Ernst Willkomm
Der Schlickläufer
Ernst Willkomm

Ernst Willkomm

Der Schlickläufer

Ein Strandbild


Jene eigentümliche unterseeische Welt, welche in einer Ausdehnung von etwa siebzig geographischen Meilen bei dem Ablaufen der Flut an der schleswigschen Küste gleichsam aus dem Meere emporsteigt, nennt man die Watten der Nordsee. Sie bestehen größtenteils aus einem fetten, dicken, schwarzgrauen Schlamme, der hin und wieder so fest ist, daß man ihn fast trockenen Fußes betreten kann, gewöhnlich aber ist er weich und zäh und besitzt eine solche Saugkraft, daß nicht nur kleine Gegenstände von einiger Schwere, sondern sogar Wracke gestrandeter Schiffe in gar nicht langer Zeit von ihm eingeschluckt werden. Diese weichen und ungleich größeren Wattenfelder nennt der Küsten- und Inselbewohner Schlickwatten. Zwischen den größeren Wattenfeldern bildet der ab- und zufließende Ebbe- und Flutstrom hier breite, dort schmale, hier tiefe, dort seichte Flußrinnen, die auch bei Tiefebbe immer mit Meerwasser angefüllt bleiben. Dies sind die Wattströme, die gleich einem unermeßlichen Adernetz rund um die Inseln und Halligen sich ausbreiten und die Verbindung derselben mit dem Leben und Nahrung spendenden Meere stets aufrecht erhalten.

Zur Zeit der Ebbe sieht man in dieser schwarzgrauen, glitzernden Wattenwüste nicht selten einzelne Menschen umherwandern, um von einer Insel zur andern zu gelangen. Nur Leute, welche ganz vertraut sind mit dem bloßgelegten Grunde des Meeres, welche die kleineren Wattströme (Leien), ihre Tiefe und Richtung kennen, welche zugleich, fast auf die Minute zu berechnen wissen, zu welcher Zeit, je nach der Richtung und Gewalt des Windes, die Flut wieder eintreten muß, dürfen es wagen, die Wattenfelder als Fußsteige zu benutzen. Geübte Leute solchen Schlages, die gewöhnlich aus Not und um ein Stück Geld zu verdienen, diese todesgefährlichen Meerpfade wandern, heißen Schlickläufer.

Gewöhnlich sind es unerschrockene, kaltblütige, kühne, ja tollkühne Menschen, die aus dem Schlicklaufen ein Gewerbe machen. Selbst die erfahrensten sind ihrer Sache nie völlig gewiß, und bei weitem die meisten kommen bei plötzlich eintretendem Nebel, durch ein Umschlagen des Windes, durch ein nicht voraus zu berechnendes plötzliches Kentern des Ebbestromes, der infolge eines vielleicht viele hundert Meilen weiten Sturmes im großen Ozean die Meereswogen rascher von West gen Ost wälzt, jammervoll um. Manche gehen bei ihren Schlickwanderungen auch auf Beute aus, wie der Grund des Meeres sie bisweilen birgt, oder verbinden die Eigenschaften eines Schlickläufers und Strandräubers aufs Innigste in einer Person.

Ein Mensch solchen Schlages war im vorvorigen Jahrhundert der noch heute im Munde der Insel- und Küstenbewohner lebende Tade Boh Rink. In einem jener tiefen Dünentäler, welche die südlichste Spitze der Insel Sylt bilden, stand seine Hütte. Hier lebte er still und eingezogen, weniger von seiner Hände Arbeit, als von den Gütern gestrandeter Schiffe, welche die Brandung an den Strand warf. Rink war von Jugend auf nicht ängstlichen Gewissens gewesen; er fand es höchst einfach, sich das anzueignen, was die endlose Meereswoge ihm vor die Füße legte, ohne lange zu fragen, ob wohl ein anderer näheres Anrecht darauf habe. Er ward ein Strandräuber.

In jenen Tagen fiel das nicht auf. Die meisten unbegüterten Bewohner der Nordseeinseln lebten auf gleiche Weise. Das Strandrecht war ein allgemeiner Brauch, den man nicht bloß übte, für den man sogar öffentlich von der Kanzel herab den Segen Gottes anrief. Tade Boh Rink unterschied sich nur dadurch von Hunderten seinesgleichen, daß er das Strandrecht raffiniert ausübte. Sooft die See stürmte und der geübte Strandräuber von einem der hohen spitzen Dünenkegel, die gleich weißen Flammen meilenweit ins Meer hineinleuchten, ein Schiff der Insel zutreiben sah, traf er die nötigen Vorkehrungen für den zu übenden Raub. Dies zweideutige Handwerk trieb Rink viele Jahre und erhielt dadurch sich und seine Familie. Inzwischen fraßen die gierigen Wogen sich immer tiefer ein in die schutzlosen Dünenwände seiner Heimatinsel. Wilde Nordweststürme brachen die Gipfel der Dünenkegel ab, wirbelten den feinen Sand turmhoch in die Luft, verschütteten die Täler und gaben binnen wenigen Tagen und Nächten dem ganzen Dünengebirge eine andere Gestalt. Auch Tade Boh Rinks Hütte ward unter den Wogen des weißen Dünensandes begraben, der letzte Rest seiner dürren Felder vernichtet.

