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Die Majorin hielt auf ihrem Rappen vor dem niedrigen Kieferngehölz und sah zu, wie der Mann über das Moor kam. Sie war nicht hergeritten an die Grenze ihrer Felder, um das zu sehen, sondern sie hatte nur getan, was sie jeden Abend zu tun pflegte. Seit sehr vielen Jahren. Nach jedem langen, lauten und sehr einsamen Tage ritt sie hierher an die Grenze. Sie spielte ein bißchen mit diesem Wort, dessen Klang und Bedeutung ihr gefielen, obwohl es sich um keine Landesgrenze handelte, noch um die Grenze irgendwelcher wilder und verbotener Wünsche. Aber wer die Arbeit und Sorgen und Pflichten der Majorin hatte, durfte wohl ein wenig mit einem vieldeutigen Wort spielen, am Abend, wenn die Gespanne von den Äckern heimgekehrt waren, wenn kein Steuerbeamter dagewesen, kein Pferd gefallen, kein Schuldenbrief von ihrem Sohn gekommen war.

Das Moor lag nach Westen, und es war schön, eine Weile in den ungeheuren Himmelsbrand zu blicken, in den die Abendwolken stürzten und vor dem die schmalen Birken zwischen Schilf und Ried in starrer Schwärze standen. Auch den Flug eines Reihers gab es mitunter zu sehen, taumelnd wie über einem Feuermeer, oder der Flötenruf eines Brachvogels fiel herab und berührte ihr Herz mit einer bittersüßen Gewalt. Und dann war es gut heimzureiten, zu den dunklen Parkwipfeln am Horizont, die abgewandten Augen noch erfüllt von dem wilden Abendrot und im Ohr noch die weglose Klage der großen, fremden Vögel, die man niemals sah.

Aber heute kam nun der Mann über das Moor, und sie drängte das Pferd zwischen die niedrigen Kiefern zurück, damit er sie nicht vor der Zeit erblicke. In zwanzig Jahren hatte sie nie einen Menschen dort herkommen sehen, und die Leute sagten auch, daß dort niemand gehen könne, außer er suche den Tod, und der lasse sich dann auch ohne viele Mühe finden.

Aber der Mann sah nicht aus, als ob er den Tod suche. Er machte wohl Umwege um die vielen Wasserblänken und um die hellgrünen Grasflächen, er mußte wohl auch ab und zu zurückspringen, wenn sein Auge ihn getäuscht hatte, aber er kehrte immer wieder in die alte Richtung zurück, die aus der Sonne herzukommen und bei der Majorin enden zu wollen schien. Und da seine Gestalt, hoch und schmal und schwarz, aus dem Abendrot aufgebrochen zu sein schien, aus den Flammen des Unterganges sich herausarbeitend, bedrohlich einsam in der Öde des Moores, war es nicht verwunderlich, daß die Hände der Majorin unruhig auf dem Sattelknopf lagen und daß es ihr in den Sinn kam, als halte sie zwischen diesen Händen das Ende einer Brücke, auf der der Fremde von einem brennenden Ufer herüberkomme.

»Dummkopf!« sagte sie laut und ärgerlich. Und sie kniff die Augenlider zusammen, um seinen Weg besser verfolgen und seine Gestalt besser erkennen zu können.

Nun war nicht allzuviel Seltsames an dem Mann, außer daß er über das Moor kam, während doch rechts und links zwei glatte und stille Landstraßen es umgingen. Höchstens noch die Farbe seines Kleides, die nun langsam erkennbar wurde, ein fleckig verblaßtes Khakibraun, und eine Art von uniformmäßigem Zuschnitt, mit Gürtel und Wickelgamaschen, so daß er wie ein verschollener fremder Soldat aussah.

Also ein Landstreicher, dachte die Majorin und atmete nun doch auf, als der letzte Gürtel rotbeglänzten Wassers hinter ihm lag. Aber da geschah das Unerwartete, daß der Mann stehenblieb, sich umwandte und nach langer Regungslosigkeit plötzlich die Arme hob. Und nach der aufmerksamen Sorgsamkeit seines Weges und vor dem ungeheuren Hintergrund war diese Gebärde rätselvoll und ganz unverständlich. Auch war sie in sich nicht eindeutig, denn sie konnte einem Menschen angehören, der fliegen oder beten oder die Welt umarmen wollte. Sie hatte etwas Unvollendetes, wie sie sich dort in den roten Himmel zeichnete, eine fast hilflose Zwecklosigkeit, und so sank sie auch in sich zusammen, fiel herab und endete, und als der Mann sein Gesicht nun wieder nach Osten kehrte, schien er sich der vergangenen Gebärde zu schämen, denn er kam nun schnell und geraden Weges auf die Majorin zu.

Zuerst war die Majorin verblüfft, ja fast erschrocken, denn so etwas gab es in dieser Landschaft nicht, daß jemand über die Äcker oder die Heide oder das Moor ging und plötzlich die Arme hob, in das Abendrot hinein. Vielleicht gab es das in den Ländern der Feueranbeter, in Persien vielleicht, aber nicht hier. Hier gab es den schweren Schritt der Heimkehrer, am selbstgeschnittenen Stock, oder den leichtsinnigen der Landstreicher oder den tanzenden unwissender Kinder. Aber dann verlief sich das Erschrecken, und es blieb nur eine gesteigerte Aufmerksamkeit, wach und hilfsbereit zugleich, wie vor einer Gefahr oder einer Krankheit.

Der Mann lief ihr fast in die Arme. Vielleicht war er geblendet von seinem langen, feierlichen Blick ins Abendrot, vielleicht auch kamen nun, nach der Stunde der Gefahr, die vergessenen Sorgen wieder über ihn, der Nahrung oder des Schlafes oder der Sicherheit, denn seine Stirn war gesenkt, und seine Augen erfreuten sich nicht an dem Festen des Waldes, das sich nun vor ihm erhob. Es erwies sich in der Nähe nun als richtig, daß er eine Art von vergangener Uniform trug, und die Majorin glaubte zu sehen, daß viele Sonnen- und Regentage über sie hingegangen waren, viele Morgen in Nebel und Tau, viele Nächte unter Sternen und Gebüsch. Aber doch war noch etwas anderes an diesem Kleid, was sie nicht denken konnte, aber was doch da war: etwas Großes und Weites und fast Gefährliches. Sie hätte doch reiten sollen, ja, vielleicht war es nicht gut, hier zu warten. Jeden Sonntag sagte der Pfarrer, daß die Menschen Gott verloren hätten. Ja, mein Lieber, da suche ihn doch, dachte sie schnell, dazu seid ihr doch da … und vielleicht hat dieser Mann Gott gesehen, als er die Arme hob …

Aber als sie nun das Gesicht des Mannes ganz nah erblickte, wußte sie nicht, ob er wirklich Gott gesehen habe. Oder es mußte ein düsterer und trauriger Gott gewesen sein, denn die Lippen des Mannes waren sehr schmal und bitter, und zwischen den Brauen stand eine müde Falte, als lohne es sich nicht mehr, sie fortzuwischen. Aber das Seltsamste an dem schmalen und in der Versunkenheit sehr abweisenden Gesicht war doch seine Farbe, ein fahles und trockenes Braun, wie Holz, das in Meeressand gelegen hat und sich kühl und tot zwischen den Händen anfühlt. Aber da die Majorin nicht will, daß der Mann gegen ihr Pferd läuft, holt sie einmal Atem und sagt dann mit ihrer leisen, tiefen Stimme: »Das war nun ziemlich dumm, mein Lieber, das da mit dem Moor.«

Der Mann erschrickt, und das ist natürlich. Aber er erschrickt auf eine seltsame Weise. Wie ein Tier. Denn beim ersten Laut springt er mitten im Schritt zur Seite, hinter eine junge Birke, und seine rechte Hand greift in die Tasche, noch ehe er das Bild des Pferdes und der Reiterin begriffen hat.

Man muß viel gejagt worden sein, denkt die Majorin, um so schnell zu sein … Das Ganze ist ein bißchen unheimlich, das Moor und das Feuer hinter der Welt, und davor der fremde Wanderer, den sie nun so erschreckt hat. Aber die Majorin fürchtet sich nicht. Sie hat in zwanzig einsamen Jahren das Fürchten verlernt. Sie wundert sich nur, daß der Mann, nachdem er das Grundlose seiner Angst begriffen hat, weder lächelt noch böse wird. Nichts als Abweisung ist in seinem Gesicht, der kalte Hochmut eines Erwachsenen über einen dummen Kinderscherz, und schon suchen seine grauen Augen nach der Fortsetzung seines Weges, an der Reiterin vorbei, wo es wieder still und ganz einsam um ihn sein könnte.

Aber so kann man mit der Majorin nicht verfahren. Es ist nicht nur ihr Grund und Boden, auf dem er steht, sondern sie selbst ist auch eine Frau, die eine Antwort wünscht, wenn sie eine Frage gestellt hat. Eine Frau, die zu jedermann »du« sagt, der irgendwie zu ihrem Reich gehört, die Krieg, Russeneinfall, Plünderung, Streik und Aufruhr gesehen hat, die einen nackten Holzsarg aus Frankreich geholt hat, um ihn unter den Parkwipfeln in die Erde zu legen, einen Sarg mit einem Major, der schon graues Haar hatte, als sie noch mit einer Erzieherin französische Gespräche führte, und der dann auf eine wunderbare, aber bedrückende Weise ihr Mann wurde.

»Sehr dumm war es, nicht wahr?« fragt sie also und läßt das Pferd aus den Kiefern heraustreten.

Und das geht dem Mann nun wohl doch gegen den Stolz, daß er mit einem solchen Tadel davongehen soll. Außerdem hat sich bei seinem Sprung seine rechte Wickelgamasche gelöst, die schwarz von Moorwasser ist, und es würde nicht gut aussehen, wenn er sie wie eine schmutzige Schlange hinter sich herzöge. Ein Abgang mit einer losen Wickelgamasche kann niemals sehr stolz sein. »Von hier mag es wohl so aussehen«, sagt er, nicht eben höflich, indem er den schmutzigen Stoff wieder zu einer festen Binde legt, »aber von mir aus war es eben anders.«

»So, so …«, sagt die Majorin. »Außerdem darf man nasses Zeug nicht so fest binden, weil es nachher einspringt …« Nun sieht der Mann doch auf, und er hat ein etwas spöttisches Lächeln um seine schmalen Lippen, als er sagt: »Das ist also dasselbe geblieben, daß die Frau Majorin alles besser weiß, sogar wie man eine Wickelgamasche bindet …«

Zuerst ist die Majorin still, ganz still. Sogar ihre Reitpeitsche, mit der sie die Fliegen gescheucht hat, liegt bewegungslos auf dem Hals des Pferdes. Dann drückt sie die Augenlider wieder zusammen, wie sie sich das angewöhnt hat, wenn sie vom Hoftor nach den Gespannen späht. Und als auch das ihrer Erinnerung nicht hilft, steigt sie ab und steht dicht vor dem fremden Mann. Sie sind beide gleich groß, und sie können einander bequem in die Augen sehen. Es ist für jeden Menschen guten Gewissens schön, in das ruhige, etwas strenge Gesicht der Majorin zu blicken, wo alles an seinem rechten Platz ist, und auch der Fremde hat nun keine Scheu, diesem nahen Antlitz Linie für Linie nachzugehen. Vielleicht ist er ein Geringgeborener, aber dann hat er wohl vieles in der Welt gesehen, Tod und Liebe, Einsamkeit und Schmerz, und die Scheu vor einem Menschengesicht verloren. So daß er es betrachten kann wie eine Landschaft, die den Augen des Wanderers wehrlos gehört, Wolken und Seen und das Band der Straße, und von der man sich wenden kann, wenn sie einem nicht gefällt, oder bleiben, wenn sie dem Herzen wohltut.

Der Blick der Majorin ist nicht ganz so ruhig, nicht nur, weil dies jemand ist, der sie kennt und auf eine fast beleidigende Weise zu kennen vorgibt, ohne daß sie selbst sich seiner erinnern könnte, sondern auch weil nun, Auge in Auge, dies fremde Gesicht etwas schmerzlich Verwirrendes hat, eine Erstarrung des Leidens, über die Lächeln, Abweisung und Spott nur wie Wolkenschatten über ein Lavafeld gehen. Aber nicht Sentimentalität oder Resignation des Leidens, sondern eine erschreckende Nacktheit des Schmerzes, ausgewaschen gleichsam bis auf den steinigen Urgrund. Ein Mann aus einem Kerker, oder einem Schiffbruch, oder aus einem Schlachtfeld. Oder auch alles zugleich.

Und plötzlich vergißt die Majorin, daß sie sich doch erinnern wollte. Es ist so lange her, daß sie solche Gesichter gesehen hat, damals, als die Geschichte über dies Land ging, daß sie sich nun verliert in dieses Werk der Natur, ein hartes, vielleicht ein böses, aber doch ein vollendetes Werk. Und weil sie vierzig Jahre alt ist und graue Fäden in ihrem Haar hat und einen Sohn, der nicht ganz unschuldig daran ist, hebt sie ein wenig die Hand zu einer hilflosen Gebärde und sagt ganz leise: »Nein, dann war es sicherlich nicht dumm …«

Und diese unerwartete Güte der Stimme und der Antwort haben eine wunderbare Wirkung. Sie sind wie ein warmer Hauch gegen eine gefrorene Fensterscheibe. Der Mann lächelt einen Augenblick lang, nun ohne Spott und Abweisung, und einen Augenblick lang kann die Majorin wie durch ein geöffnetes Tor in ihn hineinsehen, und sie fürchtet sich nun nicht mehr, obwohl das Abendrot erlischt und die Stimmen über dem Moor erwachen, die niemand kennt, auch wenn er zwanzig Jahre in der Landschaft gelebt hat. Sie wird sich niemals mehr fürchten, auch wenn dieser Mann aus dem Kerker gekommen sein sollte.

Und das ist er nun wirklich. Aus Gefangenschaft und Kerker und Landstreichertum, bis an den Rand der großen Wüste, in der die Pyramiden schlafen, die Sphinxe und die vielen Königsgräber. Er macht keine Geschichte daraus, viel weniger noch einen Roman, und das meiste muß sie erfragen, während sie nebeneinander über die dunkelnden Felder gehen. Jawohl, verwundet und gefangen, im Argonnenwald, und zweimal geflohen und das letztemal einen Wachtposten halbtot geschlagen. Wieviel? Zehn Jahre Kerker. Milde genug für ihre Kriegsgesetze. Und die letzten fünf Jahre Deportierung und Straßenbau am Rand der Wüste. Sie rechnet nach, da ihr noch zwei Jahre fehlen. Ja, zwei Jahre brauche man von dort unten, wenn man keine Sehnsucht habe. Und er habe keine Sehnsucht gehabt … »Ausgebrannt«, sagt er. Briefe? Nein. Wozu Briefe? Dichter schreiben Briefe, aber er sei kein Dichter. Habe nur von weitem wiedersehen wollen, deshalb auch der Weg übers Moor statt über die Landstraßen. »Zwei Leben«, sagt er, »ein geschenktes und ein eingebranntes, und aus dem eingebrannten kann man nicht mehr zurück … hat den Menschen verändert, böse gemacht, wild. Und die Wilden gehen nicht hinter dem Pfluge her.«

Sie fühlt in der Dämmerung, daß er sich wieder verwandelt, an seinem Schritt, an dem unruhig Fliegenden seiner Augen, der Gespanntheit seines Gehörs. Es muß die Nacht sein, die sich von allen Seiten nähert, die das erzeugt, und es wird wohl so sein, daß er einen neuen Instinkt erworben hat oder einen verlorenen wiedergewonnen, wie ein verwildertes Haustier, das zu seinen Ahnen wiederkehrt, mißtrauisch, wach, gespannt.

Sie fragt nun nichts mehr. Sie fühlt, daß nur noch ein Faden ihn an ihre Gegenwart bindet und daß eine unbedachte Silbe genügen könnte, damit er mit einem Sprung ins Dunkel entweiche, in die große Einsamkeit, aus der er kommt und in der er bleiben möchte. Sie ist ziemlich ratlos, ja, fast hilflos, und in ihrer Hilflosigkeit verfällt sie auf eine ihrer Kinderunarten, für die sie oft gestraft worden ist: leise vor sich hin zu singen, ohne Worte, nur so, daß der Boden der Melodie gerade noch erkennbar ist. Und es ist auch ein Kinderlied, das sie vor sich hin summt.

Einen Augenblick scheint es, als wolle der Mann stehen bleiben, zurückgestoßen von der Unzartheit des Singens nach seinem kurzen Lebensbericht. Aber dann bleibt er doch an ihrer Seite, es ist sogar, als trete er leiser auf, damit kein Ton ihm verlorengehe. Es ist lange her, daß er eine Frau hat singen hören, dicht an seiner Seite, fast für ihn allein, indes die Sterne aufzuziehen beginnen und die Büsche wie dunkle, sanfte Tiere im Felde liegen.

Und als sie zu Ende gesungen hat, fragt er nicht etwa, was das gewesen sei oder wie die Worte hießen, sondern sie schweigen beide. Aber dies Schweigen ist anders als vorher, ein gleichsam gemeinsames Schweigen, und als sie die Höhe der Bodenschwelle erreichen, von der man Park und Gebäude wie eine dunkle Festung liegen sieht, von einzelnen Lichtern freundlich erhellt, bleiben sie gleichzeitig stehen und blicken hinunter.

»Da ist es nun«, sagt die Majorin, und es ist, als sei die Wärme des wartenden Herdes schon in ihrer Stimme.

»Ja, das ist es«, erwidert der Fremde.

Einen Augenblick sehen sie still auf das, was wie eine Insel des Lebens erscheint. Ein leiser Wind ist über den Feldern. Es riecht nach der ersten Kleeblüte, und der Geruch mischt sich mit dem des Pferdeleibes, der warm geworden ist unter Woilach und Sattelgurt.

»Ich bitte Sie, mein Gast zu sein, heute«, sagt die Majorin, und das letzte Wort fügt sie wie eine Entschuldigung hinzu. »Der Tag ist Ihnen wohl nicht leicht gewesen, und es würde mir traurig sein, Sie nun ins Dunkle gehen zu sehen … wir sind alle Ihnen wohl viel schuldig …«

Und damit geht sie voran, voller Angst nun, aber er bleibt an ihrer Seite. Es fällt ihm wohl keine Formel des Dankes ein, und sie ist auch froh, daß er es unterläßt. Nach einer Weile aber, als habe er ihre Einladung gar nicht gehört, sagt er: »Singen Sie oft?«

»Oft? Ach nein … aber wenn es nötig ist, für mich allein, dann tue ich es gern … als Kind durfte ich es nicht, aber wer viel allein ist, der tut es wohl gern, um eine Stimme zu hören, nicht wahr?«

»Nein«, sagt der Mann ziemlich schroff.

Und dann gehen sie durch das Tor.

An der ersten Linde der großen Allee steht ein Mann, der wie ein zweiter Baum aussieht, nur ohne Krone. »Das ist Jonas«, sagt die Majorin. »Ich habe ihm verboten, auf mich zu warten, aber er gehorcht nicht. Immer denkt er, daß mir etwas zustoßen könnte. Es ist spät geworden, Jonas, aber ich bringe auch einen Gast.« Der große Schweigende nimmt die Zügel. Zuerst sieht er die Majorin an und dann das Pferd, ob ihnen nichts geschehen sei. Dann bleibt noch der Blick für den Fremden übrig. »Das Kind ruft um die Eulenstunde«, sagt er, »die Frau Majorin sollte früher heimkommen …«

»Nun schilt nicht, Jonas«, sagt sie und klopft dem Pferd zum Abschied auf den Hals, dort, wo die schwere Hand des Knechtes liegt.

»Er ist wunderlich«, sagt sie leise im Weitergehen. »Damals, als die Kosaken kamen, fingen sie ihn, aber sein kleiner Bruder lief über die Felder, bis ins Moor, und ertrank dort. Sie hörten ihn rufen, vielleicht eine Stunde lang, und er kniete vor ihnen, damit sie hülfen. Aber sie lachten ihn aus. Seither hört er es rufen …«

»Waren Sie hier damals, als das war?«

»Ja, ich und Jonas … Wußten Sie das nicht?«

»Nein, das nicht«, erwidert er einsilbig.

Es riecht nach jungem Laub, und der Fremde sieht einmal nach oben, wo der Wind an die schweren Kronen rührt. Die Majorin denkt, daß er diesen Laut wohl kennen werde, der allen Heimatlosen die Nacht anzeigt, und noch einmal fürchtet sie, er könne ihn fortlocken, dicht vor der Stille des Hauses. Aber dann erscheint das erste erleuchtete Fenster zwischen den Stämmen, und sie hören die Hunde anschlagen im Haus.

»Ich stehe früh auf«, sagt der Fremde an der weißen Steintreppe. »Wenn es so sein könnte, daß ich niemand zu wecken brauche, bevor ich gehe …«

»Man soll nicht an den Weizen denken, solange das Gras noch nicht gemäht ist, sagte mein Vater«, meint die Majorin und lächelt. »Aber auch das wird eingerichtet … es wohnen genug wunderliche Leute hier.«

Ein Mädchen schaltet das Licht in der Halle ein, knickst und starrt mit runden Augen auf den Fremden. »Wach auf, Lena«, sagt die Majorin gutmütig. »Da ist ein Gast, führ ihn ins grüne Zimmer und klopfe nach zehn Minuten an, ob du ihn herunterführen darfst. Wir essen dann zusammen.«

Lena steht auf der ersten Treppenstufe und dreht sich um. Ein Taubstummer, denkt sie, und ihre Neugier wächst. Der Fremde steht noch an der Tür, wie er eingetreten ist, und blickt in die Dämmerung der Halle hinauf, die durch beide Stockwerke läuft, dorthin, wo die ausgestopften Steinadler schweben und die Geweihe und Elchschaufeln hängen, dunkel, mit weißlichen Enden. Sein Gesicht ist nicht mehr finster, aber gleichsam geblendet und ein bißchen verstört, wie bei einem gefangenen Wolf, der sich umblickt und den Wald nicht mehr sieht.

»Bitte«, sagt das Mädchen und knickst noch einmal.

Der Mann fährt zusammen und sagt etwas in einer fremden Sprache, und dann geht er gehorsam die Treppe hinter dem Mädchen hinauf, und Lena fühlt etwas Kaltes im Nacken, als ob das ein Werwolf hinter ihr sei, und oben werde er über sie herfallen und ihr die Kehle durchbeißen. Und in aller Angst freut sie sich, daß viel zu erzählen sein wird in der Küche und daß die Majorin doch wunderliche Gäste habe, ohne Hut und mit Moorerde an den Beinen und mit einer Haut wie die Wilden im Zirkus.

Ihr Gesicht ist noch blaß, als sie wieder in der Küche ist, aber sie hat schnell eine rote Korallenschnur um den Hals gelegt, bevor sie die Treppe wieder hinuntergelaufen ist. »Ein Indianer«, sagt sie, »ganz gewiß ein Indianer! Und er hat oben im grünen Zimmer gestanden und auf den Teppich gesehen, wie das schwarze Wasser aus seinen Schuhen gelaufen ist. Und dann hat er das Fenster aufgemacht und gesehen, ob man herausspringen kann …«

»Du bist ein Kalb, Lena«, sagt die Mamsell mit ruhiger Entschiedenheit und stützt den Schaumlöffel unter das Doppelkinn.

»Und wenn die Frau Majorin Indianer empfängt, so sind es sicherlich Häuptlinge, und sie heißen Weißer Adler oder Fliegender Hirsch, verstanden? Und man sieht es daran, daß sie dir gleich eine rote Kette mitbringen als Geschenk.«

Darauf ist ein großes Gelächter in der Küche, bis Jonas hereinkommt, der das Pferd versorgt hat. Jonas hat eine Stube im Insthaus, aber er darf jeden Abend am Feuer in der Küche sitzen und Holzlöffel oder Quirle schnitzen, oder ganz leise auf seiner Harmonika spielen, oder den schweren Kopf in beide Hände stützen und schweigend in das Feuer starren. Er darf das, seit er damals wiedergekommen ist, nachdem die Kosaken ihn mitgeschleppt hatten, krank, zerschlagen, verwirrt, mit einem Lanzenstich durch die linke Schulter. Und viele Monate haben sie allein am Feuer gesessen, die Majorin und er, und draußen war nichts gewesen als das Gebrüll herrenlosen Getiers und der dumpfe Lärm ferner Geschütze und mitunter die Stimme eines Kindes, versinkend im Moor. Aber diese Stimme hat nur er allein vernommen. Seither sitzt er hier, jeden Abend, fast zwanzig Jahre lang, und mitunter kommt die Majorin herein, bleibt vor dem Feuer stehen und legt eine Hand auf seine gebeugte Schulter. »Ja, Jonas«, sagt sie, »wir beide, nicht wahr?«

Eine treue Kameradin ist sie, und sie vergißt nicht so schnell, wie die Männer vergessen. Der Pastor zum Beispiel, dem er die beiden Kühe gerettet hat und der ihm nur zunickt, als sei er ein Tagelöhner.

Die Mädchen stürzen über ihn her und halten ihn an den Rockklappen fest. »Was ist, Jonas, ist es wahr, daß es ein Indianer ist? Du hast ihn doch gesehen, als er ankam?«

Jonas sieht sich unruhig um. Er kann es nicht vertragen, wenn so viele Menschen dicht um ihn sind. Er öffnet einmal vorsichtig seine Arme und schiebt die Mädchen zur Seite. Dann sitzt er vor dem Fenster, legt mit bloßen Händen eine Kohle auf den Tabak seiner Pfeife und starrt dem Rauch nach.

»Jonas!« rufen sie zornig im Chor.

»Ja«, sagt er erwachend und sieht die Kinderfrau des jungen Herrn an, die seit zwanzig Jahren im Hause ist. »Ja, es ist Michael, des Waldbauern Sohn.«

Es ist so still, daß sie oben den Schritt des Fremden hören, einen unruhigen, schnellen Schritt, der von Wand zu Wand läuft, hin und her.

Dann lacht Lena hellauf, und auch die andern lächeln, außer der Kinderfrau.

»Michael Fahrenholz steht auf unserm Denkmal«, sagt die Mamsell vorwurfsvoll. »Sie haben ihn tot in Frankreich liegen sehn … mach keine Scherze mit den Toten, Jonas!«

Jonas hebt die schweren Augen mit den vielen dunklen Gesichten und sieht sie an. »Ich habe nicht gesagt, daß er ein Lebendiger ist«, antwortet er ernst. »Ich habe nur gesagt, daß es Michael ist, des Waldbauern Sohn, und wir haben die Schafe zusammen gehütet, als wir klein waren.«

Wieder der Schritt von Wand zu Wand und der leise Ton des Feuers hinter der Herdtür, das in einem feuchten Buchenscheit klagt. Und dann die Klingel der Majorin, scharf und hell, und Lenas erstickter Schrei: »Ich gehe nicht! Ich kann nicht! Ich kann ihn nicht holen, oben aus dem Dunklen …«

Bis die Kinderfrau aufsteht und sie um die Schulter faßt und die Mamsell zornig wird. Und dann gehen sie beide hinauf, die alte Frau in ihrem dunklen Tuch um das graue Haar und Lena, mit gefalteten Händen vor der Brust, dicht unter der roten Korallenkette, die ein Geschenk roter Häuptlinge sein soll.

Er sah nicht wie ein Toter aus, der Fremde, als er der Majorin gegenüber hinter dem weißen Tischtuch saß, aber wie ein Verirrter, der in eine unheimliche Herberge geraten ist. Aber der keine Verwirrung zeigen will und deshalb kalt und fremd zu sein sich bemüht.

Er aß wenig und das Wenige schweigend und schnell, und auch die Majorin sagte nichts außer ein paar Worten freundlicher Nötigung. Dagegen konnte sie nicht vermeiden, ihn anzusehen, seine braunen, nicht unedlen Hände, auf denen die Jahre des Leidens eingeschrieben waren, und seine gesenkte Stirn, auf der der Schein der Lampe teilnahmslos lag. Sie grübelte tief in die Vergangenheit zurück, Kinderzeit und erste Ehe, Menschengesicht nach Menschengesicht, Lebende und Tote, Freunde und Feinde, aber die Stirn blieb verschlossen, und die grauen Augen, mitunter sich hebend, gaben keine Erinnerung, weder im Guten noch im Bösen.

Und langsam wurde die Majorin traurig, nicht weil sie ein Gesicht nicht wiederzuerkennen vermochte, sondern weil hier jemand über ihren klaren und tapferen Weg ging, ohne anzuhalten, in Bitterkeit eingeschlossen. Ein Mensch, der vom Menschen nichts wissen wollte, obwohl er jahrelang an andere gekettet gewesen war, und indes sie hier schafften im angehenden Jahr, Mensch und Erde, Herr und Knecht, Sonne und Regen, ein einträchtiger und gerundeter Kreis, stand er plötzlich draußen, mit zerschnittenen Wurzeln, die Seele vergiftet von bitteren Bildern, ein Mensch der Landschaft, der gelitten hatte über das Maß hinaus, der über seinem Teller schon wieder an die Straße dachte, die er gehen würde, aus der Heimat hinaus, Zorn im Herzen über die Festen und Wurzelnden, für die es ihn umgetrieben hatte, zwanzig Jahre lang.

Und wenn die Majorin den Blick über die schweigende Stirn ihr gegenüber hob, zur dunkelbespannten Wand über der breiten Tür, konnte sie den goldenen Rahmen sehen und in ihm das junge und hochmütige Gesicht ihres Sohnes, den sie vor zwanzig Jahren empfangen hatte, erschreckt und ohne Liebe. Der aufgewachsen war in zuchtloser Zeit, Wankendes und Zerfallendes vor den jungen Augen, und der nicht mehr zurückfand in Zucht und Ordnung, in harte Arbeit und stillen Verzicht. Ein Mensch der Städte, der über ihr Tagewerk lächelte und vor dem sie die Hausmädchen bewahren mußte, wenn er einkehrte bei ihr, ein Grammophon im Koffer und ein Album mit Photographien, vor denen die klare Stirn errötete.

Sie seufzte, schob dem Fremden noch einmal den Brotkorb zu und bat dann, mit ihr noch eine Weile am Kamin zu sitzen, im Nebenzimmer, um sich zu wärmen. Sie bat auch zu entschuldigen, daß sie eine kurze Pfeife rauche, seit der Zeit, als Jonas und sie am Herdfeuer gesessen hätten. Es habe damals nichts anderes gegeben, und dann hätten sie es eben beibehalten. Wer viel allein sei, werde ja leicht ein wenig sonderlich.

Der Mann reichte ihr Feuer und sah sie ohne Verwunderung an. Wahrscheinlich hatte er noch anderes gesehen als Frauen, die eine kurze Pfeife rauchten und dabei eine gestickte Krone in ihrem Taschentuch hatten.

Ob es hier ein Denkmal gäbe, für die Gefallenen, fragt er endlich, die Hände um die Knie gefaltet und den Blick in das Feuer gerichtet. Und wo es zu finden sei? Und nach der Antwort der Majorin erklärt er, daß das eine seiner »Sonderlichkeiten« sei, überall die Totenmäler aufzusuchen und die Namen zu lesen. Bei den meisten stehe Geburts- und Todestag geschrieben und wo sie gefallen seien, und er sitze gern davor und suche nach den Orten, die auch ihm bekannt seien. Die russischen Namen klängen traurig und sehr weit, die französischen aber hätten einen harten und unheimlichen Klang, und es tue gut, sie wieder vor sich hin zu sprechen, nachdem das alles gewesen sei. Und mitunter finde er auch den Namen eines toten Kameraden, und so wandere er eigentlich die Reihe der Toten entlang, von Landschaft zu Landschaft, denn mit den Lebenden sei es schwerer als mit den Toten.

