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Arnavutköy – wer von denen, die dieses lesen, kennt den Ort? Denen, die ihn nicht kennen, darf man raten: seht ihn Euch an, er verdient's.

An der breiten, prachtvollen Wasserstraße, die Marmara-Meer und Schwarzes Meer verbindet, am Bosporus ist er gelegen, auf der europäischen Seite, halbwegs zwischen dem Goldenen Horn, dem Hafen Stambuls, in dem die Moscheen sich spiegeln, mit ihren Minaretts, und Terapia, wo die Botschafter der Großmächte ihre Sommer-Residenzen hatten und auch heute noch haben. Das Ufer gegenüber ist die Küste Asiens.

Die Küste Asiens – das wollte den Söhnen des preußischen Gesandten, der mit seiner Familie in Arnavutköy wohnte, damals noch kleinen Buben, anfänglich schwer in den Sinn: Asien – das hatten sie von ihrem Hauslehrer gelernt, war doch ein anderer Erdteil – einem anderen Erdteile muß man doch ansehn, daß es eben ein anderer ist – und nun sah dieses Asien eigentlich nicht ein bißchen anders aus, als das Europa, darin sie wohnten.

Von ihrem Hauslehrer aber, der ein Erwecker junger Seelen war, wußten sie nicht nur, daß das Land da drüben Asien hieß, sondern auch, was dieses Asien einstmals für einen finsteren Schatten auf Europa geworfen hatte: da erzählte er ihnen von dem großen Perser-Könige Darius, der vor mehr als zweitausend Jahren gelebt hatte und mit einem Heere von vielen hunderttausend Mann über den Bosporus gezogen war, um sich die Völker von Europa zu unterwerfen.

Unweit Arnavutköy, etwas mehr dem Schwarzen Meere zu, ist eine Stelle, wo der Bosporus sich verengt. Alte Wachttürme, von irgend einem alten Sultan erbaut, stehen dort. Rumili-Hissar heißt der Ort. Da führte er sie auf Spaziergängen hin und erklärte ihnen, daß, wenn jemand eine Brücke über ein Wasser schlägt, er danach ausschaut, wo das Wasser am schmalsten ist, und daß also zweifelsohne hier die Stelle sei, wo einstmals König Darius von Asien nach Europa herübergekommen war. Da war es den Knaben, indem sie seinen Worten lauschten und auf das Meer hinuntersahen, auf dem jetzt keine Brücke mehr lag, als würden die uralten Dinge noch einmal lebendig, als hörten sie das Stampfen der unzähligen Schritte, unter denen die Brücke sich bog, das Schnauben der Rosse, das Rasseln von Wagen, und die Weltgeschichte stieg vor ihnen auf wie eine ungeheuere, gespenstische Gestalt.

Eines Tages aber, als sie von solchem Spaziergang nach Haus kamen, sollten sie erfahren, daß die Weltgeschichte kein Gespenst, sondern etwas Lebendiges ist und mit den Menschen weiterlebt: an dem Tage nämlich war zu ihrem Vater, dem preußischen Gesandten, ein Besuch gekommen, ein russischer General, der hieß Menschikoff, zu dem sie in das Zimmer geführt wurden, weil er ihnen die Hand geben wollte. Und als er das Haus wieder verlassen hatte, nahm ihre Mutter sie bei Seite, und das Gesicht ihrer Mutter, das sonst immer heiter war wie das einer mutigen Frau, war voller Sorge, und sie sagte: »Es wird einen Krieg geben, einen furchtbaren, zwischen den Russen und den Türken, die Engländer werden kommen und die Franzosen, und mit den Türken gegen die Russen kämpfen.« Und wie sie ihnen gesagt hatte, so geschah es, und nun, Wochen und Wochen, Monate und Monate lang kamen die Kriegsschiffe der Engländer und Franzosen, riesige Drei-Decker, denn eiserne Schiffe gab's damals noch nicht, vom Marmara-Meere heran, um nach dem Schwarzen Meer zu fahren. Und weil das Elternhaus der Knaben unmittelbar am Ufer des Meeres lag, so zogen all' die mächtigen Fahrzeuge unmittelbar an ihnen vorüber. Da standen sie dann und rissen die Augen auf, wenn sie die Schiffe flimmern und leuchten sahen von den unzähligen Soldaten, mit denen sie gefüllt waren, englischen Soldaten in roten Röcken, französischen in blauen Röcken und roten Hosen, und wenn sie die Soldaten auf den Schiffsborden sitzen sahen und in den Strickleitern bis zu den Raaen der Maste hinauf. Und wenn sie sich erkundigten, wohin diese Männer alle zogen, schlug der Lehrer ihnen den Atlas auf, zeigte ihnen eine Halbinsel im Schwarzen Meere, die Krim, und auf der Halbinsel eine große russische Festung, Sewastopol, und diese Festung zu belagern und zu erstürmen, dahin zogen alle diese Männer.

