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Dritter Akt

Derselbe Schauplatz und der gleiche Vorgang wie im ersten Akt. Ein Mann in gelber Kleidung mit gezücktem Schwerte vor der Tür.

Losung: Vae tyrannis.

Antwort: Vae victis. ( Dreimal zu wiederholen.)

( Verschwörer treten auf, maskiert und in Mäntel gehüllt, und bilden einen Halbkreis.)

Präsident: Welche Stunde zählen wir?

Erster Verschwörer: Die Stunde des Aufstandes.

Präsident: Welchen Tag?

Zweiter Verschwörer: Den Tag Marats.

Präsident: Welchen Monat?

Dritter Verschwörer: Den Monat der Freiheit.

Präsident: Was ist unsere Pflicht?

Vierter Verschwörer: Gehorsam.

Präsident: Unser Evangelium?

Fünfter Verschwörer: Parbleu, Monsieur le Président, ich hab' wirklich nicht gewußt, daß Sie eins haben.

Die Verschwörer ( durcheinander): Ein Spion! Ein Spion! Herunter mit der Maske! Herunter mit der Maske! Ein Spion!

Präsident: Laßt die Türen schließen. Hier sind nicht nur Nihilisten.

Die Verschwörer ( wie oben): Herunter mit der Maske! Herunter mit der Maske! Tötet ihn! Tötet ihn! ( Der maskierte Verschwörer nimmt die Maske ab.) Fürst Paul!

Vera: Teufel! Was hat dich in die Höhle des Löwen gelockt?

Die Verschwörer ( wie oben): Tötet ihn! Tötet ihn!

Fürst Paul: En vérité, Messieurs, das nenne ich keinen allzufreundlichen Empfang!

Vera: Empfang? Welchen Empfang sollten wir Euch bieten als Dolch und Strick?

Fürst Paul: Ich hatte tatsächlich keine Ahnung, daß die Nihilisten so exklusiv sind. Gestatten Sie mir die Versicherung, daß, wenn ich nicht immer Entrée zu der allerfeinsten Gesellschaft und zu den schlimmsten Verschwörungen gehabt hätte, ich niemals Premierminister in Rußland hätte werden können!

Vera: Der Tiger kann seine Natur nicht ändern, die Schlange ihr Gift nicht loswerden. Seid Ihr vielleicht aber ein Freund des Volkes geworden?

Fürst Paul: Mon dieu, non, Mademoiselle! Ich würde es entschieden vorziehen, im Salon zu medisieren, statt im Keller zu konspirieren! Abgesehen davon hasse ich den gemeinen Mob, der nach Knoblauch riecht, schlechten Tabak raucht, früh aufsteht und beim Diner nur einen Gang sieht.

Präsident: Was denkt Ihr denn, bei einer Verschwörung zu gewinnen?

Fürst Paul: Mon ami, ich habe nichts mehr zu verlieren. Der flatterhafte junge Herr, der neue Zar, hat mich verbannt.

Vera: Nach Sibirien?

Fürst Paul: Nein, nach Paris. Er hat meine Besitzungen konfisziert, mir meine Ämter und meinen Koch genommen. Nur meine Orden sind mir geblieben. Aus Rache bin ich hier.

Präsident: Dann habt Ihr ein Recht darauf, uns beizutreten. Auch uns bringt die Rache hier täglich zusammen.

Fürst Paul: Ihr braucht also Geld. Kein Mensch läßt sich in Verschwörungen ein, der Geld hat. Da! ( Er wirft Geld auf den Tisch.) Ihr habt so viele Spione, daß ich glauben möchte, Ihr braucht Informationen. Gut denn, Ihr sollt in mir den sachkundigsten Mann Rußlands finden, was das schändliche Treiben der Verwaltung betrifft. Daran bin ich fast ganz allein schuld.

Vera: Präsident, ich traue diesem Menschen nicht. Er hat zu viel Unglück über Rußland gebracht, als daß wir ihn so ohne weiteres laufen lassen sollten.

Fürst Paul: Glauben Sie mir, Mademoiselle, Sie haben unrecht. Ich werde eine höchst schätzenswerte Akquisition für Ihren Kreis sein. Was aber Sie betrifft, meine Herren, so hätte ich, wenn ich nicht gehofft hätte, Sie könnten mir nützlich werden, meinen Hals nicht bei Ihnen riskiert, und hätte auch nicht eine Stunde früher als gewöhnlich diniert, nur um zurecht zu kommen.