Einige Tage später brandete die grüne Meerflut da, wo der Strandräuber über ein Vierteljahrhundert gelebt hatte. Er siedelte sich mit den Seinen nach Föhr über, wo er als Fischer und gewandter Lotse und Küstenfahrer sich leicht hätte nähren können. Allein das behagte Rink nicht. An ein faules, dabei abenteuerliches Leben gewöhnt, besaß er nicht Charakterfestigkeit genug, sich davon zu trennen, einen ehrlichen Erwerb dem wilden Strandräuberhandwerk vorzuziehen. Vielmehr begann er sein Räuberleben nunmehr ins Große zu treiben, was ihn zu einem ebenso gefährlichen, als gefürchteten Menschen machte.

Ein Meister in der Führung des Steuers, hielt ihn auch der entsetzlichste Sturm nicht ab, in See zu gehen. Glaubte Rink Aussicht auf reiche Beute zu haben, so bestieg er sein Flachboot und trieb durch das tobendste Wellengebraus lachenden Mutes in den brüllenden Ozean. Hörnumodde, sein ehemaliger Wohnsitz, war infolge der Verwüstungen, welche die Sturmfluten daselbst angerichtet hatten, von allen Bewohnern verlassen worden. Eine traurige, melancholische, unheimliche Sandeinöde, mieden es die Insulaner. Man hielt den Ort für verflucht. Die wilde Phantasie der Strandbewohner bevölkerte ihn mit gespenstischen Gestalten, die daselbst ihr Wesen trieben und in stürmischen Mondnächten durch ihr Zauberwesen ansegelnde Schiffe heranlockten, damit sie an den Dünenwänden zugrunde gingen.

Tade Boh Rink lachte zu derartigen Märchen. Er kannte keine Furcht. Ob Gespenster oder der Teufel selbst auf den Wogen trieben oder Wacht hielten am Strande, war ihm höchst gleichgültig. Weit mehr fürchtete er die Strandvögte, denen es obliegt, über die an den Strand getriebenen Güter zu wachen und die Strandräuber zu verhaften.

Um nun mit diesen nicht zusammenzutreffen oder wohl gar in Händel zu geraten, zog Rink es vor, meistenteils bei Nacht auf Raub auszugehen. Das Fahrwasser kannte er, den Sturm fürchtete er nicht, sein scharfes Auge, das bei Nacht fast ebenso gut sah als bei Tage, war ihm der sicherste Leiter. Tade Boh Rink ward selten von jemand bemerkt, und doch machte er stets die besten Geschäfte. Des Nachts, wenn kein anderer sich hinauswagte aufs Meer, trieb der schmale, schwarze Nachen Rinks durch die Wogen, und wer dann dem kecken Schiffer mit den langen flatternden, grauen Haaren begegnete, hielt ihn für eine gespenstische Erscheinung, wie der Seemann deren auf allen Meeren, zumal bei heftigen Stürmen, viele sehen will. Tade Boh Rink aber steuerte seinen Nachen auf Hörnumodde zu, dessen leuchtende Dünenspitzen ihm auch in der finstersten Nacht nie verborgen blieben.

Diese unheimliche Gegend ist nach länger anhaltenden Stürmen gewöhnlich mit Schiffstrümmern, Strandgut, oft auch mit angeschwemmten Leichen bedeckt, denn die aus dem Ozean heranstürzenden Wogen brechen sich an den weit ins Meer hinauslaufenden Sandbänken, welche der Seemann ihrer gegen das Land hin mehr und mehr ansteigenden Form wegen »Schwellen« nennt. Für unerschrockene Schiffer war daher nach jedem Sturme die Südspitze von Sylt eine Fundgrube reicher Schätze. Spülte die See auch nicht Gold und Silber aus, so fanden sich, halb überweht von nassem Sande, Brauchbarkeiten anderer Art, und trieben gar Leichname an, so fehlte es einem kecken und gewissenlosen Manne niemals an Beute verschiedenster Art.

Rink gehörte nun just zu denjenigen Menschen, denen alles recht ist, wenn es ihnen nur Vorteil gewährt. Zag war er nicht, das Gewissen machte ihm keine Skrupel, und da er seiner eigenen Meinung nach, sich jeder eigentlich verbrecherischen Handlung enthielt, so zählte er sich selbst unter die besseren Sterblichen. Er stahl und mordete nicht, er fiel niemand auf offenem Felde an, aber er trug zusammen, was er fand, und daß er mehr fand als andere Leute, rechnete er sich zu einem Verdienste an. Nur seinem Mute, seiner Unerschrockenheit, seinem kühnen Wagen hatte er das Glück zu verdanken.