Nun aber weiß jedermann, daß man zu einer Belagerung nicht nur Menschen, sondern auch Kanonen und Werkzeuge aller Art braucht. Um solches anzufertigen, wurden im Rücken der abziehenden Heere in Konstantinopel und an den Ufern des Bosporus Werkstätten angelegt, und eine solche Werkstätte der Franzosen befand sich ganz nah vom Elternhause der Knaben, in dem neben Arnavutköy gelegenen Orte Kurú-Tschesme. An der Spitze dieser Werkstätte standen französische Offiziere, Artilleristen und Ingenieure, und unter diesen befand sich einer, der war ein Elsässer von Geburt. Diese Offiziere nun, höflich und gesellig, wie Franzosen es sind, machten Besuch im Hause des preußischen Gesandten, ihres Nachbarn, und waren liebenswürdige Leute und immer freundlich zu den Knaben. Als man aber zu merken anfing, daß die Russen Sewastopol nicht so leichten Kaufes herzugeben, vielmehr es zu verteidigen gedachten auf Blut und Knochen, und daß der Krieg lange, vielleicht sehr lange dauern würde, ließen sie, soweit sie verheiratet waren, ihre Familien aus Frankreich nachkommen.

Verheiratet aber war von den Offizieren nur der eine, der elsässische Ingenieur, und nach einiger Zeit kam also dessen Frau in Kurú-Tschesme an und brachte ihren Jungen mit. Das war ihr und ihres Mannes einziges Kind und hieß Archambauld.

Bald darauf erschien dann die Frau Ingenieur mit ihrem Jungen und machte Besuch im Hause des Gesandten, und dabei lernten die Knaben den Archambauld kennen, einen schönen, schlanken, dunkellockigen Jungen mit großen braunen Augen, und erfuhren, daß er gerade so alt war wie sie. Anfänglich aber waren sie beiderseits etwas verlegen, denn der Archambauld sprach hauptsächlich französisch, und zwar auch ein wenig deutsch, aber nicht sehr gut, die Knaben aber hauptsächlich deutsch, und zwar auch ein wenig französisch, aber nicht sehr gut. Darum beschränkten sie sich zunächst darauf, ihm ihre Spielsachen zu zeigen, namentlich ihre Zinnsoldaten, von denen sie viele besaßen, und als der Archambauld die sah, leuchteten ihm die Augen, denn Spielsachen besaß er überhaupt nicht viele, hier aber in dem fernen, fremden Lande natürlich fast gar keine. Dann spielten sie mit ihm, indem sie ihre Zinnsoldaten aufbauten, in zwei feindlichen Parteien einander gegenüber, und Papierkugeln drehten und auf beide Seiten des Tisches traten, jeder hinter eine Partei, und die Gegenpartei mit den Papierkugeln beschossen. Das machte ihnen allen dreien - denn der Knaben waren zwei, und mit Archambauld waren sie drei - großes Vergnügen, und wenn dem Archambauld ein guter Wurf gelungen war, daß recht viel Zinnsoldaten umfielen, schrie er vor Vergnügen laut auf » oh comme ils sont – ge–purzelt – est ce qu'on dit comme celaOh wie sie – ge–purzelt sind – sagt man so?

Alsdann lachten die beiden und sagten » oui, oui, on dit comme celaJa ja, man sagt so.

