Ernst Willkomm
Erzählungen eines Wattenschiffers
Ernst Willkomm

Ernst Willkomm

Erzählungen eines Wattenschiffers

Die flachen Küsten Schleswigs sind im Westen von einer bedeutenden Anzahl Inseln umgürtet, welche teils breite, teils schmale Meerströme umfluten. Zur Zeit der Ebbe tritt die Meerflut viele Meilen weit zurück vom Lande, enthüllt den Meeresboden und legt unermeßliche Strecken grauen Erdschlammes und weiß glänzender Sandfelder trocken. Diesen bei jeder Tiefebbe sich zeigenden Grund der Nordsee nennt man Watten, die Meeresströme, die ihre Wogen um die erwähnten Inseln wälzen, heißen Wattströme, und diejenigen Seefahrer, welche die schwierigen Wasserpfade innerhalb dieses Inselarchipels und zwischen denselben mit leicht gebauten, schnell segelnden Fahrzeugen durchkreuzen, Wattenschiffer.

Von jeher hat es unter den kühnen, oft waghalsigen Seefahrern der nordischen Meere ausgezeichnete Menschen gegeben; denn die Natur des Meeres, auf dessen Wogen sie den größten Teil ihres Lebens zubringen, macht umsichtig, kaltblütig, stählt die physische, wie geistige Kraft, und verleiht denen, welche fast ununterbrochen mit den Elementen kämpfen müssen und zahllose Male in Todesgefahr schweben, eine Selbständigkeit, wie man sie unter den Festlandsbewohnern selten in so hohem Grade und in so ausgeprägter Schärfe findet.

Die Küstenstriche des Festlandes in erwähnter Gegend sowohl wie die Inseln – mit Ausschluß des eigentlichen Nordstrandes, das seit dem Untergange des großen Insellandes gleichen Namens von Niederländern besetzt wurde – sind von eingeborenen Friesen bewohnt. Man nennt deshalb auch die Westküste Schleswigs nebst den sie umgebenden Inseln Nordfriesland. Diese Friesen nun, und unter ihnen vor allen wieder die Inselfriesen, zeichnen sich als Seefahrer vor andern aus. Seit Jahrhunderten haben sie ein großes Kontingent zu den Seemännern der deutschen, dänischen, holländischen, zum Teil auch der englischen Marine gestellt, und noch jetzt werden friesische Seeleute von allen seefahrenden Nationen mit Vorliebe gesucht.

Die Wattenschiffer geben ihren übrigen, die Meere befahrenden Landsleuten an Kühnheit und Mut nichts nach, nur verlassen sie ungern die heimischen Meerespfade, auf denen sie jeden Fuß Wasser genau kennen. Diese Kenntnis allein erklärt ihre Waghalsigkeit und das Glück, das sie auf ihren Reisen zwischen den Inseln und Halligen, den zahllosen Untiefen und Sanden selten verläßt.

Noch jetzt gibt es eine nicht geringe Anzahl zuverlässiger und kühner Wattenschiffer; einer der allerberühmtesten dieser merkwürdigen Seeleute aber, den alle Insulaner, Halligmänner und Festlandsfriesen bei Lebzeiten wohl kannten, der wunderliche alte Brork, ist schon vor Jahren zu seinen Vätern versammelt worden. Von ihm existieren eine Menge Anekdoten und abenteuerliche Erzählungen, die schwerlich alle wahr sind. Eigentümliche und fast unglaubliche Erlebnisse hatte jedoch der seltene Mann zu berichten. Leider war er selbst nie recht zum Sprechen zu bewegen, denn er hielt es mit dem Wort der Schrift: Eure Rede aber sei: »Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.« Etwas aber war doch bei Brork darüber und dies war in der Tat vom Übel, nämlich sein Zusatz- und Aushilfswort bei jeglicher Rede, das keiner Sprache angehörige, unübersetzbare »Upmä«. Mit diesem Worte begann Brork jeden Satz, oft auch schloß er ihn damit. Es war sein Fluchwort und sein Gebet in großen Nöten. Mit ihm grüßte er den Freund und verjagte den Feind. Er gebrauchte es, wenn er die Segel umlegte, wenn eine Sturzsee über das Deck seines alten Ewers stäubte, wenn er mit vollen Backen das Torffeuer anblies, um sich gedörrten Rochen zum Tee warm zu machen, und ich bin überzeugt, er ist mit diesem köstlichen Aushilfsworte auf der Lippe auch zum ewigen Leben eingeschlafen.

Vor einigen Jahren bereiste ich den vielfach interessanten Archipelagus der Westsee, wie man diese Gegend der Nordsee allgemein in Nordfriesland nennt. Der Schiffer, dessen unscheinbares Fahrzeug ich gemietet hatte, war auch ein Original, wie es wenige gibt. Er verachtete jeden, der nicht auf Salzwasser groß geworden war, und sagte mir schon beim Unterhandeln gerade ins Gesicht, daß er sein Schiff eigentlich nur ungern zu solcher Fahrt hergebe, denn es sei gegen seine Gewohnheit, solch unnütze Menschen, die nichts vom Robbenschlage verstünden und niemals einen Walfisch harpuniert hätten, auf der See herumzufahren. Der Mann war nämlich in seiner Jugend als Jungmann auf einem Grönlandsfahrer bis Spitzbergen hinauf gereist und mochte auf dieser Reise freilich mehr erlebt und gesehen haben, als ein Bücher schreibender Binnenlandsmensch. Zum Glück kannte er diese meine letzte Eigenschaft nicht, sonst würde er wahrscheinlich noch viel verächtlicher auf die »Unnützen« herabgesehen haben, als er es so schon tat. Indes zeigte sich Thirs Nickelsen weit umgänglicher, als ich vermutete. Es schien, nur am Lande sei er keines Menschen Freund, weil er die Landratten für Geschöpfe Gottes hielt, die weit unter jedem Seemann stünden. Kaum aber hatte er die Segel des rundbauchigen Ewerschiffes, das alle seine Fahrten ausgehalten, gestellt, und am Steuer Platz genommen, so änderte sich Nickelsens ganzes Wesen. Er ward heiter, blickte frei und trotzig um sich, und begann unaufgefordert zu erzählen.