Präsident: Nun, Vera, wenn er uns hätte auskundschaften wollen, so wäre er nicht selbst gekommen.

Fürst Paul ( für sich): Nein, ich hätte meinen besten Freund geschickt.

Präsident: Zudem, Vera – er ist gerade der rechte Mann, uns die Auskunft zu geben, die wir für ein Geschäft heute nacht brauchen.

Vera: So sei es denn, wenn du willst.

Präsident: Brüder, ist es euer Wille, daß Fürst Paul Maraloffski ausgenommen werde und den Eid als Nihilist ablege?

Die Verschwörer ( durcheinander): Ja, wir wollen es, wir wollen es.

Präsident ( einen Dolch und ein Papier vor sich hinhaltend): Fürst Paul, den Dolch oder den Schwur?

Fürst Paul ( sardonisch lächelnd): Ich ziehe die Vernichtung anderer der eigenen vor. ( Nimmt das Papier.)

Präsident: Bedenkt: Wenn Ihr uns betrügt, werdet Ihr, solange es auf Erden Gift und Eisen gibt, solange ein Mann töten, ein Weib betrügen kann, unserer Rache nicht entgehen. Die Nihilisten vergessen nie ihre Freunde und vergeben nie ihren Feinden.

Fürst Paul: In der Tat? Ich hätte nie gedacht, daß sie so viel Kultur besitzen!

Vera ( auf und ab gehend): Warum ist er noch nicht hier? Er wird die Krone nicht annehmen. Ich kenne ihn zu gut.

Präsident: Unterzeichnet! ( Fürst Paul unterzeichnet.) Du dachtest, wir hätten kein Evangelium. Du warst im Unrecht. Lies es!

Vera: Ein gefährliches Unterfangen, Präsident. Was können wir mit dem Mann anfangen?

Präsident: Wir können ihn verwenden.

Vera: Und dann?

Präsident ( die Achseln zuckend): Ihn kaltmachen.

Fürst Paul ( liest): »Die Menschenrechte.« In früherer Zeit sorgte jeder Mensch, solange er lebte, für sein eigenes Recht, heutzutage aber scheint schon jeder Säugling mit einem sozialen Programm im Munde auf die Welt zu kommen, das viel größer ist als er selbst … »Die Welt ist keine Kirche, sondern eine Stätte der Arbeit. Wir verlangen das Recht auf Arbeit.« In dieser Beziehung muß ich auf meine Rechte verzichten.

Vera ( im Hintergrunde auf und ab gehend): Ach, kommt er denn nicht? Kommt er denn noch nicht?

Fürst Paul: »Die Familie, als ein Hindernis der wahren sozialistischen und kommunistischen Gemeinschaft, ist aufzuheben.« Jawohl, Präsident, mit Artikel 5 bin ich vollkommen einverstanden. Die Familie ist eine schreckliche Last, namentlich wenn man ledig ist. ( Dreimaliges Pochen an der Türe.)

Vera: Alexis – endlich.

Losung: Vae tyrannis!

Antwort: Vae victis! ( Michael Stroganoff erscheint.)

Präsident: Michael, der Tyrannenmörder! Brüder, laßt uns Ehre dem Manne erweisen, der einen König getötet hat.

Vera ( für sich): Oh, er wird noch kommen.

Präsident: Michael, du hast Rußland befreit.

Michael: Nein, Rußland war nur einen Augenblick frei, als der Tyrann fiel; aber die Sonne der Freiheit ist wieder untergegangen wie eine Morgenröte im Herbst, durch einen jener fahlen Nebel verdunkelt, der unsere Augen trügt.

Präsident: Die düstere Nacht der Tyrannei ist für Rußland noch nicht um.

Michael ( seinen Dolch umklammernd): Noch einen Streich, und das Ende ist da.

Vera ( zu sich): Noch einen Streich? Was meint er damit? Unmöglich! Aber warum ist er nicht hier bei uns? Alexis! Alexis! Warum bist du noch nicht da?

Präsident: Wie bist du ihnen aber entwischt, Michael? Es hieß, du seist verhaftet worden.

Michael: Ich hatte die Uniform der kaiserlichen Garde an. Der wachhabende Oberst war ein Genosse und gab mir das Losungswort. So bin ich unangefochten durch die Truppen geritten und hab' dank meinem guten Pferde die Wälle erreicht, ehe die Tore geschlossen wurden.