Jahrelang schon hatte Rink dies Strandräuberleben getrieben, da spielte ihm der Zufall unvermutet einen bösen Streich. Ein entsetzlicher Sturm, der manchen braven Seemann für immer in die Tiefe der salzigen Wogen versenkte, lockte den beutegierigen Mann nach wochenlangem, faulen Leben nach Hörnum hinüber. Wie gewöhnlich teilte er mit umwundenem Ruder die rauschende Flut bei Nachtzeit, erreichte glücklich den Strand der entsetzlichen Dünenwüste und fand bald, was er suchte. Da und dort in einer tiefen Schlucht der hohen Sandhügel hatte die See einen Leichnam ausgeworfen. Diese plünderte Rink aus, trug auch noch andere an den Strand geschwommene Schätze zusammen und hielt sich dabei bis zum dämmernden Morgen auf.

Mit Beute schwer beladen wollte er sein Flachboot wieder besteigen, um den Nachforschungen der Strandvögte zu entgehen, die jedenfalls mit Tagesanbruch die verrufene Inselspitze besuchten. Zu seinem nicht geringen Verdrusse hatte aber die anschwellende Flut das Boot losgerissen und weit hinaus in die See getrieben. Dem solcherweise Verlassenen blieb nichts übrig, als entweder einen sehr wahrscheinlichen Kampf mit dem ersten ihm zu Gesicht kommenden Strandvogte zu bestehen oder seine mühsam zusammengetragenen Schätze freiwillig aufzugeben. Zu beidem hatte Rink keine Lust. Schnell entschlossen wendete er sich den Dünen wieder zu, drang in die verstecktesten Täler derselben ein und vergrub hier seine Reichtümer mit großer Sorgfalt. Dann verwischte er geschickt die Spuren seiner Fußstapfen, erstieg die nächste Dünenspitze und ging quer über die sandigen Hügel ins Innere der Insel hinein, wo er als harmloser Herumschlenderer niemandem auffiel.

Der Himmel hatte sich inzwischen wieder aufgehellt, der Wind war umgeschlagen, wie das häufig an diesen Küsten geschieht, und als die Sonne sich zum Untergehen neigte, breitete sie wallenden Purpur über die unermeßliche Meerflut.

Ein paar friesische Schiffer in der Wiedingharde waren mit eintretender Ebbe aufs Festland zurückgekehrt und jetzt beschäftigt, ihre Netze am Deichrande vor ihren Wohnungen zum Trocknen aufzuhängen. Als sie ihre Arbeit beendigt hatten, blickten sie nach Seemannsart noch einmal hinaus auf das Meer. Die Flut war bereits sehr weit abgelaufen, mithin die unheimliche Wattenwelt, soweit das Auge reichte, aus der Tiefe emporgestiegen. Dennoch wollte es den Fischern scheinen, als bewege sich etwas in dieser morastigen Wüste. Eine Gestalt, riesengroß, von den Strahlen der untergehenden Sonne vergoldet, schwebte geisterhaft über dem grauschwarzen Meeresgrunde. Im ersten Augenblick überrieselte es die Friesen eiskalt, denn sie glaubten in der riesenhaften Gestalt einen spukhaften »Gonger« zu erblicken. Allein ihr scharfes Auge sagte ihnen doch sehr bald, daß wirklich ein menschliches Wesen sich auf den Wattenfeldern bewege, und daß die riesenhafte Größe desselben nur von der Brechung der Lichtstrahlen in der abendlichen Dunstatmosphäre herrühre, die meistenteils über dem Grunde des Meeres zittert.

Die Fischer stritten sich jetzt darüber, wer wohl der Mann sein möge. Der eine wollte einen Bekannten, einen »Tuulgräber«,So nennen die Friesen diejenigen welche es sich zur Aufgabe machen, im Schlick verborgenen Torf während der Ebbe zu gewinnen. in ihm erkennen, der andere behauptete, es sei ein Austerndieb, der sich von der Höntje, der bekannten großen Austernbank unfern Sylt, für ein paar Tage Nahrung geholt habe. Und in der Tat hatte diese letzte Meinung etwas für sich. Als nämlich die rätselhafte Persönlichkeit an die letzte Lei kam und dieselbe trotz der Tiefebbe unüberschreitbar fand, bemerkten die neugierigen Fischer, daß der Unbekannte etwas Schweres auf beiden Händen trug und dies jetzt auf der höchsten Stelle des Watts niederlegte. Ihrer Meinung nach konnte dies nur ein mit frischen Austern gefülltes Netz sein.