Die seltsamen Kegel- und Bergformen der Häusergruppen auf den hohen Warften der Halligen, welche der Westsee eine so eigentümliche Physiognomie geben, hatten bisher ausschließlich meine Blicke gefesselt. Jetzt, als Nickelsen die Segel umlegte und aus dem Fahrwasser der Holmer-Fähre, wie die Binnensee zwischen Pohnshallig und der Küste Schleswigs von Husum nordwärts bis über die Hallig Nordstrandischmoor hinaus genannt wird, in die breite, schon höhere Wogen rollende Meeresstraße, das Pellwormer Tief, einbog, lachte er, scharf über das Meer blickend, still vor sich hin, schüttelte seinen kleinen spitzen Kopf und sagte dann, mir einen höchst seltsamen Blick zuwerfend: »Das war ein Mann!«

Da ich begreiflicherweise nicht wissen konnte, welchen Mann er meinte, so erlaubte ich mir, dem offenbar diese Bemerkung zugeworfen sein sollte, die Frage aufzuwerfen, von wem er spreche.

»Ach ja«, gab er zur Antwort, das Steuer fester an sich pressend, um das Holzende desselben unter seinen breiten Schenkel zu schieben, mit dem er es gewöhnlich längere Zeit hielt, »sind ja von binnen, wissen nichts von den Uthlanden. War aber doch ein Mann und ein Kerl dazu.«

»Wer, wenn's beliebt?« fiel ich mit etwas barscher Frage nochmals ein.

»Mein Freund Brork«, erwiderte Thirs Nickelsen, schob den geteerten Hut, der seinen spärlich behaarten Scheitel deckte, etwas mehr ins Gesicht, als wolle er sich vor den brennenden Strahlen der Sonne schützen, und seine Miene ward ernst. Er strich sich mit haariger Hand über die Augen, und ich bemerkte, daß eine Träne an den grauen Wimpern perlte.

»Ist er auf See verunglückt?« fragte ich teilnehmend. Nickelsen schüttelte den Kopf.

»Das nicht«, sagte er. »Sein Tod war ein Binnenlandstod. Er starb im Bette wie ein Bauer, aber ich kann ihn nicht vergessen, so oft ich über Nordstrandischmoor hinauskomme und die Halligen Habel, Gröde und Appelland dort fern im Norden sich am Kimming zeigen. Da hat er was erlebt, der wackere Brork. Werd's nimmer vergessen.«

Er zog die Schoten der beiden Segel, welche der Ewer führte, schärfer an, um den Wind besser fassen zu können, hing das Steuer an einen Riemen, denn der Wellengang der See war ein geregelter, die Brise mäßig und wir hatten eine gute Zeit steifen Segelstrich zu halten. So frei seiner Bewegungen geworden, rief er in die Luke hinunter, aus welcher die schmale Kajütentreppe heraufführte, und befahl seinem Gehilfen, zwei kalte Grog zusammenzugießen und sie auf Deck zu bringen für ihn und »den Herrn«. Mit dem »Herrn« war der unnütze Mensch aus dem Binnenlande gemeint.

Bald brachte der Gehilfe des Schiffes das Verlangte. Nickelsen probierte die Güte seines Lieblingsgetränkes mit schnalzender Zunge, fand es gut und schlug nunmehr die Arme übereinander, um recht gemütlich das, was ihm das Herz erfüllte, mir zu erzählen.

»Sehen Sie da in Lee den weißen Punkt, Herr?« begann er, nur mit einem Augenwink die Richtung andeutend, die er meinte. »Nun gut«, fuhr er fort, als ich bejahte. »Das ist der verrufene Rungholt-Sand, allen Wattenschiffern gefährlich. Kein Seemann legt dort gern an, wenn ihn nicht die härteste Not dazu zwingt; denn soll er Unglück haben und hat er zufällig 'was auf dem Kerbholz bei Old Nick, dann kann er dort geradewegs hinunterfahren in die Hölle.«

»'s ist die Möglichkeit!« sprach ich in zweifelndem Tone. Dieser Ton machte Thirs Nickelsen wild. Er biß heftig ein Ende von seinem Knollen Kautabak ab, drückte ans Steuer, daß der Ewer sich der Gewalt des hart in die Segel fallenden Windes beugte und eine Spritzwelle ihre Schaumflocken in feuchtem Sprühen über das ganze Deck jagte.

»Aus dem Möglichen kann Wahres werden«, sagte er trocken, den zerrinnenden Meerschaum gelassen abschüttelnd. »Brork hat den Eingang zur Hölle dort gesehen, und wenn mein Freund etwas sah, so war's auch wirklich da. Brork log nie, er sagte immer die Wahrheit.«

Nachdem ich dem beleidigten Manne mehrmals die Versicherung wiederholt hatte, daß ich durchaus nicht daran zweifele, fügte ich, schüchtern fragend, die Bitte hinzu, er möge mich doch wissen lassen, wie dies zugegangen sei und worin dies so merkwürdige Erlebnis denn eigentlich bestanden habe.

Nachtragend war Thirs Nickelsen nicht. Man konnte es ihm an dem lächelnden Blinzeln der Augen, die er nie ganz öffnete, ansehen, daß er gar zu gern von der Überfülle seines Wissens abgab. Zu oft mochte ihm dazu freilich eine erwünschte Gelegenheit nicht kommen, denn die Inselgruppe der Westsee wird selten von Reisenden besucht und noch seltener wagen einzelne Wißbegierige eine Seefahrt durch diese gefährlichen Untiefen.