Präsident: Was für ein Zufall, daß er auf den Balkon hinaustrat!

Michael: Ein Zufall? Es gibt keinen Zufall. Gottes Hand hat ihn hinausgeführt.

Präsident: Und wo bist du die letzten drei Tage gewesen?

Michael: Versteckt im Hause des Popen Nikolas am Kreuzweg.

Präsident: Nikolas ist ein braver Mensch.

Michael: Ja, für einen Popen brav genug. – Jetzt bin ich hier, Rache an einem Verräter zu nehmen!

Vera ( zu sich): O Gott, kommt er denn nie? Alexis, warum bist du noch nicht da? Du kannst doch nicht zum Verräter geworden sein!

Michael ( Fürst Paul erblickend): Fürst Paul Maraloffski hier? Beim heiligen Georg, ein guter Fang! Dafür muß Vera gesorgt haben. Sie ist die einzige, die die Schlange in die Falle hätte locken können.

Präsident: Fürst Paul hat eben den Schwur geleistet.

Vera: Zar Alexis hat ihn aus Rußland verbannt.

Michael: Pah! Eine Finte, uns zu täuschen. Wir werden Fürst Paul hierbehalten und ihm eine Beschäftigung in unserem Zukunftsstaat geben. An blutige Taten ist er ja gewöhnt.

Fürst Paul ( sich Michael nähernd): Das war ein wohlgezielter Schuß, den du da abgegeben hast, mon Camarade.

Michael: Ich hatte seit meiner Kindheit Gelegenheit genug, mich im Schießen auf Eurer Hoheit Wildschweine zu üben.

Fürst Paul: Schlafen denn meine Förster immer wie die Maulwürfe?

Michael: Nein. Ich war ja selbst einer. Aber ich liebe es, genau so wie Ihr, das zu stehlen, worauf ich achtgeben soll.

Präsident: Das muß eine neue Umgebung für dich sein, Fürst Paul. Wir sagen hier einander die Wahrheit.

Fürst Paul: Das muß euch doch sehr verwirren. Ihr habt ein merkwürdiges Gemisch hier, Präsident – ein bißchen Rokoko, scheint mir.

Präsident: Du wirst darunter manch guten Freund erkennen, glaub' ich.

Fürst Paul: Ja, bei den Aristokraten gibt's immer mehr Schmalz als Salz.

Präsident: Du bist ja aber selbst da?

Fürst Paul: Ich? Kann ich nicht Premierminister sein, muß ich Nihilist werden. Ein Drittes gibt es nicht.

Vera: O Gott, wird er denn nie kommen? Der Zeiger rückt dem Stundenschlage nah. Kommt er denn nie?

Michael ( beiseite leise): Präsident, du weißt, was wir vorhaben. Das wär' ein trauriger Jäger, der den jungen Wolf am Leben ließe, damit er den alten räche. Wie können wir an diesen Burschen heran? Heute nacht muß es sein. Morgen schon wirft er dem Volk Reformbrocken hin, und dann ist es zu spät für die Republik.

Fürst Paul: Du hast vollkommen recht. Gut: Herrscher sind Gift für die Demokratie. Und da er mit meiner Verbannung den Anfang gemacht hat, könnt Ihr sicher sein, daß er den gerechten König spielen wird.

Michael: Ich pfeife auf alle gerechten Könige. Rußland braucht die Republik.

Fürst Paul: Messieurs, ich habe Ihnen zwei Dokumente mitgebracht, die Sie meiner Meinung nach interessieren dürften – die Proklamation, die unser junger Zar morgen zu erlassen gedenkt, und einen Plan vom Winterpalais, in dem er heute nacht schläft. ( Überreicht die Papiere.)

Vera: Ich wage gar nicht zu fragen, was sie da aushecken. Oh, warum ist Alexis nicht hier?

Präsident: Das ist eine sehr wertvolle Information. Michael, du hattest recht. Wenn es nicht heute nacht geschieht, ist's zu spät. Lies das!

Michael: Ah! Das heißt einem hungernden Volk einen Laib Brot hinwerfen. Eine Lüge, um das Volk zu täuschen! ( Reißt das Papier in Fetzen.) Heute nacht muß es geschehen. Ich trau' ihm nicht. Hätt' er die Krone angenommen, wenn er das Volk wirklich geliebt hätte? Aber wie sollen wir an ihn heran?