Die Majorin sieht ihn an, und immer schwerer wird ihr Herz. »Da habe ich nun gelebt und geschafft«, sagt sie, »Jahr für Jahr, und die Menschen sagen, das sei eine tapfere und tüchtige Frau. Denn wenn eine Frau allein lebt und Menschen und Felder in Ordnung hält, dann scheint ihnen das schon etwas Großes zu sein. Aber ich weiß nun, wie klein das alles ist, denn die Menschen wollen ja arbeiten, und die Felder wollen ja Früchte tragen, und sie brauchen nichts als etwas Mühe und Liebe und Gerechtigkeit. Und ein einziger guter und gerechter Tag zieht alle anderen nach sich, denn wer gepflügt hat, der sät auch von selbst. Was ist da Großes dabei? Aber nun, da ich Sie gesehen habe … wie soll ich Ihnen helfen? Jedes Tier kommt am Abend heim, und wenn es nicht da ist, suchen wir es, die ganze Nacht. Sie aber gehen davon, an der Heimat vorbei, haben gelitten und wollen nicht, daß wir es gutmachen. Und die, die nichts gelitten haben, bleiben im Frieden und sehen Ihnen nach …«

»Auch die Frau Majorin hat gelitten«, sagt der Fremde.

Es wäre nun Zeit zu fragen, woher er das wisse und wer er sei, aber eben schlägt die Uhr, und er wendet den Kopf, lauschend und unruhig, und da muß sie es lassen. Raubvögel sehen so aus, auf dem trockenen Wipfel einer Kiefer, wenn ein Zweig sich gerührt hat am Boden unter ihnen.

»Es gab ein Sprichwort dort unten«, fährt er nach einer Pause fort. »Wenn die Tore sich öffnen, fällt die Tür zu. Das war für die, die immer von der Freiheit redeten … im Französischen reimte es sich.«

»Aber das ist nicht wahr!« sagt sie mit plötzlicher Erbitterung und ballt die Faust auf der Sessellehne. »Das ist die Philosophie von Gefangenen, aber nicht von freien Menschen!«

Nun lächelt der Fremde ganz arglos und sieht sie lächelnd an.

»Ist die Frau Majorin ein freier Mensch?« fragt er. Und dann, ohne eine Antwort abzuwarten, steht er auf und verabschiedet sich.

Sie bringt ihn bis an die Halle und sieht zu, wie er die Treppe hinaufsteigt. Sein Schatten, vielfach geknickt, liegt über den Stufen, und es sieht aus, als zöge er ihn hinter sich her.

Die Majorin schläft unruhig in dieser Nacht. Der Mond zieht an ihren Fenstern vorbei und legt zwei lange weiße Laken auf den Teppich. Sie bewegen sich lautlos, dicht nebeneinander, heben sich auf ihr Bett, gleiten die Wand empor, werden kleiner und sind dann fort. Aber sie tauchen bis in die Träume der Majorin und hängen dort über wirren und bösen Dingen, die immer von vorn beginnen und nie zu Ende sind.

Einmal glaubt sie zu hören, daß ein Fenster klirrt, aber sie kann nicht erwachen, obwohl sie leise stöhnt in der Mühe, es zu tun. Und dann wird eine Sense gedengelt, weit drüben im Feld. Das Eisen klingt hell unter dem Hammerschlag, und der Klang geht weit hinaus aus dem Mittelpunkt der Welt, als der er erscheint in der großen Stille der Nacht.

Merkwürdig, denkt die Majorin im Traum. Das Vieh ist noch nicht ausgetrieben auf die Weiden, und schon dengeln sie die Sense, als ob sie mähen wollten …? Und da es ein Ton aus ihrem Leben ist, aus dem Leben der Tagewerke, des Wachseins und der Ordnung, gelingt es ihr, sich freizumachen von ihrem Traum, und sie sitzt aufrecht in ihrem Bett, noch mit klopfendem Herzen von der Mühe des Erwachens, und lauscht. Das Blut strömt zum Herzen, und die ersten Stare pfeifen schon im Park, aber hinter allen Lauten steht klar und eindeutig der helle Ton des Eisens, das unter dem Hammer klingt.

Sie steht auf und schiebt die Vorhänge zur Seite. Es ist schon so hell, daß sie durch die Lichtungen des Parkes die Felder sehen kann und hinter dem großen Roggenschlag den bepflanzten Hügel mit dem Totenmal für die Gefallenen. Es ist eine Aufmerksamkeit des Pastors für sie gewesen, die Wahl dieses Hügels, weil die Durchblicke und Lichtungen des Parkes so laufen, daß sie von ihrem Schlafzimmer den großen, viereckigen Stein sehen kann, und am oberen Rande, für sich allein, steht der Name des Majors als des obersten und vornehmsten Toten. »So ist er ewig bei Ihnen, Frau Majorin«, hatte der Pastor gesagt. »Drei Schritte ans Fenster, und des Unvergeßlichen Bild ist da.« Sie hat ihn von der Seite angesehen, wie es mitunter ihre Art ist, eine unangenehm klare und forschende Art, und hat dann »danke!« gesagt, und der Pastor ist verlegen und dann verletzt gewesen und hat sich bei seiner Frau beklagt. Ohne Erfolg, denn seine Frau hält die Majorin für eine »hochmütige Person« und ihren Mann für einen »charakterlosen Adelsdiener«.

Und nun hört die Majorin, daß der Klang des Eisens von jenem Hügel kommt, und obwohl das Tageslicht noch hinter den Wäldern steht, kann sie erkennen, daß dort ein Mensch am Totenmal beschäftigt ist. Sie läuft in ihr Arbeitszimmer, auf bloßen Füßen, und kommt mit dem Fernglas wieder, noch immer ein wenig verwirrt von Schlaf und Traum, noch ohne Argwohn und nur von einer unruhigen Neugier erfüllt.

Aber dann schreit sie ganz leise unter dem Glas auf. Der Mensch vor dem Totenmal trägt ein braunes Kleid, dessen Ränder in der Linse in vielen Farben schimmern. Er kniet vor dem grauen Stein, und sein rechter Arm schwingt auf und ab. Und bei jeder Bewegung kommt der helle Ton des Eisens zur Majorin herüber, verspätet gegen die Bewegung, weil die Entfernung fast einen Kilometer beträgt. Und es ist unheimlich, daß die Töne noch eine Weile in der Luft stehen, wenn der Mann seine Hand ruhen läßt. So, als ob der Stein von selbst töne.

Ohne zu denken, weiß die Majorin, was der Mann tut. Sofort, wie ein Reflex des Wissens. Sie hat es nie gesehen und niemals daran gedacht, daß jemand einen Namen aus einem Grabstein ausmeißeln könnte, ja, daß jemand seinen eigenen Namen auslöschen könnte von einer solchen Stelle. Ein Lebender, der einen Toten auslöscht. Oder ist es nicht vielmehr ein Toter, der sein Leben zerschlägt? Sie zittert in der Morgenkühle, und in dem Kreis des Glases zittert der Stein und der Mann, der den Meißel in den Stein schlägt.

Ihr nächster Gedanke ist wohl, ob jemand ihn beobachten könnte. Sie sieht schnell nach der Uhr, aber es ist so früh, daß nicht einmal Jonas aufgestanden sein kann. Dann wirft sie einen Mantel über und läuft schnell und lautlos die Treppen hinauf, zu dem viereckigen Turm, von dem man bis über das Moor sehen kann. Die Treppen sind noch dunkel, und in den Spiegeln des Korridors geht ihr Gesicht mit, ein blasses und sehr verstörtes Gesicht. Als sie die Falltür zur Plattform leise zur Seite hebt, ist der Mann gerade fertig. Sie kniet hinter der Brüstung und stützt das Glas auf den kalten Stein. Der Mann steht auf und geht langsam davon. Er tritt weder zurück und betrachtet sein Werk, noch dreht er sich aus der Entfernung um, sondern er geht ruhig den Hügel hinunter, als habe er dort oben in einem Buche gelesen oder den Sonnenaufgang erwartet. Und er geht den schmalen Steig entlang, der zwischen grünen Saaten und taunassen Wiesen zum Waldrand führt. Dort liegt der Hof des Waldbauern, und hinter dem Hof beginnt die Straße, die in die Wälder hineinläuft, nach fremden Dörfern und Städten, immer weiter ins Unbekannte hinein. Wer diese Straße betritt, will nicht mehr wiederkehren. Er hat einen Besuch gemacht, und nun hat er nichts weiter zu suchen hier.

Aber der Fremde geht über die Straße hinweg bis in den kleinen Obstgarten am Südhang. Dort steht eine Bank unter einem wilden Birnbaum, und dort sitzt er und blickt auf das Haus … Die Sonne steigt über den Rand des Feldes zu seiner Rechten, und der Wipfel des Birnbaumes und das Rot des Dachfirstes färben sich über der grauen Erde. Die Lerchen heben sich über allen Feldern, die Hähne krähen im Dorf, und unter dem wachsenden und immer klarer leuchtenden Blau des Himmels beginnt der neue Tag.

Da steigt die Majorin die Treppen wieder hinunter, langsam und sehr nachdenklich. Sie weiß nun, wer der Fremde ist. Auch die Erinnerung kommt nun leichter wieder. Und daß sie ihr Pferd einmal angehalten hat, vor Michael und Jonas, an der Schafweide, und gesagt hat, Weidenflöten, die man klopfe, müsse man aufs Knie legen und nicht auf einen Stein.

Aber es hilft ihr nichts, daß sie sich erinnert. Alle drei Söhne hat der Waldbauer verloren. Sein Haar ist grau, und es wird nicht wieder schwarz werden, wenn nun einer der Toten wiederkehrt. Aber vielleicht wird es weiß werden, wenn der Tote sich umsieht, in den Stuben und auf den Feldern und nach dem Grab der Mutter fragt und dann nichts mehr zu fragen hat, nicht einmal nach dem Weg. Weil alle Wege ihm gleich recht sind, die von dem grauen Hof fortführen, um die Abendzeit, wenn die Brachvögel zu rufen beginnen.

Und nun weint die Majorin wirklich, auf dem Bettrand sitzend, die Hände zwischen den Knien, mit einem ganz stillen Gesicht. Es ist möglich, daß sie um den Fremden weint oder um das, was dem Vater nun geschehen wird. Aber es ist auch möglich, daß sie um ihren Sohn weint, der fliederfarbene Handschuhe trägt, wenn er aus dem Wagen steigt. Am wahrscheinlichsten aber ist, daß sie um die Menschen weint. Daß sie wie Vögel sind, die über den Garten ziehen, hoch im Abendlicht, anzuschauen und zu hören, aber nicht zu halten, auch nicht mit erhobenen Händen. Und daß es nichts helfe, sich ein Leben der Arbeit und der Zufriedenheit zurechtzumachen, wenn der Mensch imstande ist, sich plötzlich aufzuheben aus diesem Leben, wie ein Vogel, über den Garten hinweg, ohne Abschied und Gruß.

Es ist seltsam zu sehen, wie die Majorin weint. Wie ein Mensch, der es verlernt hat. Ganz still, wie ein Holz, aus dessen Rinde es tropft. Die Majorin hat zu reiten gehabt und zu rechnen, bei den Gespannen zu halten und einen widerspenstigen Knecht vom Hof zu bringen. Sie hat keine Zeit zum Weinen gehabt und auch keine Erlaubnis. Wenn hundert Augen auf einen Menschen blicken, darf er wohl die Lippen zusammenpressen, aber nicht weinen. Auch nicht, wenn ein Holzsarg aus Frankreich in die Erde gleitet und die Menschen es erwarten. Auch nicht, wenn ein Hofmädchen weinend vor dem Stuhl der Majorin kniet und ein junger Mann mit fliederfarbenen Handschuhen die Achseln zuckt und einen Schlager zu pfeifen beginnt. Auch im Kriege wird nicht geweint, und eine Frau von vierzig Jahren, die für fünftausend Morgen Feld und Wald zu sorgen hat und für Mensch und Tier, die darauf leben, ist eben im Kriege.

Aber da ertönt die Gutsglocke, hell und laut, und die Majorin steht auf. Sie schüttelt zornig den Kopf, denn sie will noch nicht alt sein. Und nur alte Frauen sitzen weinend auf dem Bettrand, wenn ein neuer Tag beginnt. Und als Lena das Frühstück bringt, ohne Korallenkette, sitzt die Majorin ruhig am Tisch, sieht ihr mit strengen Augen entgegen und erinnert sie daran, daß ihr Schürzenband wieder ein paar Nadelstiche vertrage. Und außerdem sei das Gastzimmer aufzuräumen, weil Michael Fahrenholz gegangen sei, um seinen Vater zu begrüßen.

Und Lena, auf dem Wege zur Küche, denkt, daß die Frau Majorin eine unheimliche Frau sei, viel klüger als der Herr Pfarrer, fast so klug wie der liebe Gott.

Indessen sitzt Michael auf der Bank unter dem Birnbaum und raucht. Rauchen ist immer gut, im Kerker wie in der Freiheit, am Rande der Wüste wie am Rande des Moores. Es ist gut, den blauen Wolken nachzusehen, wie der leise Wind sie empfängt und verändert und dahinträgt. Ein Gebilde ohne Schwere, flüchtig und frei. Und jetzt, um diese Stunde, ist es besonders gut. Ein schlechter Schlaf, eine sinnlose Arbeit dort auf dem Hügel und nun die flüchtige Wiederkehr. »Ja, ich bin es, nicht tot, sondern lebendig … ich gehe wieder fort, ich kann hier nicht sein … ich will keinen Hof und kein Dach und keine Ordnung … denn da sind Menschen, und ich will keine Menschen … allein will ich sein, ganz allein …« Und der Vater wird nicken, still und fast demütig, so wie früher, und die Erde von den Stiefeln kratzen, als ob er sehr beschäftigt sei. »Ja, Michael, so ist es ja nun … aber ein Stück Brot, das könntest du wohl essen mit mir, nicht wahr?« Und danach wird er gehen, in die Wälder, wo die stillen Bäume stehen, das grüne Moos, die Lichtungen mit jungem Gras, und wo das große Schweigen ist, die Stummheit ohne Ende.

Die Majorin? Ach Gott, er ist nicht ihr Sohn. Weder ihr Geliebter noch ihr Sohn. Das sind so Witwenlaunen, zu helfen und zu streicheln, und wenn die Sonne scheint, ist es vorbei. Er hat keine gute Erinnerung an Majore, er hat überhaupt keine guten Erinnerungen. Zum Teufel mit ihnen!

Nun ist das ganze Dach schon rot, und die Ketten klirren im Stall. Zeit für den alten Mann, aufzustehen. Aber er wird müde sein. Die Frau und drei Söhne ist viel, auch für einen Bauern viel. Es hilft nichts, daß einer zu Besuch gekommen ist und auf der alten Bank sitzt. Besuche helfen niemals viel, machen die Stuben nur leerer, wenn sie wieder fort sind. Aber wer totgesagt ist, muß sich zeigen, damit er keine Kränze bekommt, die ihm nicht zustehen. Und keine Inschrift auf einem Stein, die ihm nicht zusteht. Auch der Tod darf nicht betrogen werden.

Jonas … ja … wie groß er geworden ist … groß und wunderlich. Ein guter Kamerad, bei Schafen und Flöten. Dürfte nicht Reitknecht sein. Müßte im Moor sitzen und Torf stechen. Vielleicht, daß er einmal seinen Bruder fände, braun und still, aufrecht zwischen verwesten Pflanzen. Würde ihn nicht mehr rufen hören um die Eulenstunde. Nur die Ruhelosen rufen, aber vom Friedhof ruft es nicht mehr …

Noch immer das Starennest im Kirschbaum. Ob es noch dieselben sind? Weiß nicht, wie alt Stare werden. Vielleicht hundert Jahre. Bleiben immer glänzend und schwarz, werden nicht grau … Eine einzige Strähne an der linken Schläfe der Majorin, an der Herzseite … sieht seltsam aus … wie der kleine Korporal in der Wüste, der die Peitsche hatte … fanden ihn mit einem Loch in der Schläfe, unter der grauen Strähne … aber es war ein anderes Kaliber als das seiner Dienstpistole … Ja, auch Korporale sind nicht unsterblich …

Er sieht auf seine braunen Hände, schließt und öffnet sie nacheinander. Viel Böses an solchen Händen. Erde, Schweiß, Blut. Lauter gute Dinge. Gut im Augenblick, aber nicht immer gut in der Erinnerung. Haben das Brot gebrochen bei der Majorin, und sie hat zugesehen. Ist nicht immer gut für eine Frau, auf die Hände eines Mannes zu sehen, der im Kriege war. Handschuhe tragen nur die Stabsoffiziere, vom Major aufwärts. Die andern legen sie bald ab. Unbequem zu bestimmten Dingen …

Nun hat es sich gerührt im Hause. Ein müder Schritt. Zwei Schritte. Eine Magd wahrscheinlich. Vielleicht auch eine Stiefmutter … Ein schwerer Augenblick für den alten Mann, wenn der Sohn aus dem Grabe steigt. Braun und gesund ohne Leichenhemd … Weshalb ist er gekommen? Ja, weshalb? Hat es gerufen wie des Jonas kleiner Bruder, der nicht mehr aufrecht stehen will, sondern liegen, wie es sich für ihn gebührt? Oder ist es nur, weil er nicht beides zugleich sein will, lebendig und tot? Weil am Leben allein genug zu tragen ist?

Er weiß es nicht, die Tür geht auf, und einen Augenblick lang ist es ihm, als sei es deswegen gewesen: dies zu sehen, wie die graue Tür sich öffnet und im dunklen Raum der Vater steht und in die Sonne sieht. Ein hoher, gebeugter Mann mit grauem Haar, der nun die Hände faltet, weil er die Bank erblickt. Er schwankt nicht, er schreit auch nicht. Er steht auf der Schwelle und faltet die Hände. Vielleicht hat er viele solche Gesichte gehabt und weiß, daß es keinen Zweck hat, etwas anderes zu tun, als die Hände zu falten.

Weil alles wieder vergeht, was dort in die betrügerische Luft sich zeichnet: Gesicht und Gestalt, Farbe und Form.

Und auch wenn dies Vergängliche sich aufhebt von der Bank und durch das Gras herunterkommt, und wenn selbst der Gang der gleiche ist, etwas unregelmäßig und stockend, immer wieder auf dem Sprunge, so werden wohl auch die früheren Gesichte das gehabt haben, und es wird wohl daher kommen, daß man alles so tief bewahrt hat in der stillen Brust, und daß die Jahre lang und einsam sind, und viele Tage in Nebel und viele Nächte ohne Schlaf in der leeren Stube, die der Tod versiegelt hat, viermal hintereinander.

Aber dann muß er es wohl glauben, als die Stimme spricht, daß er da sei, aus der Gefangenschaft zurück und, ja, zu einem kurzen Besuch. Kein Wunder, daß der alte Mann nun zittert. Auch Bäume können zittern, auch Häuser, selbst die Erde, wenn der Mensch sie aufwühlt in der Schlacht. Aber es geht Michael doch nahe, als er es sieht. Der Vater ist kein Baum. Etwas Besonderes ist ein Vater, anders als alle anderen Menschen. Wenn der Korporal geweint hat damals, nun gut, er hat die Peitsche gehabt … recht so! Erde auf seine Tränen. Und wenn die Majorin weinen sollte … werden wieder trocknen, ihre Tränen … eine Majorin hat viele Dinge zum Trösten, nicht nur ein Taschentuch mit einer Krone. Aber der Vater, das ist nicht gut. Ist wie eine Kette um die Füße, und die Füße müssen frei sein. Sind wundgescheuert genug, vor langer Zeit.

»Michael …«, sagt der Vater und streift den braunen Rock mit den Fingerspitzen. »Michael ist tot, sie haben ihn liegen sehen mit offenen Augen … sein Name steht auf dem Stein … was soll ich tun, daß du die Ruhe findest?«

Etwas in der braunen Haut verändert sich bei Michael. Sieh, die Welt kehrt sich um, und man läßt die Toten nicht ein. Vielleicht war es nicht gut, das mit dem Stein auf dem Hügel. Steine soll man nicht schlagen oder versetzen, Grenzsteine nicht und Totensteine auch nicht.

»Ich lag für tot«, sagt er leise, »aber dann fanden sie mich …«

Der Vater nickt. »Auch die andern sind gekommen«, sagt er. »Sie kommen oft und sitzen in der großen Stube auf der Ofenbank. Sie sprechen auch, wie du. Aber dann gehen sie fort, schnell, ohne Tür. So nahe … nein, so nahe ist noch keiner gekommen … Der Jüngste warst du, ein gutes Kind …« Und er hebt wieder die Hand und streichelt den braunen Stoff, so vorsichtig wie einen Schmetterlingsflügel.

Es fröstelt Michael, obwohl die Sonne sie beide bescheint, und er sieht dem Vater lange in die Augen. Freundlich sind sie und ganz ohne Angst, zwei nahe und gute Menschenaugen. Aber auf ihrem Grunde, innerhalb des grauen Kreises, der ihn umgibt, ist etwas verändert, eine leise Starrheit, die manchmal aufflackert und manchmal erlischt. Wie ein Raum, in dem viele Türen gehen und das Licht unruhig machen. Michael kennt solche Augen. Wenn die Sonne über der Wüste sinkt, dann sehen sie gern in das Feuer über den Dünen, und man muß vorsichtig mit ihnen sein, ganz still und behutsam, sonst gibt es Alarm oder Schüsse oder ein Standgericht.

Er lehnt an dem grauen Pfosten und denkt, daß das Herz ihm nun leicht sein müßte. Wenn er dem alten Mann nun zunickte und davonginge, durch den Baumgarten und die kleine Tür in der Buchenhecke und weiter zur Landstraße und auf der Landstraße in die Wälder hinein, dann würde der alte Mann hier stehen bleiben und ihm nachsehen und nicht einmal die Arme heben. Denn sie gingen ja doch alle fort, die andern auch. Sie saßen ein bißchen und sprachen und hörten zu, und wenn sie gesehen hatten, daß alles in Ordnung war, gingen sie eben wieder in ihr Reich. Und der alte Mann faltet die Hände und spricht ein Gebet und dreht sein Gesicht zur Wand oder öffnet die Bibel oder geht zu seinen Pferden.

Ja, das Herz müßte ihm leicht sein, aber das Herz ist so schwer wie ein Stein. Auch für das Herz gibt es unerwartete und unerhörte Dinge, an die es sich gewöhnen muß. Und außerdem ist es schwer zu wissen, wie ein Toter sich benimmt. Schwerer, als bei der Majorin am weißen Tisch zu sitzen. Vielleicht wäre es gut, wenn sie jetzt käme, auf ihrem Rappen und mit ihrer klaren, tiefen Stimme.

Aber statt dessen kommt die Magd, ein gebeugtes Wesen mit einem dunklen Tuch um das graue Haar. »Michael ist gekommen«, sagt der Vater. »Gib uns zu essen, Margarete.«

Die Magd erschrickt und sieht den Fremden an, aber dann macht sie ein leises Zeichen mit der Hand und geht ins Haus zurück. Sie weiß wohl zu unterscheiden zwischen Gästen, die über der Erde, und solchen, die unter der Erde sind.

Das Mahl ist wie vor zwanzig Jahren, still, freundlich, langsam. Die Magd geht ab und zu und wird unruhig, weil sie nicht weiß, wer der Fremde ist und ob er nicht Nutzen ziehen will aus dem stillen Wahn des Bauern. Aber Michael würgt das Brot in der Kehle. Ein Totenmahl ist nicht leicht für einen Lebenden.

Nur der Bauer ist ruhig, von einer stillen Heiterkeit. Gerundet und erfüllt ist nun seine Welt, denn Michael ist noch niemals gekommen. Vielleicht war da ein böses Wort, aus der Vergangenheit, ein Vorwurf, ein unbedachter Tadel. Aber nun ist es vergessen und vergeben. Auch Michael bricht nun von seinem Brot … dunkle Hände, anders als die der Brüder … und ein seltsames Gewand … aber er hört gut zu, wie die Ernte war und die Fruchtbarkeit der Tiere, hat nie viel gesprochen, auch als Kind nicht … ein guter Besuch, früh am Morgen, bevor das Pflügen beginnt …

Mitunter denkt der alte Mann, daß der Tote nun gehen müßte. Niemals noch war einer so lange bei ihm. Aber er kommt mit in den Garten, in die Ställe, zuletzt aufs Feld. Sitzt auf dem Ackerrain, die Pfeife im Mund, die Hände um die Knie, indes der Vater die Furchen wendet, eine nach der anderen, tief, gerade und lang. Die Sonne steigt, die Schatten werden kürzer, die Pferde werden warm, und der Geruch ihrer Haut vermischt sich mit dem Geruch der Erde. Kirchenglocken läuten hinter dem Wald, für einen Toten wahrscheinlich, ein dunkler, ernster Ton, der nichts Böses und nichts Trauriges hat. Der Bauer blickt über die Schulter nach seinem Sohn, aber die Glocken vertreiben ihn nicht. Er sitzt da und sieht über das Land, ein müder Soldat, der das Seinige getan hat. Und der Bauer wendet die Pferde und setzt den Pflug von neuem ein, sorgfältig und tief in den gesegneten Acker, auf dem ein Toter sitzt.

Und so bleibt es bis zum späten Nachmittag. Die Schatten werden wieder länger, und es ist die Zeit, in der man sich aufmacht zum Wandern. Der Wald steht still und warm, beglänzte Stämme unter Nadeln und jungem Laub. Ein Specht ruft, und weiße, runde Wolken stehen über den Wipfeln auf. »Ja, und auch Jonas ist da«, sagt der Vater, als die Furche beendet ist, »bei der Majorin, und hat es gut …« Und er nickt, bevor er den Pflug wieder wendet.

Michael zieht den rechten Fuß unter seinen Körper und dreht sich um. Längst wird er im Walde sein, bevor die neue Furche beendet ist. Dann wird das Bild fort sein, zergangen in der blauen Luft, und drüben, am anderen Ende des Feldes, wird der Vater einen Augenblick stehen bleiben, und dann vor sich hinnicken, und dann die neue Furche beginnen. Ein langer Besuch, aber so viel Zeit haben die Toten wohl nicht, daß sie am Abend noch auf der Bank sitzen können, wenn die Sonne hinter das Moor sinkt. Aber da dreht der Vater sich um und blickt über die Schulter zurück, und Michael bleibt sitzen. Nun ist es zu spät, und man muß warten auf die übernächste Furche, die wieder von ihm fortführt. Und nun kommt der Vater zurück, ihm entgegen, zwischen den beiden nickenden Pferdeköpfen, langsam und sicher wachsend, im gleichen Maße, wie das Rauschen der Pflugschar wächst.

»Ja, und sein kleiner Bruder ist noch nicht gefunden«, sagt der Vater, »und wir hören ihn manchmal rufen, Jonas und ich, um die Abendzeit …«

Und wieder wird der Pflug gewendet, und die Stoppel rauscht, und die Krähen, die aufgeflogen sind, gehen wieder die neue Furche entlang.

Und wieder dreht Michael sich zum Walde und stützt die rechte Hand in das warme Gras, aber wieder wendet sich der Vater um, auf der Mitte des Feldes, und blickt zurück. Aber der Sohn stopft sich ja eine neue Pfeife, und so ist es ihm wohl noch nicht eilig mit dem Abschied, wird noch Zeit haben, bis zum Abend vielleicht, und das Feld segnen bis zur letzten Furche.

Und so findet die Majorin sie, als sie langsam über das Feld geritten kommt. Jede Stunde ist sie auf dem Turm gewesen, und immer ist das Bild das gleiche geblieben. Ein friedliches Bild, aber doch seltsam für einen Mann, der mit den Toten Umgang hat, und für einen anderen, der von den Toten auferstanden ist und doch kein Dach über seinem Leben haben will. Seltsam und ein bißchen unheimlich in seinem Schweigen, und das Herz klopft ihr nun doch, als sie absteigt und zu dem Bauern tritt, um ihm ein gutes Wort zu sagen über sein Glück.

Aber bevor sie es sagen kann, hat der Bauer heimlich die Hand gehoben und auf den Sohn gedeutet, der am anderen Ende des Feldes sitzt. »Michael ist gekommen«, sagt er mit einem stillen Lächeln und so leise, als stände er neben ihm. »Er hat Urlaub, länger als die anderen, denn er kam schon am Morgen … und die Frau Majorin soll sich nicht fürchten … die Toten sind gut …«

Zuerst versteht die Majorin nicht, aber dann, als sie versteht, erblaßt auch sie. Auch für sie dreht die Welt sich um, und es ist natürlich, daß ihr gerader Sinn sich dagegen wehrt. Sie ist gewohnt, daß Oben und Unten an ihrem Platz stehen, und sie will, daß die Toten wie die Lebendigen das Ihrige erhalten. »Fahrenholz«, sagt sie ernst, »man darf den Lebenden nicht die Tür verschließen … er lebt, Fahrenholz!«

Aber der Bauer lächelt, und er streichelt sogar vorsichtig ihre Hand. »Die Frau Majorin will mir helfen«, erwidert er, »und ich danke der Frau Majorin. Aber ich habe es nun überstanden. Es ist schön, daß Michael gekommen ist. Er ist sehr still. War immer still, schon als Kind. Aber dafür bleibt er auch länger als die anderen … nein, die Frau Majorin braucht mir nicht zu helfen …«

Es ist alles nah und wirklich: der Bauer mit seinem fast erleuchteten und feierlichen Gesicht, die Pferde mit hängenden Köpfen, die wartenden Krähen, die Sonne auf Pflug und Furchen und dahinter, still und regungslos, die sitzende Gestalt des Heimgekehrten. Ein ganz und gar irdisches Bild, ohne Spuk und Grauen, und die Majorin nickt sogar dem Bauern zu, überzeugt und fast verlegen, wie es scheint, aber als sie ihr Pferd nun über die Stoppel führt, zu dem Mann, vor dem die Tür nicht aufgemacht wird, wollen ihr wieder die Tränen kommen, und sie kann nicht zornig sein wie am Morgen, so verwandelt ist die Welt seit gestern abend. Ein alter Mann, wer soll hineinschreien in ihn, daß der Tod genug an dem Seinigen habe? Ein alter Mann, der zwischen den Toten lächelt, er würde sich fürchten, wenn er sich irrte. Schreien würde er vor Angst, wenn der Tote nicht wahr wäre. An einem Faden hängt seine mühsam gerettete Welt … wer würde es wagen, den Faden zu zerreißen?

