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Es war eine stürmische Nacht. Eine Tür zum Deck schlug hin und her, als Joan den Vorraum neben dem Speisezimmer durchschritt und eisige Zugluft preßte ihr den Abendmantel an den Körper. Die Decks glitzerten vor Nässe, und lauter noch als das Stampfen der Schrauben und das Klatschen der triefenden Leinenvorhänge klang das Zischen des Wassers im Speigatt und das Pfeifen des Windes in den Drähten der Radiostation. Schwankend hob sich die ›Aquatic‹ aus dem Wasser empor, zitterte vom Bug bis zum Kiel und senkte sich wieder. Als Joan in ihrer Kabine anlangte, konnte sie die schäumenden Wellen sehen, die zeitweise die Luken verfinsterten. Der kleine Raum war behaglich und warm. Von Simmons keine Spur, aber ein auf dem Nadelpolster befestigter Papierfetzen erklärte rücksichtsvoll ihre Abwesenheit. »Sehr geehrte gnädige Frau!« schrieb sie. »Ich fühle mich bei diesem Aufruhr der See nicht wohl und habe mich zurückgezogen. Die Wärmflasche ist im Bette. Den Steward habe ich ersucht, Champagner bereitzustellen, falls gnädige Frau Verlangen danach haben sollte. Ergebenst E. Simmons.« Joan schlüpfte aus den Kleidern, nahm ein Döschen mit Gesichtscreme zur Hand und setzte sich in ihrem Kimono vor den Spiegel. Das Meer konnte ihr nichts anhaben. Von dem bißchen Schlingern ließ sie sich nicht unterkriegen. Freilich war der Gedanke, bei geschlossener Luke schlafen zu müssen, keineswegs verlockend; da aber ihre Kabine so nahe am Wasser lag, ließ sich kaum etwas ändern. Höchstens die Tür vielleicht könnte man offen lassen. Vorsichtig balancierte Joan über den schwankenden Boden, öffnete die Tür ein wenig und hakte sie fest.

Mechanisch fettete sie ihr Gesicht ein und ließ dabei die Gedanken zu den Ereignissen des Tages zurückschweifen. Wie scheußlich sich dieser Cradock betragen hatte! Es hatte sie wahrlich Überwindung gekostet, ihm die paar anerkennenden Worte zu sagen, aber wie nahm er sie auf! Sie grübelte über den Skandal nach, der ihm vermutlich seine Stellung bei Kitchener gekostet hatte. Irgendeine Intrige mit der Frau seines Vorgesetzten vielleicht. Ja, die Männer ... Mit unwillig verstärkter Energie rieb sie die Creme in die glatte weiche Haut. – -

Prinz Said Hussein rauchte unterdes im Rauchzimmer seine Zigarre zu Ende. Bis aus den Steward, der am Bartisch die Tagesabrechnung erledigte, hatte er den Raum für sich allein. Wie alle Orientalen schien auch er dem betörenden Zauber des Nichtstuns zu würdigen. Mit Whisky und Soda am Marmortisch neben sich, blickte er in seinem Klubsessel regungslos vor sich hin, von Zeit zu Zeit an seiner dicken Havanna saugend.

Plötzlich öffnete sich die Tür und ein kalter Wind fegte den kleinen Herrn Ismail in den Salon. Sein bleiches Gesicht hatte eine beinahe grünliche Färbung. Schlotternd ließ er sich in einen Sessel fallen und bestellte mit fast unhörbarer Stimme eine halbe Flasche Sekt. Der Prinz achtete des neuen Gastes nicht. Er schien von dem gemütlichen Zimmer mit der Eichentäfelung und den bequemen Klubsesseln tausend Meilen weit entfernt. Selbst den munteren Pfropfenknall von Ismails Champagnerflasche schien er zu überhören.

Gierig leerte Ismail sein Glas, das der dienstfertige Kellner aufs neue füllte. Dann zog er ein Exemplar der Passagierliste hervor, die abends beim Souper verteilt worden war, und begann sie zu studieren. Die Stimme seines Gegenübers schreckte ihn aus solcher Beschäftigung auf. »Ich möchte noch einen Brandy mit Soda, Steward!« hörte er ihn sagen. Beim Klang dieser Stimme blickte Ismail überrascht hoch. Er sah, wie jener andere Passagier sein leeres Glas langsam über den Tisch schob. Das grüne Feuer des Smaragdsteins am kleinen Finger seiner schlanken Hand blitzte und sprühte im elektrischen Licht – dies lenkte den Blick auf den verkrüppelten Finger, dem ein Glied fehlte. Ismail erschrak heftig, erhob sich halb und setzte sich wieder. Wie das erste, so trank er auch das zweite Glas in einem Zug aus. Dann stand er auf und wankte unsicheren Schrittes von dannen. Als die Tür hinter ihm zufiel, rief der Prinz. »Steward, ich habe es mir überlegt, ich werde lieber nichts mehr trinken!« Er sah auf die Uhr. »Viertel zwölf. Ich hatte keine Ahnung, daß es schon so spät ist. Gute Nacht!«

Und er folgt Herrn Ismail auf das nasse, windige Deck. – Joan Averil hielt im Bürsten der glatten braunen Haare inne und reckte horchend den Kopf. Jemand klopfte an die Kabinentür. Ihre Reiseuhr wies auf viertel zwölf! Was bedeutete dieser Besuch zu so vorgerückter Stunde? Sie hob den Türhaken, öffnete vorsichtig und starrte in Herrn Ismails lederfarbenes Gesicht.

Der Ägypter atmete schwer, und der Ausdruck seiner Mienen war sorgenvoll. »Oh, Verzeihung!« stotterte er verlegen, als er Joan erkannte. »Ich war der Meinung, dies sei die Kabine von Mr. Cradock. Entschuldigen Sie bitte vielmals, Madame!«

»Schon gut!« Joan lächelte. »Dies war tatsächlich Cradocks Quartier, aber wir haben gestern getauscht. Er wohnt jetzt drüben in D 5!«

Sie sperrte die Tür jetzt sorgfältig ab. Der Gedanke, daß lederhäutige, dunkeläugige Herren da draußen in tiefer Nacht auf den Zehen herumschlichen, war ihr nicht angenehm. Auf frische Luft jedoch mochte sie nicht verzichten. Unter beträchtlichen Mühen gelang es ihr, die Luke aufzustoßen. Sie hatte bemerkt, daß die Scheibe von außen nicht mehr naß war – also schlugen wohl die Wogen doch nicht mehr so hoch herauf.

Im Bett nahm sie einen Roman zur Hand und versuchte zu lesen; aber allerlei Störungen lenkten ihre Gedanken ab. Die Kabine stand ganz schief und nacheinander verschoben sich die Gegenstände und begannen umherzukollern. Die Kristallflasche hinter der Stange des Waschtisches – der Handkoffer auf dem Sessel – die Golfstöcke am Boden. Irgendwo in der Nähe hatte sich eine Tür losgerissen und krachte in unregelmäßigen Zwischenräumen.

Der Lärm ging Joan auf die Nerven. In Kimono und Pantoffeln lugte sie hinaus. Der Gang war leer, D 5 lag finster, mit angehakter Tür. Das störende Geräusch kam von der Badezimmertür am Ende des Ganges. Joan lief hin, sie zu befestigen, und kehrte dann fröstelnd ins Bett zurück. Sie drückte die freundliche Wärmflasche an sich, fühlte ihre Glieder erschlaffen und überließ ihren Körper der gleichmäßigen Bewegung des Schiffes. Langsam überkam sie der Schlaf. Sie streckte sich behaglich und sagte sich, daß jede Schraubendrehung sie dem Lande des ewigen Sonnenscheines näher bringe. – –

»Die Weiber,« meinte Reginald Renton, einer der beiden Radiobeamten der ›Aquatic‹, »die Weiber sind wie das Radio, Mister Cradock. Manche Tage ist die Verbindung kinderleicht und alles geht glatt; und ein andermal wieder gibt es atmosphärische Störungen und – –«

Hier rief ihm laut klappernd der Herr seines Schicksals von acht Uhr früh bis Mitternacht. Er setzte den Kopfhörer auf und zog sein Vormerkbuch näher heran.