Fürst Paul: Hier der Schlüssel zur Geheimtür von der Straße aus. ( Händigt den Schlüssel ein.)

Präsident: Fürst, wir sind in deiner Schuld.

Fürst Paul ( lächelnd): Der Normalzustand bei Nihilisten.

Michael: Aber jetzt zahlen wir unsere Schulden mit Zinsen zurück. Zwei Kaiser in einer Woche! Damit begleichen wir die Rechnung. Wir hätten auch noch einen Premierminister dazu gelegt, wenn du nicht gekommen wärst.

Fürst Paul: Ah – schade, daß du mir das sagst. Das nimmt meinem Besuch alles Pittoreske und Abenteuerliche. Ich dachte, durch mein Kommen meinen Kopf zu gefährden, und nun sagst du mir, daß ich ihn damit gerettet habe. Man erlebt sicher nur Enttäuschungen, wenn man versucht, ein bißchen Romantik aus dem modernen Leben herauszuschlagen.

Michael: So romantisch ist das gar nicht, seinen Kopf zu verlieren.

Fürst Paul: Gewiß – es muß aber oft recht langweilig sein, ihn oben zu behalten. Findet ihr das nicht auch zuweilen? ( Die Uhr schlägt sechs.)

Vera ( auf einen Sessel sinkend): Oh, die Stunde ist um! Die Stunde ist um!

Michael ( zum Präsidenten): Denk daran: morgen ist's zu spät!

Präsident: Brüder, es ist höchste Zeit. Wer von uns fehlt?

Die Verschwörer: Alexis! Alexis!

Präsident: Michael, verlies Artikel 7.

Michael: »Wenn einer der Brüder einer Aufforderung, sich einzufinden, nicht Folge leistet, so hat der Präsident durch Umfrage festzustellen, ob etwas gegen ihn vorliegt.«

Präsident: Liegt etwas gegen unseren Bruder Alexis vor?

Die Verschwörer: Er trägt die Krone! Er trägt die Krone!

Präsident: Michael, verlies Artikel 7 der Revolutionsordnung.

Michael: »Zwischen Nihilisten und allen denen, die die Krone tragen und über ihre Brüder herrschen, ist Feindschaft auf Leben und Tod.«

Präsident: Brüder, was meint ihr? Ist Alexis, der Zar, schuldig oder nicht?

Alle: Er ist schuldig.

Präsident: Was soll seine Strafe sein?

Alle: Der Tod.

Präsident: So bereitet die Lose vor. Heute nacht soll es geschehen.

Fürst Paul: Ah, das ist wirklich interessant! Ich hatte schon Angst, Verschwörungen wären ebenso langweilig wie unser Hofleben.

Professor Marfa: Meine Force liegt mehr im Schreiben von Pamphleten als im Schießen. Immerhin – ein Königsmord findet immer seinen Platz in der Geschichte.

Michael: Wenn deine Pistole so harmlos ist, wie deine Feder, so wird der junge Tyrann noch lange am Leben bleiben.

Fürst Paul: Ihr solltet auch bedenken, Professor, daß, wenn man Euch verhaftet, was wahrscheinlich geschehen wird, und wenn man Euch hängt, was sicherlich geschehen wird, niemand mehr übrigbleibt, der Eure Artikel liest.

Präsident: Brüder, seid ihr bereit?

Vera ( aufspringend): Noch nicht! Noch nicht! Ich hab' noch ein Wort zu sprechen.

Michael ( beiseite): Die Pest auf sie! Ich wußte, daß es dahin kommt.

Vera: Jener Jüngling war unser Bruder. Nacht für Nacht hat er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um zu uns zu kommen. Nacht für Nacht, wenn es auf allen Straßen von Spionen, in jedem Haus von Verrätern wimmelte. Trotzdem er aufwuchs, verzärtelt wie nur ein Königssohn, hat er unter uns geweilt.

Präsident: Aber unter falschem Namen. Er hat uns von Anfang an belogen. Und nun belügt er uns zu guter Letzt!

Vera: Ich schwöre, er ist treu. Nicht einen gibt es unter uns, der ihm nicht tausendfach das Leben dankte. Als die Bluthunde uns in jener Nacht aufspürten, wer hat uns da vor Kerker, Folter, Marter, Tod gerettet als er, den ihr jetzt morden wollt?

Michael: Alle Tyrannen auszurotten, ist unsere Aufgabe.