Und der Sohn? Was wird der Sohn tun? Was hat er getan in diesen Stunden seit dem Aufgang der Sonne? Hat er sich gewehrt, wie die Scheintoten sich wehren? Oder hat er nur gelächelt, spöttisch und finster, wie es seine Art ist? »Ach, die Frau Majorin …«, wird er sagen, »und wie ist es nun mit der Philosophie der Gefangenen? ›Wenn die Tore sich öffnen, fällt die Tür zu!‹ Sieht die Frau Majorin vielleicht, daß die Philosophie der Gefangenen gar nicht so dumm ist? Eine weit vorausschauende, ja eine prophetische Philosophie? Da wollte nun einer wiederkehren, um ›Guten Tag‹ zu sagen, nur so im Vorübergehen. Aber siehe da, die Tür fiel zu. Nichts da von ›Guten Tag‹, sondern ›Gegrüßt seist du mir von jenseits des Grabes!‹ Weiß die Frau Majorin vielleicht einen Rat? Sie weiß doch, wie man Weidenflöten klopfen muß, damit sie nicht Risse bekommen. Vieles weiß sie, und das meiste besser als andere Menschen. Und hier ist einer, den man nicht aus dem Grabe lassen will. Vielleicht ist die Frau Majorin so gut, den Stein etwas anzuheben …«

Ach, die Majorin hat sehr müde Arme, als der Heimkehrer nun aufsteht und sich vor ihr verbeugt. Sie kann keinen Stein anheben, und sie hat im Augenblick genug zu tun, um aus dem schweigenden Gesicht abzulesen, wie er es aufgenommen habe, Heimkehr und Ausstoßung zu den Toten. Aber davon ist nichts zu lesen. Nichts als die kalte Ruhe eines Menschen, der viel gesehen hat, der wenig will und erwartet und der an das Kommende nicht mehr wendet als eine matte Neugier: etwa was für ein Kleid die Majorin trägt, oder ob die graue Haarsträhne breiter geworden ist in der Nacht, oder ob ihre Augen nun braun oder blau sind, mit denen sie ihn ansieht.

Und weil die Majorin nicht gewohnt ist, daß man in ihrem Gesicht umhergeht wie in einem herrenlosen Feld, nimmt sie die Zügel um den Arm und deutet nach dem Walde. »Wollen wir gehen«, sagt sie, »ich wollte Ihnen etwas zeigen.«

Sie drehen sich nicht um, weil sie nicht wissen wollen, wie der Bauer ihnen nachsieht, und so sprechen sie auch nicht, bis sie auf dem grünen Waldweg sind, der von der Landstraße fort in die Tiefe führt. Aber sobald die stillen Stämme um sie stehen mit dem frühen Harzgeruch und der Wechsel von Licht und Schatten sie überspielt und der Wind nun in der Höhe die Wipfel leise bewegt, scheint der Schritt des Mannes fester und freier zu werden, als erkenne er nun, nach einem Tag des Irrgangs und der nutzlosen Qual, die richtige Straße und als habe er vor, bis zur Nacht noch ein Stück des Versäumten nachzuholen.

Und da auch die Majorin diese seine Wandlung erkennt, fragt sie, früher, als sie gewollt hat, ob er sich das so gedacht habe, am Abend auf dem Moor und in der Frühe, als er sich ausgelöscht habe von den Toten.

Sieh an, denkt er, was für eine gefährliche Frau … Und nun kann er wieder lächeln und auf seine spöttische Art erwidern, daß es also wirklich so geblieben sei, daß die Frau Majorin alles wisse, und daß er es sich nun wirklich und anders gedacht habe. Sie übrigens wahrscheinlich auch.

»Ja«, sagt sie, und es komme nun darauf an, daß man nun aus dem Andersgewordenen auch einen anderen Schritt tue als den zuerst gewollten. Die Schafe dürften sich wohl vor dem gewohnten und plötzlich zugefallenen Tor drängen, aber der Mensch sei eben dazu da, ein neues Tor zu suchen.

Worauf der Mann freundlich fragt, ob er dieses Gleichnis auf sich beziehen solle.

Aber die Majorin schüttelt nur den Kopf und sieht vor sich hin, auf den grünen Weg, auf dem noch welke Blätter des letzten Herbstes liegen. »Kein Mensch kann so zurückkommen«, sagt sie leise, »nicht einmal aus der Hölle, und dann ihm so zusehen, einen Tag lang, ohne daß das Herz ihm weh tut. Kein Mensch kann das …«

»Weiß die Frau Majorin etwas von meinem Herzen?« fragt er böse. »Ich will der Frau Majorin etwas sagen: wenn er erwartet hätte, daß ich bleibe, dann wäre es leicht gewesen, nach einer Stunde zu gehen. Aber nun erwartet er, daß ich gehe … wie die anderen wohl gegangen sind … und nun ist es schwer zu gehen … verstehen Sie das?«

Also sei es leicht, sagt die Majorin nach einer Weile, das Böse zu tun, und schwer, das Gute zu tun?

Ja, ob sie das noch nicht gewußt habe? Die Frau Majorin werde wohl sehr alt werden müssen, um das zu lernen, und man sage ja, daß mancher es nie lerne.

»Der alte Mann, zum Beispiel«, erwiderte sie kurz, »oder Jonas … Ja, es war immer traurig auf der Welt für die Dummen, weil doch soviel Kluge danebenstehen und zusehen …«

Immer stiller wird der Weg. Nun rufen die Vögel schon aus der Tiefe des Waldes, und die Sonnenbänder liegen fast waagrecht im dunklen Geäst.

Noch etwas will die Majorin wissen. Dort auf dem Feld, als der Pflug auf und ab gegangen sei, dieses stillste Gerät der Erde, das er wohl in all den Jahren nicht gesehen habe, habe er da keine Lust verspürt, ihn aus den alten Händen zu nehmen in seine jungen und nach Blut und Schweiß und Haß so etwas wie Segen in ihnen zu spüren? Den Segen eines Geschlechtes, das in die Spuren des Vergangenen trete?

Aber da ist die Majorin wohl zu schnell gewesen, und sie hat wohl nicht bedacht, daß in den Augen eines solchen Mannes alle diese Dinge, Feld und Pflug und Furche, anders aussehen müssen als in ihren eigenen. Sie hat wohl vergessen, daß ihr selbst Saatfeld und Wiese seltsam vorgekommen sind damals, als sie mit dem Holzsarg aus Frankreich gekommen war. Aus einer verbrannten, vergifteten und verwüsteten Erde, einem Grauen ohnegleichen für jemanden, der gewohnt war, die Erde eine Mutter zu nennen. Der gewohnt war, die bloßen Hände in sie hineinzugraben, um Kühle und Wurzeln und Samen unter der Decke zu finden. Und die nun erfahren hatte, daß man statt dessen Blut und Eisen und Tote finden konnte, und nichts als dieses. Sie hat wohl vergessen, daß sie damals bei dem ersten Gespann gestanden und mit Grauen auf die Scholle geblickt hatte, die leise aufstieg aus der dunklen Tiefe. Und daß es lange gedauert hat, sehr lange, bis sie aufgehört hat, der Erde zuzurechnen, woran sie nicht schuldig war.

Sicherlich ist sie zu schnell gewesen, denn der Mann stößt zornig den Tannenzapfen auf dem Wege mit dem Fuß zur Seite, und was er zuerst murmelt, klingt nicht wie ein Segen. Es handle sich hier nicht um ein heraufkommendes oder ein ablösendes Geschlecht, sagt er dann, sondern um ein verfluchtes Geschlecht. Wer zurückgekommen sei, der könne die vier Jahre überspringen wie einen Graben und den Tag da aufnehmen, wo er liegengeblieben sei vor vier Jahren. Denn dazu sei er schließlich fortgewesen, um seinen Pflug zu retten. Aber wer nach zwanzig Jahren wiederkomme, der finde keinen Graben wieder zum Überspringen, sondern ein Meer. Der komme nicht aus dem Kriege wieder, sondern aus der Hölle, und diese Hölle sei ein Werk der Menschen. Ein Tier zu quälen, eine Stunde lang, sei böse, aber einen Menschen zu quälen, Tausende von Menschen, nicht eine Stunde lang, sondern jahrelang, ein Leben lang, ja, viele Leben lang, sei nicht böse, sondern verrucht und teuflisch, ja, so teuflisch, daß kein Gott es ansehen könne, er sei denn ein Narr oder ein Herr aller Teufel. Und wer das gesehen habe, der könne seine Füße nicht mehr Schritt vor Schritt setzen, denn das habe er auch dort gemußt. Und der könne kein Werkzeug mehr anfassen, denn das habe er auch dort gemußt. Und der könne nicht sein Werk mit seinem Schweiße düngen, denn das habe er auch dort gemußt. Der könne nicht mehr leben, wie die anderen lebten, in Ordnung und Zucht und Gesetz, sondern der müsse schreien können, wenn es ihn ankomme, allein in einem weiten Raum, daß die Kinder sich nicht erschreckten, und müsse laufen können, wenn es ihn ankomme, querfeldein, ohne Grenzen. Und mitunter, ja, mitunter müsse er trinken, wenn er bestimmte Dinge vergessen wolle, die einmal geschehen seien zwischen Mensch und Mensch.

Denn es gebe Bilder, die verschwänden nur vor gebrochenen Augen oder, nun ja, vor betrunkenen Augen, und die Frau Majorin solle ihrem Gott danken, daß sie solchen Bildern nicht begegnet sei in ihrem ordentlichen und reinen Leben.

Wild und zornig hat der Mann dies alles aus sich herausgestoßen, und seit er in den Krieg gezogen ist, hat er eine solche lange Rede wahrscheinlich nicht gehalten, denn er ist erschöpft und fast beschämt, als erwache er aus einem Traum, in dem er laute und häßliche Worte gesprochen habe, und sieht sich hastig um, als müsse er schnell ausbrechen aus dieser erzwungenen Gemeinschaft zu zweien, die ihm seine Beichte entrissen hat, eine nutzlose und ganz überflüssige Beichte.

Aber die Majorin legt nun ihre Hand auf seinen Arm und zwingt ihn, stillzustehen, und sagt mit einer deutlichen Wiederholung seiner vorigen Worte: »Weiß der Soldat namens Michael etwas von meinem Leben?«

Und da der Soldat Michael nichts von dem Leben der Majorin weiß, als was er mit seinen finsteren Augen vor sich sieht, ein Reitpferd, einen Besitz an vielen tausend Morgen, ein sicheres Haus mit Knechten und Mägden und ein ruhiges, strenges und sehr nachdenkliches Gesicht, so weiß er auf die Frage nichts zu antworten, und sie gehen wieder beide nebeneinander her, schweigend, und nur die Ringe am Zaumzeug klirren leise, wenn das Pferd den Kopf schüttelt, um die Fliegen zu verjagen.

Aber dann will Michael doch etwas wissen vom Leben der Majorin, und er fragt, woher sie die graue Haarsträhne habe über der linken Schläfe.

Und die Majorin, ohne sich zu verwundern, erwidert, daß man das davon bekomme, daß man doch nicht alles in der Welt besser wisse, und davon, daß es Menschen gäbe, die wie Vögel über dem Garten aufstiegen, und man könnte nichts, als ihnen nachsehen von einer leeren Schwelle.

Und dann schweigen sie, bis sie zur Blockhütte kommen.

Das Blockhaus liegt über dem Seeufer, einem dunklen Waldsee mit Schilf und alten Kiefern an den Rändern und einer Moorwiese am jenseitigen Ende, von der sich lautlos zwei Kraniche aufheben. Und nach der anderen Seite fallen junge Schonungen ab, und dahinter steht wieder das hohe Holz, mit scharfen und dunklen Profilen. Der Weg hört hier auf, an einem grauen Zaun, über dem die Weidenrosen, noch ohne Blüte, zusammenschlagen, und auch vieles andere scheint hier aufzuhören, die Welt zum Beispiel und der Lärm, den die Menschen draußen vollführen. Denn hier stehen nur die Bäume, hoch und alt und ganz still, und so blicken beide eine Weile zu den Wipfeln auf, die Majorin und der Soldat.

Wer auf den Feldern zu Hause ist oder auf den Landstraßen, im offenen Raum, in dem immer Bewegung ist, der steht gern still im Unbewegten und fühlt das Große des Lebens, das in solchen alten Bäumen ist, wie es sich aufhebt von Wurzel zu Krone, seinen Raum erfüllt, wartet und wächst und das Aufgetragene der Schöpfung still vollführt.

Dann sieht die Majorin von der Seite auf Michaels Gesicht, und während sie die Zügel lose um den grauen Zaun bindet und den Riegel der Tür öffnet, sagt sie: »Hier habe ich gelebt, als ich mit dem Sarge aus Frankreich kam. Nun sollen Sie hier leben, Michael. Denn ich bin noch zu jung, um graues Haar zu haben, nicht wahr?«

Sie sitzen auf der Bank unter dem Holzladen des Fensters, und da Michael noch nicht geantwortet hat, setzt sie hinzu, daß sie einen Jäger brauche, seit langem, denn der Förster habe nur Sinn für seine jungen Bäume und könne ebensogut einen Regenschirm wie eine Büchse über der Schulter tragen. Und nicht nur sie brauche einen Jäger, sondern auch der Wald, damit Herrschaft und Gerechtigkeit im Walde sei. Das Haus sei eingerichtet, wenn auch ärmlich, und alles Fehlende schicke sie morgen früh hinaus, auch die Gewehre. Und sie wolle ihm ein Gehalt aussetzen, wie es sich gehöre, und auch mit einer täglichen Kündigungsfrist auf seiner Seite sei sie einverstanden. Und, fügt sie endlich hinzu, ein Jäger, das sei doch vielleicht noch der freieste Mensch auf dieser Erde. Und wenn der Bussard am Abend von den Feldern der Menschen heimkehre zum Wald, dann werde der alte Mann ihm nachsehen und denken, daß auch die Toten nicht allein seien …

Sie weiß nicht, ob Michael ihr zugehört hat, denn er starrt während der ganzen Zeit auf einen Zitronenfalter, der sich auf einer hohen Grasrispe vor ihren Füßen wiegt. Seine Flügel sind halb geöffnet und von der sinkenden Sonne so durchleuchtet, daß das Geflecht der zarten Adern sichtbar ist. Und vor dem schweren Braun und Grün des Bodens erscheint das rötliche Gold dieser Flügel, lautlos sich hebend und senkend, wie eine Verzauberung, so daß nun auch die Majorin schweigt und ihre Blicke der Erscheinung zuwendet, bis diese in sanftem Schwunge sich aufwärts hebt und zwischen den Stämmen erlischt.

Und dieses alles, sagt Michael nun, ohne dem Falter nachzublicken, habe die Frau Majorin sich heute nacht ausgedacht?

Nicht heute nacht, erwidert die Majorin, sondern heute früh, als jemand seinen Namen auf dem Stein der Toten gelöscht habe. Und nun weint sie wirklich, so plötzlich, als habe sie während der ganzen Rede ihre Tränen gesammelt und gespart, und lautlos weinend geht sie zu ihrem Pferd und bindet die Zügel vom Zaun. Aber dann steht Michael doch neben ihr und hält die Hand unter ihren linken Fuß, und sie zögert, ehe sie den Fuß in diese braune Hand hineinsetzt, ganz betroffen und verwirrt.

»Eine merkwürdige Frau ist die Frau Majorin«, sagt Michael, als sie im Sattel sitzt. »Und sie vergißt vielleicht, daß der Soldat Michael nur ein Bauernsohn ist, und außerdem noch ein Verschickter, und außerdem noch ein Landstreicher … aber ich werde es bedenken …«

Und er bleibt noch am Zaun stehen und sieht ihr nach, wie sie den grünen Weg wieder zurückreitet. Immer dichter stehen die Stämme hinter ihr auf, immer ferner wird der Hufschlag des Pferdes, und dann, mit einemmal, ist der Mann ganz allein unter den alten Bäumen.

Er ist immer allein gewesen die beiden letzten Jahre, auch in alten, großen Wäldern. Aber es muß anders gewesen sein, denn er sieht sich kopfschüttelnd um, und als er den Riegel der Tür von innen wieder vorschiebt, tut er es so behutsam, als höre jemand zu.

So ist also Michael unter die Jäger gegangen, und es wird viel von seiner Rückkehr gesprochen in der Landschaft. Der Pfarrer redet auf der Kanzel eine ganze Weile darüber als ein Wunder Gottes und spricht von dem alten Manne, der gebeugt worden sei und der sich nun wieder aufrichten werde an der Liebe des Sohnes und der sichtbaren Gnade des Himmels. Und er spricht auch von den freundlichen Türen, die die Heimat dem Wiedergekehrten geöffnet habe, damit er zurechtfinde auf den alten Wegen. Aber der alte Mann ist nicht in der Kirche, seit sehr vielen Jahren nicht mehr, und die Majorin, auf die sich alle Blicke richten, sieht streng und unbewegt geradeaus, auf das Wappen ihres Hauses an der Kirchenwand, mit dem schrägen Balken über grünem Feld.

Auch in den Bauernhöfen wird darüber gesprochen und in den Krugstuben und vor den Insthäusern, wenn die Gutsglocke zum letztenmal geläutet hat. Aber es wird anders davon gesprochen als auf der Kanzel, vorsichtiger und leiser und nicht ganz so gewiß und gleichsam großartig, wie der Pfarrer es tut. Denn diese Gespräche haben einen schwankenden Boden, auf den sie sich stützen müssen, weil sie an den Aussagen dreier Menschen hängen. Und von diesen hat der eine Umgang mit den Toten, und der zweite ist wunderlich und hört es rufen im Moor, und der dritte ist nach Meinung der Mamsell ein Kalb. Und so ist es auch mit ihren Aussagen. Der Bauer Fahrenholz lächelt und zeigt die Stelle, wo der Tote gesessen habe, »ein guter Toter«. Und Jonas weiß nicht, ob ein Toter oder ein Lebendiger wiedergekehrt sei, und Lena hat nur einen Indianer gesehen, der nicht im Bett geschlafen habe, und am Morgen sei das Fenster aufgewesen wie hinter einem Vogel.

Die Majorin aber kann leicht zornig werden über Fragen, die sie für dumm und überflüssig hält, und sie kann zum Beispiel einen alten Tagelöhner fragen, ob er mit Schafsmilch aufgezogen worden sei. Und außerdem hat sie viele Briefe zu schreiben und in ihrem Wagen vorzufahren, beim Gemeindevorsteher zum Beispiel und beim Amtsvorsteher, beim Landjäger und beim Amtsgericht. Und in den ersten Wochen fährt sie ein paarmal zum Walde, mit Leuten, die ernst und feierlich neben ihr sitzen und dann ebenso nachdenklich aus dem Walde wieder herauskommen wie die Majorin.

Der Jäger Fahrenholz soll beim Gemeindevorsteher erscheinen und seine Papiere mitbringen? Und dann beim Amtsvorsteher, beim Landrat, beim Amtsgericht? Damit geprüft, gebucht, gestempelt und wieder lebendig gemacht werde? Der Jäger knüllt die Papiere zusammen, wirft sie dem Boten vor die Füße, hängt die Büchse über die Schulter und geht in den Wald, ohne ein Wort zu sprechen. Der Jäger hat diese Dinge verlernt, und er ist nicht geneigt, sie wieder zu lernen. Und es bedarf der mächtigen und ruhigen Hand der Majorin, um zu ordnen, zu schlichten und zu verhüten. Will der Jäger, daß die Majorin graues Haar bekomme? Nein, das will er wohl nicht, denn er ist auf der Bank vor dem Blockhaus zu finden, wenn der Wagen mit den feierlichen Leuten kommt. Er gibt auch Rede und Antwort, aber er sieht die Majorin dabei an, und was er sagt, ist so, daß die feierlichen Leute zufrieden sind, wenn sie wieder davonfahren können in das offene Feld, über dem die Lerchen singen.

Und endlich ist kein Zweifel daran, daß der Soldat Michael leben darf. Es wird mit vielen blauen Stempeln bescheinigt, erhält ein Aktenzeichen und wird in einen Schrank gelegt zu vielen anderen Akten, aus denen ein grauer Staub aufsteigt, wenn man sie berührt. Und dann steht eine Tafel an der Landstraße, dort, wo der grüne Weg zum Blockhaus abbiegt, und auf ihr steht geschrieben: »Verbotener Weg!« Und dann bleibt der Jäger so ziemlich allein.

Jeden Tag um die Mittagszeit kommt Lena auf einem Fahrrad lautlos angefahren, stellt einen verhüllten Korb auf die Bank vor der verschlossenen Tür, sieht sich ängstlich um und fährt davon. Als eine Reihe von Tagen nichts geschieht, kein Pfeilschuß durch ihr Haar, kein Kriegsgebrüll, keine geschleuderte Axt, bleibt sie ein bißchen auf der Bank sitzen, spielt mit der Korallenkette über ihrer Brust und sieht sich um. Die alten Bäume rauschen über ihr, ein Reiher steigt aus dem Schilf empor, ein Specht klopft hinter den Schonungen, es ist still und warm und ganz ungefährlich. Aber zwischen den Schultern hat Lena ein kühles und doch lockendes Gefühl, so daß sie die Augen schließt und den Atem anhält, um besser lauschen zu können. Aber da nichts weiter geschieht, muß sie endlich aufstehen und ein bißchen enttäuscht davonfahren. »Ich glaube, daß er ein Frauenräuber ist«, sagt sie abends in der Küche, »und eines Tages wird er sich von rückwärts auf mich stürzen und mich forttragen, und ihr werdet alle nach mir suchen müssen.« Worauf die Mamsell den Löffel unter ihr Doppelkinn stützt, sie lange ansieht und nachdenklich sagt: »Wir werden nur auf den nächsten Kälbermarkt gehen, Lena, da wird er dich verkaufen wollen, und da er kein Attest haben wird, werden wir dich ihm abjagen.«

Nein, der Jäger hat anscheinend keine Lust auf Frauenraub. Er erwacht sehr früh am Morgen auf seinem Lager, sieht durch das offene Fenster, ob die Sonne scheint, und schließt noch einmal die Augen. Denn immer noch dauert es eine ganze Weile, bis er sich zurechtgefunden hat. Es sind keine Gitter vor den Fenstern, und es ist kein Trompetensignal vor der Tür. Nur ein leises Brausen über dem Dach und Vogelstimmen in der ganzen Runde und kein Menschenschritt um das Haus, kein einziger. Dann steht er auf und geht zum See hinunter. Das Wasser ist dunkel und kühl, und er weiß nicht, was in der Tiefe ist. Aber schön sind die Schilfhalme, wie sie sich wiegen, das ganze Feld in einer einzigen, fortlaufenden, sanften Beugung. Und schön ist auch die Spiegelung der dunklen Kiefern, die man mit den Armen zerteilt, daß sie zerbricht und zerfällt und sich dann doch wieder zusammenfügt, geduldig und makellos. Und schön ist es auch, wieder hinaufzusteigen über warmes Gras und trockene Kiefernnadeln, zwischen hohen Stämmen, die so ernst und schweigsam sind, und zu dem frühen Adler aufzublicken, der seine hohen Kreise zieht über dem dunklen Wasser, in dem die schweren Fische träge stehen. Ist es schön für den Jäger Michael? Er spricht dieses Wort nicht aus in seinen Gedanken, es ist sogar möglich, daß er es gar nicht kennt in dieser Zeit. Aber es ist schon viel, daß die Bilder des Waldes ruhig in ihn hineinfallen, ungebrochen, und daß alle seine Sinne beschäftigt sind, sie aufzunehmen. Es bleibt dann kein Raum für die anderen Bilder, die gewesenen. Der Raum, den er übrig hat, ist erfüllt von diesem Gegenwärtigen, von Licht und Farbe und Wärme, und mehr braucht er nicht um die Morgenzeit, um seine Füße vor sich hinzusetzen und dazusein.

Das andere kommt noch früh genug. Bei der Pfeife zum Beispiel, die er nach dem Kaffee raucht. Bei den blauen Wolken, die aufsteigen und zu wandern beginnen. Da ist nichts Festes in ihnen, nicht Stämme und Wipfel und Adler, sondern Aufgelöstes, Formloses, sich Wandelndes. Feuer in der Wüste etwa, mit fahlen Gesichtern im Kreise, von deren Lippen Rauch aufsteigt. Oder ein Gebüsch auf einem Hügel, und darunter liegt ein Mann und sieht zu den Sternen empor. Oder ein Kamin in einem fremden Zimmer, und eine Frau sitzt davor und nimmt ein Streichholz aus seiner Hand. Und nun ist sein innerer Raum nicht mehr erfüllt vom Gegenwärtigen, sondern es ist viel Platz da für solche Bilder. So viel Platz, daß die halbe Erde hineingeht, mit Landschaften und Gesichtern und Worten und Klängen. Eine vergangene Erde, keine zukünftige. Denn für das Zukünftige ist noch kein Platz in diesem großen Raum.

Aber schon das Vergangene reicht aus, um die Stirn des Jägers finster zu machen. Noch immer scheint die Sonne, aber sie tut seinen Augen weh, so daß er die Lider halb schließt, und dadurch graben sich viele Falten in die Haut, die vorher nicht da waren, und einige von ihnen sehen böse aus. Noch immer rauschen die Bäume, aber sein Gehör ist empfindlicher geworden, denn in dem Rauschen scheint es Töne zu geben, bei denen man zusammenschrecken muß. Und das Haus, so freundlich und natürlich es ist, aus Balken und Brettern, ist wohl nicht groß genug oder nicht frei genug, denn der Jäger nimmt die Büchse oder den Drilling und geht davon. Und nun sind seine Augen nicht mehr zu den Wipfeln und den Adlern aufgehoben wie in der Frühe, sondern auf seinen Weg gerichtet oder auf das Weglose, und nicht selten geschieht es, daß er über eine Wurzel stolpert oder gegen einen Baum stößt. Dann erwacht er, meistens mit einem leisen Fluch, und erst wenn er sich umgesehen hat und alles an seiner richtigen Stelle findet, die Bäume, das Gras, zarte Blüten, vom Winde leise bewegt, entspannt sich sein Gesicht, öffnet und belebt sich, bevor die neue Wolke herangezogen kommt.

Ja, vielleicht ist es nicht ganz falsch, was er vom Meer gesagt hat zur Majorin, und auch darin ist es wohl richtig, daß das Unüberwindliche immer von einer Seite kommt, mit ewigen Wellen, vor denen man die Füße in acht nehmen muß. Und die andere Seite, die freie, nun, die will man eben nicht, weil man beide Seiten frei haben will. Denn wo wäre Freiheit, wenn sie nicht nach allen Seiten frei wäre?

Der Wald ist groß, und wenn man in einem großen Kreis geht, braucht man nicht an seinen Rand zu kommen. Und außerdem stößt er im Westen mit breiter Grenze an das Moor. Und dort im flachen Grenzgraben, unter überhängenden Birken, ist ein guter Platz. Denn hinter ihm ist das Stille, und vor ihm ist das Schweigende. Schön ist der Ruf des Habichts hinter ihm, ein trauriger Fall von Tönen, und schön ist der Ruf der Brachvögel vor ihm, hoch und unsichtbar über der flimmernden Fläche. Einsame und wilde Vögel, die den Menschen meiden, ruhelose Flieger mit unbekanntem Heim. Auch das Gras ist schön, wie es mit hohen Rispen im Winde weht, und das bräunliche Moos, zart gegliedert und feucht, und die letzten Bäume an der Grenze des Moores, wie sie gegen den Himmel aufgestellt sind, zerrissen und ganz einsam.

Schießen? Ja, auch geschossen wird. Es ist gut, die Hand an den kühlen Kolbenhals zu legen und das Ziel in die Todesbahn zu zwingen. Aber schon der Donner des Schusses ist zu laut, weil er vielfaches Echo weckt aus dem Lautlosen. Und das Bild des toten Wildes ist ohne Freude, ein mattes, zerbrochenes und zweckloses Bild.

Aber doch ist es gut, eine Büchse zu tragen, mit fünf Patronen in der Kammer, mit einem edlen, schlanken, mattglänzenden Lauf und einem Schloß, das mit einem kalten und drohenden Laut sich hinter der Patrone schließt. Nach all diesen gebeugten Jahren ist es gut, etwas zu tragen, vor dem alles Lebende sich beugt. Gut, aber ohne Zweck.

Denn wo überhaupt ist der Zweck dieser Tage und Nächte? Speise und Dach und Schlaf sind kein Zweck. Sie sind ihm zugefallen, aber er hat nicht verlangt nach ihnen. Der alte Mann? Es ist ihm gleich, ob der Tote namens Michael im Walde wandelt oder in der Wüste. Er ist ihm erschienen, hat an seinem Acker gesessen und ist verschwunden. Vielleicht wird er wiederkommen, aber woher er kommt, ist ihm gleichgültig. Die Toten kommen aus der Liebe eines einsamen Mannes, und die Liebe ist überall. Es kommt vor, sehr selten zwar, daß der Jäger bis an den Rand des Waldes gelangt und von dort, verborgen hinter den tiefen Fichtenästen, auf den Acker sieht, auf dem der alte Mann arbeitet. Es ist kein besonderer Gram um die Erscheinung des Mannes. Seine Schultern sind immer gebeugt gewesen, sein Schritt immer langsam und schwer. Und auch die Art und Weise, sich aufzurichten, die Hände auf ein Gerät gestützt, und für eine Weile still in die Weite zu blicken, ist die alte Art und Weise. Nichts Verzweifeltes an diesem Mann, nichts Verstörtes, nichts an unsichtbaren Lasten Schleppendes. Ein Bauer wie viele, der Leben geweckt und Leben begraben hat, der der Erde dient und der erwartet und weiß, daß die Erde einmal ihm dienen wird.

Und der Jäger kann zurücktreten in den Wald und wieder untertauchen in seiner Verborgenheit. Ohne Sorge und Gram. Es ändert sich nichts. Auch wenn der alte Mann ihn sähe, würde sich nichts ändern. »Michael war wieder da, stand am Walde und sah mir zu … ein gutes Kind, still, aber reinen Herzens …«

Wo also ist der Zweck? Die graue Haarsträhne an der Schläfe der Majorin? Dann müßten wir erst einmal sehen, ob sie breiter werden würde, wenn wir fortgingen. Wollen wir das sehen? Nein. Wir wollen zum See hinunter und sehen, ob der Fischadler auf dem dunklen Pfahl im Schilf sitzt. Und dann wollen wir zur Bank vor dem Hause hinauf, wollen den Büchsenlauf reinigen und ölen, wollen Brot essen, eine Pfeife rauchen und zusehen, wie die Bäume schlafen gehen. Und wollen warten, ob der Hufschlag von Süden zu hören sein wird und sie eine halbe Stunde auf der Bank sitzen wird, warm vom Ritt, die Hände um die Peitsche gefaltet, sehr aufrecht, sehr freundlich und immer mit einer verhüllten Sorge in den klaren Augen.

Warten wir wirklich? Ja, wir warten. Die Augen sehen zu den dunklen Wipfeln empor und begleiten den langsamen Lauf der ersten Sterne, aber das Gehör ist gespannt, nach rechts, über den grauen Zaun hinweg, und wenn ein Zweig bricht, geht es wie ein Schlag durch das Blut. Also ist es wahr, daß wir warten, trotz des Fluches, den unsere Lippen aussprechen.