Die Abgeschiedenheit der Radiostation behagte der Einsiedlerseele David Cradocks. Seitdem er vor sechs Wochen sein einsames Haus im Braunsteingebirge jenseits des Nil verlassen hatte, um, was selten vorkam, nach Europa zu reisen, hatte er nirgends diese Ruhe gefunden wie hier. Er war nach dem Abendbrot heraufgestiegen, um ein Radiogramm abzusenden, und oben geblieben, um seine Pfeife zu rauchen und mit dem sympathischen jungen Telegraphisten zu plaudern oder vielmehr ihn plaudern zu lassen.

»Elf Uhr zwanzig!« verkündete dieser jetzt und kritzelte die Zeit auf ein eben aufgenommenes Radiogramm, während er mit seiner freien Hand auf die Tasten drückte. Ein Steward erschien und übernahm die Papierbotschaft. Bei seinem Eintritt und Abgang riß der Wind wie toll an der Tür. »Wir werden mit Verspätung in Neapel ankommen, wenn das Wetter anhält«, bemerkte der Telegraphist.

Wieder öffnete sich die Tür und trieb den Tumult der Nacht herein. Ein elegant gekleideter Herr stand auf der Schwelle. »Guten Abend, kann ich ein drahtloses Telegramm nach Kairo senden?«

»Nur via Neapel!« antwortete der Beamte. »Vor Dienstag morgen werden wir mit der Landstation in Alex keine Verbindung bekommen. Es ist daher rascher und billiger von Neapel zu drahten.«

»Sie haben wahrscheinlich recht. – Hallo, Mr. Cradock! Ich habe Sie ja gar nicht bemerkt. Heute erst hörte ich, daß Sie an Bord sind ...«

»Guten Abend, Said Hussein!« antwortete der Engländer gleichgültig.

»Waren Sie in England?«

»Ja.«

»Fahren Sie wieder nach Luksor zurück?«

»Ja.«

»Wie geht's dem alten Lomar?«

»Gut!«

»Kommt er nach Ägypten?«

»Nein.«

Cradocks Benehmen war so kühl, daß es an Ungezogenheit grenzte. Aber der Prinz tat, als ob er das nicht bemerke. Er begann davon zu sprechen, wann er Lomar das letzte Mal gesehen habe und beschrieb eine Felsengruft, die sie zusammen besichtigt hatten. Er setzte dieses einseitige Gespräch mit Cradock fort, bis draußen am Deck Schritte hörbar wurden und der ablösende Telegraphist erschien. Cradock stand auf. »Mitternacht! Ich werde mich jetzt zurückziehen. Gute Nacht, Renton! Gute Nacht, Said Hussein!« »Ich gehe auch!« antwortete der Prinz. Die beiden Männer stiegen zusammen die Kajütentreppe hinab, und Renton folgte ihnen. –

Joan Averil setzte sich plötzlich im Bette auf und blickte erschrocken um sich. Sie sah auf die Uhr. Fünf Minuten nach zwölf. Sie horchte, aber sie hörte nur das Pochen ihres Herzens. Der Laut, der gräßliche Laut, der sie aus dem Schlafe erweckt, hatte sich nicht wiederholt.

Barfüßig, im Nachthemd sprang sie zur Tür. Der Gang war leer, so wie sie ihn zuletzt gesehen; die runde elektrische Lampe zitterte leise im Takt zu den Schwankungen des Schiffes und leuchtete matt. D 5 lag finster wie vorhin, die Tür mit einem Haken gesichert. Joan knipste am Schalter neben ihr und drehte das Licht an. Die Kabine war leer. Auf der Schwelle lag ein zusammengefaltetes Stückchen Papier. Mechanisch hob sie es auf und blieb unentschlossen stehen.

Plötzlich legte sich von hinten eine schwere Hand auf ihre Schulter. Sie drehte sich schnell um: Cradock sah ihr hart in die Augen; ein grimmiger Zug lag um seinen Mund.

»Was tun Sie hier?« fragte er barsch. Ohne den Griff zu lockern, lugte er an ihr vorbei in seine Kabine. Sein Gesicht wurde sanfter. Dann aber entdeckte er den Brief. Wilden Blickes entriß er ihr das Papier – zeigte auf die Aufschrift »Mr. Cradock«.

Nachdem er den Zettel gelesen, preßte er ihn in der Hand hin und her und trat ganz nahe an Joan heran, die am Türpfosten lehnte. »Ich verbiete Ihnen ein für alle Mal, sich in meine Angelegenheiten zu mischen! Es gibt nichts in meiner Korrespondenz, was Sie oder sonst jemanden interessieren könnte.«

»Was wollen Sie eigentlich?« keuchte sie. »Den Brief nahm ich zufällig vom Boden auf. Ich hatte mich über ein Geräusch erschreckt – kam zu Ihnen, um zu fragen, ob auch Sie etwas gehört hätten -

»Was sollte ich gehört haben?«

»Jemand hat gerufen – ich glaubte, einen Schrei zu vernehmen.«

»Wo, wann?«

»Soeben. Er schien von draußen zu kommen.«

Unter der spinnwebfeinen Hülle hob und senkte sich ihr Busen. Sie blickte auf ihr Nachthemd und Röte der Scham stieg in ihre Wangen.

»Lassen Sie mich in mein Zimmer!« bat sie, denn er stand noch immer zwischen ihr und ihrer Kabinentür. Aber er starrte sie finster an und rührte sich nicht.

Sie boxte mit ihrer festen kleinen Hand gegen seine Brust. »Lassen Sie mich vorbei, sage ich!« knirschte sie. Stillschweigend trat er zur Seite. Sie flüchtete in ihre Kabine und verriegelte die Tür.

Gedankenverloren stand er und zerknüllte den Brief zwischen seinen Fingern. Dann, mit plötzlichem Ruck, riß er sich aus seiner Lethargie und stürzte durch den abschüssigen Gang zurück, woher er gekommen.

*

Als Joan am nächsten Tag die Augen aufschlug, hatte die ›Aquatic‹ zu schwanken aufgehört. Der Hermelinmantel in ihrer Kabine hing bewegungslos am Haken. Die offene Luke umrahmte etwas, das einer erstaunlich festen gelben Mauer glich. Man hörte Lärm von schweren Wagen, die über hartes Pflaster ratterten und Stimmengeschnatter zerriß die Luft.

»Neapel, gnädige Frau!« Simmons stand neben dem Bett, eine Teetasse in der Hand. In ihrem schwarzen Kleid sah sie noch grimmiger und eckiger als sonst. Sie war so kantig wie ein Rechteck, und trotzdem kein lebender Mann berechtigtermaßen darüber sprechen konnte, gab es Anzeichen, die vermuten ließen, daß ihre unbekleidete Gestalt einen Kubisten in Ekstase versetzt haben würde.

Aber solche Gedanken kamen Joan Averil nicht in den Sinn. Für sie war Simmons in ihrem schwarzen Alpakakleid die rosenfingrige Morgendämmerung in Person. Sie rekelte sich schläfrig. Irgendwo rasselte in ihrem Kopf, wie ein Vogel im Käfig, eine unangenehme Erinnerung und deshalb wollte sie nicht recht erwachen.

»Es gab eine böse Geschichte in der Nacht, gnädige Frau! Haben Sie es gehört? Man ließ das Schiff halten, und ich weiß nicht, was noch alles geschah. Man sagt, ein Passagier sei über Bord gefallen!«

Ein finsteres, sonnverbranntes Gesicht, zwei zornige Blauaugen traten in Joan langsam erwachendes Bewußtsein.

