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Der ergebene Freund

Eines Morgens steckte der alte Wasserratz den Kopf aus seinem Loch heraus. Er hatte kleine, runde, glänzende Augen und einen steifen, grauen Schnurrbart, und sein Schwanz war ein langes Stück schwarzer Kautschuk.

Die kleinen Enten schwammen auf dem Weiher herum und sahen genau aus wie eine Schar gelber Kanarienvögel; ihre Mutter, die schön weiß war und wirklich rote Beine hatte, versuchte ihnen das Kopfstehen im Wasser beizubringen.

»Ihr werdet nie in der besten Gesellschaft verkehren, wenn ihr nicht auf dem Kopf stehen könnt«, wiederholte sie ihnen immer wieder und zeigte ihnen immer wieder, wie sie es machen sollten. Aber die kleinen Enten schenkten ihr gar keine Aufmerksamkeit. Sie waren so jung, daß sie gar nicht wußten, von welchem Vorteil es ist, in der besten Gesellschaft zu verkehren.

»Was für unfolgsame Kinder!« rief der alte Wasserratz. »Sie verdienten wahrhaftig, daß man sie ersöffe.«

»Durchaus nicht«, sagte die Entenmama, »aller Anfang ist schwer, und Eltern können nie zu geduldig sein.«

»Ah was«, sagte der Wasserratz, »ich kenne keine elterlichen Gefühle und bin kein Familienmensch. Ich war niemals verheiratet und denke auch gar nicht dran. Die Liebe, das mag ja in seiner Art ganz schön sein, aber die Freundschaft steht doch viel höher. Ich wüßte wahrhaftig nichts Edleres oder Seltneres in der Welt als eine treue Freundschaft.«

»Und was, ich bitte Sie, ist denn Ihre Idee von einer treuen Freundschaft?« fragte ein Grünspecht, der nahebei in seiner Weide saß und die Unterhaltung gehört hatte.

»Das möchte ich auch wissen«, sagte die Ente, schwamm an das andere Ende des Weihers und stand da kopf, um ihren Kindern ein gutes Beispiel zu geben.

»Dumme Frage!« rief der Wasserratz. »Ein treuer Freund, der muß mir eben einfach treu sein.«

»Und was würden Sie ihm dafür bieten?« sagte der kleine Vogel, indem er sich auf ein silbriges Ästchen schwang und mit den Flügeln wippte.

»Ich versteh' Sie nicht«, antwortete der Wasserratz.

»Ich will Ihnen eine Geschichte darüber erzählen«, sagte der Grünspecht.

»Handelt die Geschichte von mir?« fragte der Wasserratz. »Wenn sie von mir handelt, will ich zuhören, denn ich liebe Romane sehr.«

»Sie läßt sich auf Sie anwenden«, sagte der Grünspecht; und er flog herunter, ließ sich am Ufer nieder und erzählte die »Geschichte vom ergebenen Freund«.

»Es war einmal ein braver kleiner Kerl namens Hans.«

»War was Besonderes an ihm?« fragte der Wasserratz.

»Nein«, sagte der Grünspecht, »ich glaube nicht, daß irgendwas Besonderes an ihm war außer sein gutes Herz und sein lustiges rundes Gesicht. Er lebte ganz allein in einem kleinen Häuschen und arbeitete jeden Tag in seinem Garten. In der ganzen Gegend war kein Garten so schön wie der seine. Büschelnelken wuchsen da und Levkojen und Täschelkraut und Hahnenfuß. Da gab es gelbe und Damaszener Rosen, Krokus und purpurne und weiße Veilchen. Kalumbinen und Schaumkraut, Majoran und Basilien, Primeln und Lilien, Narzissen und Gewürznelken blühten und dufteten, wie die Monate kamen und eine Blume der andern Platz nahm, so daß es immer was Schönes zu sehen und was Angenehmes zu riechen gab.

Der kleine Hans hatte eine große Menge Freunde; aber der treueste von allen war der große Müller-Hugo. Ja, so ergeben war der reiche Müller dem kleinen Hans, daß er nie an dessen Garten vorüberging, ohne sich über den Zaun zu lehnen und sich einen großen Strauß oder eine Handvoll süßer Kräuter zu pflücken oder sich die Taschen mit Pflaumen oder Kirschen zu füllen, wenn Obstzeit war.