Nun gut, die Majorin kommt nicht. Rauchen wir noch eine Pfeife, und trinken wir ein Glas aus der Flasche, die sie geschickt hat. Eine kluge Frau ist die Majorin, und sie denkt an alles. Weiß, daß gewisse Leute solch ein Glas nötig haben, wenn zwischen den Stämmen Bilder aufstehen und weggehen und wiederkommen. Wenn die Majorin nicht kommt, kommen die Bilder. Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit. Und beim zweiten Glas brauchen wir nicht mehr fortzusehen, können ruhig hineinsehen zwischen die Stämme, brauchen uns nicht zu fürchten. Wissen sehr gut, daß Korporale nicht unsterblich sind, auch wenn sie eine graue Haarsträhne über der linken Schläfe haben. Wissen auch, daß die Toten wiederkommen, nicht nur zu dem alten Mann, der nun in der Bibel liest. Sind selbst Wiederkehrer und winken ruhig mit der Hand, wenn unseresgleichen erscheint. Nehmen das dritte Glas, ein Glas voll Feuer, und bringen eine Gesundheit aus. Gesundheit des alten Mannes zum Beispiel, um dessen Bett vier Tote sitzen! Oder Gesundheit der Majorin, die ein einsames, kühles Lager hat! Oder Gesundheit des Soldaten Michael, der ein Jäger geworden ist, weil er kein Bauer mehr sein kann! Oder Gesundheit … kein Tropfen mehr in der Flasche zu einer Gesundheit? An die Wand mit der Flasche! Eine schöne, graue Wand aus Fichtenstämmen, fest gegen Lebende und Tote. Und Scherben herum, wie auf einer Friedhofsmauer … Gehen wir schlafen hinter den Scherben! Der Mond scheint auf das Lager, ein böses, schweigendes Licht. Aber wir wickeln uns in unsere Decken wie in der Wüste, bis unter die Augen hinauf, und schlafen. Geht niemanden etwas an, daß unsere Glieder zittern und unsere Augen brennen. Geht nicht einmal uns etwas an. Geht das Leben an, oder den Tod, oder Gott, oder den Teufel, und morgen in der Frühe werden wir unsern Rucksack nehmen und davongehen … weit … noch weiter … niemand … niemand …

Aber in der Frühe fällt ein warmer, schwerer Regen über den Wald, und das Blut ist müde und ein bißchen traurig und ein bißchen böse. Die Tropfen rauschen auf das Dach und von dort auf die Erde, und von der warmen Erde steht ein dünner Nebel auf und steht als eine dünne Wand vor dem offenen Fenster. Nun legt man die Arme unter den Kopf, schließt die Augen und hört zu. Ein schöner, schwerer Ton. Über den Gräben hat es so gerauscht, hinter dem rostigen Drahtverhau. Über den Baracken des Lagers. Über dem Sand der fahlen Dünen. Und über den langen, einsamen Straßen zwischen Wüste und Moor. Ein schöner Ton. Gut zu wandern unter diesem Rauschen, wenn die Bäume verhängt sind und die Tiere sich verbergen und die Menschen hinter ihren Türen sitzen. Nur die Wanderer sind unterwegs, die Heimatlosen zwischen Tor und Tor. Kommen heraus aus den tropfenden Wäldern, sehen das Gras wachsen und das Korn, sehen Rauch über dumpfen Dörfern, sehen Fußspuren, in denen das Wasser steht, und tauchen wieder unter im schweigenden Gebüsch, streifen Zweige, von denen die Tropfen fallen, fühlen das Moos sich dehnen unter ihrem Fuß, sind die Herren des Regens und der Welt und gehen zur Ruhe unter dem Dach der Tannen, die Augen von einem müden Feuer gewärmt, voller Gedanken, Schwermut und Schlaf.

Ja, und um dieselbe Zeit wird also die Majorin an den Zaun geritten kommen, wird absteigen und die Zügel um die grauen Sprossen binden. Ihr Gesicht ist naß vom Regen, aber hell und froh, denn das Korn wächst, und der Jäger ist zu Hause bei solchem Wetter. Hat wahrscheinlich ein Feuer in seinem Herd angezündet, ein kleines Feuer aus Fichtenzapfen, sitzt davor, die Hände um die Knie gefaltet, und träumt mit offenen Augen von den Lagerfeuern der Vergangenheit. Und sie wird ein bißchen bei ihm sitzen, und sie werden eine Pfeife rauchen, und der Regen wird auf das Dach klopfen.

Ein schöner, schwerer Ton, bei dem sich gut schweigen läßt, und unter dem es sich gut heimreiten wird über wachsende Felder, aus denen der Nebel steigt.

Ja, und sie wird an die geschlossene Tür klopfen … wie tief er träumt, daß er nichts hört … und öffnen, und nichts wird da sein. Kein Feuer, kein Jäger, keine Wärme. Ein toter Raum, aus dem ein Toter fortgegangen ist. Auf dem Tisch die drei Gewehre, sauber geölt und ausgerichtet. Daneben die Munition und was er sonst empfangen hat. Kein Brief, kein Zettel, kein Wort. Auch so ist verständlich, was geschehen ist. Wenn die Dinge es nicht sagen, dann sagt es das Schweigen, der Herd, die Luft, das graue Licht.

Und da wird die Frau Majorin nun also stehen, auf der Schwelle, die Hand noch am Türgriff, und auf die toten Dinge starren. Fort also. Für immer. Mißlungen also auch dieses. Ein Vogel überm Garten, der sich aufgehoben hat und den man nicht halten konnte. Nichts von Schuldabtragen, von Wiedergutmachen, Helfen, Heilen, Zurückführen. Nichts davon. Der Holzsarg, der Sohn, der Jäger. Versunken jeder in das ihm Zukommende. Der eine in die Erde, der andere in die Niedrigkeit, der dritte in das Spurlose. Nichts ist es also mit den Menschen. Nur die Tiere bleiben und der Acker, das Beständige auf der Welt. Heimreiten also, indes der Regen fällt. Über Straßen und Wälder fällt und irgendwo seine Spuren füllt und gleichmacht und verlöscht …

»Ach, du Narr …«, sagt der Jäger laut und steht auf. Neben dem Herd steht Wasser auf den Dielen, ein dunkler, runder Fleck, und als der Jäger zur Balkendecke blickt, ist auch dort ein dunkler Fleck, und ein Tropfen sammelt sich langsam an der Fuge. Das geht nun nicht, denkt der Jäger, muß in Ordnung gebracht werden. Könnte sein, daß die Majorin im Dunklen kommt und sie steht auf der Schwelle und hört es klopfen, und ist doch niemand da. Tropfen im Dunklen sind nicht gut in einem leeren Haus. Klingt wie ein Zeichen und kann zum Fürchten sein …

Das wird er also in Ordnung bringen. Und nun will er zuerst ins Wasser. Schwarz wird es sein, mit tausend grauen Tropfen, die wie Blasen auf Metall stehen. Und tief wird er tauchen, bis dorthin, wo die alten Fische stehen über grünlichem Grund, und bis die Welt über ihm nur ein dumpfes Brausen ist. Dann werden die Augen nicht mehr schmerzen, und es wird nicht bitter sein im Mund, und ein klarer Tag wird anfangen über dem Wald.

Und so ist es auch. Aber als der Jäger aus dem Wasser steigt, fährt am anderen Ufer ein Wagen durch den Wald und hält an den Birkenkloben, die dort zu Klaftern aufgeschichtet sind. Die Stämme der Bäume sind davor, und in der grauen Regenluft sieht das Ganze weit und ungefährlich aus. Aber dem Jäger ist es nicht recht, daß dort ein Wagen fährt, und daß nun ein fremder Mensch sich anschickt, die Kloben auf den Wagen zu legen. Es war nicht vorgesehen, daß fremde Wagen an den See kamen, und wenn die Majorin Holz verkaufen will, so ist ihr Wald groß genug.

Hinter einem Wacholderbusch kleidet der Jäger sich langsam an, aber sein Gesicht ist böse, und der Tag fängt nicht gut an. Es könnte dem Mann dort einfallen, nach dem Blockhause zu gehen und ein Streichholz für seine Pfeife zu holen. Weiß er, wer dort wohnt? Dort werden keine Streichhölzer verliehen. Dort wird höchstens ein Büchsenlauf aus dem Fenster geschoben und ein Schloß schiebt sich mit einem bösen Laut hinter eine Patrone.

Aber der Mann raucht wohl keine Pfeife. Er braucht leere Hände für die Kloben, und es ist keine leichte Arbeit. Und der Stoß ist nicht größer als anderthalb Klafter. So wird er bald davonfahren. Der Jäger sitzt auf dem Baumstumpf neben einer Fichte und sieht dem Mann zu. Er kann die Hände sehen, wie sie zugreifen, und die Arme, wie sie das Holz auf den Wagen schwingen. Eine ruhige und klare Arbeit. Eine Arbeit, die ihren Lohn in der Zukunft hat, wenn der Mann am Winterabend an seinem Herd sitzen und dem Feuer zusehen wird. Regen fiel, wird er denken, als ich euch holte. Aber nun seid ihr getrocknet und brennt … gut ist das Jahr, denn alles steht an seinem Platz, der Regen und das Feuer … So wird er denken. Wie alle denken, die den Lohn eines Werkes sehen. Und nur die haben dunkle Gedanken, die ohne Lohn sind, weil sie ohne Werk sind. Wie er zum Beispiel, der Jäger Michael. Denn Schießen ist kein Werk und Gewehre ölen ist kein Werk. Und auf den Grund des Wassers tauchen ist kein Werk, nachdem man getrunken und eine Flasche zu Scherben geschlagen hat. Nein, der Mann hätte nicht kommen sollen, um Birkenkloben aufzuladen. Es ist nicht gut, einem Mann zuzusehen, der schweigend arbeitet. Indessen man auf einem Baumstumpf sitzt und eine Pfeife raucht, die nicht schmeckt, und zusieht.

Aber nun ist der Mann fertig. Er sammelt noch die Späne auf, die unter der Klafter gelegen haben, und geht einmal um den Wagen herum, um nachzusehen, ob er gut geladen hat. Dann steht er eine Weile still, wie in Gedanken verloren, und dann kommt er zum See herunter.

Ja, und dann ist kein Zweifel, daß es der alte Mann ist, der mit den Toten spricht. Wer sonst auch hätte bei Regen in den Wald fahren können, um Kloben zu laden? Haben wir das früher nicht auch getan, als wir jung waren und am Leben? Mit den Brüdern und Jonas? Und vielleicht sogar an der gleichen Stelle? Aber die Brüder fahren nicht mehr in den Wald. Sie haben die Bretter bekommen, die ihnen zustanden, vier Bretter und zwei Brettchen, wie es im Liede heißt. Und Jonas ist wunderlich geworden, geht wohl nicht mehr in den Wald. Fehlen die Leute, die mit ihm jung waren. Steht wohl am Moor und hört es rufen.

Bleibt nur der alte Mann, um in den Wald zu fahren. Ein gebeugter Mann, wie er dasteht und über das graue Wasser blickt. Braucht sich nicht sehr tief zu bücken, um das Wasser zu schöpfen mit der hohlen Hand. Und wunderlich ist nur, daß er die Mütze abnimmt, bevor er trinkt. Eine seltsame Feierlichkeit, die alte Leute haben bei solch einfachen Geschäften. Sehr grau ist das unbedeckte Haar, und in das unbedeckte Haar fällt der Regen. Vor den Drahtverhauen war es mitunter so, daß der Regen in offene Augen fiel und in unbedecktes Haar. War schwerer anzusehen als manches andere. Weil es so wehrlos war.

Und auch dies ist schwer anzusehen. Ein guter Vater ist der alte Mann gewesen. Ein Mann mit einer Frau und drei Söhnen. Und nun trinkt er das Wasser aus der hohlen Hand und hält die Mütze in der anderen, indes der Regen in sein Haar fällt. Auch der alte Mann wird warten, daß der Tote wiederkomme, von Zeit zu Zeit, wie die anderen zu tun pflegen, damit er das Brot mit ihm breche und ihm seinen Acker zeige, der Korn trägt zu neuem Brot.

Und dann fährt der Wagen wieder davon, und der alte Mann geht nebenher, um seine Pferde zu schonen. Und der Jäger hört zu, wie das Rollen der Räder verklingt und endlich verstummt und nichts mehr im Walde ist als das schwere Rauschen des Regens.

Er ist müde, als er die Leiter an das Dach stellt, um nach der schadhaften Stelle zu suchen. Aber dann sucht er doch alles zusammen, was er braucht, Moos und Holz, die Säge, Hammer und Nägel. Es dauert lange, weil er alles dies schon lange nicht mehr getan hat: eine Sache der Reihe nach bedenken und einteilen, um ein kleines Werk zustande zu bringen. Und auch, weil er dazwischen still steht und an den alten Mann denkt und an die Majorin, und wie er um die Mittagszeit davongehen wird, in den Regen hinein, der die Spuren verlöscht hinter seinem Fuß.

Aber langsam, indes sich Bewegung an Bewegung reiht, verblassen die Gesichter der Menschen, weil er keine Zeit hat, an sie zu denken. Da biegt sich ein Nagel krumm unter einem ungeschickten Hammerschlag, und da spaltet sich eine Leiste unter einem zu starken Nagel. Und langsam, wie die Zeit vergeht und der Regen eintönig rauscht, beginnt der Mann auf dem Dach zu pfeifen, eine fremde und schwermütige Melodie, ein Marschlied wahrscheinlich, das sich einfügt in das Regelmäßige des Hammerschlags. Aber die Augen des Mannes sind nicht schwermütig dabei, sondern heller als sonst, und als nach ein paar Stunden die Zauntür geht und Lena vom Rade steigt, in einen grünen Umhang gehüllt, wirft er sich nicht nieder auf das Dach der Hütte, um ihren Augen zu entgehen, sondern er bleibt oben sitzen, inmitten seines Handwerkszeuges und wünscht, daß sie ihm das Essen heraufbringe. Die Leiter stehe ja da, und es gäbe eben Leute, die zum Morgenkaffee aus dem Fenster stiegen und zur Mittagszeit auf dem Dache säßen.

Es ist kein Zweifel, daß Lena wieder das seltsame Gefühl zwischen den Schultern hat und daß sie nun die Stunde gekommen glaubt, in der der Frauenraub vor sich gehen werde. Zwar hat sie nie gehört, daß sich das auf Dächern vollziehe, aber es leuchtet ihr ein, daß der »Indianer« andere Sitten haben müsse als Jonas zum Beispiel oder der Eleve, der mitunter ein Glas ins Auge setzt, wenn sie neue Wäsche für sein Zimmer bringt. So lacht sie also, etwas zu laut und etwas zuviel, und während sie sich nach dem Korbe bückt, öffnet sie zur Sicherheit schnell den grünen Mantel am Halse ein wenig, damit die Korallenkette erscheinen kann. Und dann steigt sie vorsichtig die wenigen Sprossen in die Höhe und reicht, sobald sie auf das Dach sehen kann, dem Jäger den Korb.

Es scheint, daß der Jäger sich zuerst stärken müsse, bevor er Mädchen aus dem Haushalte der Majorin zu rauben beginne. Denn er ißt langsam und genußvoll, und es stört ihn nicht, daß der Regen in seine Suppe fällt. Auch daß Lena ihm zusieht, die Arme auf das Dach gelegt, stört ihn nicht, denn immer zwischen zwei Löffeln sieht er sie an, und es kommt ihr vor, als blickten seine Augen nur auf ihre rote Kette und so, wie die Frau Majorin mitunter auf ähnliche Dinge zu blicken pflegt. Das ist ihr nicht behaglich, und es bleibt wohl nichts übrig, als freundlich zu lächeln, obwohl die Füße auf der schmalen Sprosse zu schmerzen beginnen und der Regen ihr in den Halsausschnitt läuft.

Ob es dem Herrn Jäger schmecke, fragt sie endlich. Ja, »dem Herrn Jäger« schmecke es gut. Wie sie denn heiße? Lena. Lena? So heiße ein großer Fluß in Sibirien, aber sie sehe nicht aus, als ob sie aus Sibirien käme. Ob er selbst denn aus Sibirien käme? Nein, er käme aus Afrika, wo die Leute nach dem Mittagessen immer eine Sünde tun müßten.

Lenas Füße schmerzen nicht mehr. Sie weiß nun, daß es jetzt kommt, der Frauenraub oder etwas anderes Unerhörtes, und in dem Rauschen des Regens, in dem großen, verlassenen Walde wird ihr nun doch etwas bang zumute vor dem braunen, hageren Gesicht, das über ihr in einen Apfel beißt. Aber sie fragt doch, was für eine Sünde das wäre, die die Leute tun müßten.

Ja, sagt der Mann, es wäre nun so, daß er ihr leider Gewalt antun müsse und daß er sie dann im See versenken müsse, tief, mit einem Stein an der roten Korallenkette, damit die Fische sich in Ruhe an ihr gütlich tun könnten. Und dabei lächelt er harmlos auf sie hernieder.

Und obwohl der große Augenblick nun da ist, schreit sie doch ein bißchen auf und ist sehr schnell die Leiter herunter und steht an ihrem Rad, die Hände auf der Lenkstange.

Aber merkwürdig ist, daß der Mann mit der großen Sünde keine Anstalten trifft, sie zu verfolgen, sondern daß er auf seinem Dach sitzen bleibt und mit viel Geschick wie ein Jahrmarktsakrobat einen Teller nach dem anderen auf das weiche Moos zu ihren Füßen schleudert und daß er zuletzt, als der letzte Löffel unten angelangt ist, eine Pfeife hervorzieht, sie mit Tabak füllt und behaglich zu rauchen beginnt.

Es bleibt nun wohl nichts übrig, als die Teller und das Besteck einzeln aufzusammeln und wieder in den Korb zu tun und sich dabei zierlich zu bewegen. Und nachdem auch dieses den Mann aus Afrika nicht zu seiner großen Sünde verlockt, muß man wohl das Rad zum Zaun führen und den rechten Fuß auf das Pedal setzen.

Da winkt der Mann mit der rechten Hand aus seiner Höhe herunter, so, wie der Landrat winkt, wenn man einen Knicks macht, und sagt freundlich: »Das nächstemal also, kleine Lena … es ist zu naß zur großen Sünde heute …«

Und da vergißt die kleine Lena sich leider, um deren Erziehung sich die Frau Majorin soviel Mühe gegeben hat, und ruft laut und zornig zum Dache hinauf: »Du Affe!« Und darauf steigt sie wirklich auf ihr Rad und saust durch die Wasserlachen hindurch, den grünen Weg hinunter, ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen.

Am späten Nachmittag geht der Mann, den Lena einen Affen genannt hat, denselben Weg hinunter, die Büchse über der Schulter und die Pfeife im Mund.

Es regnet nicht mehr, Wind ist aufgekommen überm Wald, und hinter dünnen Wolken steht die Sonne schon als eine weiße Scheibe.

Der Jäger ist nachdenklich, denn es ist ihm, als habe er den richtigen Zeitpunkt zum Davongehen versäumt. Die Welt ist klarer ohne Regen, und in einer klaren Welt läßt es sich schwer so ohne weiteres davongehen. Rücksichten und Bedenken kommen, die der Regen verhüllt hatte, und so wird der Jäger also zur Majorin gehen und ihr sagen, daß er nicht länger bleiben könne. Und sie hätten ja auch eine tägliche Kündigungsfrist vereinbart.

Aber er geht nicht über das Feld, an dessen Rand er einen ganzen Tag gesessen hat, sondern er macht einen großen Bogen bis zum Moor, so daß er auf demselben Weg wie am ersten Abend zum Gutshof kommt. Leute sind auf den Feldern, nachdem der Regen aufgehört hat, richten sich auf von ihrer Arbeit und sehen ihm nach. Nun, das ist nicht weiter wunderbar. Wer ein eintöniges Tagwerk hat, sieht hinter jedem Vogel her, und es ist wohl möglich, daß sie sich seit langem den Kopf zerbrechen über ihn. Aber es ist doch besser im Walde, und vielleicht ist es nicht gut gewesen, diesen Gang zu machen in der klaren Luft, in der man weit sehen kann.

Und natürlich steht Jonas am Hoftor und schlägt einen neuen Pfosten mit dem Holzhammer ein. Ein schönes Bild, wie das schwere Gerät in den Händen des Riesen wie ein Spielzeug sich hebt und senkt. Armer Jonas … ein guter Kamerad ist er gewesen, beim Hüten und beim Flötenmachen … und nun sind wir beide wunderlich … aber besser wäre es gewesen, die Majorin wäre dort gestanden. Es ist ein langer Weg von Jonas am Hoftor bis zur Majorin im Hause oder irgendwo auf den Feldern.

»Guten Tag, Jonas«, sagt der Jäger, »das ist nun eine Weile her, Jonas …«

Die schweren Augen dringen tief in ihn hinein, und es schmerzt den Jäger, diese Augen zu sehen. Das ist nun sein einziger Kamerad, der einzige Spiegel aus dem Anfang des Lebens, und der Spiegel ist trübe geworden. Man hätte doch ein bißchen mit ihm am Feuer sitzen müssen, dort, wo das Moor beginnt, und eine Pfeife mit ihm rauchen und ihm sein Unglück aus der Seele reden müssen.

»Ja, das ist wohl eine gute Weile her«, erwidert Jonas und stützt sich auf den Stiel seines Hammers, »aber die Toten haben ja ein langes Leben, und sie sagen ja nun, daß du ein Jäger geworden bist …«

»Es ist mir an meinem Vater genug, Jonas«, sagt der Jäger, und sein Gesicht ist finster geworden. »Du kannst mich ruhig anfassen und sehen, ob ich Fleisch und Blut habe.«

Das wisse er schon, antwortet Jonas, das wisse er schon, und reicht ihm langsam die große Hand. Aber zwischen Leben und Sterben, da gebe es noch eine ganze Menge von Dingen. Und er blickt mit schwermütigen Augen auf die braune Hand des Jägers nieder, die zwischen seinen Fingern liegt. »Die Lebendigen, Michael, siehst du … die Lebendigen sind rot, und die Toten sind weiß. Aber die Braunen, Michael, die wie Erde sind … die Braunen sind das Schlimme, weil sie aufrecht sind und nicht liegen können … eine sehr braune Hand hast du, Michael … aber sie faßt sich gut an. Ich dachte, du würdest mich einladen, ein bißchen, Michael, an deinem Feuer zu sitzen, aber du hast mich nicht gerufen …«

»Komm heute, Jonas«, sagt der Jäger schnell. »Nein, komm morgen, morgen abend, hörst du?«

Und er dreht sich schnell um und geht schnell die Lindenallee zum Hause hinaus, ganz ohne Gedanken, weil er erschrocken ist und erschrocken auf seine Hände blickt, die braun sind, »zwischen Weiß und Rot«.

So ohne Gedanken ist er, daß er nicht einmal lächelt, als Lena in der Diele ist, und nicht merkt, daß sie ihn sehr schnell durch ein paar Zimmer führt, viel zu schnell für einen solchen Besuch, der mittags noch auf einem Dach gesessen hat. Und erst, als er auf der Terrasse steht und plötzlich viele Menschen da sind, merkt er, daß dies wohl eine kleine Rache war für eine unterlassene »große Sünde«.

Aber da ist es zu spät, denn die Majorin steht schon auf und kommt schnell auf ihn zu und reicht ihm schnell die Hand. Es ist ihm, als erröte sie ein bißchen, aber es muß ja auch wohl ein wenig schwierig für sie sein: ein Mann mit einem ausgeblichenen, braunen Soldatenkleid, mit Wickelgamaschen und einer Repetierbüchse in der Hand, und nun hier eine vornehme Teegesellschaft mit Herren in gestreiften Hosen und Damen mit schiefen Kappen auf dem Haar. Der Jäger errötet nicht, sondern sein Gesicht wird finster, aber an der Stelle der Majorin würde er wohl auch erröten.

Da bleibt also nichts übrig, als die Majorin allein anzusehen und ihr ein paar Worte zu sagen und sich möglichst schnell wieder davonzumachen. Aber auch dazu kommt es nicht, denn die Majorin ist eine tapfere Frau und nur erschrocken, weil er gekommen ist, am hellen Tag, über das Feld mit Leuten, bis in ihr Haus. »Dies ist Michael Fahrenholz«, sagt sie also, »der aus Afrika gekommen ist und nun meinen Wald bewacht … rücken Sie etwas zur Seite, Pastor, daß er hier sitzen und eine Tasse Tee haben kann.«

So, also das ist der Pastor. Ist schwer wiederzuerkennen, denn er ist etwas fett geworden, und alle fetten Leute sehen einander ähnlich. Aber so beweglich ist sein Gesicht doch geblieben, daß der Jäger die Unmutsfalten auf seiner Stirn erscheinen sehen kann, ein beleidigtes Erschrecken über die seltsamen Formen der Majorin. Nun, der Jäger hat es nicht gewollt, daß ein Pfarrer aufstehe von seinem Platz neben der Hausfrau und daß er selbst sich dort setze. Das wird nicht gut ausgehen, aber eine Tasse Tee wird er zur Not noch mit Anstand zwischen seinen Händen halten können, und daß es schön und tapfer von der Majorin ist, das fühlt er sehr wohl, nicht nur an den fremden Gesichtern, die ihn anstarren wie einen gefangenen Wolf.

»Das ist ja also in der Tat sehr interessant«, sagt ein Herr mit zwei Narben auf der linken Wange und sieht ihn wie durch ein Fernrohr an. »Fahrenholz, der Totgesagte … haben uns eine Menge Arbeit gemacht, mein Lieber. Ein ziemliches Aktenbündel aus Ihrer Geschichte geworden … tja.«

Dies »mein Lieber« war nun nicht sehr geschickt, denn der Jäger hat eine tiefe Abneigung gegen leutselige Wendungen, besonders, wenn sie sich mit einem bestimmten Lächeln verbinden, und wenn dazwischen noch ein Streichholz zur Zigarette geführt wird. Auch er habe eine Menge Arbeit gehabt, erwidert er also ruhig, damit hier Aktenbündel geschrieben werden könnten.

So, so. Das ist nun eine etwas peinliche Antwort, aber diese verkrachten Soldaten sind wohl immer noch etwas gereizt. Merkwürdiges Braun, das der Mann in seiner Haut hat.

Da habe er wohl viel erlebt da unten in der Wüste, fragt eine der Damen, deren Lippen röter als nötig sind und die aus einem Strohhalm Zitronenwasser trinkt.

Und diese Dame besieht sich der Jäger nun ganz genau, ehe er antwortet, mit einer kalten Aufmerksamkeit, die man gewinnt, wenn man viele Jahre über die Landstraßen zieht, immer zu Fuß, indes gemalte Damen in glänzenden Wagen vorüberfahren und nachlässig in den Staub blicken, der die Landstreicher bedeckt. »Ja, eine ganze Menge«, meint er dann lächelnd.

Verdammt heiß ist der Tee, aber die halbe Tasse ist Gott sei Dank schon leer.

Es sei vielleicht gut, über vergangene Dinge nicht zuviel zu reden, sagt die Majorin und sieht ihre Gäste der Reihe nach an. Nicht alle Leute reisten mit ihren Erlebnissen von Vortrag zu Vortrag. Aber inzwischen hat der Pastor sich leider entschlossen, die bedenkliche Situation zu retten, indem er das Gespräch auf das »Allgemein-Menschliche« schieben wird, auf die unverbrüchlichen Bande, die zwischen Pastor und Konfirmanden bestehen, gleichviel, ob jemand aus der Wüste zurückkehrt oder aus den Urwäldern der Indianer. Und außerdem wird er zeigen, daß er nicht empfindlich ist und gern herunterrückt, wenn es gilt, einem Konfirmanden den Ehrenplatz einzuräumen.

»Ach, Michael«, beginnt er mit amtlicher Wärme, »erinnerst du dich, mein Sohn, als du zu den Füßen des Herrn saßest und ein gutes Kind warst? Nur still, sehr still. Und auch die Sprüche wolltest du nicht gern lernen, die doch dazugehörten, und haben dir doch wohl manchen Trost gegeben in dem finsteren Tal, in dem du wandeln mußtest nach Gottes unerforschlichem Beschluß.« »Schafskopf!« denkt die Majorin, wie sie leider oft zu denken pflegt, wenn die Menschen nicht verstehen, zur rechten Zeit den Mund zu halten. Aber es ist zu spät.

Die Teetasse ist zwar leer, aber das mit den Sprüchen kann der Jäger nicht gut bestehen lassen. Dazu hat er sich doch etwas zu lange umgesehen im »finsteren Tal«. Und so sieht er auch den Pastor mit einer ähnlichen Aufmerksamkeit an und sagt, daß er von den Sprüchen leider nicht viel gehabt habe, sie hätten keine große Wirkung gehabt in den Tälern, in denen die Reitpeitsche oder das Bajonett oder die Handschellen die einzige Wirkung gehabt hätten. »Und dann glaube ich«, fügte er hinzu, »ist es nicht gut, daß der Herr Pastor ›du‹ zu mir sagt, solange die Frau Majorin nicht ›du‹ zu mir sagt, und das hat sie bis jetzt noch nicht getan.«

So, so. Wieder eine peinliche Antwort, so daß alle Leute mit merkwürdigen Gesichtern in ihre Teetassen oder auf die Majorin blicken. Und es ist wohl ziemlich unerhört, daß die Majorin ganz leise lächelt, auch als der Jäger nun aufsteht und seine Büchse wieder in die Hand nimmt. »Ich bin gekommen«, sagt der Jäger, »um der Frau Majorin etwas zu sagen. Aber das ist nun wieder anders gekommen, und vielleicht würde die Frau Majorin heute abend etwas herauskommen, um die gewöhnliche Zeit.«

»Ja«, sagt die Majorin und reicht ihm die Hand, »das will ich gerne tun … auf Wiedersehen, Michael.«

Und nach einer nicht sehr tiefen Verbeugung vor einem unbestimmten Kreis verläßt der Jäger die Terrasse auf demselben Wege, auf dem er gekommen ist, und es ist leider nicht zu übersehen, daß seine braune Uniform auf der Rückseite noch abgeschabter ist und daß seine Wickelgamaschen noch immer die schwärzlichen Spuren des Moorwassers zeigen.

Es ist sehr still auf der Terrasse, als der Jäger gegangen ist. Nur der Pastor wiegt leise seinen schweren Kopf, aber er sagt nichts dazu. Es ist wohl an dem Herrn mit den beiden Narben als einem weltlichen Beamten, das passende Wort zu sprechen, und nach einem vorsichtigen Blick auf seine Armbanduhr legt er denn auch die gepflegten Fingerspitzen zusammen und sagt vorsichtig: »Meine sehr verehrte Baronin, ich fürchte, daß Sie sich da an Ihrem guten Herzen eine nicht unbeträchtliche afrikanische Natter aufgezogen haben, und hätte ich diesen … pp. Fahrenholz früher gesehen, so würde ich auf die Einhaltung bestimmter Formalitäten nicht verzichtet haben.«

Die Majorin ist nun wirklich errötet, aber ihre Augen sehen nicht so aus, als ob es aus Verlegenheit geschehe. »Wie ich über bestimmte Formalitäten denke, lieber Landrat, ist Ihnen, glaube ich, bekannt«, sagt sie ziemlich laut. »Wenn ich ein Pferd verkaufen will und dazu ein Attest vom Amtsvorsteher brauche, dann mag das in Ordnung sein, aber es wird Ihnen schwer werden, mich davon zu überzeugen, daß ein Mann, der lebendig ist, ein Attest braucht, um sich das bescheinigen zu lassen. Und daß ein Mann aus zwanzig Jahren des Leidens und des Todes mit anderen Umgangsformen zurückkommt als ein Referendar aus seinem Examen, werden Sie mir wohl auch zugeben. Und was mein gutes Herz betrifft, so glaube ich, das Recht zu haben, es auch ohne amtliches Attest sprechen zu lassen.«

»Auch das Herz kann irren, verehrte Frau Baronin«, sagt der Pastor bekümmert, »denn es ist ein unwissend, töricht Ding …«

»Und manchmal, lieber Pastor«, erwidert die Majorin, »ist es ein sehr empfindlich Ding. So hat der liebe Gott es anscheinend haben wollen, sonst würde er uns ein anderes gegeben haben.«

»Um die gewöhnliche Zeit, meine Liebe«, sagt nun die Dame mit dem Strohhalm, »war eine etwas zu vertrauliche Formulierung, das mußt du doch zugeben …«

Der Teelöffel zittert ein wenig in der Hand der Majorin, und auch das bleibt nicht unbemerkt. Aber dann lehnt sie sich ruhig zurück, sieht ihre Gäste der Reihe nach an und sagt: »Ich muß nur zugeben, daß auch heute noch wie früher jeder heimatlose Mensch verloren ist, der an eure Tür klopfen würde, ohne Attest und ohne Umgangsformen. Und das tut mir leid, für euch und für die Heimatlosen.«

Darauf beginnt der alte Freiherr, der Gutsnachbar der Majorin, eine ausführliche und etwas verworrene Erzählung von seinem Kutscher, der nach seiner Kriegsgefangenschaft immer links zu fahren und rechts zu überholen versucht habe und daß es sehr viel Mühe gekostet habe, um ihm das abzugewöhnen. Ein ab-so-lu-ter Neurotiker, ein Richtungsneurotiker sozusagen, und dabei ein Kerl wie ein Baum! Nun aber sei er schon lange wieder in Ordnung und habe vier gesunde Kinder.

