na, stell dir vor!« rief ich aus, als die Nachricht kam. In ihrem sechsundneunzigsten Jahr fiel sie vom Stuhl runter und brach ein Bein, als sie grad nach einem gerösteten Maiskolben langte. Und natürlich, das war dann doch zuviel, es brachte sie um, sie war einfach zu alt, um den Unfall zu überstehn, der gebrochne Knochen konnte nicht mehr zusammenheilen. »Aber das überbietet doch alles!« sagte ich damals.

 

Tatsächlich, beschwören will ich's, es ist ein Wunder, daß sein Körper den Zumutungen gewachsen war, daß er es so lange aushielt! Hirn und Eier und Speck und Beefsteak und Haferspeise und heiße Biskuits und Würstchen und zwei oder drei Tassen Kaffee zum Frühstück, und zum Dinner und zum Supper jedesmal zwei oder drei Fleischgänge, Leber, Rostbraten, Schweinernes, Fisch, Huhn, sechserlei Gemüse dazu, Bohnen, Kartoffelbrei, Succotash, Kohlrübengemüse und dergleichen, und dazu eingekochte Pfirsiche oder so was und dann noch einen gedeckten Obstkuchen. »Ei«, sagte ich seinerzeit zu dem Doktor Wade Eliot, »das hat sicher mitgeholfen, daß dieses Leiden über ihn kam. Er hat sich sein Grab mit den Zähnen gegraben.« »Nun«, sagte da Eliot, »da hat er aber ziemlich lange gegraben.« Und freilich, da mußte ich's zugeben, und trotzdem, beschwören will ich's, daß ich manchmal denke, er könnte heut noch leben, wenn er nur mehr Maß gehalten hätte!

Also, wie ich schon sagte: – da und dann fielen sie mich an, die Wehen. Ich machte die paar Schritte ans Fenster und rief hinaus zu deinem Papa: »Komm! Komm!! Schnell!!!« Und laß dir sagen, Junge, da fackelte er nicht, nein, gerannt kam er, gerannt.

»Ach, das kann es noch nicht sein!« sagte ich. »Es ist noch nicht an der Zeit.«

»Ich glaub doch, daß es das ist«, sagte er. »Ich lauf und hol den Arzt.«

Und er ging.

 

Das war im Jahr, als die Heuschrecken kamen; es scheint so lange her zu sein, das Jahr, als die Heuschrecken kamen und alles auf Erden kahlfraßen, es scheint mir so lange her. Aber nein (dachte ich damals, bei diesen Wehen, denn, weißt du, ich stand vor einem Rätsel), es kann doch nicht das sein, es ist doch noch nicht an der Zeit, es ist doch erst voriges Jahr im Januar soweit gewesen – – O Gott! O Gott! Wie oft muß ich an alles denken, das ich durchgemacht habe, und mich wundern, daß ich noch da bin und davon erzählen kann! Tatsächlich, ich glaub's, ich muß die Gewalt der Natur in mir gehabt haben; es fiel mir doch nicht schwerer, als es der Erde fällt Korn zu tragen – all diese Kinder, die acht, die am Leben blieben, und all die andern, von denen du nie gehört hast –, all diese Kinder und weniger eheliches Leben als irgendeine Frau, von der ich je gehört hab – und ach, wenn ich daran denken muß, denken muß, daß dein Vater diese Dinge zu mir sagte, die er zu mir gesagt hat –, daß er mich verfluchte und mich kränkte und mit anderen Frauen herumzog, nachdem er es doch war, der mich in die Umstände gebracht hatte, und daß er sich wie ein Teufel benahm, als er sah, was er da in mir angestellt hatte. Gott! Gott! Er war ein seltsamer Mann, ein wilder und unbändiger Mensch; es saß ein Teufel in ihm, irgendwo saß da irgend etwas Wildes und Fremdes in ihm, das wir nie kennenlernten – die Dinge, die er sagte und tat, waren mehr, als ich ertragen konnte, sie erbitterten mich, und ich betete, der Himmel solle ihn strafen – aber ach Gott! – es ist so lange her seit dem Jahr, als die Heuschrecken kamen –, alles denkt mir noch, die Orangenbäume und die Feigenbäume und die Lieder und all die Zeiten, die wir miteinander durchlebt haben – ach! die guten Zeiten, die schlechten Zeiten, die Glückseligkeit und die bittren Tränen, und nun ist es etwas, das nicht gesagt werden kann; ich versuchte ihn zu hassen, aber nun kann ich kein Wort gegen ihn sagen; er war ein sonderbarer Mensch, aber wo er auch immer war, da war niemand, den es fror, niemand, den es hungerte, da war immer genug da für alle, und nun, wenn ich seiner gedenke, da scheint es so lange her zu sein seit dem Jahr, als die Heuschrecken kamen, und immer ist etwas in mir, das ich sagen möchte, und das nicht ausgesprochen werden kann.