›Wahre Freunde sollen alles gemeinsam haben‹, pflegte der Müller zu sagen, und Klein Hans nickte dazu und lächelte und war sehr stolz darauf, einen Freund mit so vornehmen Gedanken zu haben. Manchmal meinten die Nachbarn wohl, es sei seltsam, daß der reiche Müller dem kleinen Hans nicht auch einmal was schenke, obwohl er doch in seiner Mühle hundert Säcke Mehl aufgestapelt hätte und sechs Milchkühe im Stall und eine große Schafherde. Aber Hans zerbrach sich nie seinen Kopf über all das, und nichts machte ihm mehr Freude, als den wundervollen Ansprüchen zu lauschen, die der Müller über die Selbstlosigkeit der wahren Freundschaft tat.

So arbeitete der kleine Hans immerzu in seinem Garten. Im Frühling, im Sommer und im Herbst war er sehr glücklich, aber wenn der Winter kam und er weder Früchte noch Blumen auf den Markt zu bringen hatte, da litt er recht unter Kälte und Hunger, und er mußte oftmals zu Bett, ohne was anderes gegessen zu haben als ein paar getrocknete Birnen oder einige harte Nüsse. Im Winter war er auch sehr einsam, denn nie kam da der Müller zu ihm.

›Es hat gar keinen Sinn, daß ich den kleinen Hans besuche, solange der Schnee liegt‹, pflegte der Müller zu seiner Frau zu sagen; ›wenn Menschen Sorgen haben, muß man sie mit sich allein lassen und nicht mit Besuchen belästigen. Das ist wenigstens meine Ansicht von Freundschaft, und ich weiß, sie ist die rechte. Daher will ich lieber warten, bis es Frühling ist, und ihn dann aufsuchen. Dann kann er mir auch einen Korb voll Primeln schenken, und das wird ihn ganz glücklich machen.‹

›Du sorgst dich wirklich sehr um andere‹, sprach die Müllerin, während sie in ihrem bequemen Armstuhl am hellen Kaminfeuer saß; ›wirklich, du sorgst dich sehr viel. Es ist ein Genuß, dich über Freundschaft reden zu hören. Ich bin fest überzeugt, daß nicht einmal der Pfarrer so schöne Dinge darüber sagen kann wie du, obgleich er doch in einem dreistöckigen Haus wohnt und einen goldenen Ring am kleinen Finger trägt.‹

›Aber könnten wir nicht den kleinen Hans einmal zu uns heraufbitten?‹ fragte des Müllers Jüngster. ›Wenn der arme Hans in Not ist, will ich ihm die Hälfte von meiner Bohnensuppe geben und ihm meine weißen Kaninchen zeigen.‹

›Was für ein dummer Bub du bist!‹ rief der Müller. ›Ich weiß wahrhaftig nicht, wozu ich dich in die Schule schicke. Du scheinst da gar nichts zu lernen. Siehst du nicht ein, daß der kleine Hans, wenn er da zu uns käme, unser warmes Feuer, unser Essen und den Krug mit Rotwein sähe, daß er dann leicht neidisch werden könnte? Und der Neid ist etwas sehr Böses und verdirbt den Charakter. Ich werde es nie erlauben, daß Hansens Charakter verdorben werde. Ich bin sein bester Freund und werde immer über ihn wachen und darauf sehen, daß er in keinerlei Versuchung geführt wird. Außerdem würde mich Hans, wenn er herkäme, vielleicht um einen Sack Mehl auf Borg bitten, und das könnte ich nicht tun. Mehl ist ein Ding und Freundschaft ein anderes, und man soll die beiden nicht durcheinanderbringen. Die Worte werden ganz verschieden buchstabiert und bedeuten auch was ganz Verschiedenes. Das sieht jeder ein.‹

›Wie schön du sprichst‹, sagte die Müllerin und schenkte sich ein großes Glas voll Warmbier ein; ›ich bin schon ganz schläfrig, es ist genau so, als wäre man in der Kirche.‹

›Leute, die gut handeln, gibt's eine Menge‹, antwortete der Müller, ›aber nur ganz wenige sprechen gut, woraus erhellt, daß Sprechen von den beiden Dingen das weit schwierigere ist und auch das weit Feinere.‹ Und dabei sah er streng über den Tisch auf seinen kleinen Sohn, der beschämt den Kopf hängenließ, purpurrot wurde und in seinen Tee hinein zu weinen anhub. Aber er war ja noch so klein, und so darf man ihm das nicht übelnehmen.«

»Ist die Geschichte aus?« fragte der Wasserratz.