»Drüben auf dem festen Wall und noch weiter im wasserlosen Lande wissen die Leute wohl nichts von Rungholt-Sand?« fragte der Wattenschiffer, mit einem so verschmitzten Zuge in seinem wetterharten Gesicht, daß ich es ihm ansehen konnte, er begehre nichts als ein verwundenes Nein zu hören. Diesen Gefallen tat ich jedoch dem starrköpfigen Uthlandfriesen nicht, indem ich mit ausweichender Gleichgültigkeit versetzte:

»Wenig, so wenig, wie man von diesem entlegenen Winkel überhaupt weiß und hört.«

Diese Antwort machte den alten Robbenschläger warm. Er wußte offenbar nicht, ob er in seine am Lande festgehaltene Grobheit sich abwehrend hüllen oder in kühler Selbstbeherrschung den Lehrer eines Unwissenden, eines »Unnützen« spielen solle. Nach einigem Räuspern, Husten, Spucken und Zerren an den Tauen entschloß er sich zu Letzterem.

»Haben also wenig oder nichts gehört vom Rungholt-Sand in der Binnensee?« fragte er nochmals.

Ich zuckte die Achseln und machte eine Handbewegung, als bäte ich ihn, er möge seine Kenntnisse mir nicht vorenthalten.

Nun erhob Thirs Nickelsen seine Rechte, die eisenhart, wie Horn, und von einer fabelhaften Größe war, weshalb er auch bei seinen Landsleuten, wie ich erst später erfuhr, kurzweg den Beinamen »die große Hand« führte, zeigte rund um sich und sagte:

»Vordem war dies alles trocken Land. Das Gras wuchs viele Fuß hoch darin, daß die weidenden Rinder nur mit den Hornspitzen daraus hervorsahen. Kirchen gab's mehr als Festtage im Jahre und Häuser mehr als ein guter Rechner an einem Tage zählen konnte. Dazumal – es ist nun schon eine gute Weile her – hieß dies Land Nordstrand, und war eine Insel, herrlicher und fruchtbarer als heutzutage die englische Insel, die von lauter Lords und Ladys bewohnt wird. Dort aber, wo jetzt das Meer sich in hunderttausend schäumenden Wellen bricht, lag der allerschönste Teil des wundervollen Insellandes. Es war das Paradies Nordstrands, Rungholt benamset, und gegenwärtig ist von der ganzen Herrlichkeit nichts mehr übrig, als einige Tausend Kiel Sand, der wohl des Ausgrabens und Auswaschens wert sein möchte, denn Gold und Silber steckt sicherlich genug darin, mehr als in den Bergeinöden Kaliforniens, wohin jetzt die neumodisch gekleideten Narren zu Hunderten sich schaffen lassen.«

»Das wäre!« sagte ich verwundert. »Und wie kommt es denn, daß dieser Sand so große Schätze birgt?«

»Weil das Volk, welches ehedem dort wohnte, übermütig ward vor eitel Reichtum und Wohlleben«, fuhr Nickelsen fort. »In der Bibel kann man's lesen, wie Sodom und Gomorrha zugrunde ging in Feuerflammen, die vom Himmel fielen, weil die Bewohner sich wälzten in sündigen Lüsten; Rungholt hat ein ähnliches Schicksal gehabt, nur daß nicht Feuerflammen, sondern salzige Meereswogen es verschlangen und für immer wegfegten von der Erde. Die Rungholter waren reich, übermütig, grausam und gottlos geworden. Sie meinten, es könne ihnen nimmer fehlen auf der Welt. Darum verlachten sie alle Religion, ergaben sich wüster Völlerei, aßen Tag und Nacht von goldenen Geschirren, tranken nur aus prachtvollen Kristallkrügen, die mit wertvollen Edelsteinen geschmückt waren, beschlugen ihre Rosse mit silbernen Hufeisen, legten silberne Reifen um die Räder ihrer Wagen, kleideten sich in Purpursamt und Seide, und fragten nicht mehr nach Gott und seinem heiligen Wort. Die Priester, welche ihnen ihre Sünden vorhielten und ins Gewissen redeten, verlachten sie, und damit sie nicht mehr hören möchten, wenn die Glocken zur Kirche läuteten, umwanden sie die Klöppel mit Bast, setzten sich zusammen, spielten, zechten und sangen schändliche Lieder, und verhöhnten den Priester, der mit dem Allerheiligsten durch den von Sündern wimmelnden Ort schritt und Litaneien anstimmte. Da sandte Gott den Wind als Rächer aus, ließ die Meerflut aufwühlen, daß sie turmhoch stieg, alle Deiche und Dünen brach und fortriß, die Wohnungen der Rungholter zerstörte und die ganze sündige Rotte, zusamt dem Lande, das sie trug, in den Tiefen des Meeres begrub. Seit jenem Tage gibt es nur noch jenes breite Sandwatt, das bei hohler Ebbe aus dem Grunde des Meeres auftaucht, wie die Fläche eines großen Grabhügels. Darunter liegen die sündhaften Rungholter mit ihren Schätzen und dicht daneben befindet sich der Eingang zur Hölle.«

Unser Schifflein hatte sich dem versunkenen Sodom Nordfrieslands während dieser Erzählung Nickelsens bedeutend genähert. Die flutende See bedeckte jetzt den Sand gänzlich, nur die heftig sprudelnde Bewegung der Gewässer und das Aufsprühen einer silberweißen Woge auf der Höhe des Sandes ließen die Untiefe schon aus der Ferne erkennen. Auch zeigten Schwärme Nahrung suchender Strandvögel, wie sie in ungeheurer Menge um die Küsten, Inseln und Dünen flattern, die Nähe des Sandes an. Wie eine Wolke zog das Vogelheer bald in dichter Häufung, bald in breiten Geschwadern auseinanderflatternd, jetzt mit dem vom Sonnenstrahl getroffenen Gefieder lichte Scheiben bildend, dann wieder als schwarze Schatten durch die Luft streichend, über Rungholtsand auf und nieder.