Aus dem unruhigen und, wie es schien, unsicheren Hin- und Wiederlaufen des Unbekannten ersahen die Fischer auf dem Deiche, daß die breite und tiefe Lei ihn hindere, das Festland zu erreichen. Das erschreckte die gutherzigen Menschen, denn da untrügliche Zeichen ihnen sagten, daß die Flut bereits wieder eingetreten sei, mußte der unglückliche Verlassene von dem immer höher und gewaltsamer heranrollenden Meeresschwalle unrettbar fortgerissen werden. Sie versuchten daher, ihm durch Zeichen die Richtung anzugeben, die er nehmen müsse, um auf den Watten noch vor der höher steigenden Flut ans Land zu kommen. Sei's nun aber, daß der einsame Wanderer diese Zeichensprache nicht verstand, oder daß er die Bewegungen der Männer am Strande nicht zu erkennen vermochte, genug er achtete nicht darauf. Indes zeigte sein ganzes Tun, daß er klug und vorsichtig verfahre. Die Fischer bemerkten nämlich mit nicht geringem Erstaunen, wie derselbe emsig bemüht war, alles nur einigermaßen Harte und Feste auf dem Watt zusammenzutragen und auf dem höchsten Punkte desselben einen kleinen Hügel zu erbauen. Sie konnten nicht mehr zweifeln, daß der Verlassene auf diese Weise dem Untergange zu entrinnen versuche. Allein, bekannt mit der Macht der Flutströmung, schüttelten die Wiedinger ob solchen, ihrer festen Überzeugung nach nutzlosen Tuns die Köpfe und sprachen im stillen ein Gebet für den armen Mann. Die inzwischen eingebrochene Nacht setzte ihren Beobachtungen ein Ziel. In der sichern Erwartung, am nächsten Morgen einen Leichnam am Strande zu finden, begaben sie sich in ihre geschützten Wohnungen hinter den Deichen.

Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß jener rätselhafte Wanderer kein anderer war als der unerschrockene Tade Boh Rink. Als er sein Boot an den Dünen Hörnums nicht mehr fand, sagte er sich sogleich, daß nur auf Umwegen eine Rückkehr nach seinem gegenwärtigen Wohnsitze möglich sei. Er berechnete dabei als praktischer Seemann, daß in glücklichem Falle wohl auch sein Fahrzeug an den Strand von Föhr antreiben könne, denn er kannte die Dauer und Macht der Flut- und Ebbeströmung zwischen den beiden Inseln Sylt und Föhr sehr genau.

Rink hielt sich daher gar nicht lange auf Sylt auf, wo er ohnehin nichts zu suchen hatte. Die Ebbe war bereits eingetreten, als er den Strand bei Keitum erreichte, und ohne langes Bedenken folgte er der zurückweichenden Flut. Leichten Fußes schritt er über die grauen Wattenfelder fort, so rasch er es vermochte. Wo das Watt in Schlick überging, setzte er seinen gefahrvollen Weg sprungweise fort. So würde er sein Ziel, die Wiedingharde, vor der Rückkehr der Flut erreicht haben, hätte der kühne Wanderer, der vielen Leien und Priele wegen, nicht oft beträchtliche Umwege machen müssen. Als die östlichste Lei vor ihm lag, sah er an der Bewegung des Wassers, daß bereits Flut sei. Das Festland war demnach nicht mehr zu erreichen. Rink sah einen sichern Tod in den Wellen vor Augen, wenn er nicht irgendwie Rat schaffen konnte, sich gegen den Andrang der Flut zu schützen. Wie er dies versuchte, haben wir schon angedeutet. Der Plan des kühnen Abenteurers gelang vollkommen. Tade Boh Rink erbaute sich auf dem Watt einen kleinen Hügel, über welchen die Flut zwar fortspülte, doch ohne ihm irgendwelchen Schaden zuzufügen. Er lachte der ängstlichen Fischer am Strande, deren Bewegungen er wohl sah, und nahm sich vor, ihnen durch die Tat seine Erkenntlichkeit dafür zu bezeigen.

Am andern Morgen hatten die beiden Fischer nichts Eiligeres zu tun, als den Deich zu besteigen und auszuschauen, was wohl aus dem Schlickläufer geworden sein möge. Es war noch halbe Ebbe, die Watten nur zum Teil überflutet. Allein soweit das Auge reichte, war nirgends ein menschliches Wesen zu erblicken. Dagegen erkannten die Wiedinger sehr deutlich noch die Überreste des kleinen Muschel- und Steinhügels, welchen der kecke Mann am Abend vorher erbaut hatte. Tot konnte derselbe mithin nicht sein. Während sie darüber sprechend vom Deich herab zum Strande stiegen, sahen sie deutlich im fetten Kleiboden eingedrückte Fußstapfen, deren Richtung einen vom Meere landwärts gehenden Wanderer verrieten. Neugierig verfolgten sie dieselben, und siehe da, sie führten geradesweges nach dem Weideplatze ihrer Pferde. Als sie diesen betraten, fehlte der beste Renner. Statt seiner fand man ein Stück Horn, den Überrest eines Messergriffes, worin deutlich der Name »Rink« zu lesen war. Bei diesem Funde gingen den Wiedingern die Augen auf. Ein paar sehr verständliche »Gott verdamm mich, der Strandräuber hat uns bestohlen!« entschlüpften unwillkürlich ihren Lippen.

Der »tolle Rink«, wie das Volk den Schlickläufer nannte, trabte mittlerweile auf seinem gestohlenen Klepper mit großer Seelenruhe der Insel Föhr, seiner gegenwärtigen Heimat zu. Die unsicheren Wattenwege, die er von der Wiedingharde dahin einschlagen mußte, schreckten ihn nicht. Er hatte sie wohl hundertmal zurückgelegt, und jetzt, wo er ein Pferd sein nannte, fühlte er sich ungleich sicherer. Rink kam auch ohne ferneren Unfall auf der Insel an, gab dem geraubten Pferde seine Freiheit und ging an der nördlichen Küste den Strand entlang, sein scharfes Auge immer auf den Meerstrom geheftet, der zwischen Sylt und Föhr auch zur Ebbezeit nie abläuft.