Trotzdem, wie gesagt, kamen sie zu dem kleinen Franzosen in kein rechtes Verhältnis, denn lieber und bequemer war es ihnen, mit ihren deutschen Freunden zu verkehren, das waren die Söhne eines deutschen Kaufmanns, die mit ihren Eltern in Bebék wohnten, dem Nachbarort von Arnavutköy, auf der anderen Seite von Kurú-Tschesme. Mit denen kamen sie in jeder Woche mehrere Male zusammen, sei es, daß sie zu ihnen nach Bebék gingen, oder daß diese sie in Arnavutköy besuchten; und jedesmal, wenn letzteres geschah, wurde hinausgezogen in den Garten, der hinter dem Hause lag, und dann wurde alles Mögliche vorgenommen. Der Garten nämlich war wunderschön, er stieg an den Uferhöhen in Terrassen empor; diese Terrassen waren durch steinerne Treppen mit einander verbunden. Da konnte man laufen und springen. Außerdem standen große Bäume in dem Garten, da konnte man klettern. Am schönsten aber war er ganz droben, wo er den Kamm der Höhe erreichte, da ging er in eine Art von Wildnis über, eine Wildnis von Oleander- und Ginstergebüsch. Zwischen den Büschen standen Kastanien und Pinien. Mit den Kastanien konnte man sich Schlachten liefern; die Pinienäpfel konnte man am Feuer, das man sich selbst mit knisterndem Ginster anzündete, rösten und die wohlschmeckenden Kerne daraus hervorholen und essen. O ja, das war ein Leben!

Nun aber geschah etwas Merkwürdige und Trauriges: der elsässische Ingenieur, der Vater des Archambauld, ging eines Tages ganz plötzlich mit Tode ab. Er war ein Mann in den kräftigsten Jahren, in voller Gesundheit gewesen; niemand hatte etwas davon gehört, daß er krank geworden sei – also woher der plötzliche Tod? Seine Kameraden, die französischen Offiziere, machten nachdenkliche Gesichter und sprachen von der Sache mit einem Ausdruck, als wenn sie hätten sagen wollen, »sprecht nicht zuviel davon«. Allmählich nämlich verbreitete es sich, daß der Mann durch eigene Hand ums Leben gekommen war. Was ihn dazu getrieben hatte, erfuhr man nicht, und hat es bis heute nicht erfahren.

Das war nun ein schwerer Schlag für seine Frau, die jetzt als Witwe mit ihrem Jungen in dem fernen, fremden Lande saß, und ihr einziger Trost im Unglück war es, daß sie die Frau des preußischen Gesandten in der Nähe hatte, die sich ihrer annahm, wie eben nur eine gute, kluge,

starke Frau sich des bedrängten Mitmenschen annehmen kann.

»Denkt einmal,« sagte sie zu ihren Knaben, »wie traurig es dem armen Archambauld geht. Nun werdet ihr recht gut und freundlich zu ihm sein, so lange er noch hier ist, nicht wahr? – Ich will heute zum Besuch zu seiner Mutter gehn und ihr sollt mich begleiten. Möchtet ihr ihm nicht eine kleine Freude machen und etwas schenken von euren Spielsachen?« – Darauf gingen sie in die Stube, wo ihre Zinnsoldaten waren und nahmen jeder eine Schachtel davon, von den schönsten, und steckten sie ein; dann, als sie mit ihrer Mutter nach Kurú-Tschesme gekommen waren, wurde ihnen ganz feierlich zu Mut, denn weil erst vor kurzem das Leichenbegängnis gewesen, war die Wohnung noch ganz schwarz ausgeschlagen, und in dem dunklen Salon saß die Witwe, schwarz angezogen, und neben ihr stand der Archambauld, auch schwarz gekleidet, und sein hübsches Gesicht war blaß, so daß man die braunen Augen ganz dunkel darin glänzen sah. Darauf gingen die Knaben auf ihn zu, und weil sie in ihrer Verlegenheit nicht recht wußten, was sie sagen sollten, griffen sie gleich in die Tasche und holten ihre Schachteln mit den Zinnsoldaten hervor, reichten sie ihm hin und sagten: »Du armer Archambauld, da haben wir dir etwas mitgebracht.«

Und als der Archambauld den Deckel von den Schachteln genommen hatte und die schönen Zinnsoldaten darin erblickte, die ihm damals so sehr gefallen hatten, ging ein heller Schein über sein bekümmertes Gesicht, er lief zu seiner Mutter und zeigte ihr seine Schätze und sagte ganz selig » oh Maman – ils m'en ont fait cadeauOh Mama – die haben sie mir geschenkt!