Eine merkwürdige Geschichte, zu der auch nicht viel zu sagen ist, und da keine zweite folgt, erheben sich die Gäste plötzlich, weil es doch wirklich sehr spät geworden sei. Ein wortreicher Abschied, aber mit veränderter Temperatur, und nur der alte Freiherr dreht sich noch einmal um und nickt der Majorin tröstend zu. »Immer links statt rechts«, sagt er, »aber es kam in Ordnung, und ich glaube, das fünfte Kind ist schon unterwegs.«

Und dann bleibt die Majorin allein.

Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und sieht an der kleinen Uhr mit der Gestalt des Sensenmannes über dem Zifferblatt, daß der Verwalter bald kommen muß, mit dem das morgige Tagewerk zu besprechen ist. Aber sie schiebt diesen Gedanken müde zur Seite und bleibt in ihrem Stuhl sitzen, unbeweglich, die Hände im Schoß gefaltet. Ihre Augen sind auf die beiden Bilder gerichtet, die vor ihr auf der dunklen Platte stehen, das Bild ihres Mannes und das ihres Sohnes. Das eine in der Felduniform, mit dem Ausdruck eines Mannes, der auch vor der photographischen Linse die Richtung einer Regimentsfront zu prüfen scheint, das andere in einer Samtjacke, lässig in der Haltung, hochmütig und leer im Ausdruck.

Es ist sehr merkwürdig, auf diese beiden Gesichter zu blicken, die nächsten ihres Lebens und ihres Blutes, und sich auszudenken, wie fremd und fern ihr eigenes Gesicht zwischen ihnen stehen würde. Und daß es keinen großen Unterschied machen würde, wenn dort etwa das Gesicht des Landrats mit den beiden Narben stände, oder das der Dame mit den zu roten Lippen, oder die lächelnde Maske des Freiherrn mit dem seltsamen Kutscher. Daß das Leben doch merkwürdig und zum Frösteln sei, in dem eine Handvoll Kornähren oder der Blick eines Pferdes wärmer und vertrauter sein könnten als ein halbes Dutzend Gesichter, aus denen doch Blick und Sprache und Lächeln komme, statt des Duftes einer Pflanze oder der Stummheit einer Kreatur.

Und auch dieses vermeidet sie nicht, sich vorzustellen, wie das Bild des Jägers dort auf der dunklen Platte aussehen würde, aber es bleibt im Matten und Verschwommenen, und nur ein warmer Schein geht von ihm aus, sehr verwunderlich, weil es doch das härteste aller Gesichter ist. Und nun muß die Majorin doch den Kopf schütteln und leise seufzen, wenn sie an die Terrasse denkt und an die Kriegserklärung, die dort schweigend ausgesprochen ist. Er hat schon recht, daß man allein leben müsse, um sich in Frieden zu bewahren, und vielleicht würde es besser sein, heute abend nicht mehr zu reiten.

Aber dann bindet sie doch wieder die Zügel um den grauen Zaun, und ihr erster Blick geht zum Dach hinauf, an dem das frische Holz zu erkennen ist. »Lena hat erzählt, daß Sie dort gearbeitet haben«, sagt sie, »und ich sehe nun, daß es wahr ist.«

Ja, es habe durchgeregnet, erwidert der Jäger, und … ja, ob das Mädchen vielleicht noch mehr erzählt habe.

Nein, wieso? Ob da noch mehr zu erzählen gewesen sei?

Ach nein, da sei nur noch ein dummer Scherz gewesen. Ja, und er sei heute zu Frau Majorin gekommen, um ihr zu sagen, daß er fort wolle. Aber nun werde er doch wieder bleiben, da er Jonas zu morgen abend eingeladen habe.

Die Majorin sitzt auf der Bank und hat die Hände wie immer um die Reitpeitsche gelegt. Sie sieht erst nach einer Weile auf und sagt dann leise: »Also um Jonas' willen geschieht es … das ist wohl gut für Jonas …«

Schweigen.

Ob es nötig sei, daß die Frau Majorin das Holz am See verkaufe? Da sei der alte Mann heute früh dagewesen und habe es abgefahren.

»Also um des alten Mannes willen geschieht es«, sagt die Majorin wieder. »Das ist wohl gut für den alten Mann …«

Die Wiederholung der gleichen Worte muß wohl auch dem Jäger auffallen, denn er sieht sie fragend an.

»Es wird kein Holz mehr verkauft werden am See«, sagt die Majorin, »Sie könnten dann im Winter Ihren Herd damit heizen …«

»Im Winter?« wiederholt der Jäger. »O lala …« Und er fährt ein paarmal mit der Hand durch die Luft.

Es ist nicht das erstemal, daß die Majorin diesen Ausdruck hört, aber jetzt zieht sie die Brauen zusammen und blickt vor sich hin in den dunkelnden Wald.

»Die Frau Majorin hat sich täuschen lassen«, sagt der Jäger, »damals, als sie am Moor war. Sie hat gedacht, daß da nun einer ankomme, der zu trösten sei und dem man nur einen Schlüssel zu geben brauchte, damit er sein Tor aufschließe. Die Frau Majorin hat nicht bedacht, daß im Menschenherzen Böses steht wie Unkraut in einem Feld. Und wenn das Unkraut zwanzig Jahre lang nicht gejätet wird, dann ist das Feld verloren. Und die Frau Majorin hat nicht bedacht, daß ein solcher Mensch auf ihrer Terrasse nicht gut aussieht und daß die anderen, die zur Frau Majorin gehören, die Augenbrauen zusammenziehen, wenn sie auf einen solchen Menschen blicken. Daß sie meinen, die Frau Majorin werde sich unsauber machen, wenn sie die Hände auf einen solchen Menschen legt, und daß sie selber unsauber werden könnten, wenn sie zur Frau Majorin kämen. Und nun zieht die Frau Majorin selber die Augenbrauen zusammen, wenn ich ›O lala‹ sage, und sie würde noch anders aussehen, wenn sie wüßte, daß ich gestern abend eine leere Flasche an der Wand zerschlagen habe und daß ich heute mittag zu dem Mädchen gesagt habe, ich würde ihr Gewalt antun. Und auch wenn es ein Scherz war, so sind solche Scherze der Frau Majorin unbekannt. Und deshalb kann es gut sein für Jonas, wenn ich bleibe, und vielleicht auch für den alten Mann, aber für die Frau Majorin ist es nicht gut, denn ihre Hände sind nicht dazu da, um Disteln auszureißen.«

Und nach seiner langen Rede steht der Jäger auf, mit seinem finsteren Gesicht, und stößt ein Stück Holz mit dem Fuß zur Seite und geht bis an den Zaun, wo er stehenbleibt, die Arme auf die Sprossen gelegt und den Blick auf das dunkle Wasser hinuntergerichtet, über dem die hellen Kreise der springenden Fische stehen. Es ist ja nun wohl nicht leicht für die Majorin, eine Antwort auf diese Rede zu finden, auch wenn der Jäger sich darin getäuscht hat, daß zerschlagene Flaschen und Scherze mit Mädchen ihr unbekannt seien. Der Jäger weiß wohl nichts davon, daß der Herr im Holzsarg ein sehr lebensfreudiger Mann war, bevor er unter der französischen Erde das Stillesein lernen mußte. Und er weiß auch nichts davon, daß vor zwanzig Jahren die Mädchen auf dem Gutshof sehr schnell wechselten und gewechselt werden mußten. Auch von dem, was die Bibel das dritte und vierte Glied nennt, weiß der Jäger wohl nichts, denn es ist lange her, daß er eine Bibel gelesen hat, und der Pastor hat es ja außerdem heute verraten, daß Sprüche niemals des Jägers starke Seite gewesen wären. Aber sie selbst weiß eine ganze Reihe von Sprüchen, nicht nur aus dem Konfirmandenunterricht, und daß man solche Sprüche am besten lernt und behält, wenn man zuvor hindurchgegangen ist durch das, was sie bedeuten. Dann weiß man zwar nicht, ob der Spruch im Prediger Salomo steht oder beim Apostel Paulus, aber man weiß, daß er im ersten Jahre der Ehe gestanden hat, beim ersten Erntefest zum Beispiel, oder in der Nacht, als eine Stimme aus dem Gartenhaus im Park geschrien hat und man mit gelähmten Füßen die Treppe zur Terrasse wieder hinaufgestiegen ist. Unbekannt? Ach nein, weniges ist der Majorin unbekannt, aber es ist wohl wahr, daß sie gewünscht hat, es möchte ihr am Jäger unbekannt bleiben. Und darin hat er wohl recht, daß sie sich getäuscht hat oder daß sie doch gewünscht hat, sich täuschen zu können.

Aber die Majorin ist keine Frau, die ihre Irrtümer auf andere Schultern legt. Sie hat so viel bezahlt in ihrem Leben, daß sie sich vor dem Borgen hütet. Und lieber bittet sie um Aufschub und wartet, bis ihre Kraft wieder gewachsen ist. Ihre Knie sind etwas müde, als sie aufsteht, obwohl sie doch nicht lange und nur langsam geritten ist heute. Aber ihre Stimme ist unverändert, dieselbe tiefe und ruhige Stimme wie sonst, als sie neben dem Jäger am Zaun steht und die Hand auf seinen Arm legt und sagt: »Es ging ein Soldat ohne Namen über das Moor und hob die Arme in das Abendrot und wußte nicht, daß ich unter den Kiefern stand und ihm zusah. Was spricht derselbe Soldat nun soviel von dem, was zu wissen mir gut ist oder nicht gut ist? Was hat das mit dem zu tun, daß der Soldat die Arme für sich allein in den Himmel hob? Wenn der liebe Gott ihm schon etwas hineingelegt hat in diese Arme, dann ist es gut, aber ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich ihm noch nichts hineingelegt habe, denn der Soldat wird nicht glauben, daß ein Blockhaus und die Gewehre in meinen Augen die Erfüllung eines Gebetes sind. Und das wird der Soldat Michael mir schon überlassen müssen, mich um die Gebete zu kümmern, die auf meinem Grund und Boden gesprochen werden.«

Er habe sich das Beten abgewöhnt, erwidert der Jäger und blickt von der Hand fort, die still und warm auf seinem Arm liegt. Und ein Mensch, der die Arme hebe, könne dabei sehr weit vom Beten entfernt sein.

Aber nicht ein Mensch, der das mit ansehe, sagt die Majorin. Und dann wünscht sie ihm einen guten Schlaf und geht zu ihrem Pferd.

»Fürchtet die Frau Majorin sich nicht vor mir?« fragt der Jäger, als er ihr in den Sattel hilft.

Sie ordnet zuerst die Zügel und beugt sich dann noch einmal zu ihm herunter. Es ist so dunkel, daß sie nur aus der Nähe den Ausdruck seiner Augen erkennen kann. »Die Frau Majorin ist wie der alte Mann«, erwidert sie langsam. »Sie fürchten sich beide nicht vor den Toten …«

Am nächsten Tage geht der Jäger wohl in den Wald, aber die drei Gewehre hängen sauber geölt an den Holzpflöcken neben der Tür. Statt dessen trägt er eine kleine Säge in der Hand und schneidet Haselstöcke, und immer, wenn er ein Bündel zusammen hat, bindet er einen Strick herum und trägt es zu seinem Haus. Da die Haseln hinter dem See stehen und in jedem Strauch nur ein paar sind, die ihm nach Länge und Stärke richtig erscheinen, ist es eine mühsame Arbeit, und er lernt die vergessene Bewegung wieder, mit der Hand über die Stirn zu fahren. Doch ist sein Gesicht nicht böse oder erschöpft wie damals, sondern nur sehr nachdenklich und manchmal ganz versunken, und es kommt auch vor, daß er auf einem Baumstumpf sitzt und lange vor sich hin in das Moos starrt, durch das die Ameisen laufen, mit Beute beladen oder nur damit beschäftigt, mit ihren Fühlern zu erkunden, was nun ihre nächste Aufgabe sei. Und es ist wohl verständlich, daß jemand viel zu denken hat, der am Abend zuvor wieder zu den Toten gerechnet worden ist. Der sein Blut in seinen Adern fühlt, aber der so tot sein soll, daß nicht einmal eine Frau sich vor ihm zu fürchten brauche.

Und so tut es gut, die Haselstöcke zu schneiden und zu tragen und in Bündeln vor dem grauen Zaun niederzulegen, um den die Majorin die Zügel ihres Pferdes zu binden pflegt und der viele Stellen hat, an denen er sich neigt oder zusammengefallen ist. Er hat noch keine Toten gesehen, der Jäger, die morsche Zäune in Ordnung bringen, und er hat viele Tote gesehen in seinem nicht zu langen Leben. Und er möchte doch wissen, ob er nicht wenigstens ein Gespenst sei, denn zwischen den ganz Lebendigen, wie den Leuten auf der Terrasse, und den ganz Toten, wie den Leuten im Holzsarg, gebe es doch immerhin noch Leute, vor denen man sich fürchten könne. Leute, die Hunger haben nach bestimmten Dingen. Nach einer weißen Flasche zum Beispiel, mit einer klaren und wunderbar scharfen Flüssigkeit. Oder nach Frauen zum Beispiel. Und es brauchen nicht gerade solche zu sein, die eine rote Kette um den Hals tragen. Und wenn man einem Manne das Leben abspreche, der bereit gewesen sei, sich wieder davonzumachen, so sei es leicht möglich, daß gerade dadurch das Leben in diesem Manne auf eine wunderbare Weise sich erhebe, auf eine wilde und gefährliche Weise, wie bei einem Scheintoten, auf den man den Sargdeckel legen wolle.

Und indes der Jäger dies alles bedenkt, auf eine unklare und unruhige Weise bedenkt, schlägt er Nagel auf Nagel in das frische Holz, aus dem der Saft des neuen Jahres noch quillt, und da auch einige der Pfähle zu erneuern sind, so muß er noch einmal in den Wald und muß den Spaten holen und den Holzhammer, und am Abend sind seine Arme lahm vor Müdigkeit und seine Gedanken weder bei den Toten noch bei den Lebenden, sondern zunächst bei den Zaunpfählen, die noch zu schneiden sind, und wie man am besten einen Holzriegel anbringe, der nur von denen zu öffnen sei, die mit seinem Geheimnis Bescheid wüßten.

Das Mittagessen hat auf seiner Bank gestanden, als er wieder einmal aus dem Walde gekommen ist, und er hat das Blitzen des Rades nur noch aus der Ferne gesehen, und das Mädchen, das den Kopf nicht zurückgewendet hat. Er würde ganz gern gewußt haben, ob die Korallenkette noch an der alten Stelle gewesen sei oder ob das Mädchen namens Lena aufgegeben habe, die Toten zu begehren oder sich vor ihnen zu fürchten.

Es ist gut, daß Jonas um die Dämmerung kommt, denn Jonas hört es rufen vom Moor, und seine Augen sehen nicht aus, als habe er alle Angst überwunden. Der Jäger hat die alten Zaunsprossen zusammengetragen und vor der Hütte ein kleines Feuer gemacht, unter einer der alten Fichten. So sieht es aus wie damals, als sie die Schafe hüteten und ein Feuer anzündeten am Moor, um die Angst vor dem Wolf zu vertreiben und Kartoffeln zu rösten, die sie aus den Feldern gegraben hatten, oder die Krebse zu kochen, die sie im schwarzen Moorfluß fingen.

Viele Feuer hat der Jäger entzündet in den vielen Jahren und an ihnen gelegen, unter den Bäumen, die von unten sich rötlich beglänzten. Feuer unter Sternen und Feuer im Regen. Aber niemals hat er jemanden erwartet an diesen Feuern. Niemanden als den Schlaf. Und einmal, in schwerem Fieber, den Tod. Vorbei ist die Zeit, in der ein Feuer den Jäger traurig machen konnte. Es macht ihn nachdenklich und still und sehr einsam. Aber nicht traurig. Sehr lange kann man in die Flamme sehen, wie sie steigt und lodert und sinkt. Wie die Funken aufsteigen, hoch in die Zweige hinein, und das grüne Dach sich erhellt und verdunkelt. Wie die Farbe wechselt zwischen Gelb und Rot und Blau und der leise Wind seine Richtung ändert. Wie der Rauch der Zapfen anders riecht als der der Zweige. Und wie schön es ist, wenn die Flamme stirbt, sinkend zu einem tröstlichen roten Schein, der in den halb geschlossenen Augen bleibt, der alle Bilder des Tages noch einmal beglänzt und dann die der Träume. Und wie der erste Tau auf die Stirn fällt, wie die Sterne wieder groß über den Bäumen stehen und langsam und lautlos der Schlaf auf die Augen sinkt.

Und nun wird Jonas kommen. Ein stiller Mann, der dem Pferd der Majorin den Sattel auflegt und am Hoftor steht, bis sie heimkommt. Tabak ist für ihn da und die weiße Flasche, die so gut ist für Erinnerungen. Es kann sein, daß er nicht trinkt, weil seine Erinnerungen anders sind als die des Jägers. Dann wird er zusehen, und das hat er immer gut gekonnt, mit seinen schweren Augen, in denen alles schweigend versank.

Wir werden also versuchen, ihm zu helfen. Sehr schnell zu helfen, damit kein Grund zum Dableiben mehr ist. Wir werden ihm erzählen, daß die Toten ganz tot sind und ruhig schlafen, gleichviel, ob sie aufrecht stehen oder waagerecht liegen, die Füße schön nebeneinander. Ja, daß die Toten auch ohne Füße schlafen, denn wir haben viele gesehen, die in der Mitte ihres Leibes aufhörten, und auch andere haben wir gesehen, die nicht mehr zu sehen, sondern nur zu denken waren. Und auch diese sind nicht wiedergekommen, haben nicht gerufen, haben ruhig geschlafen. Alles dies werden wir Jonas erzählen, denn wir haben viel erfahren, indes Jonas am Hoftor gestanden und auf die Majorin gewartet hat. Und Jonas hat sich immer untergeordnet, hat immer gehorcht und geglaubt. Er wird kein Spielverderber sein, wenn er weiß, daß der Jäger fort muß.

Aber es ist schwer zu wissen, was Jonas ist und denkt. Er sitzt am Feuer wie vor dreißig Jahren. Ein Riese, der die Zeit seines Geschlechtes verschlafen hat und nun verloren dasitzt in einer fremden Welt, die Hände um die Knie geschlungen, und ins Feuer starrt. Vielleicht sind die anderen seines Geschlechts fortgezogen oder gestorben, und sie haben ihn vergessen. Und er muß nun zusehen, wie er mit der Welt fertig wird, in der soviel gelacht und gesprochen wird, indes er beides nicht kann, so, wie man eine fremde Sprache nicht kann.

Nein, er trinkt nicht. Die Kosaken haben getrunken, und deshalb haben sie nicht gehört, wie es gerufen hat vom Moor. Wer trinkt, hört nur sein Herz klopfen, immer lauter, je mehr er trinkt, und auch Michael sollte nicht trinken. Die Majorin liebt nicht, daß ein fremder Geruch aus einem bekannten Munde kommt. Aber die Pfeife stopft er gern. Noch immer kann er eine Kohle mit bloßer Hand aus dem Feuer holen und in seine Pfeife legen, und schon vor dreißig Jahren hat der Jäger vergeblich versucht, es ihm nachzumachen.

Aber indes der Jäger auf die Kohle blickt, wie sie immer tiefer im aufglühenden Tabak versinkt, sind seine Gedanken bei der Majorin haften geblieben und bei dem, was Jonas von dem fremden Geruch gesagt hat. Wahrscheinlich sei es so, sagt er nach einer Weile, daß die Frau Majorin einen vornehmen Liebsten habe, der den Mund mit Kölnischem Wasser spüle, und deshalb liebe sie nicht, wenn jemand nach Branntwein rieche. Auch mache der Branntwein die Augen scharf, und man sehe dann, was zu sehen nicht erlaubt sei, ein Fenster etwa, das sich öffne in der Nacht, oder ein rotes Pferdehaar am Zaumzeug des Rappen oder etwas anderes, aus dem man lesen könne, daß eine Frau das Ihrige brauche, auch wenn sie vornehm sei und eine gestickte Krone im Taschentuch habe.

Darauf dreht Jonas den Kopf zur Seite und sieht den Jäger an, und dann nimmt er die Flasche, die zwischen ihnen steht, und schlägt sie an die nächste Fichtenwurzel. Und dann sammelt er die Scherben sorgfältig mit seinen großen Händen zusammen und wirft sie ins Feuer.

»Du mußt nicht böse sein, Michael«, sagt er, »aber es ist wohl nicht gut, was in dieser Flasche ist.«

Der Jäger ist nicht böse. Er ist nur sehr erstaunt, wie Jonas mit ihm verfährt, und außerdem ist er auf eine wunderbare Weise glücklich. »Und wie war das mit dem Holzsarg aus Frankreich?« fragt er so nebenbei nach einer Weile. »Das war wohl ein großes Unglück, nicht?«

»Wir behielten unsere Mädchen länger auf dem Hof«, erwidert Jonas, »und ich glaube nicht, daß das ein Unglück war.«

»So … ja … und da ist nun noch ein Sohn, nicht wahr?«

Ja, ein Sohn sei auch da.

Ein Glück für eine Frau, die allein sei und fünftausend Morgen Acker und Wald habe, nicht wahr?

Ja, manchmal sei ein Sohn ein Glück und manchmal auch nicht. Da müsse man vielleicht den alten Mann fragen, der drei Söhne gehabt habe.

Der Jäger stößt mit einem Ast in das sinkende Feuer und scharrt die Glut zusammen. Nein, so geht das wohl nicht mit Jonas. Es ist nicht mehr so einfach wie früher, und es ist nun wohl langsam Zeit, von den Toten zu erzählen, die der Jäger gesehen hat.

Aber bevor er beginnen kann, kommt ein Ruf durch den Wald, vom Moor herüber, das hinter den dunklen Bäumen liegt. Es ist wohl kein Menschenruf, aber der Jäger kennt auch kein Tier, das so rufen könnte. Und so ist es etwas, was zwischen beiden ist, etwas Dumpfes und Gestaltloses, und das ist nicht gut an einem kleinen Feuer, an dem ein schwerer Mann die Hände an die Augen hebt und leise vor sich hinstöhnt. Und es ist auch nicht gut, daß der Ruf wandert, nicht weit, aber doch so, daß er nun ein bißchen näher und nun wieder ferner ist. Ein lebendiger Ruf, aber wie gefesselt an einen kleinen Kreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

»Eine Eule ist es, Jonas«, sagt der Jäger. Denn nur die Eulen können weinen wie kleine Kinder, die man verloren hat im Wald und die nun in einem kleinen Kreise herumirren. Ein klagendes und verstörtes Weinen, das fortgeht und wiederkommt. Einmal ist es ganz nahe, daß der Jäger die Hand auf die Erde stützt, um aufzustehen, und das nächste Mal ist es weit hinter den Schonungen. Aber es bricht kein Zweig, und unter zwei Kinderfüßen würden viele Zweige brechen, weil der Wald dunkel ist und niemand die trockenen Äste aufsammelt in diesem Wald. Ganz still ist es, wenn das Weinen kommt und geht, nur über der Erde ist ein leises Wehen in den Wipfeln, ohne Wind, wie eine stille Dünung des Waldes, deren Ursache man nicht kennt.

»Eine Eule ist es, Jonas«, wiederholt der Jäger. »In der Provence gab es solche, im südlichen Frankreich, und sie weinten um das Lager herum, so daß wir nicht schlafen konnten. Die Posten schossen manchmal darauf, aber der Kommandant verbot es, weil es gut wäre für die deutschen Schweine, ihre Kinder weinen zu hören in der Nacht.«

Aber Jonas schüttelt den Kopf. »Er wandert«, sagt er leise. »Er muß stehen und möchte liegen. Deshalb wandert er. Hast du einen Toten gesehen, der aufrecht stand?«

Der Jäger hat nicht nur das gesehen, sondern er hat Tote gesehen, die durch die Luft flogen und mit ausgebreiteten Armen zur Erde kehrten, den Kopf voran, und so im Drahtverhau hängenblieben. Und er weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Aber nun kann er dieses alles plötzlich nicht mehr erzählen, weil es nutzlos und verkehrt sein würde. Man kann Jonas nicht damit trösten, daß man ihm von Toten erzählt, die auf dem Kopf standen. Man kann ihn nur damit trösten, daß man dies Weinen still macht und in seine Hand legt, damit er es begraben kann, waagerecht, in geweihter Erde.

»Ich werde ihn finden«, sagt er deshalb zu Jonas. »Wer schon einmal tot war, weiß, welche Wege sie gehen, und weiß, wie man zu ihnen sprechen muß. Geh nun heim und sage der Majorin, daß ich bleibe, bis ich ihn gefunden habe.«

Das Weinen ist verstummt, und Jonas nimmt die Hände von den Augen. »Man muß reinen Herzens sein«, sagt er, »um zu finden. Ganz reinen Herzens. Und früher hat es keinen Sinn zu suchen.«

Und dann wünscht er dem Jäger eine gute Nacht, bedankt sich für die Einladung und geht davon.

Das Feuer erlischt, und der Jäger sieht zu, wie die Asche sich wie ein weißer Hauch über die Glut legt. Es ist dieselbe Weiße wie bei toten Augen, und er muß an alle die Sterbenden denken, die er gesehen hat. Es ist seltsam, wie lange die Toten leben, während doch die meisten Gesichter schon versunken sind, die er auf der Landstraße getroffen hat. Nur die nächsten sind noch da, die Majorin zum Beispiel und Jonas, aber schon der alte Mann ist in eine schwankende Dämmerung zurückgetreten, oder der Pfarrer, oder das Mädchen mit der Korallenkette.

Und dabei hat er nicht viel getrunken, nicht einmal eine halbe Flasche, und seine Hand ist ganz ruhig, die die Pfeife hält. Reinen Herzens … so, so. Ein frommes Kind ist Jonas gewesen, ein Meister aller Sprüche. Langsamen Geistes, aber was er besaß, hielt er fest. Nein, es ist nicht Sache des reinen Herzens, Eulen zu finden und zu schießen, sondern eine Sache der leisen Füße und der ruhigen Hand und der unbestechlichen Augen. Und wir werden die weinende Eule finden und schießen und begraben, und dann wird das Kind nicht mehr wandern, sondern still liegen, und nur der Jäger wird wandern, dorthin, wo man ihn wieder fürchten wird, der einsame Bauer auf einer Bergwiese zum Beispiel, oder die Bäuerin am Herd, deren Leute alle auf den Feldern sind, oder die Magd, die Gras geschnitten hat auf einer Waldwiese. Die ohne ein Wort erkennen werden, daß da kein Toter steht, sondern ein lebendiger Mensch, dem man viel genommen hat und der nun das Genommene wiederhaben will. Speise und Trank und ein freundliches Wort und die Liebe, die er braucht, um still an seinem einsamen Feuer liegen zu können, so allein, daß der Tau auf ihn fällt und die Spinnen ihre Netze weben zwischen den Fingern seiner Hand.

Nicht fürchten will sich die Frau Majorin? Soso. Aber vielleicht wird eine Stunde kommen, in der die Frau Majorin sich sehr fürchten wird. Vor dem Wolf, den sie in eine Hütte gesperrt hat. Weil auch für zahme Wölfe eine Zeit kommt, in der es besser ist, ihnen nicht zu begegnen.

Aber es ist doch wohl so, daß man keine Angst vor dem Jäger zu haben braucht. Daß er finstere Gedanken hat, aber sie schnell wieder vergißt. Daß sie das Gleichgewicht in ihm zerstört haben, dort unten in der Wüste. Das Gleichgewicht der Guten und der Bösen. Daß seine Wurzeln locker sind und er nun nicht weiß, ob er stehen oder fallen soll. Denn auf seinem Lager im Dunkel des Raumes und der Decke, die er über sein Gesicht zieht, ist dieses Gesicht ganz verwandelt. Ein Gesicht voller heimlicher Schmerzen und gefüllt mit einer schrecklichen Einsamkeit. Er weiß, daß die Tür zu seinem Hause offensteht wie die Tür zu einem Toten, dem man nichts entwenden kann, und durch die Falten der Decke hindurch hört er das leise Rauschen der Wipfel und die Stimme des Tieres, die noch immer im Dunkeln klagt. Wie gut das Feuer war und wie gut, daß Jonas am Feuer saß. Niemand weiß, wie lang die Nächte ohne Feuer und Menschen sind und wie es doch unmöglich ist, zu einem Feuer zu gehen und zu sagen: »Laßt mich sitzen hier für diese Nacht!« Niemand weiß von denen, die nicht tot und nicht lebendig sind. Auch Jonas nicht, denn er leugnet den Tod. Auch der alte Mann nicht, denn er leugnet das Leben.

Und der Jäger zieht einen grauen Handschuh im Dunklen unter seinem Lager vor. Einen Handschuh aus weichem Leder, der lang und schmal ist, viel zu schmal für seine eigene Hand. Und drückt sein Gesicht in ihn hinein, so daß er den schwachen Geruch noch spüren kann, und schläft so ein wie ein Kind, das mit einem formlosen Spielzeug schlafen geht. Und weder seine Gedanken noch seine Träume sind böse, und nur wenn ein Zapfen aus den Fichten auf das Moos fällt oder ein Zweig unter dem Tritt des Wildes bricht, läuft eine Bewegung über seine Stirn oder durch seine Hände, aber es ist nur der Widerhall der Nächte, in denen es gut war, nicht zu schlafen, und wenn der Laut verstummt, erstirbt auch die Bewegung.