Jenes Jahr – es war das Jahr, als die Kinder den Typhus hatten, und Steve und Daisy waren gerade wieder so auf dem Weg der Gesundung, und so hatte ich sie (wie ich das alles so allein schaffte, Gott, ich weiß es nicht!) mit hinunter nach Florida genommen, nach St. Augustine –, und dann kam dein Papa nachgefahren, freilich, lange konnte er nicht bleiben, aber er kam uns nachgereist, und dann fing er dort an zu trinken. Ich wollte das Zeug finden, aber er hatte deinen Bruder Steve abgerichtet, daß dieser ihm die Flaschen im Sand unterm Haus versteckte, und dann fing er an zu fluchen und zu toben, als er sah, daß er mich wieder in die Umstände gebracht hatte, und er sagte: »Verdammt sollst du sein! Wenn du das Wesen in dir mit nach Haus bringst, dann schlag ich euch beide tot!« Stell dir das vor, Kind! Stell dir vor, daß er so zu mir reden konnte, oh, es erbittert mich, ich konnte nicht stillhalten und daran denken, ich ging im Zimmer auf und ab, auf und ab, auf und ab, und dann trat ich hinaus auf die Veranda und lehnte mich an einen Pfosten – (wir wohnten dort in einem Holzhäuschen, das ich von Leuten aus den Nordstaaten gemietet hatte, und die Veranda hatte kein Geländer, aber da war ja weiter nichts, als dieser alte, lose Sand, und so wußte ich, die Kinder würden sich nicht wehtun, falls eins von ihnen wirklich mal herunterfiele) – und »Guter Gott! Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?« dachte ich ...

 

Am nächsten Tag war der Rausch ausgeschlafen, dein Papa war wieder nüchtern und ganz in Ordnung, und so gingen wir gegen Sonnenuntergang mit den Kindern nach dem alten Fort Marion, dem spanischen Fort drunten bei Ponce de Leon, und da waren all die vielen Leute in ihren feinen Kleidern, und die Militärkapelle spielte, und dann wurde die Flagge gestrichen, man hörte den Salutschuß und das Hornsignal, und dann wurde die Flagge eingezogen – und ja! Tutel-uh! Tutel-uh! –, so ging das Hornsignal, und all die kleinen Kinder legten die Hand an den Mund und versuchten, ob sie das Hornsignal nachmachen könnten, und die Vögel flogen, und Palmen standen da, und die Kapelle spielte auf, und es roch nach Wasser und nach der Orangenblüte, und da stand das alte Fort mit seinen geschwärzten Mauern – ei, guter Gott! an manchen Stellen waren die Mauern vierzehn Fuß dick! –, und hinter dem Fort ging die Sonne unter wie eine große, goldne Orange, und die Leute lauschten der Musik. Im Januar dieses Jahres kamen zu Hause die Heuschrecken angeschwärmt, und dann spürte ich einen solchen Schmerz, als ob sich das Wesen in mir ganz losgerissen hätte.