Dann kam er schüchtern, aber mit strahlenden Augen zu den Knaben und streckte ihnen die Hand hin und sagte »o das – sein schön – das sein sehr schön – oh merci! merci bienDank, vielen Dank! Und indem er so sprach, wurden ihm die Augen feucht, und plötzlich liefen ihm die dicken Tränen an den Wangen herab, und dann warf er sich den beiden an die Brust, erst dem einen, dann dem anderen, und umarmte sie und küßte sie und sagte schluchzend » ah que Vouz êtes bon! ah comme je Vous aime! ah comme je Vous aimeAch, wie Ihr gut seid! wie ich Euch lieb habe! wie ich Euch lieb habe!

Den Knaben aber, die so etwas gar nicht gewöhnt waren, denn mit ihren deutschen Freunden gaben sie sich die Hand, aber sie küßten sich mit ihnen nicht, machte es einen ganz wunderbaren Eindruck, als der schöne, dunkellockige Junge, der so ganz anders aussah als jene, sie so leidenschaftlich und zärtlich in die Arme schloß und küßte, und als sie ihn so weinen sahen, wurden sie auch gerührt und fingen auch zu weinen an.

Inzwischen hatte dann die Witwe mit der Mutter der Knaben gesprochen und ihr erzählt, daß sie nun mit ihrem Jungen nach Frankreich zurückkehren würde, aber das würde noch Wochen dauern, denn zunächst müßte sie ihren Hausstand wieder auflösen, den sie vor kurzem erst eingerichtet hatte; sodann wollte sie, weil sie arm und die Reise ihr zu teuer war, das Depeschenbot der französischen Regierung erwarten, das alle sechs bis acht Wochen von Frankreich nach der Krim und von da wieder nach Frankreich zurückfuhr, weil sie auf dem freie Fahrt haben würde. Bis das aber das nächste Mal von Sewastopol wieder herunterkam, würde es noch lange dauern, weil das letzte erst ganz vor kurzem nach Frankreich gegangen war.

»Also nicht wahr,« sagte darauf die Gesandtin zu ihren Knaben, »so lange der Archambauld noch hier ist, wird er nun, so oft er kann, zu euch kommen und mit euch im Garten spielen? Und wenn ihr mit dem Ernst und dem Ferdinand spielt – so hießen nämlich ihre kleinen deutschen Freunde aus Bebék – wird der Archambauld auch immer dabei sein?«

Und weil der Archambauld zwar nicht sehr gut deutsch sprach, es aber ganz gut verstand, so hatte er verstanden, was die Mutter zu ihren Knaben sagte, und sah diese mit erwartungsvollen Augen darauf an, was sie erwidern würden. Die beiden aber, als sie seinen Blick gewahrten, der so ängstlich an ihnen hing, wurden wieder so gerührt davon, daß sie beide gleichzeitig mit ausgestreckter Hand auf ihn zugingen und »du armer Archambauld« sagten. »Komm du nur so oft du kommen willst.« Da fuhr der Archambauld trotz all' seines Kummers wie ein Bolzen empor, der von einer Spiralfeder geschleudert wird, und klatschte vor Wonne in die Hände und lief zu seiner Mutter und küßte sie ins Gesicht, und dann zu der Mutter der Knaben, und küßte ihr die Hände, » oh merci madame, oh bien merci, madameOh, ich danke Ihnen, gnädige Frau, ich danke Ihnen vielmals!, und dann kam er zu den Knaben, sprang zwischen sie und faßte sie unter die Arme und hing sich in ihre Arme, so daß er zwischen den beiden wie in einer Schaukel hing, und schaukelte sich und lachte und freute sich, so daß die beiden, denen so etwas Übersprudelndes noch nie vorgekommen war, auch zu lachen anfingen und die Arme höher hoben, damit er besser schaukeln könnte. Und dann, als sie Abschied nahmen, kamen sie ihrerseits und wurden vor Verlegenheit ganz rot, indem sie ihn nun ihrerseits küßten, und an der Art, wie er es erwiderte, merkten sie, daß er nicht nur ein hübscher Junge, sondern auch ein herziger, lieber Kerl war, und von da an wurden sie mit dem Archambauld gute, gute Freunde.