Da ich durch ungläubige Zweifelsucht die vortreffliche Stimmung meines Schiffsführers nicht stören wollte, machte ich ihn nur auf die merkwürdigen Figuren des ziehenden Vogelschwarmes aufmerksam. Er nickte beistimmend, indem er fortfuhr:

»Ja, Herr, so ist es immer bei Rungholtsand. Uns gewöhnlichen Menschen kommt's vor, als hätten wir Vögel vor uns, wer aber heller sieht, wie es meinem Freunde Brork verstattet war, der weiß besser Bescheid. Es sind nicht Vögel, Herr, die so greulich schreiend über dem toten Meere stehen, die Seelen der Verdammten sind's, die Gottes strafende Hand in Vögel verwandelt hat!«

Der Mann sprach diese Ansicht mit so düsterer Überzeugung aus, daß einem wohl unheimlich werden konnte. Die See brauste und schäumte in höheren Wogen, nirgends war ein Nachen oder ein Segelschiff zu sehen. Nur die flachen Deichränder Pellworms hoben sich wie ein dunkler Streif über das Meer empor, weit im Westen bei dem braunroten Gemäuer der zusammengestürzten alten Kirche wieder mit dem Meere verschwimmend. Man hörte nur das Rauschen der Flut am Bug des Ewers, das Pfeifen des Windes, der unsere Segel blähte, und das melancholische Gekrächz der zahllosen Seevögel. Es bedurfte keiner allzu lebhaften Einbildungskraft, um aus diesem Gekrächz das Wimmern klagender, um Erbarmung flehender Menschenstimmen herauszuhören.

»Sie müssen wissen Herr«, begann Thirs Nickelsen abermals, ab und an einen scheuen Blick auf die unruhig in der Luft hin- und herfahrende Vogelwolke werfend, »Brork war ein beherzter Mann, der mehr wagte als jeder andere. Hatte er sich etwas vorgenommen, so führte er es auch aus. Wind und Wetter dienten ihm jederzeit, als könnte er ihnen gebieten. Darum beunruhigte ihn weder ein fliegender Sturm noch eine Windstille. Wo niemand zu ankern wagte, da legte Brork ruhig an, und es hat keiner gehört, daß dem merkwürdigen Manne ein Unfall zugestoßen sei. Nun, Herr, Glück gibt Mut, und Mut läßt den Menschen zuweilen seine Hand auch zu verwegenem Tun ausstrecken.

Eines Tages – es war um die Herbst-Tagundnachtgleiche – bestieg Brork sein Ewerschiff, um mit Torf nach Amrum zu segeln. Das Wetter konnte nicht besser sein zu solcher Fahrt. Brork steuerte also allein, wie er es am liebsten tat, durch die Holmer Fähre ins Pellwormer Tief hinein. Es ging auch scheinbar alles ganz gut, nur wunderte sich der alte Schiffer, daß er so merkwürdig langsam vorwärts kam. Ungeachtet des günstigsten Segelwindes blieb der Ewer beinahe immer auf derselben Stelle, als hielten ihn unterseeische Gewalten fest. Alte Seeleute hatten nun schon ähnliches erlebt, weit draußen im großen Ozean, wo die Riesenseespinne in der Tiefe wohnt und sich an Schiffe festklammert, die über ihre Wohnung fortsegeln. In der Westsee aber gibt 's keine solchen Meerungetüme, mithin konnten sie auch nicht den Ewer Brorks festhalten. Nach stundenlangem Segeln ward die Luft ruhiger und endlich ganz still. Das Wasser lief mehr und mehr ab, die Sände und Watten stiegen auf allen Seiten grau und fahl aus dem Meere. In solcher Zeit ruht auch der unerschrockenste Schiffer gern; denn mögen ihm die Wattströme auch noch so bekannt sein, er kann doch irgendwo auf den Grund geraten und sich und sein Schiff dadurch in schwere Gefahr bringen.

Gegen Mittag erreichte Brork den verrufenen Sand. Das Meer war ohne alle Bewegung, klar und durchsichtig, wie Kristall umspülte es den Kiel des Ewers. Man konnte Seesterne, Quallen, Krabben und anderes Seegetier auf dem Grunde erkennen. Rungholtsand glänzte weiß im Sonnenschein und ein dichter Vogelschwarm kreiste wie jetzt über der von keines Menschen Fuß gern betretenen Stätte. Auch Brork war niemals neugierig gewesen, den Sand zu besuchen, weil er aber den Ankergrund gut und sicher fand, und doch genötigt war, die Rückkehr der Flut abzuwarten, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine frische Brise mit sich führen würde, nahm er keinen Anstand, im Angesicht des Sandes, vielleicht gerade da, wo jetzt unser Ewer auf den schäumenden Wellen tanzt, vor Anker zu gehen. Er selbst legte sich in seine Koje, um auszuruhen, doch so, daß er durch die offen stehende Luke gerade nach dem Sande und dem Schwarm der kreischenden Vögel blicken konnte.

Eine kleine halbe Stunde mochte Brork so gelegen haben, bald mit offenen, bald mit geschlossenen Augen, da hörte er dicht über dem Kopfe erst ein sanftes Klopfen, dann ein Geräusch, als flüsterten zwei Personen leise miteinander, endlich schwere Tritte, wie von Männern, die gewohnt sind, mit starkem Schuhwerk hart aufzutreten. Das kam meinem Freunde doch bedenklich vor, und da er keine Furcht kannte, sprang er behend auf, um nachzusehen, was da wohl für Gäste an Bord gestiegen sein möchten, ohne vorher, wie es bei ehrlichen Leuten doch Sitte ist, ihn um Erlaubnis zu fragen.