Warum hatten sie sie so wild angestarrt?

»Ich werde Ihnen Ihr blaues Stoffkleid vorbereiten, gnädige Frau. Es regnet fürchterlich.« Simmons ging betulich umher und brachte die Kabine in Ordnung.

Joan richtete sich im Bette auf. Plötzlich kamen ihr die Ereignisse der Nacht wieder ins Gedächtnis: Der Schrei – Cradock und sein unsinniger Argwohn – . Was hatte Simmons da eben von einem Passagier über Bord erzählt?

Es klopfte. Simmons wandte sich nach Joan um und sagte:

»Der Kapitän läßt sich Ihnen empfehlen! Er möchte Sie so bald als möglich in seiner Kajüte sprechen.«

»Kapitän Barnett? Was will er von mir?«

»Das weiß ich auch nicht, draußen steht ein Steward und sagt, es sei sehr dringend!«

»Gut, ich komme, sobald ich angezogen bin. Was das wohl sein mag?«

»Möglicherweise etwas mit Ihrem Reisepaß – das würde mich nicht wundern. Es kam ein Haufe von fremden Männern an Bord. Sie nahmen das Rauchzimmer in Beschlag, wo sie die Pässe für Leute abstempeln, die an Land gehen wollen. So ein Blödsinn, finde ich – –«

Joan interessierte sich nicht für die geistreichen Auseinandersetzungen ihrer Zofe. »Wissen Sie wer der Passagier war, der über Bord fiel, Simmons?«

»Die Stewardeß konnte darüber keine Auskunft geben, gnädige Frau!«

Fiebernd vor Aufregung hastete Joan in die Kleider. Hatte etwa gar Cradock seine unverschämten Anschuldigungen vor dem Kapitän wiederholt? Sie fühlte, wie heißer Zorn in ihr aufstieg.

Der Steward führte sie zur Kommandobrücke. Es war elendes Wetter. Ein grauer warmer Regen hüllte Neapel ein und die Nässe blieb überall haften. Die ›Aquatic‹ nahm Kohlen ein. Flache Barken lagen auf dem schmierigen Wasser neben ihr und endlose Reihen zwerghafter Gestalten, die Köpfe als Schutz gegen den Regen mit Säcken bedeckt, turnten über die Planken und trugen Weidenkörbe auf den Schultern.

In dem kleinen weißen Deckhaus des Kapitäns war der erste Mensch, den Joan beim Eintreten zu Gesicht bekam, ihr Kabinennachbar Cradock. Er lehnte an einem Schrank der Tür gegenüber in einem schäbigen alten Anzug, und seine Hände spielten mit einer Pfeife. Sein Antlitz schien ausdruckslos, aber die Augen blickten wachsam.

Kapitän Barnett saß im Sessel zurückgelehnt, die Kappe aus der Stirn geschoben. Er war ein vierschrötiger Mann mit ziegelrotem Gesicht und den scharfen Augen der Seeleute.

»Ich bedauere, Sie so zeitig belästigen zu müssen, Frau Averil«, begann er. »Die Veranlassung bildet ein tragischer Vorfall, über den Sie uns vielleicht Aufklärungen geben können. Gestatten Sie, daß ich Ihnen Mr. Cradock vorstelle – –«

Ein Funken Humor glänzte in dessen Miene, als er sich verneigte. Joan nickte steif und beachtete ihn dann nicht mehr. Auch rückte sie den Schaukelstuhl, den ihr der Kapitän hinschob, so, daß sie Cradock den Rücken wandte.

»Gnädige Frau,« fuhr Barnett fort, »man hat mir berichtet, daß Sie heute durch einen Schrei geweckt wurden. Was war das für ein Schrei?«

»Es muß ein Angstschrei gewesen sein. Ich schlummerte zu der Zeit, bin aber dadurch wach geworben.«

Der Kapitän sah Cradock fragend an. »Der diensthabende Offizier auf der Brücke hörte nichts?« zweifelte er.

»Das ist richtig,« stimmte Cradock zu, »doch es herrschte starker Sturm. Frau Averils Kabine liegt ziemlich weit hinten, und wenn er vom Deck abstürzte, könnte sie in der Tat einen Schrei vernommen haben.«

»Nur wenn die Luken offen gewesen. Aber es wurde abends acht Uhr 45 der Befehl erteilt, alle Luken geschlossen zu halten, da das Schiff unruhig zu werden begann.«

»Aber meine Luke stand offen!« rief Joan. »Die Kabine war so dumpfig, und ich fand keinen Schlaf!«

»Aha«, bemerkte der Kapitän. »Das macht die Sache erklärlich. Es könnte uns auch einen Anhaltspunkt geben, von wo er hinunterstürzte. Wahrscheinlich vom C-Deck, wie Sie schon sagten, Herr Cradock.« Er wandte sich an Joan. »Ich glaube, ich brauche Sie nicht länger aufzuhalten, gnädige Frau!«

Joan erhob sich. »Darf ich nicht erfahren, was eigentlich geschehen ist?«

»Um Gottes willen!« erwiderte Barnett, »ich dachte. Sie wüßten schon alles! Ein Passagier fiel entweder oder sprang über Bord, ein gewisser Mr. Ismail – –«

»Ismail!« rief Joan bestürzt. Sie hatte eine plötzliche Vision von angstvollen Augen, die sie aus einem lederfarbenen Gesicht anstarrten.

»Aber ...« Sie drehte sich nun doch Cradock zu. Er begegnete ihrem Blick, ohne sich zu rühren.

»Was aber?« fragte der Kapitän.

»Ich sah Herrn Ismail noch gestern spät abends!«

»Wann?« fragten beide Männer gleichzeitig.

»Es war um viertel zwölf. Ich ging gerade zu Bett. Er klopfte an meine Tür, weil er dachte, es sei Herrn Cradocks Kabine; das war sie auch, bevor Herr Cradock mit mir tauschte. Ich erklärte ihm seinen Irrtum, und er ging fort.«

»Sagte er, was er von mir wollte?« fragte Cradock.

Joan sah ihn nicht an. »Nein«, antwortete sie kurz. »Es fiel mir auf, daß er schwer beunruhigt schien. Aber ich dachte, das wäre die Seekrankheit. Er sah sehr elend aus.«

Die Männer wechselten einen Blick.

»Nun,« bemerkte Barnett, »es ist eine traurige Geschichte, und ich fürchte. Sie sind etwas verstört darüber. Haben Sie jedenfalls Dank dafür, daß Sie mir alles so aufrichtig sagten!«

Er ging zur Tür, um sie zu öffnen, doch Cradock hielt ihn zurück. »Einen Augenblick, Herr Kapitän! Es wäre angebracht, wenn Sie Frau Averil ersuchen würden, den anderen Passagieren nichts von ihren Erlebnissen zu berichten.«

Joan blickte den Kapitän erstaunt an. Es war ihr bekannt, daß Schiffskommandanten ihre eigenen Gesetze und Machtbefugnisse hatten und Vorschläge oder Befehle anderer nicht zu dulden gewohnt waren. Zu ihrer Verwunderung stimmte Barnett jedoch sofort dem Vorschlag seines schäbig aussehenden Landsmannes zu. »Ich wäre froh, wenn Sie dieses als einen persönlichen Wunsch von mir auffassen würden, gnädige Frau«, sagte er mit Nachdruck. »Erörtern Sie bitte mit niemandem die Ereignisse der Nacht und unsere heutige Unterredung hier!«

»Ich werde schweigen!« versprach sie. Sie nickte dem Kapitän zu und ging. Auf dem Promenadendeck begegnete sie dem Prinzen. Seine Kleidung verriet deutlich die Absicht, an Land zu gehen. Er trug einen grünen Filzhut, einen eleganten grauen Überzieher mit einem Veilchensträußchen im Knopfloch, Gamaschen, Handschuhe und einen Stock.