Schon am nächsten Tage kam er an, und dann mindestens einen Tag um den andern, häufig aber auch Tag für Tag, und als er das erste Mal erschien und den Garten erblickte, der mit seinen Terrassen vor seinen Augen emporstieg, wurde er ganz starr vor Staunen und sagte: » mais que c'est beau! que c'est beau! que c'est beauWie ist das aber schön! wie schön! wie schön!

Die Knaben ließen ihn eine Zeit lang staunen, denn es machte sie stolz, daß ihm der Garten ihrer Eltern so gut gefiel, dann aber sagten sie »jetzt komm – wir wollen jetzt in den Feigenbaum gehn.«

In dem Garten nämlich stand ein Feigenbaum, ein großer, und das war ein Baum, wie er herrlicher gar nicht gedacht werden kann. Den Knaben erschien er beinah wie ein Mensch, ein langmütiger, freigebiger, gütiger Mensch, so geduldig ließ er sich mit Füßen treten, wenn sie in seinen Zweigen herumkletterten, so reichlich spendete er zur Zeit, wenn die Feigen reif wurden, seine Früchte, große grüne Feigen, an deren jede er, wenn der letzte Augenblick gekommen war, ein Honigtröpfchen hing, als wollte er andeuten »jetzt müßt ihr pflücken.« Lieber aber, als die Feigen, hatten die Knaben das Klettern, und dem Archambauld ging es ebenso. Sobald sie daher an den Baum gelangt waren, ging es mit einem »hurr« den Baum hinauf, die beiden Knaben voran, hinter ihnen drein der Archambauld, und da zeigte es sich, was freilich bei seinen schlanken Gliedern nicht anders zu erwarten war, daß er ein famoser Kletterer war. Da saßen sie dann, ganz droben im Wipfel, alle drei, über ihnen rauschte der alte Baum, und wenn sie verstanden hätten, würden sie gehört haben, wie er zu ihnen sprach: »Habt euch lieb, ihr kleinen Menschen, wenn die Menschen erwachsen und groß werden, hört die Liebe zwischen ihnen auf.«

Später dann, als der Ernst und der Ferdinand aus Bebék kamen, wurden sie mit dem Archambauld bekannt gemacht, und dann zog man zusammen hinauf in die schöne Gartenwildnis, und dort oben zwischen den Ginster- und Oleandergebüschen wurde mächtig gespielt. Alle möglichen Spiele: Verstecken und Abschlag, Weißer und Indianer, vor allem aber Erstürmung von Sewastopol. Und bei all' diesen Spielen der Gewandtesten einer war der Archambauld. Wenn er so dahin sauste zwischen den Gebüschen, mit den flatternden Locken, dann sah er aus wie ein befiederter Pfeil, wenn er zum Sturm auf Sewastopol angelaufen kam, einen Ginsterbusch oder Oleanderzweig als Waffe schwingend, dann war ein Feuer in ihm, daß er aussah wie eine hüpfende Flamme. Und dabei so liebenswürdig: wenn er in der Hitze des Kampfes einen von seinen beiden Freunden – denn wirkliche Freundschaft hatte er doch nur mit den beiden Knaben geschlossen – etwas unsanft getroffen hatte, gleich kam er nachher und streichelte » oh mais, cela n'a pas fait mal? n'est ce pas? cela n'a pas fait malEs hat aber doch nicht weh getan? Nicht wahr? es hat nicht weh getan?