»Keine Spur«, antwortete der Grünspecht, »das ist der Anfang.«

»Dann sind Sie sehr veraltet«, sagte der Wasserratz. »Jeder gute Romanschreiber fängt heutzutage mit dem Ende an, läßt dann den Anfang folgen und schließt mit der Mitte. Das ist die moderne Methode. Ich hörte alles darüber ganz genau neulich einmal von einem Kritiker, der mit einem jungen Mann um den Teich herum spazierte. Er sprach sehr ausführlich über den Gegenstand, und ich bin fest überzeugt, daß er in allem recht hatte, denn er hatte eine blaue Brille und eine Glatze und sooft der junge Mann eine Bemerkung machte, antwortete er immer nur ›Bah!‹. Aber erzählen Sie bitte weiter. Ich liebe den Müller ungeheuer. Ich habe selbst alle möglichen schönen Gefühle, so daß eine starke Übereinstimmung zwischen uns besteht.«

»Also«, fuhr der Grünspecht fort und hüpfte ein paarmal von einem Bein aufs andere, »wie nun der Winter vorüber war und die Primeln ihre blassen gelben Sterne auftaten, da sagte der Müller zu seinem Weibe, daß er mal hinuntergehen und nach dem kleinen Hans sehen wolle.

›Was für ein gutes Herz du hast‹, rief die Frau, ›du denkst doch immer an die andern. Und vergiß nicht, den großen Korb mitzunehmen für die Blumen.‹

Also band der Müller die Flügel der Windmühle mit einer starken eisernen Kette fest und ging den Hügel hinunter mit dem Korb am Arm.

›Guten Morgen, kleiner Hans‹, sagte der Müller.

›Guten Morgen‹, sprach Hans, auf seinen Spaten gelehnt, und lachte über das ganze Gesicht.

›Und wie ging's den Winter durch?‹ fragte der Müller.

›Ach‹, rief Hans, ›das ist wirklich zu gütig von dir, mich danach zu fragen, zu gütig. Die Wahrheit zu sagen, hab' ich es ja ziemlich schwer gehabt; aber jetzt ist der Frühling gekommen, und ich bin ganz glücklich: alle meine Blumen gedeihen.‹

›Wie oft haben wir von dir gesprochen, Hans‹, sagte der Müller, ›und hätten gern gewußt, wie es dir ging.‹

›Das war lieb von euch‹, sagte Hans, ›ich fürchtete schon halb, ihr hättet mich vergessen.‹

›Was sagst du da, Hans?‹ sprach der Müller. ›Freundschaft vergißt niemals. Das ist gerade das Schöne an ihr; aber ich fürchte, du hast kein Verständnis für die Poesie des Lebens. Deine Primeln sehen übrigens entzückend aus!‹

›Ja, sie sind wirklich hübsch‹, sagte Hans, ›und es ist ein Riesenglück für mich, daß ich so viele habe. Ich will sie nämlich auf den Markt bringen und der Bürgermeisterstochter verkaufen und mit dem Geld meinen Karren einlösen.‹

›Deinen Karren einlösen? Du hast ihn doch nicht etwa verkauft? Da wärest du doch wirklich zu dumm!‹

›Ja, weißt du‹, sagte Hans, ›ich war gezwungen dazu. Es ist mir im Winter so schlecht ergangen, daß ich tatsächlich keinen Pfennig für Brot hatte. So verkaufte ich also erst die Silberknöpfe von meinem Sonntagsrock und dann meine silberne Kette und dann meine lange Pfeife und schließlich meinen Karren. Aber jetzt kann ich mir das alles wieder zurückkaufen.‹