So geht nun also der Jäger auf die Eulenjagd oder auch auf die Totenjagd, wie er es nennt. Es ist nicht so leicht, wie er sich vielleicht gedacht hat. Der Kuckuck ist angekommen, die wilden Birnbäume blühen im Wald, und die Luft ist so süß und schwer, daß der Jäger Mühe hat, seine Gedanken beisammenzuhalten. Auch ist seine Lebensweise anders geworden. Er will nicht mehr vom Morgen bis zum Abend durch den Wald laufen. Der Wald ist erfüllt von Vogelstimmen, von Gerüchen und Bildern. Der Wald ist gefährlich für jemanden, der nichts zu tun hat, als eine Büchse über der Schulter zu tragen. Er stürzt sich hinein in die offenen Augen, in das horchende Blut, wie in einen Baum, den er erwecken will. Er hat keine Achtung und Scheu vor einem Menschen, der allein sein will, den dies alles nichts angeht.

Und deshalb geht der Jäger nicht gern von seinem Hause fort. Das Haus erwacht nicht wie der Wald. Es ist tot und still. Die Stämme, aus denen es zusammengefügt ist, schlagen nicht aus, kein Gras wächst aus den Fugen der Dielen, keine Vögel nisten unter dem tiefen Dach. In dem wilden und gärenden Leben des Waldes ist das Haus das Unbewegte und Verläßliche.

Und nachdem der Zaun fertig geworden ist, bleibt noch vieles zu tun. Da sind Äste zu schneiden, und welkes Laub ist zu harken. Da ist der Riegel zu machen und ein Fensterrahmen zu erneuern. Da sind Netze zu flicken, das Boot ist zu richten, und am Abend kann man Fische im Feuer rösten, weil eine Speise auf die Dauer nicht gut ist, die man fertig bekommt und auf dem Tisch hat wie in einem Gasthaus.

Aber wenn der Mond über den See steigt, ist es doch Zeit, die Doppelflinte zu nehmen und das Nachtglas und auf die Totenjagd zu gehen. Da sind ein paar Bruchwiesen vor dem Moor, wo ein Toter gut umgehen könnte. Wo die Porstbüsche stehen und die Faulbäume, die Nachtschatten und der Fingerhut. Wo die Unken rufen und die alten Bäume mit Flechten behangen sind. Wo es kühl ist wie in einem Gewölbe und nach Moder riecht wie in einer Gruft.

Dort muß man nun sitzen und warten, bis das Weinen zu hören ist im dunklen Grund. Es vergehen Nächte, in denen es schweigt, und Nächte, in denen es aus weiter Ferne herüberkommt, hinter dem Moor, aus fremden Wäldern. Aber immer kehrt es zurück und wandert zwischen den Brüchen umher, manchmal über die Wipfel und manchmal über das feuchte Gras. Ein Kinderweinen, verloren im schwülen und finsteren Wald, ohne Gesetz in seiner Wanderung und lautlos im Wechsel seines Ortes.

Und obwohl dieses Lautlose am unheimlichsten ist, erfüllt es doch den Jäger mit der Gewißheit, daß er nicht irrt. Daß es eine Eule ist, die den leisesten Flug aller Vögel hat. Und nachdem er einmal einen gleitenden Schatten gesehen hat, zwischen zwei Eichenwipfeln vor dem steigenden Mond, abwärtsfallend ins Dunkle hinein, ist er gewiß, daß sie den Toten begraben werden und daß Jonas in Frieden schlafen wird, indes er selbst sich aufmachen wird aus diesem schwülen Wald, in die Freiheit der Straßen, wo jeden Morgen ein neuer Staub auf die alten Schuhe fällt. Aber ist es auch wirklich gewiß, daß er sich aufmachen wird? Ist es nicht auf eine gefährliche Weise schön, das Dach des Hauses zwischen den Stämmen auftauchen zu sehen, die Stille des Raumes lauschend zu vernehmen, die Decke über das Gesicht zu ziehen und in ihrem Schutz das Formlose und Graue an das Gesicht zu heben wie ein Kind mit seinem Spielzeug? Der Jäger kann nicht leugnen, daß es schön ist, und wiewohl er verächtlich zu lächeln versucht über seine Wandlung, bleibt es dabei, und mitunter ist er versucht, an seinem abendlichen Feuer die Stirn in das Gras zu legen und bitterlich zu weinen, vor Zorn, oder vor Scham, oder nur vor der grenzenlosen Schwäche, die seinen harten Körper vergiften will in diesen Nächten des Wetterleuchtens, der betäubenden Düfte und der aufreibenden, sinnlosen Totenjagd. Und weder die Majorin kommt noch Jonas. Die Majorin ist einmal dagewesen, zu Fuß, weil sie ihr Pferd auf dem Hofe des alten Mannes gelassen hat. Es ist um die Abendzeit gewesen, und kurz vorher hat der Jäger am anderen Rand des Waldes einen Hühnerhabicht geschossen, dessen Schrei seinen Ohren mißfallen hat. Die Majorin ist leise durch die Zaunpforte gekommen und leise in das Haus getreten. Hier hat sie sich umgesehen und dann eine Weile neben dem kalten Herd gesessen, die Hände im Schoß gefaltet und so, als hätte sie einen weiten Weg hinter ihren Füßen. Es ist nicht viel in dem Raum zu sehen gewesen. Schmucklose Dielen und Wände. Zwei Gewehre neben der Tür. Patronen in einem offenen Holzkasten. Ein Netz mit einer Holznadel in den zerrissenen Maschen. Eine Angelrute und ein Rucksack mit zerrissenen Bändern. Und das Lager mit seiner grauen Decke.

Und obwohl das Lager ordentlich gemacht war, hat die Majorin doch sehen können, daß es kein weiches Lager war und daß die Laubstreu lange nicht aufgeschüttelt worden ist. Und sie hat die Decke heruntergezogen und das trockene Laub mit ihren Händen aufgerührt und die Falten aus der Leinwand gestrichen, in die das Laub gestopft war. Und da die eine der Falten nicht glatt geworden ist, hat sie mit der Hand heruntergegriffen und etwas Weiches herausgezogen und einen Reithandschuh in den Händen gehalten.

Sie ist so sitzen geblieben auf dem Lager, den Handschuh im Schoß, die Stirn gesenkt und so müde, daß sie die Füße nicht hat bewegen können, auch wenn der Jäger zur Tür hereingekommen wäre. Sie hat wohl nichts gedacht, weder in Empörung noch in Furcht, noch in Scham. Alles dieses ist tot gewesen, begraben, schon lange vor dem Holzsarg, und jede flüchtige Auferstehung ist zugedeckt worden, schnell und heimlich. Andere haben ohne Mann gelebt und ohne Kinder. Die Majorin hat eben ohne Liebe gelebt. Sie hat größer sein müssen als die anderen, weil Größeres auf ihre Schultern gelegt worden ist. Und man hätte nicht zu Jonas in die Küche treten und die Hand auf seine Schulter legen können, wenn man verwirrte Gedanken gehabt hätte. Oder einen erwachsenen Sohn ansehen, wenn ein Hofmädchen leise vor der Türe weinte.

Sehr stolz war die Majorin gewesen, so stolz, daß weder Wort noch Werbung sich an sie gewagt hatte. Und sie hatte nur ihre schmale Gestalt im Sattel aufzurichten brauchen, so war alles Unziemliche vor ihr verstummt, der Scherz der Knechte wie das zu laute Gelächter der Mägde. Und wenn ein Mädchen vom Hofe gegangen war, das Kopftuch über die verweinten Augen gezogen, so war der Gruß der Leute noch tiefer gewesen, wenn die Majorin durch die Ställe gegangen kam, mit blassem Gesicht, aber die Augen vor niemandem niedergeschlagen. Es wurde ihr keine fremde Sünde zugerechnet, und eine eigene war noch nicht erfunden worden an ihr in der Meinung des Pastors oder der Welt.

Und nun hat sie lange auf dem Lager des Jägers gesessen und da zu begreifen versucht, was aus dem zerdrückten grauen Symbol zwischen ihren Händen sie angesehen hat. Es hat nicht viel Mühe gemacht, es zu begreifen, und auch für die Majorin liegt keine Todsünde in einem entwendeten Handschuh. Und da auch das Kommende vielleicht nicht so schwer zu entscheiden gewesen ist, so ist es wahrscheinlich, daß die Gedanken der Majorin in die Vergangenheit gegangen sind, zurück bis zu der Stunde, als der Jäger auf dem Moor die Arme gehoben hat. Und in dieser Vergangenheit muß die Ursache dafür gelegen haben, daß die Majorin errötet, zart zuerst und kaum merklich in der Dämmerung, in der sie gesessen hat, und dann zunehmend bis unter ihr Haar, das sich hell aus der braunen Stirn hebt.

Sie hat den Handschuh an seine alte Stelle gelegt und die Decken sorgsam darübergezogen. Aber bevor sie den Raum wieder verlassen hat, ist ihr Blick auf etwas Glänzendem haften geblieben, das auf dem dunklen Lehm des Herdes gelegen hat. Und sie hat die Spiegelscherbe aufgenommen, ist zum Fenster getreten und hat lange in das blinde Glas geblickt. Und dann ist sie leise aus dem Haus gegangen, und auf dem ganzen Weg bis zum Haus des alten Mannes und von dort bis zu ihrem Hause haben ihre Augen denselben Ausdruck behalten wie vor dem Spiegel des Jägers: einen scheuen, leise erschreckten und fast demütigen Ausdruck. Und dann ist die Majorin nicht mehr wiedergekommen.

Der Jäger aber hat ein paar Tage später eine seltsame Entdeckung gemacht. Er kommt müde und ohne Erfolg von der Jagd nach dem Totenvogel heim. Ein dunkles Wetter steht hinter dem See, die Frösche lärmen, und er findet keinen Schlaf. Er liegt auf seinem Lager mit offenen Augen und hört den Mücken zu, die unter der Decke summen. Er wird also noch eine Pfeife rauchen, und als er das Streichholz anzündet und der helle Schein über die graue Decke leuchtet, schimmert an seiner rechten Hand etwas Glänzendes. Bevor er danach greifen kann, erlischt die Flamme, er zündet ein zweites Streichholz an. Und dann hält er das Glänzende zwischen den Fingern. Einen Augenblick bleibt er noch im Dunklen liegen. Und dann steht er auf und entzündet vorsichtig, mit der linken Hand, die kleine Kerze auf dem Holztisch, hebt die rechte Hand an das Licht und starrt nun auf das blonde Haar, das er zwischen den Fingern hält.

Für einen Jäger ist nichts ohne Wichtigkeit, weder eine Fährte, die über den Weg zieht, noch ein Zweig, der frisch geknickt ist, noch ein blondes Haar auf einem Lager, das er allein bewohnt. Und im allgemeinen ist ein Jäger beruhigt, wenn er die Ursache dieser Dinge entdeckt hat. Der Wald ist nur so lange ein ruhiges und zuverlässiges Haus, als das Gesetz von Ursache und Wirkung in ihm erkennbar ist. Und er wird erst ein bedrohlicher Aufenthalt, wenn dieses Gesetz nicht zu finden ist, wenn das Gesetzlose in der Welt der Bäume zu herrschen scheint.

Auch dieses blonde Haar auf seinem Lager ist der letzte Punkt einer langen Reihe, aber es ist schwer für den Jäger, diese Reihe zurückzugehen bis zum Anfang, ohne sich zu täuschen. Da sind viele Wege möglich, und jeder kann der richtige sein. Aber unter allen gleichgültig richtigen kann es einen einzigen betäubend richtigen geben, und es ist sehr schwer zu wissen, ob es erlaubt ist, gerade diesen Weg zu gehen. Und so sitzt der Jäger zuerst da, beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Haar zwischen beiden Händen, und auf dieser schmalen, zerbrechlichen Brücke wandern seine Gedanken. Vorsichtig zuerst und sehr behutsam und dann, als die Brücke hält, immer schneller und kühner, über immer tiefere Abgründe, mit geschlossenen Augen, aber ohne Fehltritt, wie ein Schlafwandler.

Bis der Totenvogel ruft. Da erwacht der Jäger, und im gleichen Augenblick überfällt ihn eine grenzenlose Niedergeschlagenheit. Die Niedergeschlagenheit eines Berauschten, dessen Flügel versagen und der abstürzt zur schalen Wirklichkeit seines Daseins. Zu einem feuchten Holztisch, einer geleerten Flasche, einem zerbrochenen Glas. Und so stürzt der Jäger ab, und vor ihm sind seine beiden braunen Hände, die so vieles angefaßt haben in der Welt und die nun ein Frauenhaar halten, und dahinter ist die Kerze mit ihrem unbewegten Licht, und dahinter ist der Wald, aus dem der Totenvogel ruft. Und langsam läßt der Jäger seine Hände sinken, bis die Kerze zwischen ihnen brennt und mit einem leisen Knistern die Brücke zwischen seinen Händen zerstört. Die Majorin also kommt nicht. Sie läßt nur durch Jonas fragen, ob der Jäger etwas brauche, aber der Jäger antwortet nur mit einem Fluch in einer fremden Sprache, den Jonas nicht versteht. Der Totenvogel weint aus den Brüchen vor dem Moor, und Jonas geht langsam zum Hof zurück, den Rücken gebeugt und den Kopf voll schwerer und wirrer Gedanken. Michael hat aufgehört, ein guter Kamerad zu sein, und es scheint, daß der Tote seine Seele vergifte.

Vielleicht würde der Jäger lächeln über dieses Wort, hochmütig und kalt, wie es seine Art ist. Aber er würde zugeben müssen, daß etwas Wahres daran sei, wenn auch eine übertriebene Wahrheit. Denn es ist richtig, daß der Jäger aufgegeben hat zu warten, bis der Tote ihm gleichsam vor die Füße falle. Er hat es aufgegeben, die halben Nächte auf einem Baumstumpf zu sitzen und zu warten, bis es der Eule einfallen könnte, auf dem trockenen Eichenwipfel über ihm sich niederzulassen. Er hat begonnen, dem Toten nachzugehen, anstatt ihn zu erwarten.

Und so sind die Nächte nun so, daß der Jäger selbst wie ein Verwunschener durch den Wald irrt. Beim ersten Klageruf des Vogels steht er von seinem Baumstumpf auf und geht dem Weinen nach. Es ist dicht über der Erde und so nah, daß nur der nächste Kiefernhorst zu umkreisen ist. Der Boden ist weich, das Moos gibt nach, und der verstohlene Laut verdrängten Wassers ist so leise, daß kaum das Ohr des Jägers ihn vernimmt. Der Abendhimmel ist noch rötlich-weiß, und der Saum der Wipfel ist so scharf wie der Saum eines Gebirges. Es ist so still, daß die geringste Bewegung eines Espenblattes das Blut des Jägers verstört und der Flug des Maikäfers hinter ihm wie der Donner eines Motors über den Wald bricht.

Der Jäger steht still und wartet. Der auf die Toten wartet, muß Zeit haben, denn die Zeit ist aufgehoben für die Toten. Es rieselt im Wald, von Nadeln, von Tropfen, von zerschrotenem Laub unter dem lautlosen Beutegang der Raupen. Die Brachvögel rufen wieder hoch über dem Moor, und ein ferner Wagen wirft den Gang seiner trockenen Räder hallend in die Echogründe des Waldes.

Der Totenvogel aber schweigt, und erst als der Jäger das Glas an die Augen hebt, weil er auf einem Eichenast etwas Dunkles sieht, weint es wieder hinter ihm auf, weit hinter dem Erlenwald, als sei es nie woanders gewesen. Und der Jäger kehrt um, mit einem Fluch zwischen den trockenen Lippen, windet sich durch Porstbüsche, durch Erlen und Schilf, sieht das Wollkraut über nassen Wiesen fahl aus dem Dunkel leuchten, sieht den roten Mond aus den Espenwipfeln steigen und die Blätter lautlos vor der hellen Scheibe zittern, hört das Weinen immer näher, bald zur Rechten, bald zur Linken, wie ein Kind, das von Fenster zu Fenster läuft in einem verschlossenen und dunklen Hause, steht still, so still wie die Birke an seiner Schulter, das Gewehr unter der Achsel, den Atem zurückgepreßt, lauscht und hört nichts als den dumpfen und harten und schrecklich lauten Schlag seines Herzens, der allem Schweigenden anzeigen wird, daß ein Mensch eingebrochen ist in eine Welt, die ihm nicht zugehört. Daß ein Dieb da ist, mit einer Waffe in den Händen, lautlos durch die Türen gekommen, der nun auf den Atem der Schlafenden lauscht.

Alles still. Der Mond steigt aus dem Espenbaum. Die Wipfel unter ihm brennen auf, die Wiesenflächen, auf denen die Halme der Gräser verzaubert stehen, die Wasserblänken, auf deren Grund eine Lampe steht, die Rinde der Birke, an der eine Spinne ihren glänzenden Faden zieht.

Alles still. Totenstill. Der Jäger selbst so regungslos, daß eine Ringelnatter über seinen Fuß gleitet und er hört, wie der Wald des Grases sich raschelnd hinter ihr schließt.

Und dann ist das Weinen tief im Wald, hinter dem roten Mond, weitergegangen ohne Spur, und der Jäger geht heim, Schweiß der Erschöpfung auf seiner Stirn, mit einer dumpfen Qual in seinem Blut, dem Anfang, dem ganz leisen Anfang einer Angst, die sinnlos ist, und dem müden Wunsch, unter seiner Decke zu liegen, fernab von allen Toten und Lebendigen, und einen leisen Duft einzuatmen nach den schwülen und verruchten Düften des feuchten und lautlosen Waldes, über dem der rote Mond brennt und in dessen Schatten ein Toter nach einem trockenen Grabe weint.

Es ist nicht gut, daß die Majorin auf ihrem Hof bleibt und selten über die Felder reitet. Die Frau Majorin sei krank, heißt es auf dem Hof, und es muß wohl richtig sein, denn niemand kann sich aus früherer Zeit erinnern, die Majorin nachmittags im Park gesehen zu haben, auf einem Liegestuhl, ein Buch in den Händen, in dem sie nicht liest. Der Pastor ist noch niemals in der Halle umgekehrt, mit dem Bescheid, daß die Frau Majorin nicht wohl sei und keine Besuche empfange. Der Verwalter ist noch niemals aus ihrem Arbeitszimmer gegangen ohne Anweisungen für den nächsten Tag, sondern mit dem Bescheid, er solle es machen, wie es ihm am richtigsten scheine. Und Jonas sitzt in der Küche und raucht, ohne daß eine Hand sich auf seine Schulter legt und eine freundliche Stimme sagt: »Nicht wahr, Jonas … wir beide …« Es ist nicht wahr, daß ein Gut von fünftausend Morgen von selbst läuft, ein Tag den nächsten erzeugt, die Ernte von selbst aus der Saat erwächst. Es ist wohl wahr, daß das Tagewerk weiterläuft, daß die Glocke geläutet wird, die Gespanne auf die Felder ziehen und am Abend heimkehren, daß Mensch und Vieh das Ihrige erhalten, ohne Hunger zu leiden oder Ungerechtigkeit. Aber unterhalb des Tagewerkes ist etwas still geworden, was sonst da war, eine helle, gemeinsame Fröhlichkeit, die Zuversicht auf das immer Bleibende, Starke, Unveränderliche. Über dem Lebenskreis eines großen Hofes kann die Sonne fortbleiben oder der Regen. Das kann Sorgen geben, aber es ist erlaubt. Es wird eingeholt werden, denn die Erde ist geduldig und trägt auch eine lange Last. Aber es ist nicht erlaubt, daß ein Lächeln fortbleibt, das immer da war, ein Zuruf, ein Scherz. Das wird nicht eingeholt, ist verloren für immer und geht nicht nur den Verwalter an oder die Mamsell, sondern den jüngsten Scharwerkerjungen, der das Stroh hinter der Scheune zusammenharkt.

Niemand weiß das besser als die Majorin. Sie hört die Gespanne zurückkehren am Abend und sieht den Staub über die Rasenflächen des Parkes ziehen. Aber der Hufschlag der Pferde scheint ihr müder zu sein, und sie merkt es wohl, daß die Knechte nicht singen wie einst. Sie steht auf und geht tiefer in die Allee des Parkes hinein. Sie hat keine Schmerzen, also ist sie nicht krank. Aber wenn sie die Harke des Gärtners hört oder den dumpfen Ton der Bretter, mit denen die Gewächshäuser zugedeckt werden zur Nacht, macht sie einen weiten Umweg, bis an die Mauer, von der sie über die Felder bis zu dem dunklen Hochwald sehen kann. Sie hat keine Schmerzen, aber es macht ihr Mühe, zu sprechen, und es macht ihr schon Mühe, einen Menschen anzusehen. Ihre hellen und klaren Augen werden unsicher, wenn sie einen Menschen anblicken müssen, und da sie nicht gewohnt ist, die Augen niederzuschlagen, meidet sie die Menschen.

Hat die Majorin etwas getan, daß sie sich schämen müßte? Sie hat einen zerstörten Menschen aufgenommen und ihm ein Dach mit Lohn und Brot gegeben. Das ist alles, und es ist nichts weiter als Christenpflicht gewesen. Keines ihrer Worte ist über die erlaubte Grenze gegangen, kein Blick, kein Gedanke. Es ist wahr, daß ihre Gedanken häufiger zu ihrem Jäger gegangen sind als zu ihrem Verwalter oder zu ihren Mädchen, aber es ist nur in der Ordnung, daß die Armen mehr Gedanken bekommen als die Gesicherten und die Zufriedenen. Also nur die Zahl der Gedanken? Nicht ihre Wärme etwa oder ihre Verstohlenheit? Nicht der leise Wunsch, die Hand auf seine Stirn zu legen, dort, wo die tiefe Narbe steht? Sei ehrlich, Majorin! So ehrlich wie bei der Steuer, die du in die Hand des Staates zu legen hast!

Und da die Majorin nicht unehrlich sein kann, nicht einmal in Gedanken, so errötet sie von neuem, dort an der Mauer des Parkes, wo niemand sie sehen kann. Und sie wartet, bis die Alleen finster in der Dämmerung werden, um ins Haus zu gehen, und beim Essen will sie im Dunkeln bleiben, weil das Licht ihren Augen weh tue.

Unsicher ist also die Majorin geworden. Nicht krank oder reuevoll oder verliebt, sondern nur unsicher. Es hat ihr jemand einen Handschuh entwendet, um ihn unter seinem Lager zu verbergen. Das ist nichts, nicht mehr als lächerlich oder sentimental oder kindisch. Aber der Mann, der das getan hat, besitzt keine dieser Eigenschaften. Dieser Mann hat in der Hölle gelebt, hat Tod und Verzweiflung gesehen, hat alles Kleine und Gewöhnliche abgestreift von seinem Leben und dazu alle Scheu abgestreift, alle Ehrfurcht, alle Angst. Der Mann hat ihr einen Handschuh entwendet, aber in seinen Händen ist es soviel, als hätte er ihre Kleider abgestreift.

Und nun zittert die Majorin, weil sie nackt ist. Jedes Mal, das sie in der Hütte gewesen ist, ist sie nackt gewesen, ein preisgegebener Mensch vor den Augen eines Fremden. Fürchtet sich die Frau Majorin nicht vor mir? Die Majorin aber hat geglaubt, die Toten hätten keine Wünsche mehr.

Die Majorin wird also den Jäger entlassen. Auf Grund der täglichen Kündigungsfrist. Sie wird Jonas hinschicken, mit dem nächsten Monatslohn, und die Gewehre abverlangen lassen, und er wird dabeibleiben, bis der Jäger seinen Rucksack zugeschnürt und die Hütte geräumt hat. Jonas ist still und stark, und er wird das Seinige tun, damit er wieder am Hoftor stehen und der Majorin das Pferd abnehmen kann.

Und der Jäger wird auf der Landstraße durch den Wald gehen, und über fremde Felder, immer weiter, bis seine Spur erlischt im Staub, der über den Sommerwegen aufsteht.

Und der Totenvogel? Ja, den Totenvogel wird niemand schießen. Und der alte Mann? Ja, den Acker wird ein Fremder erben. Es ist nichts damit gewesen, daß ein Bauer zu seinem Pfluge zurückgeführt werden sollte. Ein Bauer, den sie zerstört hatten, damit die andern in Frieden leben konnten. Die Majorin zum Beispiel, oder der Pastor, oder die Leute, die einen Aktenbogen anlegten, auf dem erlaubt wurde, daß Michael Fahrenholz leben durfte. Nichts damit, mit der gerechten Weltordnung, dem Wiedergutmachen, dem Helfen und Heilen an einer zerstörten Ordnung. Ein grauer Reithandschuh unter einem Lager von welken Blättern, und vorbei ist es mit der helfenden und heilenden Hand. Es gehört sich nicht, weder für die Lebenden noch für die Toten, und das Ungehörige hat keinen Platz im Haushalt der Majorin. Ein ordentlicher Haushalt, nicht wahr? So ordentlich, daß die Unglücklichen vom Tor gejagt werden, weil das Unglück nicht in die Ordnung paßt. Und weil es nicht in die Ordnung paßt, daß die Majorin errötet, vor einer Spiegelscherbe oder an der Mauer des Parkes. Kein Platz für Leute, die die Majorin zum Erröten bringen. In einem ordentlichen Haushalt gibt es kein Erröten, weil es weder Scham noch Schuld gibt.

»Herein! Jonas? Was ist, Jonas?«

»Die Frau Majorin hat mich rufen lassen.«

»Nein, Jonas, danke … ich habe es anders überlegt … vielleicht werde ich morgen reiten, Jonas.«

»Ja, Frau Majorin.«

Und Jonas wartet noch einen Augenblick, die traurigen Augen auf den Rocksaum der Majorin gerichtet, und geht dann leise aus der Tür.

Der Jäger wird also nicht entlassen, und es kommt auch kein Befehl, das Reitpferd zu satteln. Es heißt, daß die Majorin verreisen will, in ein Bad oder zu einem Arzt. Es wird viel davon gesprochen auf dem Hof, viel und mit Sorgen, denn der Roggen blüht schon, und auf den Wiesen steht der erste Schnitt des Grases.

Aber bevor die Koffer vom Boden geholt werden, ja bevor man noch weiß, ob das Mädchen mit der Korallenkette nicht geträumt hat, kommen böse Nachrichten aus dem Walde. Es kommt der alte Kätner Johann vom Erlenfließ und steht im Arbeitszimmer der Majorin, neben der Tür, auf seinen Stock gestützt und die Mütze in der Hand. Ja, und er bringe eine Beschwerde vor die gnädige Frau Majorin, weil sie zwar den Kaiser abgeschafft hätten, da draußen in der Welt, aber das Recht nicht abschaffen könnten. Und die Frau Majorin möchte ihm sagen, ob er mit seinen Enkelkindern nicht mehr Fallholz auflesen dürfe im Wald, wie es seit sechzig Jahren in der Ordnung sei, oder ob die Frau Majorin diese Ordnung abgeschafft habe. Und dann hätte sie wohl recht daran getan, es ihn wissen zu lassen, denn auch alte Leute müßten erfahren, wenn die Frau Majorin eine neue Ordnung einführen wolle im Wald.

Er spricht langsam, aber mit einer behaglichen Zähigkeit, der alte Johann. Ein Sektierer aus der Einöde, der mit Gott einen besonderen Vertrag geschlossen hat und der mit hellen, wimpernlosen Augen auf die Majorin blickt, ob sie es sich einfallen lassen werde, etwas dagegen zu haben. Denn auch das Fallholz stehe im Vertrag mit dem lieben Gott, und die Frau Majorin, so mächtig sie ist, hat nur ein Mittleramt zwischen dem lieben Gott und Johann.

Aber die Majorin will gar nichts dagegen haben. Sie hat nur das Wort von der neuen Ordnung gehört und hat sich tiefer in den Schatten zurückgelehnt, und nun möchte sie wissen, was denn geschehen sei und worüber der Vater Johann sich beschweren wolle. Ihr sei nichts davon bekannt, daß das Auflesen des Fallholzes in ihrem Walde verboten sei.

Der Kätner nickt ihr triumphierend zu und bittet um Entschuldigung, daß er eine Prise nimmt. Aus einer Dose von Birkenrinde. Und es ist also so gewesen: Der Kätner ist mit seinen drei Enkelkindern in den Wald gegangen, wo die Brüche vor dem Moor liegen. Mit zwei Schiebkarren und Stricken und einer geflochtenen Basttasche mit Schwarzbrot. Genauso wie vor sechzig Jahren. Sie haben das trockene Holz aufgelesen, und er hat auf die Kreuzottern geachtet und den Kindern die giftigen Pilze gezeigt. Und dann haben sie auf einem trockenen Baumstamm gesessen Und das Brot verzehrt, und er hat auf einem jungen Lindenblatt gepfiffen, damit die Kindern lernten, was im Wald zu wissen sei. Genauso wie vor sechzig Jahren.

Und dann ist mit einemmal der Jäger dagestanden. Der Tote. Und hat den Arm gehoben und sie aus dem Wald gewiesen. Aber Johann hat auf seine Gerechtsame gewiesen und daß ihm nichts davon bekannt sei, daß die Frau Majorin eine neue Ordnung im Wald eingerichtet habe. Und dann hat der Jäger wohl geflucht, in einer fremden Sprache, und sein Gesicht ist wie das Gesicht aus der Offenbarung des Sankt Johannes gewesen. Und die Kinder haben geweint, so daß dem Kätner nichts übriggeblieben ist, als aus dem Walde zu gehen. Aber dann habe er sich doch noch einmal umgedreht und zurückgerufen, daß die Frau Majorin entscheiden werde, wer nun Herr im Walde sei, die Frau Majorin oder der tote Teufel. So habe er leider gesagt. Und darauf hat der Jäger das Gewehr von der Schulter gerissen und geschossen, dreimal und noch mehr. Und die Äste über den Schiebkarren sind zersplittert, und die Kinder haben geschrien und ihre Last stehenlassen, und so sind sie aus dem Wald gekommen, zersprengt und verstört, und haben sich erst am Fließ zusammengefunden, wo der Steig zur Kate entlangführt.

Hier macht der Kätner Johann eine Pause, nimmt, wieder nach einer Entschuldigung, eine zweite Prise und sieht die Majorin mit seinen hellen Augen furchtlos an. Jetzt wird es sich also entscheiden, das mit den Verträgen und der neuen Ordnung. Und dann wird er wahrscheinlich zum Landjäger gehen müssen. Ein guter Weg, wenn man in einer gerechten Sache geht.

Einen Augenblick sitzt die Majorin noch da, etwas betäubt von der langen Rede, und sieht aufmerksam zu, wie der Kätner die Birkendose wieder schließt. Und dann steht sie schnell auf und geht ans Fenster. »Jonas!« ruft sie laut über den Hof.

Die Leute, die von der Kaffeepause zur Arbeit gehen, bleiben stehen. Es ist so lange her, daß die Frau Majorin über den Hof gerufen hat, daß man wohl stehenbleiben kann und nach dem offenen Fenster blicken darf. Eine seltsame Stimme, so hell und klar, daß sie wie neu klingt. Als hätte sie sich ausgeruht nach einer dummen Krankheit und sei nun auferstanden. »Jonas!« wiederholen ein paar Stimmen laut und fröhlich, und einer der Gespannführer läuft zum Reitstall, damit Jonas schneller komme.

Ein veränderter Hof, ein Hof, der neu geworden ist unter einem einzigen befehlenden Ruf. Kein Wunder, daß die Tauben aufsteigen von dem Platz vor der Scheune, eine tönende, leuchtende Wolke, die über den hohen Pappeln kreist. Daß die Mamsell ihr Fenster öffnet und der Kämmerer die Hand am Glockenseil hält, ohne es zu rühren, obwohl der Zeiger seiner großen Uhr die Zeit überschreitet. Eine Stimme ohne Krankheit, ein Gesicht ohne Krankheit. Nichts von Bädern und Arzt und Gutsverkauf. Ein dummes Gerede von dem Mädchen, das ein Kalb ist und das sich wichtig machen will, wenn es aus den Zimmern der Majorin kommt.