Der erfahrene Schiffer hatte sich nicht verrechnet. Mit zurückkehrender Flut gewahrte er auf dem bewegten Wasserspiegel einen dunkeln Gegenstand, der rasch immer näher schwamm. Daß derselbe ein Boot sei, konnte ihm nicht entgehen, und daß dies Boot ihm zugehöre, dafür sprachen alle Wahrscheinlichkeitsgründe. Gesetzt aber auch, es sei dem nicht so gewesen, Rink blieb sich und seinen strandräuberischen Grundsätzen stets treu und erklärte alles, was vom Seewasser ans Land gespült wurde, ohne langes Bedenken für sein Eigentum. Um nicht allzulange auf die Bewegungen der Flutwelle warten zu müssen, ging Rink dem wachsenden Wasserschwalle entgegen. Diesmal sollte sich seine Vermutung bestätigen. Das Boot gehörte ihm wirklich zu. Lachend schwang er sich hinein, und da er alles in bester Ordnung fand, ergriff er das Steuer, hißte ein Segel auf, wendete und hielt wie am Tage vorher wieder auf die Dünenwände Hörnums zu.

Glücklich erreichte der »tolle Rink« nach Sonnenuntergang die wüste Südspitze Sylts, wo er diesmal sein Boot mit größter Vorsicht in einem sicheren kleinen Hafen befestigte. Unter dem Schutze der Nacht ging er dann in die Dünenschlucht, wo er die früher geraubten Kostbarkeiten verborgen hatte, und grub sie aus. Er war eben fertig damit und wollte sich an Bord seines Fahrzeuges begeben, als er Menschenstimmen in nicht großer Entfernung hörte. Lauschend blieb er stehen, verdeckt von dem Vorsprunge eines Dünenkegels. Bald zeigten sich auch im Grau der Nacht zwei Gestalten, die hart am Saume des weißen Brandungsgischtes über den weißen Sandboden fortschritten. Am Eingang zur Schlucht machten sie halt, wechselten einige Worte und kamen dann gerade auf ihn zu.

Da Rink nicht wissen konnte, ob diese beiden Unbekannten gleich ihm selbst Strandräuberei treiben oder, im Fall sie Strandvögte waren, auf Menschen seines Schlages fahnden wollten, fühlte er durchaus keine Neigung, mit ihnen zusammenzutreffen. Eine List mußte ihn aus seiner Verlegenheit retten. Rasch hing er ein paar der erbeuteten Kleidungsstücke auf eine Stange, die ihm zur Hand war. Diese Kleider, vom Winde bewegt, konnten in der Ferne und beim unsicheren Nachtdunkel gern für ein sich bewegendes menschliches Wesen gehalten werden. Zu größerer Sicherheit noch ahmte der tolle Rink täuschend ähnlich erst das Knurren, sodann das Gebell eines großen Hundes nach. Beides machte die sich Nahenden stutzig. Sie blieben stehen, kehrten dann wirklich um und verschwanden am Strande. Rink lachte ihnen übermütig nach im Tone des in dieser Dünenwüste häufig vorkommenden Spottvogels, der Lachmöve. Als er die Luft allerwärts rein wußte, raffte er seine Schätze zusammen, barg sie im Boot und steuerte getrosten Mutes nach Föhr hinüber, das er auch glücklich erreichte.

Nach diesem mit seltener Kühnheit und Geistesgegenwart ausgeführten Abenteuer lebte Tade Boh Rink herrlich und in Freuden von den erbeuteten Schätzen. Er besaß genug, um geraume Zeit mit den Seinigen schwelgen zu können, was ihn denn auch veranlaßte, ein gottvergessenes Faulenzerleben zu führen. Wie lange dies währte, melden die Überlieferungen nicht, nur seine letzte unglaublich kühne, aber freilich nicht rühmenswerte Tat ist auf die Nachwelt gekommen.

Es waren seit dem erzählten Abenteuer Jahre vergangen und der Schlickläufer hatte inzwischen manch anderes Wagnis unternommen und alle immer mit bewundernswertem Glück zu Ende geführt. Mit dem, was er auf solche Weise erwarb, ernährte er sich und die Seinigen. Ein langer und völlig sturmloser Sommer jedoch, in welchem für den »tollen Rink« nichts zu gewinnen war, zehrte seine Schätze völlig auf, und als der Herbst sich einstellte, lugte aus jeder Ritze von des Strandräubers Hütte der Mangel.