Sein Gesicht hellte sich auf, als er Joans zarte Gestalt erblickte. »Ah, ich suchte Sie schon überall! Haben Sie Mitleid mit einem Einsamen, Gnädigste und gestatten Sie mir. Sie zu einem Diner in Neapel einzuladen. Wir dürfen uns zwar nicht weit weg wagen, da unser Schiff um vier Uhr nachmittags schon wieder abfährt, aber wir können wenigstens eine hübsche Spazierfahrt machen!«

Sie nahm sein Anerbieten gern an, um ihrer gedrückten Stimmung Herr zu werden. Die Nachricht von Ismails Verschwinden hatte dem furchtbaren Schrei, der jetzt noch in ihrer Erinnerung nachklang, neue Resonanz verliehen. Das Herz tat ihr weh, wenn sie sich klarmachte, daß der freundliche kleine Mann, während er höflich mit ihr über die Schätze Ägyptens plauderte, sich vielleicht schon mit der Absicht eines Selbstmordes trug. Und das Geheimnis, das man aus seinem Tode machte, beunruhigte sie, denn es lenkte ihre Gedanken auf Cradock, den sie zu vergessen trachtete.

Es hatte aufgehört zu regnen und ein paar schwache Sonnenstrahlen vergoldeten die Hafenbucht. Am Fuß der leinenbespannten Laufbrücke wartete ein prachtvolles Auto. Auf dessen Sitz lag ein großer Strauß Parmaveilchen, von einem violetten Band umschlungen.

»Sie waren sicher, daß ich Ihrer Einladung folgen würde?« rief Joan und verbarg das Gesicht in den regennassen Blüten.

»Ich vertraute auf Ihre Herzensgüte!« erwiderte galant der Prinz.

Said Hussein erwies sich als höchst angenehmer Gesellschafter. Er war ihr ergeben ohne zudringlich zu sein, lustig und doch nicht leichtfertig. Das eigens bestellte Automobil und die Blumen blieben nicht die einzigen Beweise seiner vorsorglichen Aufmerksamkeit. Im Hotel mit der Aussicht auf den Hafen, erwartete sie das Mittagessen mit einem besonderen Menu, das von ihrem Gastgeber auf zauberhafte Weise im vorhinein zusammengestellt war. Als sie dann unter den Orangenbäumen der Terrasse den Kaffee nahmen, erschien eine Bande malerischer Kerle mit Mandolinen und Gitarren und ergötzte sie mit neapolitanischen Volksliedern.

Joan konnte nichts Orientalisches an dem Prinzen entdecken, und doch verleugnete er seine Rasse nicht. Als sie durch die Altstadt zurückfuhren, sagte er: »Sie werden hier einen Vorgeschmack des Ostens bekommen!« Und wirklich, als Joan in den steilen, holperigen Straßen die Handwerker in ihren Duden geschäftig hantieren sah – die Gerber, die sich über ihre Häute beugten, die Fleischbrater, die zischende Ölpfannen über Kohlenbecken aus Olivenholz hielten – als sie die düsteren kleinen Kaffeeschenken in den Hauseingängen gewahrte, und all die schmutzigen geheimnisvollen Gassen und Nebengäßchen, da verspürte sie eine Ahnung des Orients.

»Das ist freilich nur ein Stückchen des Ostens, wie es der Reisende kennt«, erklärte der Prinz, »aus den großen Handelsstädten, wo jeder zweite ein Nicht-Moslem, ein Syrer, Armenier, Grieche oder Jude ist. Aber daneben gibt es jene Araberviertel, in Kairo zum Beispiel, wo das Leben heute noch nach den nüchternen, wohlgeordneten Gesetzen weitergeht, die unser Prophet viele hundert Jahre, bevor ein Weißer Amerika betrat, festlegte, wo noch so unmoderne Schlagworte wie Gottesfurcht, Achtung vor den Eltern, Wohltätigkeit gegen die Armen, in Ehren gehalten werden. Vielleicht werde ich einmal den Vorzug haben, für Sie ein wenig den Schleier zu lüften, der das Innere der mosleminischen Welt vor westlichen Augen verbirgt.«

»Es ist wahrscheinlich keine Welt für uns Frauen!«

Er lachte gutmütig. »Vom amerikanischen Standpunkt aus nicht. Und doch, wissen Sie, haben die Männer auch im Osten nicht immer ihren eigenen Willen. Wenn man einen Bauer auf dem Felde singen hört, so singt er allermeistens von der Schönheit eines Dorfmädchens, ihrem Wankelmut und ihrer Kälte. Ich glaube manchmal, daß der Unterschied darin besteht, daß die Frauen des Westens mit ihrer Macht über die Männer prahlen, während im Osten ... nun, da ist es eben wie mit den Damen eines arabischen Haushalts: Man sieht sie nicht, aber sie sind da!«

Die Mehrzahl der Reisenden war bereits wieder an Bord, als Joan und der Prinz eintrafen. Am Eingang des Salons stießen sie mit Frau Richborough zusammen. Die Bankiersgattin, in einem vornehmen, weißen Tuchkostüm und vier Reihen Perlen um den Hals, kaufte gerade Korallen von einem Hausierer, dessen große, flehende Augen ihr Herz erweicht hatten. Als Joan näher kam, rief sie ihr begierig entgegen: »Meine Liebe, wir waren so erschüttert, als wir hörten, daß ihr Tischnachbar, dieser arme Mr. ... Dingsda, gestern nacht über Bord gesprungen ist. Bitte erzählen Sie mir doch von ihm. Hat er Ihnen etwas anvertraut?«

»Nein«, gestand Joan. »Ich lernte ihn bloß gestern beim Essen kennen.« Sie fühlte, daß sie jemand von der Seite ansah und begegnete im Aufschauen Cradocks Blick. Er sprach mit Simopulos, beobachtete sie aber dabei über dessen Schulter hinweg.

»Dieser nette Herr Simopulos,« fuhr Richborough redselig fort, »sagt, er wäre ein sehr interessanter Mann gewesen und höchst gebildet. Er war ein guter Freund von ihm und kannte ihn schon seit vielen Jahren. Nicht wahr, lieber Herr Simopulos?«

Der Grieche, am Ärmel gezupft, drehte sich um. Dunkle Ringe umschatteten seine Augen, und er sah recht mitgenommen aus. Es fiel Joan ein, daß sie ihm seit dem gestrigen Mittagsmahl nicht mehr begegnet war.

»Ein sehr teurer Freund«, seufzte er bekümmert. »Es ist mir furchtbar, daran zu denken. Das Meer war mir gestern zu stürmisch. Ich ging schon nachmittags zu Bett und stand nicht einmal zum Abendessen auf. Wer weiß, wenn ich an Deck gewesen wäre, hätte sich dieses Unglück vielleicht nicht ereignet!«

Der Prinz nahm Joan beiseite. »Führen Sie mich fort von hier!« flüsterte er. »Sonst wird mich die gute Frau Richborough mit diesem üblen Griechen bekanntmachen!«

»Aber Prinz, Simopulos ist doch ganz nett!«

»Es tut mir leid, nicht Ihrer Ansicht zu sein. Ich halte ihn für einen dunklen Ehrenmann und bin ihm während vier Saisons in Kairo erfolgreich ausgewichen. Kommen Sie, gehen wir Tee trinken!«

Von da ab verbrachte Joan manche unterhaltsame Stunde mit dem Prinzen. Cradock dagegen sah sie fast nie. Ja, sie hatte ihn beinahe schon vergessen, als er eines Abends – es war der letzte an Bord – zu ihrem Erstaunen auf sie zukam. Sie war kurz vor dem Abendessen auf ein paar Augenblicke aufs Deck hinausgegangen, um die überwältigende Pracht des Sternenhimmels zu genießen.