›Hans‹, sagte der Müller, ›ich will dir meinen Karren geben. Er ist zwar nicht mehr in sehr gutem Zustand, es fehlt ihm die eine Seite ganz, und dann ist auch an den Radspeichen etwas nicht in Ordnung, aber ich will ihn dir trotzdem geben. Ich weiß, es ist das sehr großmütig von mir, und eine Menge Leute werden mich für ganz verrückt halten, daß ich ihn verschenke, aber ich bin nicht wie die andern. Meiner Ansicht nach ist die Großmut die Quintessenz der Freundschaft, und außerdem hab' ich mir einen neuen Karren gekauft. Also beruhige dich über die Sache und sei vergnügt – ich schenke dir meinen Karren.‹

›Das ist wirklich großmütig von dir‹, sagte Klein Hans, und sein drolliges rundes Gesicht strahlte vor Freude. ›Ich kann ihn ja leicht wieder in Ordnung bringen, denn ich habe eine große Holzplanke im Haus.‹

›Eine Holzplanke?‹ sagte der Müller. ›Denk mal, die brauche ich gerade für mein Scheunendach. Das hat ein großes Loch, und das Getreide wird mir ganz naß, wenn ich es nicht zumache. Wie gut, daß du davon sprachst! Es ist doch seltsam, wie eine gute Tat immer eine andere zur Folge hat. Ich gebe dir meinen Karren, und nun gibst du mir deine Holzplanke. Natürlich ist der Karren mehr wert als die Planke, aber wahre Freundschaft beachtet so was nicht. Bitte, hol mir doch das Brett gleich, denn ich will gleich heute noch die Arbeit an der Scheune machen lassen.‹

›Natürlich‹, rief der kleine Hans, und er rannte in den Schuppen und schleppte das Brett heraus.

›Es ist ja kein sehr großes Brett‹, sagte der Müller, indem er es beschaute, ›und ich fürchte, es wird dir zur Reparatur des Karrens nicht viel übrigbleiben, wenn mein Scheunendach damit geflickt ist, aber das ist natürlich nicht meine Schuld. Und da ich dir nun meinen Karren geschenkt habe, wirst du mir auch sicher gern ein paar Blumen dafür geben wollen. Hier ist der Korb, und mach ihn recht voll.‹

›Ganz voll?‹ sagte der kleine Hans ein wenig bekümmert, denn es war wirklich ein sehr großer Korb, und er wußte, daß ihm keine Blumen mehr für den Markt bleiben würden, wenn er ihn ganz füllte, und er wollte doch so gern seine Silberknöpfe wiederhaben.

›Es ist doch wahrhaftig nicht zuviel‹, antwortete der Müller ›daß ich dich um ein paar Blumen angehe, wo ich dir doch meinen Karren geschenkt habe. Vielleicht hab' ich unrecht, aber ich denke, daß wahre Freundschaft frei von jedem Eigennutz ist.‹

›Aber mein lieber Freund, mein bester Freund‹, rief Klein Hans, ›alle Blumen meines Gartens stehen dir zur Verfügung. Mir ist an deiner guten Meinung viel mehr gelegen als an meinen Silberknöpfen, das weißt du doch‹, und er lief und pflückte alle seine schönen Primeln und füllte des Müllers Korb damit.

›Adieu, kleiner Hans‹, sagte der Müller und stieg mit der Planke auf der Schulter und dem Korb in der Hand den Hügel hinauf.

›Adieu‹, sagte Klein Hans und begann lustig zu graben, denn er freute sich über den Karren.

Am nächsten Tag rankte er gerade Geißblatt über die Tür, als er den Müller hörte, der ihn von der Landstraße aus rief. Gleich sprang er von der Leiter und schaute über den Zaun.

Da stand der Müller mit einem großen Sack Mehl auf dem Rücken.

›Lieber kleiner Hans‹, sagte er, ›würdest du wohl so gut sein, mir diesen Sack Mehl auf den Markt zu tragen?‹

›Es tut mir so leid‹, sagte der kleine Hans, ›aber ich habe heute wirklich viel zu tun. Ich muß alle meine Schlingpflanzen aufbinden und alle meine Blumen noch gießen und den Rasen walzen.