Einmal nun hatten sich die Eltern der Knaben für diese und ihre Freunde ein ganz besonderes Vergnügen ausgedacht: Bivak sollte gespielt werden. An einem schönen Sommerabend wurde auf der obersten Terrasse des Gartens, auf der zwei hohe Pinien und ein alter Tamarindenbaum standen, ein großes Zelt aufgeschlagen, Stroh wurde hineingelegt, und in dem Zelte sollten sie die Nacht schlafen. Das war nun ein Gaudium für alle, namentlich aber für den Archambauld, in dem sich das Soldatenblut schier ungestüm regte. Neben dem Zelte wurden Holzscheite aufgestapelt, und als es dunkelte, wurden sie angezündet. Das war das Wachtfeuer. In der Asche des Feuers brieten sie sich Kartoffeln, die sie aßen, soweit sie nicht verbrannt waren, und dann setzte man sich im Kreise herum, denn die Freunde aus Bebék hatten noch andere Freunde mitgebracht, und trank etwas Glühwein und unterhielt sich.

In der Unterhaltung, die sich natürlich um den Krieg drehte, kam es nun heraus, daß jeder von den Jungen für eines von den kriegführenden Völkern Partei genommen hatte: da war der eine für die Engländer, der andere für die Russen, wieder einer für die Franzosen und der andere für die Türken. Einer – aber der wurde ausgelacht – war sogar für die Tunesen, die am Tage zuvor auf einem türkischen Linienschiff angekommen waren und mit ihren großen roten Mützen und den wilden braunen Gesichtern darunter einen graulichen Eindruck gemacht hatten. Der Archambauld, der zwischen seinen beiden Freunden saß, verhielt sich dabei ganz still – auf wessen Seite der stand, nun das brauchte man ja nicht erst zu fragen. Darauf aber meinte der, welcher für die Russen war, daß jetzt freilich die Russen ganz allein ständen, aber nächstens würden die Preußen kommen und ihnen helfen. Als der Archambauld das hörte, riss er die Augen weit auf, so daß sich das Feuer in seinen braunen Augen spiegelte, und legte die Hände auf die Kniee seiner beiden Freunde und kniff sie leise, als wenn er hätte sagen wollen »Habt ihr das gehört?« Einer von den Söhnen des deutschen Kaufmanns aus Bebék aber erwiderte »Nein« – ihr Vater, der sein Kontor in Stambul hatte, wäre heut nachmittag nach Haus gekommen und hätte erzählt, jetzt wäre es entschieden, und die Preußen würden den Russen nicht helfen, sondern sie würden neutral bleiben. Das bestätigten dann die Knaben, die von ihrer Mutter dasselbe gehört hatten. Als der Archambauld das vernahm, seufzte er wie erleichtert auf und legte die Arme um seine beiden Freunde und sagte leise: » Ah que c'est bien! que c'est bien!« Ach, das ist gut! Das ist gut!

Nun aber, weil das Feuer heruntergebrannt war, stand alles auf. Einer von den Jungen, der eine Trommel besaß, trommelte etwas darauf, das bedeutete den Zapfenstreich, und dann ging alles ins Zelt, um auf dem Stroh zu schlafen. Der Archambauld wollte natürlich nirgends anders als bei seinen beiden Freunden schlafen und richtete es so ein, daß er zwischen ihnen lag, und schob seine Arme unter sie und schmiegte sich zwischen sie und an sie, und da fühlten sie so recht, was für ein liebevolles Gemüt in dem Jungen war.

Darauf, als es in dem Zelte schon ganz still zu werden anfing, weil einige schon eingeschlafen, die anderen im Einschlafen waren, fing der Archambauld zu flüstern an, so daß seine Freunde merkten, daß er noch in Gedanken wach gelegen hatte, und sie wurden auch wieder wach. » EcoutezHört! sagte er ganz leise, »ich – wenn ich werde groß sein – werde mich Soldat machen – ihr auch?«

Darauf erwiderten sie, daß sie gehört hätten, in Preußen müßten alle Soldat werden.

Nachdem er sodann wieder ein Weilchen geschwiegen hatte, fing er wieder an und meinte, »aber die Franzosen und die Preußen hätten noch niemals miteinander gekämpft – nicht wahr?«

Da mußten nun die beiden Knaben wirklich lachen, und sie taten es so leise wie möglich, weil sie hörten, wie wenig der Archambauld in der Geschichte Bescheid wusste, und sie sagten, »aber Archambauld, gewiß doch, sehr, weißt du denn das nicht?«

»Aber künftig,« fuhr er dann fort, »würden sie es nie wieder tun, n'est çe pasNicht wahr?