»Komm!« sagte ich. »Wir müssen gehn!« Und da fragte er: »Was ist dir denn?« Und da sprach ich zu ihm: »O Gott! Es reißt mich schier entzwei. O Gott! Wir werden das Haus nicht mehr erreichen. So kommt doch, kommt!« Und wir gingen, die Kinder und dein Vater und ich, und die Füße versagten mir fast den Dienst, und bei jedem Schritt sank ich in den Sand ein, und schließlich dachte ich, ich würde das Haus nicht mehr erreichen, und dieses große Stück von einem Wesen riß an mir, und schließlich nahm mich dein Vater auf seine Arme und trug mich das letzte Stück Wegs und ins Haus. Und ich sagte: »Da siehst du's, nicht wahr? Da siehst du, was du getan hast. Das hast du angerichtet!« Und da wurde ihm angst, und er erbleichte übers ganze Gesicht, und er sagte: »Mein Gott! Mein Gott! Was hab ich getan!« Und er ging im Zimmer auf und ab, und es wurde dunkel, und nebenan schliefen die Kinder, und dein Vater ging hinaus in den Garten, und in jenem Garten stand ein Feigenbaum, und ich lag im Dunkeln und hörte, wie draußen Leute vorübergingen, und von irgendwoher konnte ich Musik hören und lachende Stimmen und Lieder, und ich konnte alle die Blüten riechen – oh, die Magnolien und Lilien und Rosen, die Poinsettien und all die andern Blumen, die es in Florida gibt, und die Orangenbäume und all die andern Bäume, die damals dort blühten. Und ich konnte dem Schlaf meiner kleinen Kinder lauschen im Haus, und durchs Fenster den Himmel sehen, der ganz voller Sterne war, und »Guter Gott!« dachte ich. »Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?« – und das war im Jahr, als zu Haus die Heuschrecken kamen, und nun scheint es so lange her.

 

Aber guter Gott! Mich deucht, daß Nelson damals wirklich ganz recht hatte, als er zu mir sagte: »Sie haben tatsächlich die Gewalt der Natur in sich. Ihresgleichen ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht begegnet.« So sagte er wörtlich. Ei ja! Hatte ich nicht alle diese Kinder, und konnte ich nicht alles zum Wachsen bringen, wenn ich es bloß mit der Hand berührte? Und war es nicht immer so gewesen mit mir, von Kindesbeinen an – Tomaten und Blumen und Mais und Gemüse und alle Arten Frucht? Ei guter Gott! es sah aus, als braucht ich bloß meine Finger in die Erde zu stecken, und da schösse auch schon das Wachstum für mich auf. »Oh«, sagte der alte Schuhmacher zu mir, der, wie du weißt, jede freie Minute in seinem Garten arbeitete, bis der Garten aussah wie ein Schachbrett, schön, sauber und ordentlich und alles hübsch hochgebunden und kein Unkraut zwischen den Pflanzen, ganz so, wie er es, mutmaße ich, zu Hause in Deutschland gelernt hatte. »Oh«, sagte er, »Sie dürfen Ihren Garten nicht so verwildern lassen; Sie müssen jäten, oder die Pflanzen gedeihen Ihnen nicht.« »Abwarten«, sagte ich da zu ihm, »abwarten und zusehen! Sie werden schon wachsen, für mich werden sie schon wachsen. Was ich hier ziehe, wird genau so gut sein wie das, was Sie ziehen mit all Ihrer Arbeit und Jäterei.« Und kriegte ich nicht auf meinen Beeten Zwiebeln und Rettiche und Radieschen und Blattsalat und Tomaten, neben denen sich seine überhaupt nicht sehen lassen konnten?! Ei, guter Gott, man konnte sie aus der Erde schießen sehn! Und laß dir eines gesagt sein, Junge, wenn je das Schlimmste zum Schlimmsten käme, selbst dann, wenn ich keinen Pfennig mehr zum Ausgeben hätte, ich könnte leben, denn ich würde einfach die Erde für mich arbeiten lassen. Ich habe es gekonnt, und ich kann's heute noch.