Plötzlich stand Cradock neben ihr. »Frau Averil,« sagte er, »ich habe schon lange nach einer Gelegenheit gesucht. Sie zu sprechen. Aber Sie sind nie allein.«

Sie schwieg, während sie sich in Gedanken mit dem Problem beschäftigte, vor das sie sein unerwarteter Schritt gestellt hatte.

»Sie halten mich gewiß für einen Flegel, nicht wahr? Jedenfalls möchte ich Sie wegen der Dinge, die ich Ihnen damals in jener Unglücksnacht sagte, in der Ismail verschwand, um Entschuldigung bitten. Und nicht nur deswegen allein. Ich kann Ihnen das alles nicht näher erklären, aber wenn Sie den wahren Sachverhalt kennen würden, dann würden Sie es verstehen.«

Sie wunderte sich über die Stärke des Unwillens, der in ihr aufstieg und merkte eigentlich erst jetzt, wie tief seine Ungeschliffenheit und seine schmähliche Beschuldigung sie verletzt hatten.

»Bevor sich morgen unsere Wege trennen, wüßte ich gern, daß Sie mir verziehen haben.«

In seinen Worten lag etwas Zaghaftes und Demütiges, das seltsam von der kurzen, herrischen Art abstach, mit der er sie sonst behandelt hatte. Es hätte sie rühren können, aber sie war ein Weib und nahm ihren Vorteil wahr. Außerdem setzte diese Bitte die Andeutung einer Intimität zwischen ihnen voraus, und darüber ärgerte sie sich.

Das seltsame alte englische Liedchen, das als Signal zum Souper galt, ertönte jetzt längs des Decks. Joan sah ihren Gegner hoheitsvoll an. »Weder Ihr Benehmen, mein Herr, noch Ihr Ruf berechtigen Sie, auf die Achtung einer Dame Anspruch zu erheben.«

Der flüchtige Blick auf sein Gesicht, als sie an ihm vorbeirauschte, ließ sie ihre hastigen Worte bereuen. Denn sie sah, wie er unter der Sandfarbe seines gebräunten Antlitzes erbleichte und der Schmerz, der ihm aus den Augen sprach, schien sie wie ein scharfes Schwert zu durchbohren. Schweigend wandte er sich, und sie ging mit geröteten Wangen zu Tisch.

Am nächsten Morgen um die Mittagsstunde lief die ›Aquatic‹ in Alexandrien ein.

*

Todros Effendi, Schreiber bei Mr. John Villiers Bastable, blickte träumerisch aus dem offenen Fenster seines Bureaus auf die grünenden Gärten des Ministeriums. Es war beinahe Mittag und sehr warm.

Todros war in köstliche Phantasten versunken. Ungestört spazierten die Fliegen über sein dickes braunes Gesicht. Er sah sich mit der lavendelblauen Krawatte, dem guten Anzug und den Schuhen mit den Tucheinsätzen, die er nur am Freitag trug, in einem Automobil, dem Kraftwagen seines Vetters Boulos Vorfahren, um der Familie Marians, der Tochter des alten Morcos von der Staatsbahn, seine Aufwartung zu machen. Sie war ein üppiges Mädchen, dessen pechschwarze Augen und appetitliche Rundungen seine Seele mit Wonne erfüllten. Der alte Morcos war geizig, aber es hatte unleugbar gewisse gesellschaftliche Vorteile, einen Ministerialbeamten zum Schwiegersohn zu haben. Vorläufig befand sich Todros zwar noch in untergeordneter Stellung, aber hatte er nicht Ehrgeiz und wußte er nicht die Gelegenheiten, die ihm sein Amt bot, weise zu nutzen. Auch stand er bei Mr. Bastable in Gunst oder konnte wenigstens vorgeben, in Gunst zu stehen. Und im übrigen hatte er ja immer noch Voronian, einen armenischen Gönner, im Café Schischeh. Der wütende Lärm des Telephons scheuchte den Träumer in die Wirklichkeit zurück. Er hob den Hörer: »Wer dort?« fragte er kurz. Dann untertänig auf englisch: »Bitte zu warten, eine Minute! Ich werde gehen, zu schauen!« Und gemächlich trabte er nach dem Zimmer seines Chefs.

»Mr. Cradock, am Telephon!« lautete seine Meldung. »Er fragt an, ob er kommen und Sie sehen kann?«

Bastable blickte durch seine Hornbrille auf. Mit dem kleinen Schnurrbart, dem grauen Haar, dem dunklen Anzug und der vornehmen Haltung, war er der Typus des britischen Kolonialbeamten. Er hatte müde sorgenvolle Mienen, was seine Freunde vom Turfklub durchaus begreiflich fanden, wenn sie sich an die rotflammenden Plakate erinnerten, die vor zwei Jahren 10 000 Pfund Belohnung für Mitteilungen versprachen, die zur Verhaftung der Mörder seines Amtsvorgängers führen konnten.

»Gewiß, Todros!« sagte Bastable. »Herr Cradock ist mir stets willkommen!«

Der Bureaubeamte kehrte zum Vorzimmer zurück und richtete den Auftrag aus. Er lachte glücklich in sich hinein, während er den Hörer auflegte. Seine Armbanduhr zeigte auf halb zwölf Uhr. In zwei Stunden war er frei und konnte ins Café Schischeh eilen. Oh, Freund Voronian würde heute freigebig sein müssen. Todros' Gedanken flogen zu seinem kleinen Bankguthaben, das sich langsam Piaster für Piaster vermehrte und wieder lächelte er. –

»David!« rief Bastable und sprang von seinem Sessel auf, als Cradock zehn Minuten später ins Zimmer trat. »Sieh bitte zu, daß beide Türen geschlossen sind, ja? Ich habe kein Vertrauen zu meinem koptischen Schreiber. Nun?«

»Nun, da bin ich wieder, John!«

»Wann bist du angekommen?«

»Gestern, mein Lieber, mit der ›Aquatic‹!«

»Gute Überfahrt gehabt?«

»Von Neapel ab prächtig.«

»Zigarette?«

»Danke, ich rauche lieber Pfeife.«

Cradock setzte sich auf den Schreibtisch, und einen Augenblick trat Stille ein, während er seine Pfeife stopfte. Als er sie angezündet hatte, sagte er ernsten Tones: »Die Dinge stehen noch ärger, als du und ich vorausgesehen haben, John.«

»Das fürchtete ich! Das Departement für Antiquitäten ist in einer schrecklichen Verlegenheit.«

»Und mit Recht! Alle möglichen Altertümer verschwinden aus Ägypten und kommen auf den Markt, die das Departement nie erblickt hat. Ich war bei allen großen Händlern in London, Paris, Berlin und Rom und war verblüfft. Rechts und links werden die Ausgrabungen geplündert. Man zeigte mir Sachen des mittleren Reiches, Tell-el-Amarna-Figuren und Töpferarbeit und früheres Zeug aus Holz von Sakkara und den Pyramiden, ausgewählte Stücke, jedes einzelne ein Wunder. Und alles bei uns gestohlen!«

»Das Departement tut sein möglichstes, aber wir haben zu wenig Beamte. Und die Aufpasser, so aufopfernd sie auch sein mögen, sind zu bekannt. Deshalb haben wir dich eingespannt, Dave!« ...