›Na weißt du‹, sagte der Müller, ›in Anbetracht dessen, daß ich dir meinen Karren schenken will, ist es etwas unfreundlich von ihr, daß du mir das abschlägst.‹

›Sag doch das nicht‹, rief Klein Hans, ›ich möchte nicht um die Welt unfreundlich sein‹, und er rannte nach seiner Mütze und schleppte sich mit dem schweren Sack auf den Schultern davon.

Es war ein sehr heißer Tag, und die Landstraße war schrecklich staubig; und bevor Hans den sechsten Meilenstein erreichte, war er schon so müde, daß er sich hinsetzen und ausruhen mußte. Aber gleich schritt er wieder tapfer vorwärts und erreichte endlich den Markt. Nachdem er da längere Zeit gewartet hatte, verkaufte er den Sack Mehl für einen guten Preis und ging dann schnurstracks heim, denn er fürchtete Räuber, falls er zu spät in die Nacht hinein käme.

›Das war schon ein schwerer Tag heute‹, sagte er zu sich selber, als er sich schlafen legte; ›aber ich bin froh, daß ich dem Müller die Bitte nicht abgeschlagen habe, denn er ist mein bester Freund, und dann gibt er mir ja auch seinen Karren.‹

Am nächsten Morgen in aller Frühe kam der Müller um das Geld für sein Mehl. Aber der kleine Hans war so müde, daß er noch im Bett lag.

›Du bist doch ein Faulpelz‹, sagte der Müller. ›Dafür, daß ich dir meinen Karren geben will, könntest du, meine ich, schon etwas fleißiger arbeiten. Faulheit ist eine große Sünde, und ich kann es nicht ausstehen, wenn meine Freunde faul und träg sind. Du darfst mir meine Offenheit nicht etwa übelnehmen, und es würde mir nicht im Traum einfallen, so zu sprechen, wenn ich nicht dein Freund wäre. Aber was hätte die Freundschaft für einen Zweck, wenn man einander nicht aufrichtig die Meinung sagen könnte? Liebenswürdigkeiten und Schmeicheleien kann jeder sagen, aber ein wahrer Freund sagt stets unangenehme Dinge und kümmert sich nicht darum, ob er dem andern damit weh tut. Und wenn er ein wirklich wahrer Freund ist, dann tut er gern weh, weil er weiß, daß er damit Gutes tut.‹

›Ach, verzeih‹, sagte der kleine Hans, indem er sich die Augen rieb und die Nachtmütze abnahm, ›aber ich war so müde, daß ich mir dachte, bleibst noch ein Weilchen im Bett und hörst die Vögel singen. Weißt du, daß ich immer besser arbeite, wenn ich die Vögel hab' singen hören?‹

›Das freut mich‹, sagte der Müller und schlug Klein Hans auf den Rücken, ›denn ich möchte, daß du gleich, wenn du fertig angezogen bist, hinauf zur Mühle kommst und mir das Scheunendach ausbesserst.‹

Dem armen kleinen Hans lag viel daran, in seinem Garten zu arbeiten, denn seine Blumen hatten zwei Tage lang kein Wasser bekommen, und doch mochte er dem Müller seine Bitte nicht abschlagen, da er ein so guter Freund von ihm war.

›Würdest du es für unfreundschaftlich von mir halten, wenn ich sagte, daß ich zu tun habe?‹ fragte er ganz schüchtern.

›Na weißt du‹, sagte der Müller, ›ich denke, es ist doch wohl nicht zuviel verlangt dafür, daß ich dir meinen Karren schenken will; aber natürlich, wenn du nicht willst, dann geh' ich und mach' es selber.‹

›Das unter keinen Umständen!‹ rief Klein Hans und sprang aus dem Bett, zog sich an und ging mit dem Müller.

Dort arbeitete er den ganzen Tag bis Sonnenuntergang, und bei Sonnenuntergang kam der Müller nachsehen.

›Hast du das Loch im Dach schon ausgebessert, kleiner Hans?‹ rief er süß.

›Es ist fertig‹, antwortete Klein Hans und stieg die Leiter herunter.