Ei ja! Da fällt mir ein, im letzten Winter ging ich eines Tags ins Büro der Catawba Coal Company, um meine Kohlenrechnung zu bezahlen, und da sprach ich mit ihm, genau zwei Tage bevor ihn ein tödlicher Herzschlag rührte, und – sah ich ihn da nicht – du weißt schon, wen ich meine, den Miller Wright nämlich – einen Mann, kaum einen Tag über siebzig, aber bleich wie ein Gespenst und bebend und zitternd wie Espenlaub? »Ei Miller!« sagte ich zu ihm, »es macht mir Sorge, dich in dieser Verfassung zu sehen. Was ist los? Was fehlt dir denn?« »Oh, Eliza«, sagte er bebend und zitternd, »es ist der Kummer, es sind diese ewigen Sorgen. Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich mir ständig Gedanken machen muß.« »Aber was!« sagte ich, »was ist denn eigentlich los?« Und er sagte: »Ach, Eliza, alles, was ich je besaß, ist dahin. Ich hab keinen Pfennig mehr. Den größten Teil habe ich an meinen Grundstückspekulationen verloren«, erzählte er, »und nun hat auch diese elende Bank noch bankrott gemacht. Was soll ich denn da tun?« »Tun?« sagte ich. »Ei, du wirst eben dasselbe tun, was ich tun werde, nämlich von deinen Fehlern lernen und wieder von vorn anfangen.« »Ach, aber Eliza, Eliza!« sagte er und schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät. Wir sind beide siebzig, und so sind wir zu alt. Zu alt.« »Alt!« sagte ich da. »Ei, du lieber Gott, ich könnte gleich morgen früh anfangen und mir mit den Jüngsten und Besten um die Wette mein Brot verdienen.« »Das schon«, sagte er. »Aber, Eliza, sag mir doch, was du wirklich tun wirst.« »Tun?« sagte ich da. »Nun, ich sag dir's ja, ich werde mich dranhalten und schwer schaffen, bis ich achtzig bin, und dann«, sagte ich und blinzelte ihn an, »werde ich loslegen und einen höllisch liederlichen Lebenswandel anfangen.« So sagte ich, wörtlich, weißt du, ich wollte ihn ein bißchen aufheitern, und freilich, da mußte er lachen, und dann sagte er: »Nun ja, ich nehm an, dein Plan ist so gut wie irgendein anderer.« »Nun hör aber mal, Miller«, sagte ich drauf, »du solltest wirklich genug wissen, um dich nicht so unterkriegen zu lassen. Wir beide haben viel mitgemacht und haben ein paar äußerst harte Zeiten überstanden, ei, diese Leutchen von heutzutag wissen ja gar nichts davon, die haben ja gar keine Ahnung davon, was harte Zeiten sind.« – Ja, sind wir nicht beide hier auf dem Land aufgewachsen, sind unsre Elternhäuser nicht bloß fünf Meilen auseinandergestanden, und denkt mir etwa das alles nicht mehr? O ja! Mir denkt es alles, jede Minute denkt mir, so deutlich, als wär es heute morgen gewesen, wie die Männer heimmarschiert kamen, wie die Frauen weinten, wie der Staub aufwirbelte, wie schwer die Zeiten waren, die wir durchmachten, und wie hart die Arbeit war, die wir tun mußten, ach, die Wolle, der Flachs, das Spinnrad, alles, was wir im Garten bauten, und die Dinge, die wir im Haus anfertigten, und tausend andre Dinge, Junge, von denen du nie gehört und nie geträumt hast, die Sommerzeit, der Fluß und die Lieder, die Armut, der Kummer und das Weh – Miller und ich, wir beide haben das alles erlebt, haben da bei allem mitgetan, und so sagte ich also zu ihm: »Du, Miller Wright, hast es doch auch erlebt und mitgemacht, und du erinnerst dich doch dran!«