Wie er nun den Kopf aus der Luke steckte, fühlte er doch ein ungewöhnlich starkes Herzklopfen. Am Bug standen nämlich zwei Männer von mittlerer Größe, feisten Körpers, aber aschgrau von Antlitz. Ihre Augen blickten finster um sich, so daß Brork in einen Abgrund von Nacht und Graus zu sehen glaubte. Sie waren überaus prächtig gekleidet, der eine in Karmesinsammet, der andere in Violett. An ihren auf einer Seite etwas aufgeschlagenen Hüten funkelten erbsengroße Diamanten und andere grün und rot glühende Edelsteine. Von Brillanten waren außerdem alle Knöpfe ihrer Wämser, und selbst die schwergoldenen Schnallen ihrer Schuhe zeigten sich mit wertvollen Edelsteinen besetzt.

Brork, der überhaupt mit der Zunge schwer umzugehen verstand, versagte bei dem Anblick dieses sonderbaren Gästepaares, wie Sie wohl denken können, die Sprache ganz und gar. Daß er es nicht mit räuberischem Volk, mit Strand- und Schlickläufern zu tun hatte, die wohl zuweilen ein einsames Schiff brandschatzen, wenn sie gerade in Not sind, sah Brork ein, nur wer die so vornehm und doch altväterisch gekleideten Herren sein und von wannen sie an Bord seines Ewers gekommen sein möchten, blieb ihm ein unlösbares Rätsel. Er sollte aber bald Bescheid erhalten; denn noch während er unschlüssig nach dem Bug blickte, ohne vollends aus der Luke aufs Deck zu steigen, richtete schon der im karmesinsamtnen Wams Steckende die Rede an ihn.

»Brork«, sagte der Fremde, »Ihr habt Euch da etwas erlaubt, das Euch teuer zu stehen kommen kann. Wie mögt Ihr Euch unterfangen, Euer vermaledeites dreizackiges Eisen mitten auf unsere Tafel zu werfen und uns das kostbar gebratene Spanferkel ganz und gar zu zerreißen? Habt Ihr denn gar keine Augen in Eurem Grützkopfe, oder seht Ihr überhaupt nicht um Euch und tut immer nur, was Euch beliebt?«

Brork hörte staunend diese Anrede, und war er anfangs nur verwundert gewesen, so ward er jetzt vollends ganz verblüfft. Inzwischen stieg er doch aus der Luke und befand sich auf der Stelle, er wußte nicht wie, den Fremden dicht gegenüber.

»Da seht selber, was Ihr angerichtet habt!« fuhr der Karmesinsammetne fort, mit Hilfe seines violetten Gefährten aus Leibeskräften an der Ankerkette zerrend, »das halbe Tafelgerät geht bei der Geschichte zum Geier.«

Brorks Staunen hatte jetzt keine Grenzen mehr, denn wie er neben den beiden vornehmen Herren am Bug des Schiffes über Bord sah, war nirgends ein Tropfen Wasser zu entdecken. Der Ewer stand oder schwebte frei in der Luft; denn das durchsichtig feine Nebelgewebe, das um die Borde gleich farbigem Lichtscheine zitterte, war offenbar kein Wasser. Tief unten aber zog sich, so weit sein Auge reichte, eine breite Tafel hin, mit köstlich duftenden Speisen besetzt und belastet mit goldenen und silbernen Geschirren. Mitten in diese Tafel hinein war sein Anker gefahren und stak noch jetzt in einem Spanferkel, das gar absonderlich lecker aussah. Verstört, angstvoll in die Höhe schauend, wogten zahllose Gäste, alle in feinster Gewandung, um die Tafel. Ein paar der Kräftigsten mühten sich ab, den Anker aus dem Braten herauszuziehen; weil sie aber das Fleisch des Spanferkels nicht zerfetzen wollten, so schleppte der Anker, an dessen Tau die heraufgestiegenen Gäste ebenfalls zerrten, die leckere Speise der Länge nach über die Tafel fort, stürzte Flaschen, Humpen, Trinkhörner um, zertrümmerte die köstlichsten Blumenvasen und riß alles rettungslos mit ins Verderben. Die Gäste aber stießen ob solchen Unglückes ein klagendes Geschrei aus und bewegten dabei die Hände, wie Vögel im Fluge. Dies Klagen machte den erstaunten Brork nun vollends wirr. Es klang genau wie das Geschrei des Vogelschwarmes, das er noch vor kurzem gehört hatte, und als er seitwärts einen Blick auf Rungholtsand warf, war dort kein Vogel mehr zu sehen. Auch der Sand hatte sich gewaltig verändert. Er bildete eine Grotte, von Seetang übersponnen, in deren Innerem eine flammende, doppelt geteilte Stiege aufwärts führte. Bis an die unterste Staffel dieser Stiege reichte die Tafel. Hinter derselben, von einem Nebelflor halb in Dämmer gehüllt, erblickte Brork mit Grausen die Hölle, wenigstens hielt er das, was er sah, für die Hölle, denn im Himmel muß es anders zugehen. Es war ein Schlemmen, Fressen und Völlereitreiben, daß dem nüchternen, an geringe Kost gewöhnten Manne beim bloßen Anblick dieses Sündenlebens schon grauste. Erschrocken, wie er war, konnte er nichts hervorbringen als die Worte:

»Upmä, was soll's!«

»In des Geiers Namen, Brork, so greift doch endlich mit zu!« versetzte der Mann in Karmesin. »Seht Ihr denn nicht, daß alles drunter und drüber geht? Euer verdammtes Eisen konnte sich doch auch einen zweckmäßigeren Ankergrund aussuchen. Zieht – ahoioi! – damit doch endlich die Tafel gerettet wird!«