»Als deine verfluchte Regierung versucht hatte, die ganzen Ausgrabungen unter ihre Kontrolle zu bekommen und nachdem sie den fremden Expeditionen nur unter der Bedingung Konzession erteilte, daß die besten Stücke ihrer Funde in das Museum von Kairo abgeführt würden, war es unvermeidlich, daß der Schleichhandel zunahm. Aber diesmal stehen wir zweifellos vor einer ganz großen Sache, einer umfassenden, ausgezeichnet funktionierenden Organisation. Und glaube mir, John, die Kerle werden vor nichts zurückschrecken.«

»Meinst du, Seaton?«

»Was ist mit ihm?«

»Hast du denn nichts davon gehört?«

»Mein Gott, ich war doch während der letzten sechs Tage auf See!«

»Er hat sich in einer Telephonzelle in Monte Carlo erschossen.«

Cradocks Gesicht war wie aus Stein. »Wann war das?« knirschte er.

Bastable prüfte den Kalender. »Heute ist der sechsundzwanzigste. Laß mich Nachdenken! Morgen wird es eine Woche sein.«

»Also am 20. Januar, dem Tage der Abfahrt der ›Aquatic‹.«

»Und wo?«

»Im Restaurant Florida, spät abends.«

»Weißt du bestimmt, daß es Selbstmord war?«

Bastable zuckte die Achseln. »Du kennst doch Monte! Die Gesandtschaft in Paris vermittelte uns ein paar Einzelheiten. Seaton speiste an dem Abend« – er blickte zu seinem Freund hinüber und machte eine nachdenkliche Pause – »mit Aronstein!« Cradocks braune Hand packte mit stählernem Griff den Schreibtisch. »Die Zusammenkunft hat also stattgefunden?«

»Ich hoffte, du wüßtest darüber Bescheid. Seaton wurde während des Abendessens weggerufen, um mit jemanden, namens Mayer, zu sprechen, der ihn am selben Tage in seinem Hotel besucht hatte. Das Telephon im Florida-Restaurant scheint ziemlich weit abzuliegen, unter der Treppe am Ende der Halle. Scheinbar befand sich niemand in unmittelbarer Nähe, als Seaton die Zelle betrat. Man hörte einen Schuß, und fand gleich darauf die Leiche des Kunsthändlers. So wenigstens lautet der amtliche Bericht. Es ist klar, daß es einen Menschen gibt, der Licht in das Dunkel bringen könnte, nämlich Mayer, da er vermutlich der letzte war, der mit dem Engländer gesprochen hat. Aber Mayer ist verschwunden!«

»Aha, und die Wahrscheinlichkeit, daß er sich noch am Leben befindet, dürfte nicht allzu groß sein!«

»Wir wissen aber, daß dieser Mayer ein Privatdetektiv war.«

»Was sagt Aronstein?«

Bastable lachte trocken. »Er hat das Verhör nicht abgewartet. Er setzte sich schleunigst in den Nachtzug nach Paris, flog von dort nach London und fuhr mit dem nächsten Dampfer nach Amerika heim. Er scheint es stark mit der Angst bekommen zu haben.«

»Darüber wundere ich mich nicht. Aus den Briefen, die du abgefangen hast, geht hervor, daß mindestens drei Händler zu jener Zusammenkunft im Januar eingeladen waren: Seaton, Aronstein und Ismail. Würde es dich sehr in Erstaunen setzen, daß nicht einer, sondern zwei Selbstmord begangen haben?«

»Zwei«, rief Bastable. »Auch Ismail?«

»Es geschah auf der ›Aquatic‹! Wenn ich nur gewußt hätte, daß er an Bord war! Ich war in Paris, um ihn zu besuchen, wie wir besprochen hatten, aber er hatte seine Geschäfte gesperrt und war abgereist, ohne seine Adresse zu hinterlassen. Er verschwand in der Nacht über Bord, bevor wir Neapel erreichten. Eine Mitreisende Dame hörte einen Schrei, und außer seiner leeren Schlafkoje war das der einzige direkte Beweis, den wir über die Sache hatten. Ich stellte alle möglichen Nachforschungen an, aber ohne Erfolg. Was mich bedrückt, John, ist der Umstand, daß der arme Teufel kaum eine Stunde vor seinem Verschwinden das Schiff nach mir absuchte. Und während dieser ganzen Zeit hockte ich oben in der Radiostation und schwatzte mit dem Telegraphisten. Ismail ließ mir einen Brief in meiner Kabine zurück, aber es steht nicht darin, was er wollte. Hier, du kannst ihn selbst lesen!«

Cradock zog einen zerknitterten halben Bogen Briefpapier aus der Tasche und reichte ihn Bastable. »Es muß, daß ich Sie dringend sehe, heute nacht«, lautete das merkwürdige Englisch. »Es macht nichts, welche Stunde spät es ist. Kommen Sie, ich flehe Sie darum, zu dem C-Deck, wo ich gehe. Es ist äußerst dringend.« Das Bleistiftgekritzel war mit »Ismail« unterzeichnet, und enthielt noch den französischen Nachsatz: »Lassen Sie mich nicht im Stich, ich bitte Sie herzlich!«

Cradock nahm das Blatt wieder an sich. Dann verschränkte er die Arme und sah seinem Freund in die Augen. »Da steckt ein Verbrechen dahinter, John!«

Das sorgenbeschwerte Antlitz des anderen schien noch hagerer. »Ich bin ganz deiner Meinung, aber wie willst du es beweisen?«

Cradock schob das Kinn vor. »Sie sind verteufelt schlau, wer immer sie auch sein mögen!« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Simopulos war mit an Bord!«

»Das ist verdächtig genug. Diese gelbe Ratte befaßt sich seit Jahren mit solchem Schleichhandel.«

»Ich fand Ismails Brief wenige Minuten, nachdem der Schrei gehört wurde. Ich lief sofort auf das C-Deck. Es war leer. Ismails Kabine war am selben Deck, aber er war nicht dort. Bevor ich Lärm schlug, ging ich zu Simopulos' Kabine.

Wie immer sein Ruf auch sei, in diese Affäre war er nicht verwickelt. Es war eine stürmische Nacht, und der Kerl lag vollkommen seekrank darnieder, beinahe in einem Zustande des Zusammenbruchs. Dann gab ich das Alarmzeichen, das Schiff wurde zum Stehen gebracht, und die Scheinwerfer suchten die Umgebung ab. Aber infolge der Geschwindigkeit der Fahrt und wegen der groben See gab es für den armen Ismail keine Rettung. Man fand keine Spur von ihm.«

»Waren außerdem Ägypter an Bord?«

»Nur einer, soviel ich weiß.«

»Und wer?«

»Said Hussein!«

Schweigend tauschten die beiden einen langen Blick. »Und er hat ein unantastbares Alibi«, fügte Cradock hastig hinzu. »Er war bis Mitternacht mit mir in der Radiostation, bis der Beamte dort abgelöst wurde. Wir drei gingen zusammen hinunter und trennten uns am Promenadendeck, aber der Telegraphist, ein durchaus zuverlässiger junger Mann, erzählte mir später, daß er Hussein bis zu seiner Kabine begleitet hatte. Sie müssen noch in dem Augenblick beieinander gewesen sein, als der Schrei ertönte. Das beweist also Said Husseins Unschuld. Jedenfalls aber sagt mir mein Gefühl, daß Ismail vom Schiff hinuntergestoßen wurde und ich glaube, daß der Kapitän im stillen derselben Meinung ist. Schreit denn ein Mensch, wenn er über Bord springt? I wo! Er gleitet still hinüber!«

»Und wie war's mit der Zusammenkunft zwischen Ramosi und seinen Freunden?«

»Ich fürchte, daß ich in diesem Falle versagt habe, John. Ich habe nichts herausgebracht. Aber da wir nun wissen, daß Aronstein, Seaton und Ismail zusammen in Monte Carlo gewesen sind, können wir folgern, daß die Unterredung irgendwo an der Riviera stattgefunden hat.«

»Und Ramosi?«

»Soweit ich feststellen konnte, ist er in Europa völlig unbekannt. Der Schauplatz seiner Tätigkeit liegt hier. Wir müssen seine Identität erforschen und hinter seine Schliche zu kommen suchen. Das schwierige ist nur, daß wir nie ein bestimmtes Stück verfolgen können, das unsere Arbeiter stehlen, da wir nicht wissen, was wir bei den Ausgrabungen finden werden.«

Er brach ab und sandte einen heiteren Blick zu Bastable hinüber. Dann flüsterte er ihm etwas ins Ohr. Auf Bastables Gesicht lag ein breites Grinsen. »Nun – warum nicht?« sagte er.