Vera: Er ist aber kein Tyrann! Ich kenne ihn gut! Er liebt sein Volk!

Präsident: Wir kennen ihn auch. Er ist ein Verräter!

Vera: Ein Verräter? Vor drei Tagen noch hätte er euch alle verraten können, und der Galgen wäre dann euer Los gewesen. Ihm verdankt ihr euer Leben. Laßt ihm ein wenig Zeit – eine Woche, einen Monat, ein paar Tage. Aber tut es jetzt noch nicht! – O Gott, nur jetzt noch nicht!

Die Verschwörer ( ihre Dolche schwingend): Heut' nacht! Heut' nacht! Heut' nacht!

Vera: Ruhe, Natterngezücht, Ruhe!

Michael: Wie, sind wir nicht zur Vernichtung da? Sollen wir unseren Schwur brechen?

Vera: Euern Schwur! Euern Schwur! Gewinnsüchtig seid ihr – jedermanns Hand langt nach des Nächsten Gut – jedes Herz sinnt auf Raub und Plünderung. Wer von euch gäbe denn ein Reich hin, wenn sein Haupt die Krone tragen sollte, wer ließe sich vom Mob herabreißen? Das Volk in Rußland ist noch nicht reif für die Republik.

Präsident: Jede Nation ist dazu reif.

Michael: Der Mann ist ein Tyrann!

Vera: Ein Tyrann! Hat er nicht seine bösen Ratgeber entfernt? Dem Mann, der der Unglücksrabe seines Vaters war, sind die Flügel gestutzt und die Fänge beschnitten worden, und jetzt kommt er zu uns und krächzt nach Rache. Ach, habt Mitleid mit Alexis! Gebt ihm eine Woche Zeit, zu leben!

Präsident: Vera spricht für einen König!

Vera ( stolz): Ich spreche nicht für einen König, sondern für einen Bruder.

Michael: Für einen Eidbrüchigen, einen Feigling, der den Narren, die ihm den Purpur gebracht haben, ihn hätte vor die Füße werfen sollen. Nein, Vera, nein. Das Geschlecht starker Männer ist noch nicht tot, und der Schoß der schwerfälligen Erde hat das viele Gebären noch nicht über. Kein Gekrönter soll in Rußland Gottes Luft verpesten.

Präsident: Du hast uns einst gebeten, dich auf die Probe zu stellen. Wir haben dich auf die Probe gestellt, und du wurdest zu leicht befunden.

Michael: Vera, ich bin nicht blind. Ich kenne dein Geheimnis, du liebst den Burschen, den jungen Herrscher mit seiner hübschen Larve, seinem gelockten Haar, seinen zarten, weißen Händen. Närrin, die du bist, betört von einer lügnerischen Zunge. Weißt du, was der Bube getan hätte, an dessen Liebe du geglaubt? Zu seiner Geliebten hätte er dich gemacht, hätte deinen Leib zu seiner Lust gebraucht, hätte dich weggeworfen, wenn er genug von dir gehabt. Dich, die Priesterin der Freiheit, die Flamme der Revolution, die Fackel des Volkes!

Vera: Was er mit mir getan hätte, darum handelt sich's nicht. Dem Volk aber wird er treu sein. Er liebt das Volk – er liebt doch die Freiheit!

Präsident: Er möchte wohl den Bürgerkönig spielen, und wir könnten verhungern. Er würde uns mit süßen Schmeicheleien speisen, mit Versprechungen betrügen, wie sein Vater, uns belügen, wie es das ganze Gezücht getan hat.

Michael: Und du, deren bloßer Name jeden Tyrannen um sein Leben zittern ließ, du, Vera Saburoff, du möchtest die Freiheit für einen Buhlen, das Volk für einen Liebsten verraten?

Die Verschwörer ( durcheinander): Verräterin! Schüttelt die Lose, schüttelt die Lose!

Vera: Du lügst in deinen Hals hinein, Michael. Ich liebe ihn nicht. Er liebt mich nicht.

Michael: Du liebst ihn nicht? Soll er also sterben?

Vera ( sich aufraffend, die Fäuste ballend): Es ist gut, ja, er soll sterben. Er hat seinen Eid gebrochen. Kein Gekrönter soll länger in Europa leben. Hab' ich es nicht beschworen? Um stark zu werden, muß sich unsere neue Republik am Blut von Königen berauschen. Er hat seinen Schwur gebrochen. Wie seinen Vater, laßt auch den Sohn sterben. Aber nicht heute nacht, nicht heute nacht! Rußland, das Jahrhunderte des Elends ertragen hat, kann noch eine Woche auf Freiheit warten. Gebt ihm eine Woche Zeit!