Darauf erwiderten sie, daß sie das auch hofften, denn sie hätten ja die Franzosen sehr gern, aber wissen könnte man so etwas doch nicht. Da aber zog sie der Archambauld, der seine Arme unter sie gelegt hatte, plötzlich beide so an sich, daß ihre Gesichter an seinem Gesicht lagen, und mit einem Male fühlten sie, daß seine Wangen von Tränen ganz feucht waren, und hörten, wie er leise schluchzend sagte » ah que cela ne se fasse jamais! jamais! jamaisAch, möchte das niemals, niemals geschehen! Und weil sie nun gar nicht wußten, was sie darauf sagen sollten, schwiegen sie; der Archambauld wurde auch still, und bald darauf schliefen sie alle drei ein.

Inzwischen aber war nun die Zeit herangekommen, daß der Archambauld mit seiner Mutter abreisen sollte. Am letzten Tage kamen sie beide noch einmal nach Arnavutköy, um mit den Knaben und deren Eltern vor der Abfahrt zu frühstücken. Da saß dann der Archambauld zum letzten Male zwischen seinen beiden Freunden und sprach kein Wort und war ganz blaß, und mit den Händen hielt er die Hände seiner Freunde.

Alsdann stiegen alle in den dreirudrigen Kaïk – so heißen dort die Ruderbote – des Gesandten, und fuhren hinaus und da sahen sie auch schon den französischen Depeschendampfer den Bosporus herunterkommen. Der Dampfer hielt an, die Passagiere aufzunehmen. Und als nun der letzte Augenblick da war, umarmte der Archambauld seine beiden Freunde noch einmal und küßte sie, und die Tränen liefen ihm an beiden Backen herab und die Stimme brach ihm, weil er so schluchzte.

»Wenn wir – werden groß sein – peut être que nous reverrons. werden wir uns vielleicht wiedersehen. – Wir werden sagen – Arnavutköy – rien que ça, rien que ça weiter nichts, weiter nichts. – werden wir wissen – alles – alles – alles!« Dann mußte er mit seiner Mutter die Treppe hinaufsteigen, die man vom Schiffe herabgelassen hatte; das Gepäck wurde hinaufgegeben. Dann setzte sich der Dampfer wieder in Gang, und vom Schiffsbord wehte ein weißes Fähnchen, das war der Archambauld, der mit dem Taschentuch seinen Freunden Lebewohl winkte, Lebewohl.

Lebewohl – Abschied fürs Leben. Nicht allzu lange mehr sollte es dauern, so trug das Meer, das den Archambauld nach Frankreich zurückgetragen hatte, auch die Knaben nach Deutschland heim. Und dann kam das Leben, der alte harte Schulmeister, und packte seine Aufgaben aus, deren erste und schwerste bekanntlich heißt: vergessen, daß man ein Kind gewesen ist. Da versank das alte Haus in Arnavutköy, der Garten mit seinen Terrassen und seiner schönen Ginster- und Oleander-Wildnis, der große gütige Feigenbaum – alles wurde zum Traum, und der Traum wurde blasser und blasser.

Neue Menschen kamen, neue Gesichter tauchten auf, dafür gingen andere, alte, liebe Gesichter unter und unter diesen das eine, dessen Erlöschen der Mensch nicht verwindet, weil, wenn es hingeht, der heilige Mensch aus seinem Leben geht, das Antlitz der Mutter. Ob der Archambauld vom Tode der Frau, die auch zu ihm so gütig gewesen war, etwas erfuhr? Keine Nachricht kam her, keine Nachricht ging hin – niemand hörte etwas von ihm und seiner Mutter im fernen Frankreich, so wurde auch sein Gesicht zum verblassenden Kindheitstraum und ging unter mit all' den anderen. –

Nach diesem allen aber, beinah zwei Jahrzehnte danach, ergriff die Weltgeschichte wieder das Wort, um allen, die etwa glaubten, sie wäre zum Gespenst geworden, zu zeigen, daß sie ein furchtbar lebendiges Wesen sei. Wieder, wie damals, standen die Franzosen im Feld, aber nicht wie damals gegen die Russen, sondern gegen die Deutschen und vor allem gegen die Preußen. Es hatte also nichts geholfen, was der Archambauld in jener Nacht im Bivakszelt gefleht hatte: » Ah que çela ne se fasse jamais! Möchte das niemals, niemals geschehen!«

Und während sie damals auf Sewastopol und den Malakoff sturmgelaufen waren, standen die Franzosen heute, am 18. August 1870, verschanzt und verbarrikadiert auf den Höhen von Metz, in Saint-Privat, und ließen die Preußen auf sich anstürmen.