Cradock wies auf das Telephon. »Ruf doch jetzt gleich an und mache es aus.«

Aber Bastable schüttelte den Kopf. »Ich verlasse mich bei derlei Sachen nicht auf das Telephon!« bemerkte er. »Unter uns, ich trau' diesem Todros Effendi nicht. Seit einiger Zeit schon fällt mir auf, daß er sich zu sehr für meine Besucher interessiert. Ich werde unsere Freunde heute nachmittag selbst aufsuchen und benachrichtige dich dann sogleich im Hotel.«

Aber Cradock schien nicht hinzuhören. Er betrachtete die Tür nach dem Vorzimmer. »Um wieviel Uhr geht dieser Schreiber von hier fort, John?«

»Um halb zwei, warum?«

»Ich möchte, daß du ihn mir direkt ins Hotel schickst. Gib ihm etwas, das er mir bringen soll – das blaue Buch dort wird recht sein. Sag ihm, daß es wichtig und eilig sei.«

»Was du für sonderbare Einfälle hast. Nun gut, ich werde ihn schicken. Aber laufe doch nicht schon weg, es ist ja kaum zwölf Uhr ... Wie ist es dir denn zu Hause in London ergangen?«

»Oh, ganz gut. Aber ich bin froh, daß ich wieder da bin. Ich habe vor großen Städten Angst. Und außerdem, weißt du, vertrage ich mich nicht mehr recht mit meinem Vater. Er hat diese alte Geschichte furchtbar schwer genommen, und dann vermerkt er es sehr übel, daß ich nicht heirate und ihm keinen Enkel und Erben bringe. Aber ich bin zu grob für die gute Gesellschaft. Ich kann hübschen Frauen keine schönen Reden halten.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Es scheint, daß ich überhaupt nicht mehr mit Frauen sprechen kann!«

Bastable klopfte ihm auf die Schulter. »Armer alter Dave! Das war damals ein verteufelt harter Schlag, nicht wahr! Und ist schon solange her. Warte mal, vor zwölf Jahren beinahe, stimmt es?«

Cradock nickte. »Jetzt bin ich so ziemlich darüber hinweg.«

Bastable blickte ihn durchdringend an. »Übrigens,« sagte er bedächtig, »da wir gerade von Said Hussein sprachen: Nadja Alexandrowna ist wieder da!«

Cradock wandte sich rasch um. »Nadja!« stammelte er.

»Aber die polizeiliche Ausweisung?«

Bastable hob die Hände. »Ägypten hat heute eine eigene Regierung. Und Nadja Alexandrowna ist eben zurückgekehrt.«

Mit gesenktem Haupt nahm Cradock Hut und Stock. »Nun,« sagte er langsam, »ich muß jetzt gehen. Du schickst also Todros hinüber, John, und benachrichtigst mich sobald als möglich wegen der anderen Sachen. Auf Wiedersehen!«

Als er die Tür erreichte, hob er den Kopf und streckte sich, wie um der äußeren Welt wieder entgegenzutreten. Bastables Augen waren traurig, als er ihm nachblickte.

*

Wenn man in Kairo die Schischeh, die Wasserpfeife zu rauchen wünscht und den echten Dumback bekommen will, das ist der blasse, frischwaschene persische Tabak, so geht man durch den grünen Esbekijeh-Garten in das Café gegenüber der Oper.

Ahmed, der Pfeifenmann, bringt einem das gläserne Gefäß mit dem langen gewundenen Schlauch und legt geschickt glühende Kohle auf die Ambrablättchen, die fest in die Pfeifenflasche gestopft sind. Dort kann man, während das Wasser leise gurgelt und man sich die Lunge mit Rauch füllt, die einheimischen Zeitungen lesen oder Trick-Track spielen, oder man kann sich die Schuhe putzen lassen und mit den Hausierern, die die Tische auf dem Trottoir umschwärmen, um tausenderlei Dinge feilschen.

Trotzdem das Café im Zentrum der europäischen Viertel liegt, verkehren dort hauptsächlich Eingeborene und ihre Parasiten – Griechen, Syrer, Armenier und Hebräer – die die Träger des Geschäftslebens in Ägypten sind.

Nachdem Mr. Bastables Schreiber seinen Auftrag im Hotel pünktlich erledigt hatte, lenkte er seine Schritte zum Café Schischeh. Zu seiner größten Befriedigung war sein Freund, Herr Voronian, bereits dort. »Glücklich und gesegnet sei Ihr Tag, Todros Effendi!« erwiderte er auf arabisch des anderen Gruß und klatschte mit den Händen dem Kellner. »Wie leicht ruhen die Sorgen des Staats auf Ihnen, teuerster Freund! Womit wollen Sie sich nach der Hitze des Morgens erfrischen? Eine Schale Kaffee, ein Glas Mastix?«

»Kaffee, Abdul!« rief Todros dem weißgekleideten Kellner zu und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich hoffe, Ihre Gesundheit ist gut, Verehrungswürdiger!«

»So gut wie nur möglich, Gott sei gelobt! Ich hatte Angst, daß Sie krank wären, weil ich seit einigen Tagen nicht das Vergnügen hatte, Sie zu sehen.« Voronian beugte sich über den Tisch und blinzelte mit schweren Augenlidern den Kopten an. Sein goldgelbes Gesicht war schlaff, die Haut hing faltig herab und mit der gebogenen Nase und dem langen dünnen Hals erinnerte er an einen mausernden Geier in der Gefangenschaft.

Todros seufzte. »Wir Staatsbeamten führen ein Hundeleben. Mein Chef läßt mich alles allein besorgen. Ich arbeite Tag und Nacht. Nichts geschieht ohne mich – ich bin dem Minister unentbehrlich. Es ist, wissen Sie, eine außerordentlich verantwortungsvolle Stelle. Man drängt mir intime Mitteilungen auf, die ich selbst meinem Vater nicht anvertrauen würde.« Er schlürfte laut seine Tasse aus, um nach orientalischer Sitte zu zeigen, daß er des anderen Gastfreundschaft zu würdigen wisse.

Voronian berührte seinen hohen Astrachanhut mit der Hand, die aussah wie eine Klaue. »Wohl bekomme es Euch, Herr!« sagte er förmlich.

Der Kopte stellte die Schale nieder und rückte den Sessel näher. »Heute morgen hatten wir Besuch«, bemerkte er mit wichtiger Miene und sah den Armenier forschend an.

Voronian blickte sich vorsichtig um. Der einzige Mensch in ihrer Umgebung war ein langer Scheich, ein Derwisch der Rifai-Sekte, wie man an der blauen Spitze seines Turbans erkennen konnte, ein prachtvoller kupferfarbener Mann in seidenem Kaftan, der mit einer Pfeife nachdenklich bei Tisch saß.