Präsident: Wir wollen euch beide nicht. Scher' dich fort zu dem Burschen, den du liebst.

Michael: Und wenn ich ihn in deinen Armen finde, ich werd' ihn töten.

Die Verschwörer: Heut' nacht! Heut' nacht! Heut' nacht!

Michael ( seine Hand erhebend): Einen Augenblick noch! Ich hab' etwas zu sagen. ( Nähert sich Vera; sehr leise.) Vera Saburoff, hast du deinen Bruder vergessen? ( Er hält inne, um die Wirkung zu beobachten. Vera springt auf.) Hast du das hungerbleiche Jünglingsgesicht vergessen? Vergessen, wie seine jungen Glieder von Foltern zermartert waren? Die eisernen Ketten, in denen er marschieren mußte? Hat man ihm eine Woche der Freiheit geschenkt? Hat man ihm auch nur einen Tag Mitleid bewiesen? ( Vera sinkt in einen Sessel.) Ja, damals konntest du prächtig von Rache, prächtig von Freiheit schwätzen. Wie du sagtest, du wolltest nach Moskau, da hat dein greiser Vater deine Knie umklammert und dich angefleht, du solltest ihn nicht einsam, kinderlos lassen. Mir ist's, als hört' ich noch sein Weinen in meinem Ohre gellen; du warst aber für seine Klagen so taub wie der Stein auf der Straße, so eisigkalt wie der Schnee auf den Bergen. In jener Nacht hast du deinen Vater verlassen. Drei Wochen später starb er an gebrochenem Herzen. Du schriebst mir, ich möchte dir hierher nachkommen. Ich hab's getan – erst aus Liebe zu dir; davon hast du mich aber bald geheilt. Jedes edle Gefühl, jedes Mitleid, jede menschliche Regung in meinem Herzen ist durch dich verdorrt und vernichtet – so frißt der Wurm das Korn, so rafft die Seuche Kinder dahin. Du hast mir befohlen, die Liebe aus meiner Brust zu reißen, als etwas Nichtiges. Du hast meine Hand zu Stahl gemacht, mein Herz zu Stein. Du hast mir eingeschärft, nur der Freiheit und der Rache zu leben. Das hab' ich getan. Doch was hast du getan?

Vera: Laßt uns die Lose ziehen! ( Beifall bei den Verschwörern.)

Fürst Paul ( beiseite): Ah, der Großfürst wird rascher auf den Thron gelangen, als er gehofft. Unter meiner Leitung wird er sicher ein guter Regent werden: Er quält die Tiere nach Noten und hält nie sein Wort.

Michael: Jetzt bist du endlich wieder du selbst, Vera.

Vera ( regungslos in der Mitte stehend): Die Lose, sag' ich, die Lose! Nun bin ich kein Weib mehr. Mein Blut scheint in Galle verwandelt zu sein. Mein Herz ist kalt wie Stahl. Meine Hand soll noch tödlicher sein. Aus der Wüste, aus dem Grab schreit die Stimme meines gefangenen Bruders zu mir. Sie mahnt mich, den Streich für die Freiheit zu führen. Die Lose, sag, ich, die Lose!

Präsident: Seid ihr bereit? Michael, du hast das Recht, als erster zu ziehen. Du hast einen König getötet.

Vera: O Gott, wirf es in meine Hand! ( Sie ziehn die Lose aus einer mit einem Totenkopf gekrönten Urne.)

Präsident: Öffnet eure Lose!

Vera ( ihr Los öffnend): Mich hat das Los getroffen! Seht das blutige Zeichen darauf! Dimitri, mein Bruder, nun sollst du gerächt werden.

Präsident: Vera Saburoff, du wurdest zum Königsmord ausgelost. Gott hat es gut mir dir gemeint. Dolch oder Gift! ( Reicht ihr Dolch und Phiole.)

Vera: Ich traue meiner Hand mehr mit dem Dolch. Sie verfehlt nie ihr Ziel. ( Sie nimmt den Dolch.) Ich werde ihn ins Herz treffen, so wie er meines getroffen hat. Verräter – uns um Bänder, Flitter, Tand zu verlassen, mich jeden Tag zu belügen – uns in einer Stunde zu vergessen. Michael hat recht gehabt: er liebte weder mich noch das Volk. Ich glaube, wenn ich Mutter wäre und hätte einen Sohn, ich würde meine Brust vergiften, damit er nicht zum Verräter, nicht zum König aufwachsen könnte. ( Fürst Paul flüstert mit dem Präsidenten.)