»Upmä, wohl!« sagte Brork und zog aus allen Kräften an dem Ankertau. Kaum aber hatte er es erfaßt, so hörte er ein Plätschern; die beiden Fremden, die noch eben mit ihm gesprochen, waren verschwunden, ebenso die Tafel mit der schreienden Gesellschaft. Der Ewer schaukelte auf grüner Woge, blendendhell im Sonnenschein lag Rungholtsand zur Seite, er aber kniete am Bug, und zog, was er konnte, am Ankertau. Wirklich gelang es ihm auch, den Anker bald darauf einzunehmen und da konnte er deutlich bemerken, daß alles, was ihm jetzt wie ein Traum erschien, die lauterste Wirklichkeit war. An der einen Schaufel seines Ankers hing ein Stück gebratenes Schweinefleisch und die andere hatte sich in ein zerbrochenes Trinkgeschirr aus feinstem Golde festgehakt. Diesen goldenen Fund, in deren Besitz Brork auf so merkwürdige Weise kam, brachte er glücklich mit heim. Ich habe das Ding oft genug betrachtet und in Händen gehabt. Seitdem weiß man, daß da unter Rungholtsand der Eingang zur Hölle ist, und daß die sündhaften Rungholter manchmal daneben eine ihrer gottlosen Schwelgereien abhalten. Denn daß das grausige Volk und die beiden Vornehmen, die mit Brork sprachen, um ihrer Kostbarkeiten nicht ganz verlustig zu werden, Rungholter waren, die noch jetzt für ihre Frevel in der Hölle büßen oder als klagende Seevögel über der Stätte schweben müssen, wo sie ehemals sündigten, das ist ganz gewiß.«

Schon seit einigen Minuten hatte der Wind sich gedreht und wehte um vieles stärker. Thirs Nickelsen machte jedoch keine Anstalt, den Segeln, welche das leichte Fahrzeug tiefer in die dunkel rollenden Wellen drückten, eine andere Richtung zu geben. Nur den Riemen, an welchem das Steuer hing, löste er, um es nach kurzer Handhabung mit der Hand wieder unter seinen muskulösen Schenkel zu klemmen. Jetzt lag Rungholtsand hinter uns, Pellworm zeigte sich in schärferen Umrissen, so daß wir die Häuser und Heudiemen zählen konnten, die, uns zunächst, über den Seedeich emporragten. Es war mein Plan, diesen letzten bedeutenden Überrest des alten Nordstrand zu umschiffen und an der Hallig Hooge, wo mir Freunde wohnten, anzulegen. Obwohl es mir nun schien, als müsse die veränderte Richtung des Windes dem von mir begehrten Segelkurs hinderlich sein, erklärte der Wattenschiffer doch auf meine deshalb an ihn gerichtete Frage, daß ein besserer Wind, um Hooge anzulaufen, sich gar nicht denken ließe. Ich bekenne gern, daß ich mir in jenem Augenblicke, wo ich mir schwerlich allein zu raten, viel weniger noch zu helfen gewußt haben würde, in der Tat recht unnütz vorkam, und daß ich dem wortderben Uthlandsfriesen im stillen Abbitte tat. Seine wunderbare Erzählung nahm ich gläubig hin, obwohl es mir schien, als wünsche Nickelsen einigen Widerspruch. Da ich indes hartnäckig schwieg und jetzt meine Blicke ausschließlich den wechselnden Formen zuwandte, welche die Halligen, deren Häuser, Torfkegel und hoch aufgeschichteten Heudiemen über dem rollenden Meere bildeten, fragte er nur, ob ich die Halligen kenne und schon früher einmal eine derselben besucht habe. Meine Antwort lautete der Wahrheit gemäß verneinend. Der schon mehrmals bemerkte etwas spöttische Zug um den Mund des Wattenschiffers ward abermals sichtbar. Er blinzte mit den Augen, legte die Segel um, zog die Schoten schärfer an, und seinen Hut wegwerfend, der ihm jetzt, wo die Sonne hinter ihm stand, entbehrlich war, kreuzte er neuerdings die Hände über der Brust und sagte:

»Also nach Hooge wollen Sie? Dort war mein Freund Brork auch bekannt. Werden an den alten Wattenschiffer denken, die Hooger, so lange noch eine Warft auf der Hallig steht.«

Meine Neugierde war durch diese dunkle und doch verheißungsvoll klingende Andeutung abermals erregt.

»Warf Euer Freund dort auch Anker auf unrechtem Grund und Boden?« fragte ich aushorchend.

»Hätt' es wohl getan, wär es angegangen«, erwiderte Thirs Nickelsen, »ging aber nicht an, und mußte also Brork das Ankerwerfen bleiben lassen und Gott danken, daß er nicht mitsamt seinem Schiffe zugrunde ging. Die Geschichte dünkte mir immer viel gefährlicher, als das Erlebnis bei Rungholtsand, obwohl mein Freund lieber von diesem als von jener in späteren Jahren sprechen hörte.«

»Er hatte vielleicht Gefährten, deren Glück und Leben von seinem Handeln abhing?«

»O nein, Herr. Mit Brork vertrug sich ein Gefährte selten länger als ein paar Stunden. Darum auch blieb er auf seinem uralten Ewerschiffe immer allein. Haben Sie die Westsee schon im Sturm gesehen?«

Diese so abrupt an mich gerichtete Frage machte mich noch begieriger, das nur angedeutete Abenteuer des berühmten Wattenschiffers zu erfahren, weshalb ich denn, von der strengen Wahrheit abweichend, verneinte.

Thirs Nickelsen schien diese Antwort erwartet zu haben. Er nickte beifällig mit dem Kopfe, dessen spärliches Haar der Wind wie Dünenhafer am Strande zerwühlte, griff nach seinem geteerten Hute, um sich wieder damit zu bedecken, und schob ein neues Priemchen in den Mund. Denn zum Erzählen bedurfte der alte Robbenschläger, wie es schien, durchaus des Kautabaks, um die Rede besser im Flusse zu erhalten.