Rink war über die Ungunst des Wetters sehr ärgerlich. Schon wollte er, um mit den Seinen nicht Hungers sterben zu müssen, sich entschließen, gleich anderen ehrlichen Leuten zu arbeiten. Da kam die mitleidige Natur ihm wiederum zu Hülfe. Der Horizont umzog sich mit drohenden grauen Wolken, einzelne Windstöße, die pfeifend an die lockern, zum Teil gesprungenen Fensterscheiben seiner Hütte pochten, meldeten als vorausgeschickte Warnungsboten die nahenden Herbststürme. Rink atmete von neuem auf. Er machte sein Boot segelfertig, schaute lange aus nach allen Himmelsgegenden, ob seine Vermutungen sich wohl bestätigen würden, und nachdem er wußte, von welcher Seite her das bald losbrechende Unwetter aller Wahrscheinlichkeit nach am stärksten und anhaltendsten toben würde, ging er noch vor Abend in See, zwischen den Halligen mit ihren wunderlich gestalteten Häusern gen Süden steuernd.

Tade Boh Rink war tags vorher über die Watten nach Amrum gewandert, um in den dortigen Dünen zur Ernährung der Seinigen ein paar Kaninchen zu erlegen. Diese Beschäftigung sagte seinem Charakter mehr zu als eine gewöhnliche bürgerliche Arbeit, da sie eine entfernte Ähnlichkeit mit der ihm zur andern Natur gewordenen Strandräuberei hatte. Während der Jagd auf Kaninchen bestieg Rink mehrere der höchsten Dünenspitzen jener Insel und bemerkte mit seinen ungemein scharfen Augen, daß viele Schiffe nach den Mündungen der Weser, Elbe und Eider unterwegs seien. Der Wind war frisch, wehte aus Nordwest und sicherte den Schiffen eine gute und rasche Fahrt, wenn er nicht plötzlich umschlug. Dies war nun aber wenige Stunden später geschehen. Er ging immer mehr westlich und wich schon am nächsten Morgen unter heftigen Böen ganz nach Südwest ab. Dabei konnte in den nächsten 48 Stunden von all den vielen Schiffen kein einziges die Elbe oder Weser erreichen, wohl aber war Aussicht vorhanden, daß mehrere bei aufspringendem Sturme von der großen rückwärts rollenden Flutwelle erfaßt, gegen die Sandbänke getrieben würden, welche vor den Mündungen der Eider, an den Außendeichen und um die nordfriesischen Inseln das Meer erfüllen. Darauf baute der Schlickläufer seine eigensüchtigen verbrecherischen Pläne.

Schon am nächsten Morgen ankerte Rinks Boot auf einer Sandbank unfern der Insel Pellworm. Von hier aus konnte man alles Fahrwasser im Westen der schleswigschen Küste vortrefflich beobachten, ganz besonders die Mündungen der alten und neuen Hever, der Eider, Elbe und Weser. Jedes nach einer oder der andern dieser Strommündungen ansegelnde Schiff kam in den Gesichtskreis eines achtsamen, vor Pellworm liegenden Spähers.

Die Bewohner der genannten Insel hielten den einsamen Schiffer für einen Robbenschläger, da er auf den Watten herumlungerte, ohne irgend etwas anderes zu tun, als auf die See hinauszublicken und Schaltiere aus dem Schlick aufzulesen. Gegen Abend desselben Tages ward der Wind immer heftiger, die Luft dabei durch niedrig ziehende Nebel dick. Es war nicht mehr zu zweifeln, daß höchstwahrscheinlich noch vor Mitternacht ein Südweststurm mit der ganzen in dieser Jahreszeit gewöhnlichen Heftigkeit und Andauer losbrechen werde.

Mit einbrechender Dämmerung befestigte Rink sein Boot mit aller denkbaren Vorsicht. Dann verließ er es und schlich sich im Dunkel der feuchten Seenebel an die Insel. Wären die Bewohner Pellworms Nachtschwärmer gewesen, so würden sie eine Gestalt schattenhaft über die Deiche, durch die schmalen, schlüpfrigen Wege zwischen ihren Feldern haben schleichen und in der Nähe der alten massenhaften rotbraunen Turmruine verschwinden sehen, die noch jetzt vorhanden und weit in die See hinein zu sehen ist. weshalb sie auch ansegelnden Schiffen als Merkzeichen dient.

Die Halligmänner, welche sozusagen nur von der Gnade des Meeres leben, sind bei Stürmen die aufmerksamsten Beobachter jetzt des Himmels, dann wieder der Wogen, die brüllend an den Warften ihrer Häuser sich brechen. Auf einigen der Pellworm zunächst gelegenen Halligen bemerkten die Einwohner gegen Mitternacht mit ungeteiltem Staunen, daß gerade über der genannten Insel eine glänzende Flamme aufleuchtete, deren Widerschein meilenweit auf dem stürmischen Meere sichtbar war. Diese hochlodernde Flamme hatte in der Entfernung ganz das Ansehen eines Bakenfeuers, und wer nicht sehr genau mit der Lage der friesischen Inseln bekannt war, mußte sie vom Meer aus für ein derartiges Licht halten. Den Halligbewohnern kam dies nie gesehene Licht höchst merkwürdig vor, weshalb einige es genauer zu beobachten sich entschlossen. Diese Beobachtungen ergaben bis zur unwiderleglichen Gewißheit, daß die rätselhafte Flamme am Kranze des alten Kirchturms auf Pellworm loderte und daß sie genau da angebracht war, von wo aus ihr rötlicher Schein die schäumenden Wellenberge der Westsee beleuchten mußte. Über die Entstehung und die Ursache dieses sonderbaren improvisierten Leuchtfeuers konnte sich begreiflicherweise niemand Rechenschaft geben, auch lag es nicht in der Art dieser Leute, fruchtlose Nachgrübeleien darüber anzustellen.