Nun ja, da mußte er es zugeben, weißt du. Er sagte: »Ja, du hast recht, ich erinnere mich dran.« Und da hellte sich sein Gesicht ein wenig auf, weißt du, und er fragte mich: »Aber sag mal, könntest du es auch heute noch tun?« »Ob ich's heute noch könnte?! Ei freilich! Auf der Stelle könnte ich's wieder«, antwortete ich und sagte dann: »Nun hör mal, Miller – zugegeben, daß wir schwer verloren haben –, immerhin, wir sitzen im selben Kahn, in dem noch ein ganzer Haufen andrer Leute sitzt. Wir alle dachten, wir täten das Richtige, und dann ist es uns, mutmaße ich, über den Kopf gewachsen, und wir ließen es zu, daß wir gegen unser besseres Urteil den Boden unter den Füßen verloren.« – Ah pah! Junge, wenn ich bloß dran denke! Ich hatte mich schon entschlossen, aus dem Grundstückhandel ganz rauszugehn ... Hätte ich nur den richtigen Zeitpunkt gemerkt ... Ei, ich wollte nur noch einen oder zwei Verkäufe tätigen und mich dann zurückziehen. Pah! Beschwören will ich's, daß ich glaub, es wär mir alles geglückt, wenn nicht über Nacht die Schieber und die New Yorker Bankjuden und diese Wucherer sich hineingedrängt hätten ... Ja, damals war der richtige Zeitpunkt; wenn ich es bloß gemerkt hätte, dann hätte ich meine gesamten Liegenschaften zu Hause losgeschlagen ... Was aber jene Grundstücke in Florida angeht, in die ich Geld gesteckt habe, nun, mit denen wär, glaub ich, heut noch alles in Ordnung, wenn jener Hurrikan nicht gekommen wäre und uns so furchtbar getroffen hätte, und dann verbreiteten obendrein diese verlogenen Schufte draußen in Kalifornien diese Geschichte, drunten in Florida wäre die mittelmeerländische Obstfliege eingeschleppt worden. Ei, guter Gott, dort war so wenig von einer Obstfliege zu sehn wie am Nordpol. Das Ganze war eine aufgelegte Lüge, die erfunden und aufgebauscht wurde aus dem einen und einzigen Grund, dem Land Florida zu schaden und es zugrund zu richten, denn diese Kalifornier konnten es einfach nicht ertragen, von Florida überflügelt zu werden, und Herbert Hoover und sein ganzer Anhang waren mit im Spiel gegen uns Floridaner und unterstützten die Gaunerei, eben weil er ja auch aus Kalifornien ist – ja, ich bitte dich, du kannst mir's glauben, so in aller Welt war die Sache, aber allen Lügen zum Trotz wird Florida wieder hochkommen, denn Florida ist einfach nicht unterzukriegen! – »Und, Miller«, sagte ich, »die Banken haben ja nicht alles. Sie mögen sich einbilden, sie hätten alles, aber hör mal«, sagte ich, »ich muß dir da ein kleines Geheimnis anvertrauen.« Und dabei blinzelte ich ihn an. »Also: – ich besitze da noch ein kleines Eckchen Erde draußen auf dem Land, niemand weiß etwas davon, und wenn eben das Schlimmste zum Schlimmsten kommt, dann werde ich nicht darben. Ich werde da hinausziehen, Selbstversorger werden, und da werde ich genug haben, und wenn du bankrott machst, kannst du zu mir herauskommen, hungern wirst du bestimmt nicht, denn wenn ich etwas anbaue, dann wächst es.« »Das schon, Eliza«, sagte er, »aber es ist ja zu spät, zu spät. Wir sind beide zu alt, um neu anzufangen und haben alles verloren.« »Nein«, sagte ich, »nicht alles. Es ist uns noch etwas geblieben.« »Was denn?« fragte er da. »Die Erde ist uns geblieben«, antwortete ich. »Wir haben immer noch die Erde. Wir werden uns auf die Erde stellen, und die Erde wird uns retten. Die Erde hat noch keinen im Stich gelassen.«