» Sag ich's doch«, hob er an, »die Leute vom festen Wall wissen nicht, was Sturm heißt. Kommen sie zu uns an die Seedeiche, so binden sie sich die Hüte fest, wickeln sich wollene Tücher um den Hals und stellen sich, in jeder Hand einen Stecken, breitbeinig hin, sowie ein linder Wind weht. Wind heißen sie Sturm, sauste ein wirklicher Sturm um ihre Ohren, er würfe sie um oder fegte sie wohl gar fort in ihr windloses Binnenland.«

Ruhig ließ ich diese offenbar mit Absicht gehaltene Spottrede über mich ergehen. Ich kannte den schalkhaften Thirs Nickelsen bereits zur Genüge, um zu wissen, daß er sich nach dieser entschuldbaren Abschweifung mitten in die ihm offenbar am Herzen liegende Sache selbst vertiefen werde.

Hinter uns und zur Seite die Halligen Nordstrandischmoor und Hamburger Hallig, zeigten sich die Häuser des entfernteren Hooge vor uns nur erst wie konische Erdhügel von bald schmaler, bald breiter Form. Der Anblick der Westsee war jetzt eigentümlich fesselnder Art. Man denke sich ein Meer, geteilt in zahlreiche, viele tausend Schritt breite Ströme, die ihre brausenden Wogen schäumend gegeneinander rollen, und über dieser wühlenden und schäumenden Flut hier breite, flache Erdscheiben, über der Meeresfläche nur erkennbar als graue Säume. Darüber hochragend zackige Gipfel, Felsengebilden nicht unähnlich, jetzt hell von der Sonne beschienen, deren Licht sie in zitterndem Goldrauch umflimmert; dann wieder dies zauberische Märchenbild plötzlich in düstere Schatten sich verhüllend, die Meerflut tiefschwarz, der Horizont falb und ohne Schein, die ragenden Felszacken in bläulichem Grau auf dem schwarzen Grund des Meeres beinahe verschwindend. Das ist das Gemälde der Westsee mit den Halligen während einer Fahrt durch diese Inselreste bei wechselnder Beleuchtung.

Thirs Nickelsen ward von diesem wunderbaren Licht- und Farbenspiel, das mich entzückte, nicht weiter berührt. Es war ihm etwas Alltägliches, das er tausendmal gesehen hatte, weshalb seinem Auge alle Empfänglichkeit für das Herrliche desselben fehlte. Darum achtete er auch nicht weiter darauf sondern fiel allsogleich wieder in seinen treuherzigen Erzählerton.

»Genau da, wo wir jetzt segeln«, hob er an, »überfiel Brork eines Tages im Spätherbst ein böses Wetter. Er war, wie fast immer, allein auf seinem Ewer, dessen Leitung durch die Untiefen dieser Gewässer ihm bei Tag und Nacht wenig Mühe machte. Scharf von Gehör, mit Augen begabt, die selbst im Finstern jeden Gegenstand zu erkennen vermochten, fürchtete er keinen Unfall und ließ sich so leicht nicht aus seiner Ruhe bringen. Das Wetter aber, das ihn damals hier überfiel, machte ihm doch bös zu schaffen, weil der Sturm von schwerem Regengewölk begleitet war, das tief niederhing in die See und Meer und Luft zu einer grauen, undurchsichtigen Masse vereinigte. Ein Merkzeichen zu erkennen in solchem Aufruhr der Elemente gehört zu den Unmöglichkeiten. Brork blieb nichts übrig, als die Segel einzunehmen, fest am Steuer auszuhalten und sich seinem guten Seemannsglück zu überlassen.

Am Tage würde ihm dies auch sicherlich treu geblieben sein; denn hatte Brork keinen andern Anhaltepunkt für den einzuhaltenden Segelstrich, so richtete er sich nach der Farbe des Wassers und wußte dann immer, in welchem Tief er steuerte, wie weit er von dieser oder jener Hallig entfernt war. In nebeltrüber, regenreicher Sturmnacht aber entzog sich ihm auch dieser Führer. Nur die Richtung des Windes konnte ihm ungefähr zum Wegweiser dienen. Allein dieser Wegweiser war täuschend und äußerst unsicher. Das Sturmwetter umbrauste das wild von den Flutwogen geschüttelte Schiff bald aus West, bald aus Süd. Bisweilen wehte es sogar von mehr als einer Seite. Dazu peitschten Regen und salziger Meerschaum über den einsamen Mann am Steuer hin, daß bald auch das Licht seiner Augen sich verdüsterte und nur grause, finstere Nacht um, unter und über ihm flutete.

Manche Hallig hat tief ins Land hineinschneidende Wehle, die bei einigen sich mehr und mehr erweitern und vertiefen, bis sie bei Hochwasser eine mit trüber Flut sich füllende Rinne bilden. Solche Rinnen nennen wir ›Schlütte‹. Schiffbar sind sie nicht, obwohl ein leichter Nachen darauf schwimmen kann. Steigt aber die Flut hoch, wie das bei heftigem Wehen immer geschieht, so trägt auch das Schlütt ganz bequem ein Fahrzeug, und es kommt dann vor, daß sogar Ewerschiffe mitten im Lande auf solchen Schlütten anlegen.

Hooge hat, wie die zunächst liegende große Hallig Langeneß eins der größeren Schlütte, so daß die Insel bei Hochwasser das Ansehen zweier besonderer Inseln erhält. Brork war dies wohl bekannt. Er dachte deshalb nur daran, wie er es anfange, um das Schlütt zu finden. Gelang ihm dies – so rechnete er weiter – wollte er den Ewer da hineinsteuern, um nicht auf das freie Meer verschlagen zu werden.