Präsident: Ja, Fürst Paul, das ist die beste Art. Der Zar schläft heute nacht in seinem Zimmer, Vera, im nördlichen Flügel des Schlosses. Hier ist der Schlüssel zum geheimen Eingang von der Straße aus. Das Losungswort für die Wache wird dir noch mitgeteilt. Seine Diener wird man betäuben. Du wirst ihn allein finden.

Vera: Es ist gut, ich werde zur Stelle sein.

Präsident: Wir warten auf dem Sankt-Isaaks-Platz unter dem Fenster. Wenn die Uhr auf dem Nikolasturm zwölf schlägt, wirst du uns das Zeichen geben, daß der Hund tot ist.

Vera: Und was soll das Zeichen sein?

Präsident: Den blutigen Dolch sollst du uns herabwerfen.

Michael: Noch feucht vom Herzblut des Verräters.

Präsident: Sonst nehmen wir an, daß man dich ergriffen hat, und dann werden wir eindringen und dich von seinen Häschern befreien.

Michael: Und ihn in ihrer Mitte töten.

Präsident: Michael, willst du uns führen?

Michael: Ja, ich will euer Führer sein. Gib acht, daß deine Hand nicht zittere, Vera Saburoff.

Vera: Narr, ist es so schwer, seinen Feind zu töten?

Fürst Paul ( beiseite): Die neunte Verschwörung in Rußland, bei der ich beteiligt bin. Sie enden regelmäßig für meine Freunde mit einer » voyage en Sibérie,« und für mich mit einem neuen Orden.

Michael: Es wird eure letzte Verschwörung sein.

Präsident: Um Mitternacht – mit dem blutigen Dolch.

Vera: Ja, rot vom Blute dieses falschen Herzens. Ich will es nicht vergessen. ( In der Mitte der Bühne stehend.) Zu morden, was noch Natur in mir ist. Nicht Liebe zu geben, nicht Liebe zu nehmen. Mitleid weder dir noch mir! Ja, es ist ein Schwur, ein Schwur. Mich dünkt, der Geist Charlotte Cordays sei in meine Seele gezogen. Meinen Namen will ich in die Tafeln der Weltgeschichte ritzen, unter die großen Heldinnen will ich gezählt werden. Ja, der Geist Charlotte Cordays pulst durch jede dünne Ader und kräftigt meine Weiberhand zum Streiche, wie ich mein Weiberherz zum Haß gestählt. Und wenn er auch im Traume lächelt, ich werde nicht zagen. Und wenn er friedlich schlummert, mein Streich soll ihn nicht fehlen. Freue dich, Bruder, in deiner engen Zelle. Freue dich und juble heute nacht. Heut' nacht soll der neue Zar mit blutbeflecktem Fuß zur Hölle fahren und seinen Vater dort begrüßen. Der Zar! Verräter! Lügner, der seinen Schwur, der mir die Treue brach! In unsrer Mitte spielte er den Volksbeglücker und trägt nun eine Krone! Verkauft hat er uns wie Judas für dreißig Silberlinge, mit einem Kuß hat er uns verraten. ( Leidenschaftlicher.) O Freiheit, allmächtige Mutter, die du bist in Ewigkeit, dein Gewand ist purpurn vom Blute derer, die für dich gestorben. Dein Thron ist das Golgatha des Volkes, deine Krone eine Dornenkrone. O gekreuzigte Mutter – der Despot hat einen Nagel durch deine Rechte geschlagen, der Tyrann durch deine Linke! Deine Füße sind durchbohrt von ihrem Eisen. Da du dürstetest, batest du die Priester um einen Trunk Wasser, und sie gaben dir Essig. Sie stießen eine Lanze in deine Seite. Sie spotteten deiner in deinem Leiden in Ewigkeit. Hier, vor deinem Altar, Freiheit, weihe ich mich deinem Dienst. Tu mit mir, was dir gefällt. ( Den Dolch schwingend.) Das Ende ist gekommen! Bei deinen geheiligten Wunden, gekreuzigte Mutter Freiheit, ich schwöre, Rußland soll frei werden!


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