Jonas erscheint mit einer geputzten Kinnkette in der Tür des Reitstalls und schützt die Augen mit der Hand vor der Sonne. »Jonas … das Pferd!«

Nun, Gott sei Dank! Es ist alles wieder gut. Hell und fröhlich läutet die Glocke über den Hof, und alles läuft zu seiner Arbeit, als stehe ein Wetter über dem Feld und die letzte Ernte sei hereinzubringen. Wie gut das anzusehen ist für die Majorin! So gut, daß sie noch am offenen Fenster stehenbleibt, obwohl der Hof leer geworden ist und der Kätner noch wartend hinter ihr steht.

Also der Vater Johann möchte keine Sorgen haben. Es sei noch immer die alte Ordnung im Walde, und der Jäger wisse vielleicht noch nicht mit ihr Bescheid. Aber es werde ihm gesagt werden, freundlich, da der Jäger wohl ein schweres Leben hinter sich habe, und der Vater Johann möchte sich von der Mamsell einen Topf Kaffee geben lassen.

Dafür bedanke er sich, und die Frau Majorin möchte entschuldigen, aber es sei doch seit sechzig Jahren so in der Ordnung gewesen, und ein alter Mann möchte doch gern wissen, ob der liebe Gott nun auch abgesetzt werde.

Und dann reitet die Majorin. Vielleicht hat sie keinen Grund zur Fröhlichkeit, nicht mehr als gestern oder vor einer Woche. Aber doch ist sie fröhlich. Über die Felder vielleicht oder über ihre Leute, die von fern die Mützen abnehmen, oder über den Wind, der frisch und stark vom Walde kommt. Sie beginnt zu traben, langsam und vorsichtig, denn der Rappe ist nicht bewegt worden, und seine Ohren spielen unaufhörlich und fangen jeden Laut auf, der über den Feldern ist. Und da es erst Nachmittagszeit ist, so beschließt die Majorin, nicht gleich in den Wald zu reiten, sondern ihre Wiesen und Felder anzusehen, von denen sie nichts mehr weiß, und dann am Pastor vorbeizureiten, um sich zu entschuldigen, und dann vielleicht noch zum nächsten Dorf, wo sie Honig beim Lehrer bestellen kann. Und so wird sie von der andern Seite in den Wald kommen, ungesehen von allen, auch vom Jäger, und sie wird Zeit haben, das alles noch einmal zu bedenken, das mit der neuen Ordnung, und daß sie noch immer die Herrin im Wald ist und daß eine Herrin nicht darauf achtet, wenn jemand etwas hinter ihr aufhebt, ein zerbrochenes Hufeisen etwa oder eine gelöste Spange aus ihrem unbedeckten Haar. Die Wiesen und Felder anzusehen, ist gut. Die alte Ordnung, wie vor sechzig Jahren, und wohl darüber hinaus. Auch ohne das Auge der Herrin. Noch immer fällt es dem Roggen nicht ein, den Mohn aus seinem Felde auszustoßen, und wenn der Wind über die Ähren geht, beugen hunderttausend Halme sich einträchtig nebeneinander. Der Kiebitz klagt über der Erlenwiese und taumelt vor dem Kopf des Pferdes auf und ab. Aber wer sollte einem Kiebitz etwas tun, der Angst um sein Nest hat? Niemand tut einem wehrlosen Vogel etwas zuleide, am wenigsten die Majorin. Nicht ganz so gut ist es beim Pastor. Ja, er habe leider umkehren müssen, in der Halle, und seinen Trost wieder mitnehmen. Es gehe sich schlecht nach Hause mit einem ungenutzten Trost in der Tasche. Er ist ein bißchen gekränkt, immer noch, und seine Frau hat ein Leidensgesicht um ihre spitzen, schnellen Augen. Die Majorin lacht, aber sie findet einen säuerlichen Widerhall und reitet schneller davon, als sie gewollt hat. Ob der Herrensitz beim Reiten wirklich so vorzuziehen sei, fragt die Pastorin beim Abschied. Die Ärzte seien da doch geteilter Meinung. Wenn die Ärzte beginnen wollten, im Damensitz zu reiten, erwidert die Majorin, würde man die Sache bedenken können. Aber bis dahin reite es sich sehr gut so.

Eine kleine Wolke, aber dann geht sie vorüber. Einer Lehrerin, die mit fünfunddreißig Jahren geheiratet hat, muß einiges nachgesehen werden. Es gibt Berufe, die den Menschen sauer machen, wie es saure Wiesen gibt, von denen nicht einmal die Kühe etwas wissen wollen. Und wer kann sagen, ob nicht auch die Wiesen beleidigt sind?

Beim Lehrer ist es dann wieder gut. Ein alter Mann mit einem Gesicht wie ein Herbstmorgen, still und klar, der von seinen Bienen kommt und die Majorin bittet, ein wenig bei seinen Rosen zu sitzen. Und der nicht von den Menschen spricht, sondern von seinen Blumen und Bienen, und daß es dem Menschen guttue, ein paar alte Bäume in seinem Garten zu haben, die so still und ernst daständen, zumal am Abend, so daß man sich ein bißchen schäme, laut und unruhig zu sein, wenn man sie ansehe.

Die Sonne scheint auf den kleinen Platz seines Lebens, die vielen leisen Geräusche der Erde stehen über dem Garten, und die Majorin sitzt lächelnd da, die Hände gefaltet, und es ist ihr gut und geborgen zumute bei dem alten Mann, dessen Haar schon weiß ist und dessen Augen schon anfangen, durch die Menschen hindurchzusehen bis auf einen tieferen Hintergrund, auf dem Licht und Schatten ohne Verwirrung klar geschieden sind.

Zum Abschied schenkt der Lehrer ihr eine weiße Rosenknospe, und sie errötet vor Freude, als sie sie an ihrer Jacke befestigt.

Immer stärker der Duft der Wiesen und Felder, immer schöner das schräge fallende Licht. Ganz ruhig trabt nun der Rappe, und am flachen Seeufer hält die Majorin eine Weile, um ihn zu tränken. Dann umreitet sie den See, dessen Ende bis in ihren Wald reicht. Nicht der See am Blockhaus, sondern auf der andern Seite des Waldes, mit Dörfern, in die sie selten kommt, mit Inseln und großen Rohrbuchten und mit drei hohen Holzkreuzen auf hohem Ufer, zur Erinnerung an die Toten, die man hier auf den Feldern aufgelesen und begraben hat.

Und hinter dem letzten Dorf, wo ihr Wald schon niedersteigt von beiden Seiten zum Wasser, mit einemmal viele Menschen am Ufer, die still dastehen und auf den See hinausblicken. Und auf dem Wasser, von dem leisen Wind aus der Waldbucht herausgetrieben, ein großer, weißer Vogel, riesig mit seinen ausgebreiteten toten Schwingen: einer der Wildschwäne, die an den Inseln alljährlich brüten.

Ganz blaß ist die Majorin, als sie bei den Leuten hält. Ja, da möchte die Frau Majorin nun doch etwas tun, damit dies gebüßt werde. Denn das sei niemandem erlaubt, ein solches Tier zu töten, nur aus Mutwillen oder Spielerei oder Bosheit. Auch nicht, wenn man von den Toten auferstanden sei.

Und da hält nun die Majorin auf ihrem Rappen, inmitten der schweigenden Menschen, und starrt zu dem toten Vogel hinaus, dem die Wellen einen Schein des Lebens geben und der auch im Tode noch königlich ist, in seiner großen Einsamkeit, in der er dahintreibt auf dem leeren Wasser.

Ja, es sei nun so gewesen, sagt der Gemeindevorsteher, daß der Jäger hier ans Ufer gekommen sei, indes die beiden Schwäne, die an der Insel brüteten, draußen auf dem Wasser gelegen hätten. Und da habe der Jäger ein paar der Kinder, die hier gespielt hätten, beredet und mit Geld willig gemacht, hinauszufahren und die Vögel aufzujagen. Und indes sei der Jäger schnell nach der Waldbucht gegangen, auf den Jagdgrund der Frau Majorin, und habe sich dort aufgestellt, da ihm wohl bekannt gewesen sei, daß ein Schwan nur gegen den Wind aufzusteigen vermöge. Und während das weibliche Tier zu seinem Nest geflüchtet sei, hätten die Kinder in ihrer gedankenlosen und eigensinnigen Dummheit es fertiggebracht, daß der Schwan vor ihrem Boot sich endlich erhoben habe, dicht über das Wasser hin und gegen den Wind. Und dort, in der Bucht, habe die Kugel des Jägers ihn getroffen, mitten im Fluge. Der Jäger aber habe gar keinen Versuch gemacht, sich des toten Vogels zu bemächtigen, sondern habe die Büchse über die Schulter geworfen und sei im Walde verschwunden, als habe er nur einen Feind erschlagen, den man liegen lasse, ohne ihm noch einmal in die toten Augen zu sehen.

Ja, es werde gebüßt werden, sagt die Majorin. Auch die Leidenden hätten kein Recht, Leid zu bereiten. Und sie bittet noch, daß man den toten Vogel nicht ans Land hole, sondern ihn allein lasse, auch im Tode.

Und dann reitet sie in ihren Wald. Ihr Gesicht ist nicht nur zornig, sondern von einem leisen Widerwillen erfüllt, und sie wirft keinen Blick in die Waldbucht, wo das Häßliche und ganz Unverständliche geschehen ist.

Der Jäger hebt nicht einmal den Kopf, als sie das Pferd auf der andern Seite des Zaunes anbindet. Er sitzt vor seinem Haus auf der Bank, und auf dem grauen Tisch steht eine weiße Flasche mit einem gefüllten Glas. Er sitzt zurückgelehnt da, den Kopf an den Stämmen der Hütte, und sieht vor sich hin in den Wald, die Hände auf der Tischkante. Wie ein Mann, der müde ist und nichts als den Abend empfangen will.

Aber schon als die Majorin durch die Pforte getreten ist, bleibt sie stehen. Es ist vielleicht nicht ganz richtig, den Zorn zu bewahren vor einem solchen Gesicht, und noch weniger richtig, den Widerwillen zu bewahren. Denn dieses Gesicht ist weder böse noch niedrig, weder voller Triumph noch voller Hohn. Es ist nichts als ein Gesicht, das Leid trägt. Ohne Zuschauer, ganz für sich allein, und vielleicht nur dem Gesicht eines Schwerverwundeten zu vergleichen, der auf einem Felde liegt, allein unter einem hohen und fremden Himmel, und der die Hoffnung aufgegeben hat, daß man ihn finde. Und die Majorin, die ihren Zorn in sich zusammenfallen fühlt, ohne eine Stütze, die ihn halten könnte, erinnert sich des Gesichtes und der verlassenen Gebärde, mit der derselbe Mann die Arme in den Himmel gehoben hat. Und in dem gleichen Maße, mit dem die Sicherheit ihres Zornes sie verläßt, wächst das Bewußtsein einer unbestimmten Schuld wieder in ihr empor, der Schuld, die vielleicht auch die Guten an dem Bösen haben, das in der Welt geschieht. Und während sie noch einen Augenblick wünscht, daß sie diesen Ritt nicht unternommen hätte, schämt sie sich schon dieses feigen Gefühls und weiß, daß man nicht helfen und heilen kann, wenn man hinter der Mauer eines Parkes in einem Stuhl liegt und wartet, daß die alte Ordnung sich von selbst wieder herstelle.

»Michael«, sagt sie leise, »weshalb tust du das alles?« Es läuft eine Bewegung über die Augenbrauen des Jägers, aber noch immer kehrt sein Blick nicht aus dem Raum der schweigenden Bäume zurück. »Ah … die Frau Majorin!« erwidert er, und nun lächelt er auf eine feindliche Weise. »Es ist schön, daß die Frau Majorin wieder gesund geworden ist und sich um ihren Knecht Michael bekümmern kann. Allen Knechten und Jägern und Soldaten tut es gut, wenn der Herr sich bisweilen um sie bekümmert, weil sie manchmal den Zaun vergessen, den der liebe Gott um alle Knechte gezogen hat. Sehr willkommen ist die Frau Majorin!«

Und nun sieht er mit einer schnellen Bewegung die Majorin an, und im gleichen Augenblick sieht sie die Flamme in seinen Augen emporschlagen, von der sie weiß, daß sie verzehren möchte, nichts als verzehren, bis nur die stäubende Asche bliebe. Es gibt wohl einen leisen Schwindel der Angst, und auch der Majorin ist er nicht fremd. Es kommt vor, daß der Rappe unter ihr durchgeht, und auch anderes ist in zwanzig Jahren vorgekommen. Aber dazu ist der Mensch doch wohl da, daß er diesen Schwindel bekämpft und besiegt, und auch die Frau ist nach der Meinung der Majorin dazu da. Und wenn in diesen Schwindel eine unbestimmte Süße sich mischt, ein gefährlicher und ganz verderblicher Wunsch nach losen Zügeln, dann ist der Mensch wohl um so mehr dazu da, sich zu beweisen und nicht umzukehren, sich nicht fallen zu lassen, nicht um Hilfe zu rufen, sondern die Hand auf eine zerstörte Stirn zu legen und mit ruhiger Stimme zu wiederholen: »Weshalb tust du das alles, Michael?«

Statt einer Antwort hebt der Jäger das Glas gegen die Bäume und sagt laut und deutlich: »Auf das Wohl der Frau Majorin!«

Es kann sein, daß der Jäger schon betrunken ist, aber dann ist er einer der Menschen, aus deren Gesicht nicht abzulesen ist, ob sie nüchtern oder betrunken sind. Deren Augen zu allen Zeiten das Uferlose der Entbundenen haben, das nicht auf einer letzten Fläche Ausruhende, sondern das hinter den Flächen Suchende und Irrende und sich Verlierende. Und in jedem Fall ist das Gesicht des Jägers ein Gesicht, das in der Trunkenheit vielleicht erstarrt, aber sich nicht in ihr entstellt.

»Es gab dort unten ein Gesetz«, sagt der Jäger, »daß jede angefangene Flasche geleert werden mußte. Denn am nächsten Tage konnten die Handschellen sein oder der Tod. Und die Frau Majorin wird wohl nicht sein wie Jonas, der die halbvolle Flasche an einer Wurzel zerschlug, weil ich ihn gefragt hatte, ob die Frau Majorin einen Liebsten habe.«

»Hast du das gefragt, weil du es geglaubt hast, Michael?«

Die Majorin hat ihre Jacke ausgezogen und die weiße Rosenknospe vor sich auf den Holztisch gelegt. »Ich möchte ein Glas haben, Michael«, setzt sie hinzu.

Der Jäger sieht sie an, und plötzlich ist zu sehen, wie verstört sein Gesicht ist. »Die Frau Majorin sollte nicht trinken«, sagt er.

Aber die Majorin will trinken, vielleicht weil sie durstig ist, und Michael muß das Glas holen. Er sieht zu, wie sie trinkt und von neuem einschenkt, und es ist vielleicht kein Zufall, daß sie beide auf die Flasche blicken, dorthin, wo die Flüssigkeit mit einem dunklen Strich sich absetzt gegen das weiße Glas.

»Hast du es geglaubt, Michael?« wiederholt sie.

Langsam lösen die Augen des Jägers sich von der Flasche, kehren ein bei dem unbewegten Gesicht der Majorin und gehen dann wieder in den fallenden Abend hinaus, wo sie bleiben. »Manchmal tut es gut zu glauben«, erwidert er langsam, »daß Gott ein Teufel ist … weil man dann leichter leben kann.«

»Ja, das ist es wohl auch, worauf es ankommt«, sagt die Majorin. »Und der Kätner mit seinen Enkelkindern? War das auch, um leichter leben zu können?«

Das Gesicht des Jägers verfinstert sich immer mehr. »Der alte Mann war dort«, erwidert er, »wo des Jonas Bruder begraben sein will. Und dort hat niemand zu sein als ich, denn ich werde ihn in die Erde legen, waagerecht, damit er schlafen kann.«

»Das ist gut, Michael. Auf das Wohl deiner Hände, Michael!«

»Die Frau Majorin sollte nicht trinken«, wiederholt der Jäger.

»Vielleicht ist es auch, um leichter leben zu können«, entgegnet sie. »Und der Schwan? War das auch aus diesem Grunde?«

Es ist dem Jäger wohl schwerer, auf diese Frage zu antworten, und er muß zuerst die Majorin ansehen. Aber ihre Augen sind ohne Furcht auf sein Gesicht gerichtet, und nur ihre Wangen beginnen sich langsam zu röten.

»Mit einem Schwan kann es mitunter so sein«, sagt er endlich, »wie mit einem Glas, das man an die Wand wirft. Es steht zu ruhig da, zu sicher, so ganz in sich rund und geschlossen. Ein Glas kann uns verhöhnen, und auch ein Schwan kann das tun. Besonders wenn er nicht allein ist, sondern ein Weib bei ihm ist, sehr weiß und stolz. Und wenn sie beide ein Nest auf einer Insel haben und auf den Jäger blicken, als gehe ihn das nichts an. Es geht den Jäger sehr viel an …«

Und nun muß der Jäger wohl betrunken sein, oder das Böse ist in ihm aufgestanden, denn er hebt das Glas an das Glas der Majorin und sagt: »Auf das Wohl des Mannes im Holzsarg, Frau Majorin!«

Aber noch immer sind die Augen der Majorin klarer als die seinigen. »Auf das Wohl der Toten!« erwidert sie ernst.

Sie übersieht nicht, daß seine Hand zittert unter diesem Wort, und auch nicht, daß der dunkle Strich in der Flasche nicht mehr weit vom Boden entfernt ist. Eine Frau hat keinen Mangel an schweren Nächten in einem vierzigjährigen Leben, aber es will der Majorin scheinen, als sei es niemals bitterer gewesen, den Rücken gerade zu halten, als an diesem grauen Holztisch. Es würde gut sein, die schmerzende Stirn auf das Holz zu legen, die brennenden Augen, die geschändeten Lippen, aber es würde nur gut sein für sie und nicht für den Mann. Denn der Mann würde weitertrinken, würde allein trinken, ganz ohne Hilfe, und Helfen und Heilen ist doch Menschenpflicht nach Meinung der Majorin.

Aber das mit den Toten ist wohl nicht gut gewesen, denn hinter dem dämmernden Wald, vom Moor her, beginnt ein Vogel zu rufen, und es schneidet der Majorin durchs Herz, noch bevor der Jäger die Hand hebt. »Die Frau Majorin wird einsehen«, sagt er, und nun ist sein Lächeln fast grausam geworden, »daß alte Leute mit Enkelkindern dort nichts zu suchen haben, wo es so ruft, nicht wahr? Daß nur Leute mit Händen dort etwas zu suchen haben, auf deren Wohl die Frau Majorin getrunken hat, nicht wahr? Auf das Wohl der Furchtlosen, Frau Majorin!«

Die Majorin trinkt, und immer noch nicht zittert ihre Hand. Aber schwer ist es, dies Wenige im Gesichtskreis zu behalten, daß es nicht herausfällt und zerspringt: das Gesicht des Mannes, fahl unter seiner braunen Haut, die graue Tischplatte mit der Flasche und den beiden Gläsern, die weiße Rosenknospe, die zu welken beginnt unter dem scharfen Duft des Branntweins, und die dunklen, schweigenden Stämme der abendlichen Bäume.

»Ich bin hergekommen, um zornig zu sein, Michael«, sagt sie, und sie spricht nun viel langsamer als sonst. »Vielleicht auch, um dich zu entlassen, weil du eine neue Ordnung einführen willst in meinem alten Wald, aber nun …«

»Die Frau Majorin hat ganz recht«, erwidert der Jäger fröhlich, wenn auch seine Lippen zu schmerzen scheinen. »Auf das Wohl der alten Ordnung, Frau Majorin!«

Und nun fällt aus der geneigten Flasche endlich der letzte Tropfen. In das Glas des Jägers. Und der Jäger zieht die Schublade heraus, steckt einen Lichtstumpf in den Hals der Flasche und zündet den Docht an. »Gekündigt muß bei Licht werden, Frau Majorin«, sagt er. »Damit man die Verträge verbrennen kann.«

»Aber nun will ich es wohl nicht mehr tun, Michael«, fährt die Majorin fort. »Weil …«

»Weil die Frau Majorin nicht weiß, wie sie dann leben soll, wenn der Jäger fort ist.«

»Es ist nicht gut, gering von den Menschen zu denken, Michael.«

»Das mag wohl sein, Frau Majorin, und es ist ja wohl in der Ordnung, daß die Frau Majorin das für eine Unehre hält. Aber Jonas hat mir einmal ein Märchen erzählt. Er erzählte sehr viele Märchen, am Moor, wenn wir die Weidenflöten machten und die Frau Majorin auch das besser wußte. Aber in diesem Märchen kam ein Schwanenmädchen vor, dem man die Kleider genommen hatte, und da konnte es nicht mehr fort. Vielleicht ist es auch heute so, daß eine Frau nicht mehr fort kann, wenn sie etwas verloren hat. Es brauchen ja nicht ihre Kleider zu sein.«

Und der Jäger nimmt vom weißen Ärmel der Majorin ein Haar, das beim Reiten dorthin geweht worden ist, hält es zwischen beiden Händen vor das Licht der Kerze und starrt mit abwesendem Blick auf den goldenen Faden. »Die Frau Majorin sollte eine Kappe tragen«, sagt er, »oder ein Haarnetz … dann würde der Jäger auf seiner Decke nicht etwas finden, worüber er sich Gedanken machen kann. Dumme Gedanken wahrscheinlich, freche Gedanken vielleicht, aber doch immerhin Gedanken. Und das ist für einen Jäger nicht gut.«

Es ist viel für die Majorin, was an diesem Abend geschieht, aber noch nicht so viel, daß sie ihren Nacken zu beugen brauchte. Und das Schwerste ist bis jetzt noch die zunehmende Starrheit ihres Körpers, ein langsames Absterben ihrer Glieder, als sitze sie körperlos an diesem Tisch und könne sich nicht wehren und ihr Körper sei schon in die Hände des Mannes übergegangen, der dort in das Licht starrt und nun das Haar zwischen seinen Händen langsam in die Flamme senkt, in der es sich verzehrt.

»Es ist auch nicht gut«, sagt sie mühsam, »zu glauben, daß die Fata Morgana der Wüste auch in meinem Walde zu Hause sei.«

Der Jäger läßt die Hände sinken und sieht sie an. »Das war eine gute Antwort, Frau Majorin«, sagt er sehr langsam. »Und nun kann ich wohl auch das andere sagen … Die Frau Majorin ist eine stolze Frau, sehr weiß und stolz wie der Schwan, der nun allein auf seiner Insel lebt. Und sie hat gedacht, Gutes zu tun, das gehöre sich eben für eine Majorin. Aber nur so nebenbei, so mit der linken Hand, indes die rechte den Rocksaum schürzt, damit kein Staub herankomme. Und ein unbewohntes Haus und drei Gewehre abzugeben, das sei nicht besonders schwer. Darüber läßt sich ein Vertrag machen, mit Kündigungsfrist, und Verträge kann man auch mit seinen Gespannknechten machen. Und damit hat die Frau Majorin zu helfen und zu heilen gedacht, wie sie so schön sagt.

Aber sie hat wohl vergessen, daß die Toten mehr brauchen als die Lebendigen. Daß die Toten wieder Blut brauchen, wenn sie auferstehen sollen, und daß Blut nur herauskommt, wenn man eine Ader öffnet oder sein Herz. Und das Herz der Frau Majorin, ja, das ist wohl ein kostbares Ding, nichts für die Knechte oder die Toten. Und wenn die Toten ein Stück des Herzens haben wollen, dann muß man ihnen eben kündigen, weil man nicht gewußt hat, wie anspruchsvoll die Toten sind.

Es mag sein, daß die Frau Majorin Schweres erlebt hat, Schwereres vielleicht als die Frau Pastor oder auch als die Frau des alten Mannes, die sich fortmachte, als ihre Ernte abgeschnitten war. Aber es ist Korn gewachsen über das Schwere, und obwohl die Frau Majorin vieles besser weiß, weiß sie doch wohl nicht, wie das in dem Lande der Fata Morgana war, und auch nicht genau, was eine Fata Morgana ist. Und daß Helfen und Heilen viel von einem Menschen verlangt, nicht nur eine Hand, die man auf eine fremde Stirn legt. Da hat der Pastor einmal von einem heiligen Mann erzählt, der seinen Mantel teilte, um einen Frierenden zu wärmen. Aber ich habe diesen Mann nie für sehr heilig gehalten, denn er behielt die Hälfte für sich, und ein halber Mantel ist immerhin nicht wenig … wenn auch etwas mehr als ein einzelner Handschuh, den man schenkt, und sehr viel mehr als einer, den man verliert.

Und nun kann die Frau Majorin ganz beruhigt sein. Der Jäger wird gehen, und er wartet nur so lange, bis er den andern Toten begraben hat. Aber wenn die Frau Majorin wünscht, kann der Jäger auch so lange unter den Bäumen wohnen oder in der Torfhütte. Das macht dem Jäger nichts aus. Und auf Schwäne und alte Leute wird der Jäger auch nicht mehr schießen. Die alten Leute werden bald sterben, und die Schwäne haben ihr weißes Gefieder und ihre einsame Insel, und statt des toten Mannes findet sich bald ein anderer. Außerdem ist es eine Lüge, daß der Schwan im Tode singt. Dieser hat nicht gesungen, sondern ist schweigend zusammengestürzt. Wie der Korporal mit der grauen Haarsträhne … die Frau Majorin singt wohl nicht mehr wie an jenem ersten Abend, nein?«

Nun muß wohl auch die Majorin sehen, daß der Jäger betrunken ist. Daß seine Gedanken sich verwirren und seine Augen ohne Scham in ihrem Gesicht wohnen bleiben. Aber obwohl sie während seiner ganzen Rede die Augen nicht von seinen Lippen gelassen hat, sieht sie das nicht. Sie sieht sich selbst gerade und unberührt über ein Totenfeld gehen, den Rocksaum mit der rechten Hand hebend, indes die Linke einen Handschuh auf eine zerbrochene Stirn legt, um die furchtbare Wunde zu bedecken. Aber zwischen den Fingern tropft das Blut immer wieder hervor, und sie hat nichts anderes zu verschenken außer ihrem Kleid, und sie kann doch das Kleid nicht abstreifen und nackt unter allen Toten stehen.

Und erst als der Jäger schweigt, versinkt auch das Bild vor ihren Augen, und sie sieht nun wieder das zerstörte Gesicht und die Flasche mit den beiden Gläsern und die stille Kerzenflamme, der man nicht ansieht, daß sie soeben ein Haar vom Haupte der Majorin verzehrt hat. Sie sieht es mit einer schwankenden, aber unauslöschlichen Deutlichkeit, so wie alles, was an diesem Abend geschehen ist. Es hatte ein zorniger Abend werden sollen, aber nun ist kein Zorn in ihrem Herzen, sondern eine wüste Verstörung, aus der sie zuerst einmal fort muß, so schnell sie kann, in ihr stilles, kühles, sauberes Haus, wo sie alles zusammenlegen und ordnen muß, die Vorwürfe, die Kränkungen, die Bekenntnisse und die Scham. Und darnach erst wird sie sehen können, ob die Toten recht haben oder unrecht.

»Gute Nacht, Michael«, sagt sie und steht auf. »Du weißt wohl nicht, daß die Majorin heute abend aufgehört hat, eine stolze Frau zu sein …«

Und nachdem sie sich über den Tisch gebeugt und das Licht der Kerze ausgelöscht hat, geht sie im Dunkeln zu ihrem Pferd. Sehr gerade und sehr langsam. Und während des ganzen Weges von der Hütte bis zur Pforte im Zaun drückte sie beide Hände mit aller Kraft um die weiße Rose des alten Lehrers, ohne zu sehen, daß das Blut zwischen ihren Fingern hervorzutropfen beginnt.

Der Jäger steht nicht auf. Es mag sein, daß er betrunken ist. Es mag auch sein, daß er noch eine zweite Flasche trinken könnte, ohne betrunken zu sein. Aber er weiß, daß jetzt Gefährliches geschehen könnte, wenn er aufstände, nicht mehr Gutzumachendes und Unabänderliches. Und auch er legt seine Hände mit aller Kraft um das Leblose vor ihm, um die Kante des grauen Tisches, und wartet, bis er allein ist.

Er hört, daß die Majorin nicht in den Sattel steigt, sondern das Pferd am Zügel führt, auf den grünen Weg hinaus, an dessen Ende die weiße Tafel hängt. Sein Gehör ist scharf, schärfer als bei einem betrunkenen Menschen, und so hört er nach einer langen Weile, daß der Hufschlag verstummt, so plötzlich, daß das Pferd angehalten sein muß. Und da es still bleibt, immer weiter, ist es möglich, daß etwas geschehen ist, und der Jäger steht schnell auf und geht geräuschlos auf den grünen Weg hinaus. Und wenn die Majorin ihn sähe, würde sie wissen, daß es nicht nötig für sie gewesen wäre, aus dem zweiten Glas zu trinken, auch wenn sie die Hälfte davon heimlich auf den Boden geschüttet hat.

Aber die Majorin kann das nicht sehen, denn sie steht mitten auf dem Wege neben ihrem Pferd. Sie hat die Arme um seinen Hals geschlungen, und an ihren Schultern ist zu sehen, daß sie weint. Lautlos, aber so, daß ihr ganzer Körper erzittert.

Und hinter einer der Fichten am Wege steht der Jäger und sieht zu. Es ist ihm keine große Kenntnis von Frauenherzen gegeben, aber er weiß bei dem kaum hörbaren Laut dieser zerbrochenen Stimme, daß niemals sein wird, was er in seinen Träumen gedacht hat. Er weiß nicht, weshalb es nicht sein wird, obwohl er einiges vermuten kann, aber er weiß, daß es niemals sein wird. Weder für die Lebendigen noch für die Toten. Niemals bis in alle Ewigkeit.

Und nachdem er dieses erfahren hat, lange schon bevor die Majorin ihr Pferd bestiegen und langsam davongeritten ist, kehrt er um auf dem grünen Weg und geht ihn zurück, an seinem Hause vorbei, bis zu den Brüchen, wo der Totenvogel noch immer ruft. Und dort, in einem dunklen Fichtenhorst, legt er sich nieder und drückt das Gesicht tief in die weiche, vermoderte Erde hinein. Er liegt ganz still, und der Mann, der den Toten erlösen wollte, sieht nun selbst wie ein Toter aus. Nur daß mitunter ein Zittern über seine Schultern läuft. Es ist möglich, daß er weint, denn er hat viel gelernt in dem Land der Fata Morgana. Aber es ist auch möglich, daß er nur friert, denn er hat sich mit keinem Mantel zugedeckt, und die Luft ist feucht und kühl über den Erlenwiesen um sein Bett.