Der Sturm wuchs inzwischen zum Orkan an. Das Geheul in den Lüften, das Rauschen und Brüllen der See übertönte jedes andere Geräusch. Auf das Meer konnte auch der waghalsigste Lotse sich nicht hinauswagen, und überdies wäre dies auch töricht gewesen, da man weder Notschüsse vernahm, noch auch irgendwo in der freilich sehr dicken Luft Fahrzeuge bemerkte, welche fremder Hülfe bedürftig gewesen wären.

Dieser entsetzliche Sturm dauerte drei Tage und drei Nächte, und in jeder Nacht nach 11 Uhr begann am westlichen Kranze der Pellwormer Kirchenruine das rätselhafte Feuerzeichen aufzuflackern, mit seinen düsteren Strahlen die schäumenden Wogen der Nordsee trüb und unheimlich beleuchtend. Vor der beginnenden Morgendämmerung erlosch regelmäßig das unerklärliche Licht, ohne daß irgend jemand sein Entstehen wie sein Verschwinden zu deuten vermochte.

Als das Unwetter sich zu legen begann, zeigten sich bald die Spuren der furchtbaren Verwüstung, die es angerichtet hatte. Schiffstrümmer aller Art, zerrissenes Tauwerk, Planken, zerbrochene Schanzwände, Kisten, Tonnen und Gerätschaften trieben auf Inseln und Halligen ans Land. Bei diesem traurigen Anblick frohlockten die meisten dieser Insulaner, denn Gott hatte offenbar den Strand gesegnet, damit sie den langen Winter sorglos überdauern könnten. Jung und alt machte sich nun auf den Weg, eilte nach den Booten und steuerte hinaus nach den Bänken, die vor den Watten der Frieseninseln gelblichweiß schimmernd wie Geister der Tiefe sich ausdehnen. Auch die Strandvögte bestiegen ihre Fahrzeuge, um Unordnungen möglichst zu verhüten und dem Raube der gestrandeten Güter zu steuern, was damals noch eine ebenso undankbare als gefährliche Aufgabe war.

In all dem Graus der empörten Elemente und während des jammervollen Unterganges von Hunderten prägten sich nur dem zerwetterten Antlitz eines einzigen Menschen die Züge maßloser Freude ein. In einem sicheren Versteck der Insel Pellworm wartete Tade Boh Rink getrost, ja hoffnungsvoll die Wut des Herbststurmes wie den Erfolg seiner satanischen List ab. Denn er war es gewesen, der in jeder Nacht die weithin leuchtende Flamme am Westrande der alten Kirchenruine entzündet und bei Anbruch des Tages wieder ausgelöscht hatte. Sein Plan bei dieser fluchwürdigen Tat war ganz richtig. Er stützte sich auf die meistenteils nur den Küstenfahrern in der Westsee bekannte starke Rückwärtsbewegung der Flutwelle, welche fremde Schiffer sehr häufig und fast immer bei stürmischem Wetter täuscht. Ein improvisiertes Leuchtfeuer an unbekannter Stelle mußte diese Täuschung vollkommen machen und die irregeleiteten Schiffer rettungslos auf die breiten vor Eider und Hever liegenden Sandbänke treiben, wo sie, der Wut des empörten Meeres preisgegeben, binnen wenigen Stunden gänzlich zugrunde gingen.

Tade Boh Rink sah mit innerlichem Entzücken die ersten Schiffstrümmer von den sich beruhigenden Wogen ans Land spülen. Unverweilt ergriff er das Ruder seines Bootes und trieb mit Riesenkraft das leichte Fahrzeug durch die immer noch ziemlich hoch gehenden Wellen. Da er der erste am Platze war, fiel die Beute sehr reich aus. Wohl an zwanzig zum Teil schon geborstene oder auch der Zerstörung durch Sturzseen nahe Wracks gestrandeter Schiffe lagen auf den Bänken. Viele der unglücklichen Seefahrer mußten umgekommen sein, denn da und dort im fetten Schlick, von dem braunen Geäst des Seetanges umschlungen, sah man die Körper Ertrunkener.

Rink hielt unter diesen Opfern seiner egoistischen Verschlagenheit eine reiche Ernte, indem er nur das Wertvollste, leicht Fortzuschaffende an sich nahm und nach seinem Boote brachte. Die Habsucht und Raublust fesselte ihn jedoch länger als klug war, so daß der kühne Räuber den übrigen Inselbewohnern, die jetzt von allen Seiten zu den gestrandeten Schiffen heranschwammen, nicht unbemerkt entschlüpfen konnte. In jenen, noch etwas wilden Zeiten galt ganz besonders bei Bergung von Strandgütern der Grundsatz des Faustrechtes. Der Stärkste, Gewandteste behauptete gewöhnlich das Feld und solche, die andern zuvorkamen, sahen die später Erscheinenden nicht eben mit freundlichen Augen an.