So fuhr denn nun mein Freund in Nebelnacht und Sturm unerschrocken weiter. Sein Kompaß ließ ihn glücklich die Richtung einhalten. Nur auf Augenblicke schwankte er, dann fand er sich immer wieder zurecht. Indes ward es doch spät, die Kräfte schwanden dem rastlos arbeitenden Manne, und hätte er nicht zufällig den Lichtschimmer aus dem hochgelegenen Hause des Windmüllers auf Hooge entdeckt, so würde er doch an der Hallig vorübergetrieben sein. Dieser Lichtschimmer rettete ihn. In der Gegend, wo die Bewegung des Wassers ihm das Schlütt anzeigte, zwang er mit Aufwendung aller Kräfte den Ewer in die hochsprudelnde Flut. Das niedrig ziehende Gewölk bedeckte Brork mit tiefer Finsternis. Das vorhin rötlich aufblitzende Licht verschwand. Keine Warft, kein Haus, kein Windmühlflügel war mehr sichtbar. Rundum schäumten und brausten die vom Sturm gepeitschten Wellen, und nur das ängstliche Blöken des Viehes sagte ihm, daß der Ewer auf der Rinne des Schlütt treibe. So wenigstens glaubte Brork.

Es vergingen nun mehrere Minuten, und noch immer sah der Wattenschiffer kein Land. Pfeilschnell jagte der Ewer über die rauschenden Wasser, dem Steuer nicht mehr gehorchend. Da ward zur Rechten des treibenden Schiffers ein dunkler Gegenstand sichtbar, so nahe, daß Brork sich entsetzte, denn er meinte ihn mit Händen greifen zu können. Er strengte alle Kraft der Augen an und erkannte das stumpfe Dach einer Kirche, kaum zwanzig Schritt entfernt! Weiterhin ragte die Windmühle mit ihren Flügeln gespenstisch in die Nacht. Auf diese Mühle trieb er jetzt zu. Das Haar sträubte sich unter dem Südwester Brorks. Der Unglückliche hatte ja das Fahrwasser verfehlt, er segelte nicht im Schlütt, er segelte mitten durch das überflutete Land der Hallig selbst und konnte schon in der nächsten Sekunde das Bugspriet seines Ewers in die Fenster des Müllers treiben. Er wollte beidrehen und preßte das widerstrebende Steuer, daß es seufzte; er schrie wie ein wildes Tier in das Windgeheul, um die nächsten Halligbewohner zur Hilfe aufzurufen. Daß ihm niemand helfen könne, vergaß er in der Angst des Augenblicks. Gehört aber ward des entsetzten Mannes Verzweiflungsruf. Hier der Pastor, dort ein Halligmann sehen das verlorene Ewerschiff mit dem einsamen Mann am Steuer, dessen graues Haar der Wind zerzauste, gerade auf die Windmühle zutreiben. Schon glaubten sie das Fahrzeug an dem Warfthügel zerschellen zu hören, da flog es, mit dem Bugspriet scharf an der Flügelkante vorüberstreifend, ungefährdet aus der gefahrvollen Nähe der Mühle. Eine hochgehende Woge schaukelte es seitwärts. Wie ein Gespenst zerrann es den starren Auges Nachschauenden im Wolkendunst. Ein paar Augenblicke und man sah und hörte nichts mehr von dem verirrten Ewer. Brork war in der dunklen Sturmnacht quer über die ganze Insel hinweggesegelt!«

»Habt Ihr Münchhausen gelesen?« fragte ich Thirs Nickelsen, denn es wollte mir scheinen, als habe der schlaue Uthlandsfriese Lust, dem »Unnützen« etwas aufzubinden. Verstand ich doch nichts vom Seemannsleben, von der Macht und Wut entfesselter Stürme und Wogen. Thirs Nickelsen blickte mich darauf sehr ernst an.

»Mir ist's, als hätte ich von den großmächtigen Lügen des bannig unnützen Menschen schon früher gehört«, versetzte er, »lesen mag ich solchen Unsinn nicht. Hab' keine Zeit dazu hinterm Haffdeiche.«

»Aber Ihr mutet einer Landratte vielen Glauben zu«, fiel ich ein. »Ich höre gern Ungewöhnliches, das aber, was Ihr mir eben mitgeteilt habt, mit Verlaub, Nickelsen...«

»Ist so wahr, als ein Wort im Evangelium!« sprach er, mir barsch das Wort abschneidend. »Zweifeln Sie, Herr, so fragen Sie die Männer auf Hooge und Langeneß. An letzterer Hallig trieb Brorks Ewer an. Den Langenessern erzählte er sein Erlebnis, das wohl wenige überstanden haben würden, zuerst. Der Sturm war heftig und die See ging hoch. Bis an die Kronen der Warften stieg das Wasser, die meisten Halligen ganz überflutend. Bei sechs Fuß Wasser aber schwimmt schon selbst ein schwer beladener Ewer leicht über jedes Land.«

Thirs Nickelsen hatte die Wahrheit gesprochen. Alle Bewohner der Westseeinseln, die ich später fragte, bestätigten die Erzählung des Wattenschiffers. Meine geäußerten Zweifel verstimmten leider den Friesen für die noch übrige Zeit meiner Fahrt durch die Westsee. Er blieb fortan stumm und beantwortete meine Fragen nur mürrisch und einsilbig. Ein wenig mehr Gläubigkeit würde mir jedenfalls bessere Dienste geleistet haben. Ich war zuletzt froh, als ich Föhr, das Ziel meines Ausfluges erreichte, denn nichts Langweiligeres, als eine Meerfahrt unter stummen Gefährten. Beim Abschiede indes zeigte der Wattenschiffer wieder ein freundliches Gesicht. Er schüttelte mir derb die Hand und versprach, mir für ein anderes Mal ein ebenso beredter Pilot zu sein, falls ich nur Geduld haben wolle, ihm zuzuhören. Das habe ich ihm auch zugesagt und ich denke, Thirs Nickelsen hält Wort, wenn ich gelegentlich wieder an seine grüngemalte Tür klopfe und ihn bitte, seinen Ewer segelfertig zu machen.