›Ach‹, sagte der Müller, ›keine Arbeit ist doch so erhebend wie die, die man für andere tut.‹

›Es ist wirklich ein großer Vorzug, dir zuhören zu dürfen, wie du sprichst‹, antwortete Klein Hans, ›wirklich ein großes Privilegium. Ich fürchte nur, ich werde niemals so schöne Gedanken haben wie du.‹

›Wird schon kommen‹, sagte der Müller, ›du mußt dir nur mehr Mühe geben. Jetzt kennst du nur die praktische Seite der Freundschaft, aber du wirst schon auch ihre theoretische kennenlernen.‹

›Meinst du wirklich?‹ fragte Klein Hans.

›Ohne Zweifel‹, antwortete der Müller; ›aber nun du das Dach ausgebessert hast, gehst du wohl besser heim und ruhst dich aus, denn ich möchte, daß du morgen meine Schafe auf den Berg treibst.‹

Der arme kleine Hans wagte darauf kein Wort zu erwidern, und am nächsten Morgen brachte in aller Frühe der Müller seine Schafe, und Hans machte sich mit ihnen nach dem Berge auf. Er brauchte den ganzen Tag für den Hin- und Rückweg und war so müde, als er heimkam, daß er auf seinem Stuhle einschlief und erst wieder aufwachte, als es hellichter Tag war.

›Wie schön wird's heut in meinem Garten sein‹, sagte er und ging gleich an die Arbeit.

Aber er kam nie dazu, nach seinen Blumen zu sehen, denn immerfort kam sein Freund, der Müller, zu ihm, schickte ihn auf weitläufige Besorgungen oder brauchte ihn in seiner Mühle. Klein Hans war zuzeiten ganz bekümmert darüber und fürchtete, seine Blumen könnten glauben, er habe sie ganz vergessen; aber dann tröstete er sich wieder damit, daß der Müller doch sein bester Freund sei und daß er ihm ja auch einen Karren geben wolle.

So arbeitete der kleine Hans für den Müller, und der sagte ihm alles mögliche Schöne über die Freundschaft, was Hans alles in ein Notizbuch aufschrieb und des Nachts durchlas, denn er war ein sehr gelehriger Schüler.

Eines Abends saß der kleine Hans beim Ofen, als laut an die Tür geklopft wurde. Es war eine sehr stürmische Nacht, und der Wind pfiff und tobte um das Haus, daß Hans erst glaubte, es sei der Sturm. Aber da tönte ein zweites Klopfen und ein drittes lauter als das erstemal.

›Es ist irgendein armer Wandersmann‹, sagte Klein Hans und lief an die Tür.

Da stand der Müller mit einer Laterne in der einen und einem großen Stock in der andern Hand.

›Lieber kleiner Hans‹, rief der Müller, ›ich bin in großer Verlegenheit. Mein kleiner Junge ist von der Leiter gefallen und hat sich verletzt, und ich muß den Arzt holen. Aber der wohnt so weit weg, und es ist eine so schlimme Nacht, daß ich auf den Gedanken kam, es sei eigentlich viel besser, wenn du statt meiner gingest. Du weißt, ich schenke dir meinen Karren, und da ist es ja eigentlich nur in Ordnung, daß du mir mal einen Gegendienst erweisest.‹

›Selbstverständlich‹, rief Klein Hans, ›ich rechne es mir als eine Ehre an, daß du dich an mich wendest, und ich mach' mich sofort auf den Weg. Aber du mußt mir deine Laterne leihen, ich fürchte, ich falle sonst in einen Graben.‹

›Es tut mir sehr leid‹, antwortete der Müller, ›aber es ist meine neue Laterne, und es wäre ein großer Schaden für mich, wenn etwas daran entzweiginge.‹

›Macht nichts, dann geh' ich halt ohne Laterne‹, sagte Klein Hans, griff nach Pelzrock und Wollmütze und ging.

Es war ein schrecklicher Sturm, und die Nacht war so schwarz, daß der kleine Hans kaum die Hand vor den Augen sehen konnte, und der Wind blies so stark, daß er sich kaum auf den Füßen zu halten vermochte. Aber er schritt tapfer vorwärts und nach drei Stunden kam er an des Doktors Haus und klopfte an die Tür.