 

Also, da kamen sie daher, weißt du, so schnell sie ihre Füße trugen, dein Papa und der alte Doktor Nelson. Ich lag da mit diesen schauderhaften Schmerzen, die an mir zerrten, als wollten sie mich entzweireißen.

»Aber nein«, sagte ich zu Doktor Nelson. »Das kann es nicht sein. Soweit ist es noch nicht. Es ist noch nicht an der Zeit, nach meiner Rechnung ist's zwei Wochen zu früh.«

»Das ändert nichts an der Tatsache«, erklärte er. »Sie sind soweit. Es ist an der Zeit für Sie, ganz gewiß. Ihre Zeit ist da.«

Und ganz gewiß, so war's. Ei natürlich, das war es! Und darum drehte sich das, was ich dir erzählt habe, mein Junge, das erklärte alles.

»Zwei ... Zwei«, sagte die erste Stimme, und »Zwanzig ... Zwanzig«, sagte die andre.

Zwanzig – du verstehst doch: Zwanzig – Tage nach jenem Abend im September, an dem Ed Mears dort in unser Haus gekommen war, genau am siebzehnten Oktober zwanzig Minuten vor zehn Uhr abends, gebar ich zwei – du verstehst doch: ZWEI – Kinder –, deine Brüder, die Zwillinge Ben und Grover wurden an diesem Abend geboren.

Am nächsten Tag lag ich da und dachte nach, und da wurde es mir blitzhaft klar, was das bedeutete, ja, natürlich, da sah ich es sofort ein. Das Rätsel war gelöst.

Und das also ist die Geschichte, mein Lieber, ganz so, wie es sich zutrug.

»Zwei ...Zwei«, sagte die erste Stimme, und das sollte besagen »zwei Kinder«; und »Zwanzig ... Zwanzig«, sagte die andre Stimme, und das sollte besagen: »Zwanzig Tage.«

Also, jetzt hab ich's dir erzählt.

»Was hältst du davon?« sagte ich zu deinem Vater. »Du siehst es doch ein, nicht wahr?«

Auf seinen Mienen stand allerlei zu lesen. »Sonderbar ist's schon, wenn man's bedenkt«, sagte er, »bei Gott, sonderbar.«

 

Du lieber Gott, was hör ich denn da vom Hafen her, Junge? Hah? Was sagst du? Ein Schiff! – Nun wird es bald April, und ich muß wieder heimfahren. Im Garten vor meinem Haus, wo ich arbeite, werden die Frühjahrsblumen und -blüten anfangen, die Pfirsich- und Kirschbäume, die Magnolien, der Lorbeer und der Flieder. Einen Apfelbaum hab ich, der sitzt voll von all den Vögeln, die's bei uns bis zum Juni gibt. Der Blütenbaum, den du als Kind gepflanzt hast, steht noch an seinem Platz und blüht zum Fenster herein. (Mein liebes Kind, iß gutes Essen und gib gut auf dich acht und bewahre dir deine Gesundheit; ich mache mir solche Gedanken um dich, wenn ich mir vorstelle, daß du allein unter Fremden lebst.) Die Berge daheim sind so schön, und bald wird es wieder Frühling. (Es macht mir solche Gedanken, wenn ich mir dich vorstelle, allein und in weiter Ferne. Kind! Kind! Kehr wieder zurück!)

O hör doch! ...

Hah? Was ist es? ...

Hah? Was sagst du? ...

(Guter Gott! Eine Rasse von Wandrern!)

Kind! Kind! ... Was ist es?

Schiffe wiederum!


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