Auf die baumlose Ebene, über welche die Angreifer herauf mußten, prasselten die Mitrailleusen- und Chassepotkugeln. Es war, als wenn von droben eine eiserne Wand daherrauschte, die einem den Atem benahm, bevor sie einen zermalmte. Und sobald eine solche Wand vorübergefegt war, kam eine zweite, eine dritte, und ohne Aufhören. Man sah nichts von ihnen, man hörte nur, wie sie heulend, zischend, pfeifend die Luft vor sich herschoben. Dann vernahm man dumpfes Einschlagen von Kugeln in menschliche Glieder, gräßliche Schreie, schmetterndes Niederstürzen von Leibern. Und das alles stundenlang, ohne Pause, ohne Ruhe zum Atemholen, immer weiter, einen langen, endlos langen Sommernachmittag lang. Bis daß endlich, allem zum Trotz, das schreckliche Nest, aus dem die bleiernen Todesvögel geflogen kamen, Saint-Privat, dennoch erreicht war und die Preußen, So viele von ihnen noch lebten, stürmend darin eindrangen.

In dem ummauerten Kirchhof standen die letzten Franzosen, und als jetzt die blut- und schweißbedeckten Gesichter der Preußen über der Mauer erschienen und die Preußen die Mauer zu übersteigen begannen, drehten sie die Gewehrkolben nach oben – »Ergebung! Ergebung!«

An der Spitze der Preußen kam ein Offizier; es war ein noch junger Mann, sein Rock von Kugeln aufgerissen, er selbst aber unverwundet. Drüben, unweit der Mauer, an ein Grabkreuz gelehnt, saß der Offizier, der die Franzosen kommandiert hatte, auch noch ein junger Mann; sein Gesicht war totenblaß, ein alter Sergeant stand neben ihm und drückte ihm das Tuch auf die Brust, aus der das Blut quoll.

Und nun begab sich etwas Merkwürdiges:

Indem sich Angreifer und Verteidiger, Sieger und Besiegte einen Augenblick lautlos, keuchend gegenüberstanden, trat der preußische Offizier auf den jungen Franzosen drüben zu, der ihn nicht kommen sah, weil er die Augen geschlossen hatte, überhaupt nichts mehr von allem zu hören und zu sehen schien, weil er mit dem Tode rang. Wie jemand, der sich fragt »ist er's?« sah der Preuße dem anderen ins Gesicht, dann beugte er sich über ihn und sagte ihm ein Wort. Und als es der Franzose nicht mehr zu hören schien, wiederholte er das Wort ganz laut, so laut er konnte, und es war ein Wort, das weder seine Leute noch die des Sterbenden verstanden, weil es nicht deutsch war und nicht französisch – »Arnavutköy!«

Als der Sterbende das Wort vernahm, taten seine Augen sich auf, große, braune, schöne Augen, ein Ausdruck ging über sein bleiches Gesicht, wie ein fragendes Staunen, wie ein letzter, verschwimmender Erdengedanke. Er richtete den Blick auf den Preußen, seine Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen, aber sprechen konnte er nicht mehr. Er ließ das Haupt sinken, daß es an der Brust des andern lag, und in den Armen des jungen Preußen starb der junge Franzose.

Das alles war so wunderbar anzusehen, daß beide Parteien, Preußen und Franzosen, wie gebannt standen. Einen Augenblick war schweigender Frieden über der blutigen Stätte, wie wenn ein Rauschen gekommen wäre – niemand hätte sagen können, woher – beinahe wie das Rauschen eines Baumes aus weiter, weiter Ferne, wie wenn eine Stimme gesprochen hätte – niemand hätte sagen können, wer da sprach – »Liebt euch, ihr Menschen, ihr Menschen, habt euch lieb.«

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