›Wer ist da?‹ rief der Arzt und steckte den Kopf zum Schlafzimmerfenster heraus.

›Klein Hans, Doktor.‹

›Und was willst du?‹

›Dem Müller sein Kleiner ist von der Leiter gefallen und hat sich was getan, und der Müller läßt Sie bitten, Sie möchten gleich kommen.‹

›Schön‹, sagte der Arzt, und er ließ anspannen und sich die hohen Stiefel und seine Laterne bringen und kam herunter und fuhr nach der Mühle, während Klein Hans hinter ihm her lief.

Aber der Sturm wurde immer schlimmer, und der Regen fiel in Strömen, und Klein Hans konnte nicht mehr sehen, wo er ging, und nicht mehr mit dem Gaul Schritt halten. Endlich kam er ganz vom Weg ab und geriet ins Moor, das sehr gefährlich war, da es tiefe Löcher hatte, und Klein Hans sank ein und ertrank. Am andern Tage fanden Ziegenhirten seine Leiche auf dem Wasser schwimmen und brachten sie in das Gärtnerhäuschen.

Die ganze Gegend ging mit bei Klein Hans' Begräbnis, denn jedermann hatte ihn gekannt, und der Müller war der Hauptleidtragende. ›Da ich sein bester Freund war‹, sagte der Müller, ›ist es nur in der Ordnung, daß ich den besten Platz bekomme‹, und so ging er in dem Trauergefolge als erster in einem langen schwarzen Rock und wischte sich immerfort die Augen mit einem großen Taschentuch.

›Klein Hans haben sicher alle verloren‹, sagte der Schmied, als das Begräbnis vorbei war und alle bei Wein und Kuchen im Wirtshaus beisammensaßen.

›Für mich ist es jedenfalls ein schwerer Verlust‹, sagte der Müller, ›ich hatte ihm meinen Karren schon so gut wie geschenkt, und jetzt weiß ich nicht, was ich damit anfangen soll. Er ist mir zu Hause sehr im Wege und in einem Zustand, daß ich nichts dafür bekomme, wenn ich ihn verkaufe. Ich will mich jedenfalls hüten, jemals wieder etwas herzuschenken. Man hat unter seiner Großmut immer zu leiden.‹«

»Nun, und?« sagte der Wasserratz nach einer langen Pause.

»Nun, das ist der Schluß«, sagte der Grünspecht.

»Und was ist denn aus dem Müller geworden?« fragte der Wasserratz.

»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete der Vogel, »und es ist mir auch ganz gleich.«

»Dann ist es mir auch ganz klar, daß Sie nicht das geringste Mitgefühl in Ihrem Charakter haben«, sagte der Wasserratz.

»Ich fürchte, Sie verstehen die Moral der Geschichte nicht ganz«, bemerkte der Grünspecht.

»Die ... was?« schrie der Wasserratz.

»Die Moral.«

»Wollen Sie damit sagen, daß die Geschichte eine Moral hat?«

»Natürlich«, sagte der Grünspecht.

»Das hätten Sie mir«, sagte der Wasserratz wütend, »vorher sagen sollen. Hätten Sie mir das zu Anfang gesagt, so hätte ich gar nicht zugehört; ich würde ›Bah‹! gesagt haben wie der Kritiker, was ich übrigens auch jetzt noch sagen kann.«

So rief er also in den höchsten Tönen »Bah!«, gab seinem Schwanz einen Schupser und verschwand in seinem Loch.

»Mögen Sie den Wasserratz leiden?« fragte die Ente, die ein paar Minuten darauf angepaddelt kam. »Er hat ja sicher eine Menge gute Eigenschaften, aber was mich betrifft – ich habe ein Muttergefühl und kann nie einen überzeugten Junggesellen sehen, ohne daß mir Tränen in die Augen kommen.«

»Ich fürchte fast, ich habe ihn gelangweilt«, antwortete der Grünspecht; »ich habe ihm nämlich eine Geschichte mit einer Moral erzählt.«

»Ach, das ist immer eine sehr gewagte Sache«, sagte die Ente.

Und ich bin ganz ihrer Meinung.


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