»Sprechen Sie Englisch!« gebot der Armenier leise. »Wer war es?«

»Wieder aus dem Dschebel der Mann.«

Voronian runzelte die Stirn: »Aber sagten Sie mir nicht, daß er nach England gefahren sei?«

»Er ist gekommen gestern nacht mit das Schiff und heute gleich Ministerium! Der Chef begrüßen ihn wie Bruder. Sie zusammen haben viel Gespräch gemacht.«

»So, so?« Der Armenier zupfte mit den gelben Fingern nervös die grauen Stoppeln am Kinn. »Wovon wurde gesprochen?« Den Bruchteil einer Sekunde zögerte der Kopte. Voronian beobachtete ihn scharf. Dann sprudelte Todros geschwätzig: »Er beklagten sich, daß Ausgrabungen werden geplündert. Die Geschicklichkeit von die Dieben, er sagen, seien außerordentlich. Er verlangen Soldaten und Polizei, zu schützen, wo er gräbt. Er war böse. Er klopften oft auf den Tisch in sein Ärger – –«

Der Armenier packte den Erzähler mit der fleischlosen Hand am Ärmel. »Nein, nein, mein Freund! Überlegen Sie ein wenig! Sind Sie dessen sicher, was Sie da sagen?«

Es war, als fiele ein Schatten über Todros glattes Gesicht. Er wand sich auf seinem Sessel. »In Wahrheit war es nicht leicht ... die Türe war geschlossen«, murmelte er verlegen.

»Sie haben nichts gehört?«

»Jedenfalls – als ihre Rede fertig war, mein Chef hat mich schnell geholt und befohlen, eine wichtige Dokument sofort zu bringen an den Mann von Dschebel, im Hotel – –«

»Was war das für ein Dokument?«

»Bericht über die Verheerung der Samen durch Kornwürmer im unteren Delta.«

Der Armenier notierte sich etwas auf der Manschette. »Und das ist alles, was Sie wissen?«

»Für den Augenblick ja. Aber bald ich werde haben für Sie gute Information, lieber Herr Voronian! Sie werden sehen, sehr bald!« Gierig prüfend blickte er in das finstere gelbe Gesicht des anderen.

Voronian machte mit der Hand eine schnelle Bewegung und eine blaue Banknote lag unter der Kaffeetasse. »Hüten Sie sich!« zischte er. »Erzählen Sie mir keine erlogenen Dinge, von denen Sie annehmen, daß ich sie gerne höre! Nur für die Wahrheit bezahle ich!« Er legte die Hand an den Hut und schlürfte aus dem Kaffeehaus.

Im blendenden Sonnenschein schritt er quer über den Opernplatz, ging an den öffentlichen Briefschreibern vorüber, die an ihren Pulten vor dem Geländer des Postamtes kauerten und stürzte sich in den brausenden Wirbel der Muski, Kairos berühmter Marktstraße. Hier bestieg er einen überfüllten wackeligen Autobus, der sich mit unendlicher Mühe seinen Weg durch den Verkehrstrubel bahnte. In der drängenden Menge schritt auch ein hochgewachsener kupferfarbener Rifai-Derwisch in seidenem Kaftan, scheinbar, ohne des betäubenden Lärms zu achten; denn er sah weder rechts noch links. Außer wenn er seinen gleichgültigen Blick auf den dahinstolpernden Omnibus warf, auf dessen rückwärtiger Plattform Herr Voronian stand. Das Vehikel kroch so langsam durch das Gewühl der Fuhrwerke und Fußgänger, daß sich leicht mit ihm Schritt halten ließ.

Bei der kleinen El-Aschraf-Moschee kletterte Voronian aus dem Omnibus und ging eine staubige Nebenstraße hinunter. Vielleicht lockte ihn nach der Hitze des Tages der kühle Eingang des überdeckten Basars mit seinen mystischen Gerüchen von Gewürzen und Rosenöl. Aber nein: Der Armenier schritt am Basar vorbei, passierte einen altertümlichen Torweg und verschwand in einem schmalen Gäßchen.

Hier verhallte das Straßengetöse. Im Araberviertel war Siestazeit. Bis auf das spärliche Trappeln nackter Füße oder den klagenden Schrei eines Esels unterbrach kein Laut die bleierne Stille. Sengend brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Voronian nahm mit dem sicheren Gang dessen, dem die verworrene Geographie dieser Gegend vertraut ist, Zuflucht zu den blauschwarzen Schatten der Lehmmauern, mit ihren vorspringenden Fensterläden. Bisweilen verhielt er den Schritt, um vorsichtig über die Gestalt eines Schläfers zu steigen, der, den Kopf zur Abwehr der Fliegen vermummt, wie ein Toter im Rinnstein lag.

Endlich machte er halt vor einer dicht mit Nägeln beschlagenen Holztür, die die Einförmigkeit einer hohen Lehmwand unterbrach. Er schlug mit dem schweren Türklopfer so kräftig an, daß es laut in der engen Gasse widerhallte. Innen wurde ein Riegel zurückgeschoben und rasch überschritt der Armenier die Schwelle.

Im selben Augenblick sah man um die Ecke des Hauses, am Ende der hohen Lehmmauer, unter blauspitzigem Turban ein kupferfarbenes Gesicht. Es verschwand alsbald wieder und gleich danach kam jener hochgewachsene Rifai-Derwisch die Gasse herunter, die Perlenschnur in der einen, die Pantoffel in der anderen Hand. Er schritt, ebenso wie er sich den Weg durch das Gedränge der Muski gebahnt hatte, gelassen und in Gedanken vertieft, das typische Bild eines Moslems der besseren Klasse.

An der Tür, die sich hinter dem Armenier geschlossen, vorbei ging er die Mauer entlang bis zu einem kleinen offenen Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte. Hier verlangsamte sich sein Schritt und er blickte prüfend den Weg zurück, den er gekommen. Die Gasse war leer.

Der Brunnen stand auf ein paar flachen Steinstufen. Auf deren eine setzte sich der Rifai, mit dem Rücken zum Sims und dem Gesicht nach der Gasse. Er nahm das weiße Tuch, das er, wie viele seiner Sekte, lose hängend trug und bohrte flink mit einem Messerchen zwei Schlitze hinein. Dann streckte er sich mit den Pantoffeln als Kopfkissen, der Länge nach aus, entfaltete den Schal über Gesicht und Kopf, so daß die Schlitze gerade auf die Augen zu liegen kamen und stellte sich schlafend. Vom Minarett der nahen Moschee ertönte die hohe Stimme des Muezzins, der zum Nachmittagsgebet rief. Abermals senkte sich dann das heiße Schweigen der Ruhestunde auf die sonnige Gasse.

Eine Weile später knarrten die Türriegel in der Lehmwand. Voronian erschien und schlenderte schnell von dannen. Eine schwarzgekleidete verschleierte Frau, auf deren linken Schulter ein winziges braunes Kind ritt, kam mit einem Krug zum Brunnen und füllte das Gefäß am eisernen Hahn. Ihre Bewegungen schienen den schlafenden Derwisch zu stören; er reckte sich mißmutig, nahm das Tuch vom Antlitz, bürstete den Staub vom Gewande und netzte Hände und Lippen in dem kühlen Naß. Hierauf verließ er würdevoll den Brunnen und näherte sich der nägelbeschlagenen Tür. Auf sein Klopfen erschien ein Gesicht.

»Friede sei mit Euch!« sagte der Derwisch und berührte den Turban.

»Und mit Euch sei Friede und Gottesgnade und Segen, o Scheich!« sagte der Türhüter.

»Ist Euer Herr Ali Shamy daheim?«

»Ihr irrt Euch, Scheich! Keiner solchen Namens wohnt in diesem Hause.«

»Ist dies denn nicht die Wohnstätte des Ali Shamy, des Kaufmanns im Basar der Lederarbeiter?«

Der Pförtner schüttelte den Kopf. »Dies ist die Wohnung des Osman el Maghraby. Wahrhaftig, ich kenne jenen Ali nicht, von dem Ihr sprecht.«

»Aber dies ist doch Darb Choglan?«

»Eine Straße dieses Namens ist mir unbekannt. Dies ist die Gasse von Daud.«

»Man hat meine Füße auf einen falschen Weg gelenkt,« rief der Derwisch ärgerlich. »Möge Gott Euch beschützen, Freund!« Und gemessenen Schrittes ging er die Gasse zurück.

* * *

 


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