Rink war als Strandräuber oder doch wenigstens als ein Mensch bekannt, der für gewöhnlich sein Leben nicht auf ehrenwerte Weise fristete. Mehrere der heranrudernden Schiffer von den Inseln erkannten ihn jetzt, und da die Bauernvögte durch Nachforschungen an der alten Kirchenruine ermittelt hatten, daß irgendein kühner Waghals an dem Gemäuer emporgeklettert sein mußte, um das von manchem Insulaner bemerkte Feuer am Kranze zu entzünden, fiel bei vielen zugleich der Verdacht auf den alten Schlickläufer. Dieser Verdacht steigerte sich zur Gewißheit, als Rink sich schleunigst aus dem Staube zu machen suchte und die mannigfachen Zurufe gar nicht beachtete.

Aus Ärger darüber, und weil die Insulaner mit gutem Grunde vermuteten, daß der Föhringer ihnen das Beste bereits weggefischt haben werde, begannen mehrere der Kecksten den Fortsegelnden zu verfolgen. Rink war jedoch im Vorteil und bei seiner Gewandtheit in der Führung des Steuers, selbst für sehr geübte Ruderer, nicht gar leicht einzuholen. Der Ebbestrom riß mit gewaltiger Kraft das trefflich gebaute Boot auf dem Wattstrome seewärts, und da eine kleine Brise den Räuber noch unterstützte, so hatten die Verfolger geringe Hoffnung, ihn einzuholen. Dennoch standen sie nicht ab von ihrem Plane. Es schien ihnen Vergnügen zu machen, den alten Waghals zu jagen und tüchtig zu ängstigen. Ohnehin hatten sie etwas anderes nicht im Sinn, als die erbeuteten Schätze ihm im Ergreifungsfalle abzunehmen und unter sich zu verteilen.

Rink würde auch höchstwahrscheinlich seinen Verfolgern entkommen sein, hätte er sein Fahrzeug nicht zu schnell vorwärts treiben wollen. In der Absicht, es in einen schmalen Priel zu leiten, um auf kürzerem Wege die Westküste Föhrs zu erreichen, steuerte er nicht vorsichtig genug. Das pfeilschnell vorwärtsschießende Boot rannte auf den Grund und saß folglich wie eingekeilt fest im fetten Schlickboden. Der »tolle Rink« sah ein, daß entweder längere Zeit erforderlich sei, um es wieder flott zu machen, oder daß er die Rückkehr des Hochwassers abwarten müsse. Eins war so untunlich als das andere, denn seine Verfolger waren ihm nahe an den Fersen und konnten ihn schon nach wenigen Minuten umringt haben. Da erwachte die ganze Keckheit des tollkühnen Mannes in der Brust des Alten. Die Watten lagen stundenweit von der Meerflut entblößt vor ihm. In anderthalb Stunden war Tiefebbe und das erste Mondviertel streute blasse Silberflocken durch das rasch ziehende Gewölk auf die gefahrvollen schlüpfrigen Wattenstege.

»Es muß geschehen!« murmelte Rink entschlossen, raffte zähneknirschend die wertvollsten und leicht fortzubringenden Gegenstände auf, schlug mit seinem kurzen Beile ein Loch in den Boden des Bootes und sprang auf das Watt, das hier noch fußtief mit Wasser bedeckt war. Nach einigen Sprüngen hatte der tollkühne alte Mann das trockene Watt erreicht, das, ziemlich fest, den eiligst Fliehenden sehr gut trug. Allein Rinks Stunde hatte geschlagen; das böse Verhängnis breitete seine schwarzen Fittiche über ihn aus und übernahm das Amt der Vergeltung.

In der Eile des Fliehens verfehlte nämlich der so geübte Schlickläufer den rechten Pfad. Er bemerkte es erst, als es zu spät war und er den Boden mehr und mehr unter seinen Füßen weichen fühlte. Der Unglückliche war auf eine jener in den Watten zahlreich sich vorfindenden Stellen gekommen, wo der Schlick in rollenden Morast übergeht und trotz der fetten harzartigen Masse doch alles einschluckt. Gegen diesen furchtbaren Feind, der sich unsichtbar wie der Rachegeist des erzürnten Meeres oder wie die Geister der durch seine Schuld Ertrunkenen an seine Fersen klammerte, war aller Kampf vergebens. Rink sank immer tiefer und tiefer in den Schlick ein. Seine Verfolger wagten nicht, dem Unglücklichen sich zu nähern, da ihnen ein gleiches Schicksal bevorstand. Sein Rufen, endlich sein Verzweiflungsschrei machte sie nur zu lautlosen Zuschauern seiner fruchtlosen Anstrengungen. Schon nach Verlauf einer Stunde war der Schlickläufer bis unter die Arme in das Watt versunken. Lange aber sahen die Insulaner von ferne noch die machtlosen Bewegungen des armen Mannes, bis zuletzt seine Stimme erstickte und nur noch die langen grauen Haare des Versinkenden im blassen Strahle des Mondes über dem dunklen Wattenfelde hin und her flatterten.