Das Korn reift. Das Korn hat nichts damit zu tun, daß die Menschen einander Schmerzen bereiten, daß sie irren und ihre Irrtümer wieder einsehen, daß sie mitunter nicht wissen, ob sie zu den Toten oder zu den Lebendigen gehören. Das Korn hat nur damit zu tun, daß die Sonne scheint oder nicht scheint, daß der Boden um die verborgenen Wurzeln feucht oder verdorrt ist. Und da die Sonne viele Tage über der Landschaft steht, nur manchmal von Wolken gedämpft und nur selten vom Regen verhüllt, so reift das Korn zu seiner Zeit und senkt die Ähren immer tiefer. Und da ein warmer südlicher Wind seit vielen Tagen über das Land geht, so zieht der Duft der reifenden Felder bis in den Wald hinein. Bis an die Hütte des Jägers, wo er sich mit dem bitteren Geruch der Bäume und des Harzes mischt.

Nichts weiß der Jäger von der Welt hinter dem Wald. Ganz einsam ist er wieder geworden zwischen seinen schweigenden Bäumen. Aber nun kommt der Geruch der Felder bis über seinen grauen Zaun, ja bis zu seinem Lager, auf dem er schlaflos liegt. Und dieser Geruch macht ihm viel zu schaffen. Er ist nun wohl nicht mehr ein Mensch der Landstraße, dem Gerüche nicht viel bedeuten, außer vielleicht, daß sie ein Mittagessen ankündigen auf einem Hof, der über dem Winde liegt. Ein Frühjahr und ein Sommer haben vielleicht genügt, um ihn für die Landstraße zu verderben. Er ist seßhaft geworden in dem Haus mit den rohen Balken, hinter seinem Zaun, den er geschnitten und genagelt hat, zwischen seinen Bäumen, die an jedem Morgen am gleichen Platz stehen. Er hat einen Herd gewonnen und eine Lagerstatt, einen Brunnen und eine Bank, und es nutzt wohl nicht viel, daß er sich einredet, er könne jeden Morgen seinen Rucksack schnüren und davongehen, in den fremden Staub der Frühe. Zuviel ist wahrscheinlich geschehen in diesem Wald, an diesem Zaun und auf dieser Bank, und vieles soll wohl auch noch geschehen, bevor er nichts mit sich zu nehmen hat als einen Stock und einen Rucksack mit einer Decke für die Nacht.

Zwar das Trinken macht dem Jäger nicht mehr zu schaffen. Die beiden Flaschen liegen auf dem Grunde des Sees, unsichtbar schon unter leise wehendem Kraut, und die beiden Gläser sind zerbrochen. Der Jäger bedarf des Trinkens nicht mehr. Das ist seltsam für jemanden, der seit vielen Jahren getrunken hat, um leben zu können. Oder es gebraucht hat, um Gesichte zu erwecken und Gesichte zu begraben. Aber der es nun wohl nicht mehr braucht, weil die Toten vielleicht nun tot sind und die Lebendigen auch ohnedies in ihm wohnen. Oder vielleicht auch nur, weil eine stolze Frau sich ihres Stolzes begeben hat, während er getrunken hat.

Es ist kein Opfer für den Jäger und auch kein Gegenstand der Versuchung. Es ist abgetan wie die Inschrift auf dem Stein. Und nun macht der Geruch der Felder ihm zu schaffen. Er kennt den Grund nicht, und er sucht auch nicht nach ihm. Er ist zu müde zum Grübeln, seit er eine Nacht lang an den Brüchen gelegen und geschlafen hat, das Gesicht in die Erde gedrückt und Tau auf den Haaren. Er sucht nicht mehr nach dem Totenvogel, aber er geht nun gern am späten Abend an den Rand des Waldes, wo das Roggenfeld des alten Mannes liegt, und sitzt dort im Grenzgraben, ohne Gewehr, die Hände um die Knie gefaltet. Das Korn ist so hoch, daß er nichts außer den Halmen und Ähren sieht, nur ein paar Kornblumen dicht vor seinen Füßen und ein paar Sterne über dem Feld. Keine Häuser, keine Bäume, nicht einmal die hohen Pappeln auf dem Hof der Majorin oder den alten Birnbaum im Garten des alten Mannes.

Ein schöner Platz ist das für den Jäger. So ruhig und einfach wie an einem Meeresstrand. Beschränkt auf ein oder zwei Elemente, und außer diesen ist nichts da. Schon der Wald ist, daran gemessen, etwas Verwirrendes mit der Vielheit seiner Bäume, seiner Farben und Formen. Dieses aber ist ganz einfach, und das Einfache tut dem Jäger wohl. Er sitzt da, den Rücken an eine Kiefer gelehnt, und sieht vor sich hin. Er denkt nicht nach. Bilder steigen auf und machen andern Platz, und er empfängt sie und gibt sie wieder hin, ohne sie halten zu wollen. Manchmal denkt er an den alten Mann und daß es wohl schön sein könne, wenn der Schweiß der Arbeit sich so verwandle in ein Feld des Brotes. Es ist anders gewesen am Rand der Wüste, und es ist gut, daß es nicht überall so ist auf der Erde.

Manchmal auch denkt er an die Majorin. Daß sie nun wohl nicht an einem ihrer Roggenfelder sitze gleich ihm, sondern auf der erleuchteten Terrasse unter Gästen oder unter ihren kühlen Betttüchern liege, die Hände über der Brust gefaltet, und an den Jäger denke, dem sie nun nicht mehr kündigen wolle, aber der nun untergegangen sei im Walde, verschollen mit seiner Fata Morgana, ein Toter, über dem die Bäume einmal zusammenwachsen würden.

Aber es ist wohl noch nicht gut, zu lange an die Majorin zu denken. Weil die Majorin nicht so einfach ist wie ein Element. Wie dies Feld zum Beispiel, über dem die Sterne stehen und der Bogen der Milchstraße sich spannt. Es ist nur schlimm, daß der Geruch des Kornes die Neigung hat, das Bild der Majorin mit sich zu bringen. Es ist dem Jäger nicht aufgefallen, daß die Haut der Majorin nach Roggen duftet, ebensowenig wie ihr Haar. Es muß da einen andern Zusammenhang geben, aber der Jäger weiß ihn nicht, und er gibt es auf, darüber zu grübeln. Eine Wiesenschnarre ruft hinter dem Feld, und es ist gut, auch ihr zuzuhören, dem eintönigen und so einfachen Ruf, in dem alle leisen Geräusche der Nacht zusammenströmen als in einem Mittelpunkt, dem allein zu sprechen erlaubt ist in dem großen Schweigen der Felder und Wiesen.

Sehr spät geht der Jäger heim. Vielleicht wartet es ganz leise in ihm, daß hier in dem Einfachen der nächtlichen Landschaft etwas geschehen könnte, etwas ebenso Einfaches, damit das Menschliche sich dem Natürlichen verbinde. Aber auch das Warten ist ohne bittere Ungeduld, und wenn nichts geschieht, steht der Jäger auf und tritt zurück in den Wald wie ein stilles Tier, das von den Feldern kehrt.

Auch am Tage geht er nicht weit von seinem Hofe fort. Die Gewehre hängen geölt neben der Tür, und er nimmt nur ein Messer mit oder einen Korb. Er hat begonnen, einen kleinen Garten innerhalb seines Zaunes anzulegen, obwohl die Jahreszeit nicht gut ist zum Pflanzen. Da sind viele seltene Blumen und Gewächse im Wald, mit starken und leuchtenden Farben, die er zusammenträgt. Aber nicht nur die seltenen, sondern auch die gewöhnlichen möchte er zusammenhaben, so daß er von seiner Bank aus sie alle übersehen kann und so daß der graue Zaun sich langsam mit ihnen bedeckt. Es ist eine stille Arbeit, die ruhige Hände braucht und viel Liebe, damit alles erst anwächst an der fremden Stelle, und dieses Stille des Suchens und Heimbringens und Pflegens tut dem Jäger wohl. Es muß doch etwas getan werden, damit die langen Tage erfüllt werden und die dunklen Gedanken nicht heimisch werden in der Leere der Stunden. Und vielleicht ist auch etwas gutzumachen an dieser verlassenen Wohnstätte, an der Böses gesprochen und getan worden ist, damit der Jäger ruhig auf seiner Bank sitzen kann. Und damit auch der Ruf des nächtlichen Vogels ihn nicht mehr zu quälen braucht, sondern nur angibt, daß er noch da ist.

Jonas kommt ein einziges Mal, aber es wird kein Feuer gemacht zu seinen Ehren, denn er kommt nur mit einer Botschaft und steht nur eine Weile am Zaun, die Arme auf die Sprossen gelegt und die Blicke auf die Blumen gerichtet, die hier früher nicht gestanden haben. Ja, der Sohn der Majorin sei angekommen, der junge Herr, in einem roten Wagen ohne Pferde, und er habe eine Dame mitgebracht mit gelben Haaren, die so dünn sei wie ein Peitschenstiel, und sie sagten ja auf dem Hofe, daß das seine Braut sei. Und die Frau Majorin lasse Michael bitten, daß er ihr einen Rehbock schießen möchte für die Küche.

»So …«, sagt der Jäger und denkt lange nach. »Dann mußt du wohl der Frau Majorin sagen, daß ich kein Reh schießen möchte und daß sie den Förster darum bitten möchte.«

Jonas wird das ausrichten, ohne daß er sich verwundert. Er stopft noch eine Pfeife mit des Jägers Tabak und zieht die Blüte einer Weidenrose vorsichtig durch die Finger, die schon höher als der Zaun ist und die hier früher auch nicht gestanden hat. Und das mit der Eule habe Michael nun wohl eingesehen, fragt er endlich. Daß es nicht so einfach sei, um die Toten herumzugehen, nicht?

Auch hier denkt der Jäger lange nach, bis er den Kopf schüttelt und erwidert, daß da nicht viel einzusehen sei, außer daß man reinen Herzens sein müsse dazu, und das gehe nun wohl langsamer, als sie beide gedacht hätten.

Nach dieser Antwort sieht Jonas ihn vorsichtig an, fährt noch einmal mit seiner schweren Hand über die Blüten der Weidenrosen und nickt ihm dann zum Abschied zu.

Der Jäger steht noch eine Weile unter seinen Blumen am Zaun und raucht. Die Stille ist nun noch größer, nachdem Jonas fortgegangen ist, so groß, daß der Jäger sich umblickt, ob niemand außer ihm da sei. Aber da ist nur der graue Giebel und die hohen, dunklen Bäume, und er hört sein Herz klopfen als das einzige Lebendige in seiner großen Einsamkeit. Er hat zum Waldrand gehen wollen wie an jedem Abend, aber die Lust ist ihm nun vergangen, und er geht früh auf sein Lager und wartet dort, die Hände unter dem Kopf gefaltet, bis die Grille zu rufen beginnt, die seit einiger Zeit unter seinem Herd wohnt und bei deren stillem Gesang er einzuschlafen pflegt, ohne daß er sich zu quälen braucht um seinen Schlaf.

»Blumen, Jonas?« fragt die Majorin um dieselbe Zeit. »Hast du dich nicht geirrt, Jonas? Es war schon dämmrig unter den Bäumen, als du dort warst?«

Aber Jonas hat sich nicht geirrt, und er hat alles gut behalten, das mit dem Reh und auch das mit dem reinen Herzen.

»Glaubst du, daß er es aus Trotz nicht tut, Jonas? Oder glaubst du etwas anderes?«

Da sei kein Trotz in des Jägers Augen, erwidert Jonas, nur großer Kummer. Und es sei wohl zu verstehen, daß ein Mensch mit einem großen Kummer nicht Rehe schießen wolle.

Und … ja, Jonas müsse auch das noch sagen … getrunken habe der Jäger nicht?

O nein, das habe er nicht. Das könne Jonas einem Menschen wohl anmerken, ob er trinke oder ob er versuche, reinen Herzens zu werden.

Und zum Schluß hebt Jonas die Augen auf und bittet, die Frau Majorin möchte doch guten Mutes sein. Vom Leben zum Tode zu kommen, sei ein leichtes Stück, aber vom Tode umzukehren, sei wohl eine schwere Straße, und man müsse mit frohen Augen an ihrem Rande stehen, um den Wiederkehrer nicht zu erschrecken.

Darauf mußte die Majorin noch für einen Augenblick auf die Terrasse hinaus, wo das Brautpaar neben einem quäkenden Grammophon sitzt, und bitten, die Musik abzustellen. Die Dame mit dem gelben Haar hebt nur flüchtig die Striche ihrer Augenbrauen, und der junge Mann nimmt nachlässig die Hand von seinem Whiskyglas und bewegt den Hebel an dem schwarzen Kasten. »Komisch, daß ihr es nie still genug haben könnt hier draußen, Mama«, sagt er nachsichtig. »Wie in einem Totenhaus.«

Die Majorin steht noch an der Brüstung und blickt in den abnehmenden Mond über den Bäumen des Parkes. »Ich glaube, daß du Ende der Woche fahren könntest«, erwidert sie ruhig. »In vierzehn Tagen wird die Ernte beginnen, und es ist hier immer so gewesen, daß man vorher eine Weile ganz still ist, die Menschen und auch die Tiere.«

»Wie die Frau Mama befehlen«, sagt der junge Mann und reicht seiner Braut ein Streichholz.

Und dann liegt auch die Majorin auf ihrem Lager, die Hände über der Brust gefaltet, wie der Jäger vermutet hat. Aber da ist keine Grille, auf die die Majorin zu ihrem Schlaf warten könnte. Nur das leise Rauschen der Bäume und ab und zu das Klirren eines Glases und das hohe Gelächter einer fremden Mädchenstimme, so fremd wie aus dem Zimmer eines Gasthofes, mit einem Nummernschild über einer verschlossenen Tür.

Die Majorin denkt an ihren erwachsenen Sohn und daß es nicht leicht sei, erwachsene Söhne zu haben. Nicht daß sie fliederfarbene Handschuhe haben und einen roten Wagen, vor dem die Pferde scheuen. Aber daß sie zum Beispiel behaupten, sie hätten nun entdeckt, daß sie Maler werden müßten und daß sie gelbhaarige Mädchen als Danae mit dem Goldregen malen. Und daß sie abends meistens betrunken sind, und zwar nicht aus einem zerstörten Leben heraus wie der Jäger, sondern aus einem sumpfigen und verfaulten Leben heraus. Und daß es schwer sein würde, sehr schwer, wenn von der Majorin bekannt würde, daß sie mit einem Jäger Branntwein aus derselben Flasche getrunken und sich ihres Stolzes begeben habe, ganz und gar.

Und nun will derselbe Jäger versuchen, reinen Herzens zu werden, um den Totenvogel schießen zu können. Die Majorin aber, die Herrin über Jäger und Vögel, weiß nicht, ob sie reinen Herzens ist. Denn in einem Menschen reinen Herzens müßte das Blut leiser gehen, und vor seinen Augen müßten sanfte Bilder stehen. Helfen und heilen müßte ein Mensch reinen Herzens wollen, aber nicht mehr. Das Geheilte müßte davongehen dürfen, seine eigene Straße, wie ein geheiltes Wild. Auch wenn der Heilende zurückbleibt, eine einsame Herrin, vor der die Leute die Mützen abnehmen.

Es komme wohl vor, denkt die Majorin, daß ein Mensch von vierzig Jahren sein Leben hinwerfe um eines Truges willen oder um einer Erkenntnis willen und ein neues Leben beginne. Auch in ihrer Landschaft ist es vorgekommen und verurteilt worden. Auch von der Majorin. Denn es läßt sich ein Leben nicht hinwerfen, ohne daß dabei zerbrochen wird und ohne daß die in den alten Lebenskreis Eingeschlossenen für eine Weile hilflos und verstört zurückbleiben. Jonas zum Beispiel oder der Rappe. Und es ist auch nicht zu wissen, wie sie die Ernte einbringen würden, die doch auf die Menschenhände wartet, auf treue und ruhige Menschenhände, die den Zeitpunkt wissen müssen, zu dem die Körner aus den Ähren fallen würden. Und eine Ernte wird doch nicht nur um der Ernte willen hereingebracht, sondern um des Brotes willen. Und sind nicht viele Hände im ganzen Land, die sich schon leise ausstrecken, um das Brot zu empfangen?

Die Majorin richtet sich auf in ihrem Bett und schiebt den Vorhang des Fensters zur Seite. Gelächter und Gläserklirren sind verstummt, und ruhig und hell steht die Sichel des Mondes über den Bäumen. Aus der Tiefe der Felder ruft die Wiesenschnarre, und mit dem leisen Wind kommt der Geruch des Kornes über den Park und durch das offene Fenster in ihr Zimmer herein. Es ist nicht nötig, daß ein Mensch vor einem solchen Bilde weint, und auch die Majorin will es nicht, aber sie kann es nicht hindern, daß aus ihren offenen Augen die Tränen fallen, und auch hier wird Jonas recht gehabt haben, daß es nicht leicht sei, reinen Herzens zu werden, so reinen Herzens, daß man jede Ernte für andere schneidet und nicht für sich.

Aber dann erweist sich doch, daß die Bilder des Himmels und der Erde größer sind als die Bilder des Menschenherzens. Denn der Laut der Wiesenschnarre, der aus den Kornfeldern kommt, und das Bild der halben Sichel, die zu den Feldern niedersteigt, sind auch für die Majorin in ihren Tränen ein großes Zeichen, das sie begreifen kann. Und es geht nicht an, daß eine Mutter ein Gesetz vor ihrem erwachsenen Sohn aufrichtet und sich selbst ausläßt aus diesem Gesetz. Und da sie gesagt hat, daß man hierzulande vor der Ernte eine Weile ganz still sei, Menschen und Tiere, so muß sie wohl das Ihrige dazu tun, still zu werden. Denn es ist wohl keiner Mutter erlaubt, ihren Sohn aus der Heimat zu schicken, nur weil ihr an diesem Sohn mißfällt, wonach sie selber trachtet, und nur damit niemand an ihren heimlichen Wegen stehe. Und wiewohl es auch einer Mutter keine Schande zu sein brauchte, vor ihrem Sohn zu erröten, so würde die Majorin es wohl nicht überleben dürfen, weil es ein furchtbares Urteil enthalten würde. Und weil es nicht gleich sein würde, ob sie sich ihres Stolzes vor einem betrunkenen Jäger oder vor einem schlechten Kinde begeben würde.

Und nun schläft auch die Majorin ein, die Wange auf eine Hand gelegt, wie sie zu schlafen pflegt. Das große Haus schweigt, und Hof und Ställe schweigen. Und in der ganzen Landschaft ist nichts zu hören als der Ruf der Wiesenschnarre, der alle reifenden Felder umfängt unter dem sinkenden Mond.

Am nächsten Tag, um die Mittagszeit, erhält der Jäger Besuch. In einem roten Wagen, hinter dem ein blauer Dunst den Raum zwischen den Stämmen erfüllt. Der Wagen ist zuerst beim Pfarrhaus gewesen, aus langer Weile vermutlich, und dort, im Garten, hat die Frau mit den spitzen Augen das Gespräch auf den Jäger gebracht. Ein harmloses Gespräch, in dem nur der Vollständigkeit halber erwähnt worden ist, daß die Frau Majorin ja ziemlich oft zu ihrem Jagdhaus reite, immer noch im Herrensitz, obwohl einige Ärzte das doch für bedenklich hielten. Und leider werde in der Landschaft ziemlich viel darüber geredet, nicht über den Herrensitz, aber über das Jagdhaus. Die Leute müßten eben etwas zu reden haben, obwohl jedermann wisse, daß die Frau Baronin das Muster einer Frau und Gutsherrin sei. Und danach hat die Frau Pastorin gefragt, wie teuer solch ein roter Wagen sei und ob es wahr sei, daß die Pferde nun aussterben würden.

Der junge Freiherr aber ist mit seiner Verlobten plötzlich aufgebrochen, und erst im Wagen hat er leise vor sich hin gepfiffen, als ob er sehr vergnügt wäre.

Der Wagen fährt also bis an den grauen Zaun, wird kunstgerecht gewendet und steht dann nach einem letzten Aufbrausen still. Die Wagentüren knallen zu, und es ist nun Zeit für den Jäger, sich hinter seinem kleinen Blumenwald aufzurichten und sich auf seinen Spaten zu stützen. Sein Gesicht ist nicht sehr freundlich, denn es ist wohl nicht ganz leicht für ihn, den erwachsenen Sohn der Majorin zu sehen, zusammen mit einer hellblonden Dame, derengleichen er in bestimmten Vierteln großer Städte oft genug gesehen hat. Und er weiß nun in diesem Augenblick, daß es für die Majorin wohl Grenzen gibt, die niemals zu überschreiten sein werden, und daß das Leben leichter sein würde, wenn diese beiden da nicht da wären, sondern zum Beispiel unter einem umgestürzten roten Wagen lägen.

Und statt die Frage freundlich und respektvoll zu beantworten, ob er der vielbesprochene wilde Jäger sei, der von den Toten heimgekehrt sei, fragt er, ob man nicht eine Tafel an der Landstraße gesehen habe, die das Benutzen dieses Weges verbiete?

Darauf lacht die junge Dame ziemlich laut und ohne Grund und fährt fort, den Jäger nicht ohne Wohlgefallen zu betrachten. Der Freiherr aber, die Arme auf die Zaunsprossen gelegt, zündet eine Zigarette an und meint, daß seine Mutter sich da einen ziemlich wilden Falken gezähmt und über ihren Wald gesetzt habe.

Es könne sein, erwidert der Jäger, daß ein Falke auch einmal Appetit auf Spatzen bekomme statt auf Tauben.

Das wird nun keine gute Unterhaltung, und sie wird dadurch nicht besser, daß der junge Freiherr ein Glas vor das rechte Auge setzt, das wie eine Fensterscheibe vor einem leeren Haus anzusehen ist, und mit einem bösen Lächeln meint, daß das nicht weiter verwunderlich sei, weil ein Spatz in der Hand nach einem alten Sprichwort immer noch besser sei als eine Taube auf dem Dach, oder, wie in bestimmten Fällen, auf einem Pferd.

Denn der Jäger, nachdem er dieses begriffen hat, geht langsam in sein Haus und kommt mit der Repetierbüchse wieder, die sauber geölt neben der Tür auf einem Holzpflock gehangen hat. Und nachdem er sorgfältig den Patronenstreifen in die Kammer gedrückt hat, betrachtet er aufmerksam den roten Wagen und schickt den ersten Schuß durch das Thermometer am Kopf des Kühlers. Die Scherben spritzen auseinander, und die junge Dame schreit, als ob der Schuß durch ihre Kehle gegangen wäre. Es hilft dem Freiherrn nicht viel, daß er sehr laut fragt, ob der Jäger verrückt geworden sei, denn der Jäger hat anscheinend beschlossen, den roten Wagen mit Stahlmantelgeschossen gebrauchsunfähig zu machen, wobei er bei den unwichtigeren Teilen beginnt, denn der zweite Schuß zertrümmert den Winker an der rechten Wagenseite.

Aber während er noch nach einer Zielscheibe für die dritte Patrone sucht, schießt der Wagen aufheulend davon, unter Flüchen des Lenkers, während die junge Dame neben ihm sich umdreht und nicht ohne Bedauern die Gestalt des Jägers hinter dem grauen Zaun zurückbleiben sieht.

Die Majorin erfährt das Ganze am Rand der großen Wiese, während sie ihren Rappen zu beruhigen versucht, der vor dem roten Wagen auf der Hinterhand kehrtmachen will. Nein, sie gedenke nicht, den Jäger zu bestrafen, auch nicht, ihn zu entlassen, aber die Kosten für die Reparaturen werde sie natürlich tragen. Es sei wohl nicht sehr richtig gewesen, diese Fahrt zu unternehmen, ohne sie zu fragen.

Er habe erst im Pfarrhaus erfahren, erwidert der Freiherr nun mit kalter Betonung, daß man durch diese Fahrt in angenehme Privatrechte der Frau Mama eingreife, aber habe nicht gedacht, daß es mit Lebensgefahr verbunden sei.

Hier lächelt die junge Dame mit gemalten Lippen und blickt die Majorin an, wobei sie ihre langen Wimpern auf eine bestimmte Art wie zum Zeichen des Einverständnisses bewegt.

Einen Augenblick scheint es, als wollte die Majorin die Peitsche heben, aber dann wendet sie nur das Pferd und reitet langsam in die Wiese hinein.

Nach dem Essen aber, zu dem sie nicht erschienen ist, klopft Lena an das Gastzimmer des jungen Paares und bittet, beim Packen der Koffer behilflich sein zu dürfen, weil die Frau Majorin es ihr befohlen habe.

Und am Abend ist das Gastzimmer wieder leer wie sonst, und nur der Duft eines strengen Parfüms und eine verhüllte Staffelei stehen fremd in dem kleinen grünen Raum. Gegen den Duft werden die Fenster geöffnet und auch zur Nacht nicht geschlossen, und die Staffelei trägt die Majorin selbst in das Kaminzimmer hinunter, am späten Abend, nachdem sie die Bettdecke wieder zusammengelegt hat, die von der Mamsell über das Bild gebreitet worden ist. Das nicht vollendete Bild stellt die junge blonde Dame als Danae dar, und während die Majorin wartet, bis das Feuer im Kamin hell genug brennt, betrachtet sie es aufmerksam, um zu erfahren, ob sie hier nicht den Keim eines Kunstwerkes zerstören wolle. Aber außer einer sehr flüchtigen Ähnlichkeit mit dem Modell und einer flachen Eleganz der Linienführung ist an dem Bild nichts bemerkenswert als die Sorgfalt, mit der für den im Mythologischen unwissenden Betrachter das Geschlecht des Modells und seine Bestimmung dargestellt ist.

Und so nimmt die Majorin den nackten Holzrahmen in beide Hände, stellt ihn aufrecht in das Feuer und sieht zu, wie aus dem Goldregen der Sage ein Scheiterhaufen wird, auf dem die überschlanken Glieder sich krümmen und schwärzen, bis die reine Flamme alles zerstört hat und nur das Element sich in die dunkle Esse hebt.

Und dann sitzt die Majorin noch eine Weile vor der wieder sinkenden Glut, die ruhigen Hände gefaltet, und bedenkt den Weg dieses Menschenlebens von der Stunde seiner Empfängnis bis zu der seines Flammentodes, und daß es wohl Frauen geben müsse, denen bestimmt sei, ihre Ernte auf den Feldern zu suchen statt am eigenen Herd und Herzen. Und daß es wohl ein Trost sei, daß die Ernte der Felder die Mühe danke, die man an sie wende, aber daß der Laut der Wiesenschnarre hinter den geöffneten Fenstern nicht immer ausreiche, um das Schweigen eines großen, alten Hauses mit Leben zu erfüllen, sondern daß immer etwas übrigbleibe, wohin diese Stimme nicht dringe, ein kleiner und unerfüllter Raum. Und dieser sei es wahrscheinlich, in dem die Haltung des Menschen sich zu bewähren habe.

Am nächsten Tag ist es nun Zeit, daß die Sache mit dem Wildbret in Ordnung gebracht wird, weil die Mamsell wissen will, ob die Küche ein Reh bekommen werde oder nicht. Und nach der Stunde am Kamin glaubt die Majorin imstande zu sein, eine Weile an dem grauen Holztisch sitzen zu können, ohne die Augen niederschlagen zu müssen.

Sie trifft den Jäger auf dem grünen Weg, dort, wo man von der Höhe in die Schonungen hineinblicken kann. Da sie die Spuren des roten Wagens mit den Augen verfolgt, die sich tief in den Boden eingedrückt haben, erblickt sie den Jäger erst sehr spät, und auch der Jäger hat den Hufschlag wohl nicht gehört, denn er sitzt auf einem Baumstumpf, ein Blatt in den Händen, und blickt untätig vor sich hin. Er hat kein Gewehr bei sich, nicht einmal einen Stock, und alles Berufsmäßige ist so von ihm abgefallen, daß er wieder wie ein Wanderer aussieht, der eine kurze Ruhe hält, bevor er in das Helle der Felder hinaustreten muß.

Doch steht er schnell von seinem Baumstumpf auf und hilft der Majorin beim Absteigen, und es scheint der Majorin, als sei eine zarte Hilfsbereitschaft in allen seinen Bewegungen, wie für einen kranken Menschen, der zum erstenmal nach langer Zeit aus dem Sattel steige.

»Ich möchte gern deine Blumen sehen, Michael«, sagt sie, noch etwas verwirrt. »Jonas hat mir davon erzählt …«

Der Jäger nickt nur, und dann gehen sie nebeneinander den stillen Weg entlang. Er hat noch immer das Lindenblatt in der Hand, und mitunter hebt er es an die Lippen, ganz gedankenlos, und dann tönt das Blatt mit dem zarten Ton, den die jungen Raubvögel haben oder die Schmalrehe in der Blattzeit.

»Jonas hat mir auch erzählt«, fährt die Majorin fort, »daß du kein Reh für meine Küche schießen möchtest, und auch darnach wollte ich dich fragen.«

Die Frau Majorin möchte noch ein wenig warten, erwidert der Jäger, und sehr leise auftreten. Eine Waldwiese öffnet sich hinter den Stämmen zur Linken, und auch von dort ist der zarte Ton zu hören, den der Jäger auf seinem Lindenblatt erzeugt. Und bevor die Majorin erkennen kann, was der Jäger will, rauscht und bricht es im Gebüsch, und das Schmalreh jagt auf die Wiese hinaus, in seiner Fährte der Bock. Dreimal kreist das Rot der gestreckten Leiber um das freie Rund, und dann verklingt der geängstigte Ruf im hohen Wald.

Nun ist die Majorin eine Frau, die aufgewachsen ist im Leben der Felder und der Tiere, in einem Leben also, in dem es nicht angebracht ist, die Augen vor der erhaltenden Kraft der Natur zu verschließen. Und da das ernste Spiel der Natur immer das gleiche ist, so hängt es nur von den Augen des Menschen ab, ob er Sündiges oder Reines darin erblicke. Und wenn die Majorin nun errötet, so geschieht es nicht um das, was sie gesehen hat, sondern weil der Jäger neben ihr steht, den Blick noch immer in den Hochwald gerichtet, und das Blatt nun achtlos aus den Händen fallen läßt und sich zum Rückweg wendet, ohne sie anzusehen. Und erst vor dem grauen Zaun sagt er wie aus tiefen Gedanken heraus:

»Nun versteht die Frau Majorin vielleicht, daß ich jetzt kein Reh für die Küche schießen möchte …«

Sie sitzen nun beide auf der Bank vor dem Holzhaus und schweigen. Es fällt der Majorin nicht leicht, einen Anfang zu finden, da es nicht derselbe Jäger ist, der neben ihr sitzt, sondern ein neuer Mensch am Beginn eines neuen Weges, für den die alten Worte nicht mehr gelten. Und es ist wohl am einfachsten, nur die Hand für einen Augenblick auf seine Hand zu legen, als ein Zeichen der Teilnahme und des Dankes.

Auch darauf behält der Jäger seine unbewegliche, fast strenge Haltung bei, die ihn wie eingesponnen erscheinen läßt in einer unberührbaren Welt. Aber nach einer Weile sagt er dann: »Der Wagen war hier, und die Frau Majorin hat wohl das andere gehört.«

Ja, das hat sie, und er habe wohl nicht ganz recht gehandelt nach dem Buchstaben, aber der Wagen sei nun fort, und auch die Frau des Pastors werde ja einmal aufhören, Böses von ihnen beiden zu sprechen.

Jetzt sieht der Jäger sie doch an. »Von uns beiden?« fragt er. »Von der Frau Majorin und mir? Ja, so kommt es wohl manchmal, daß im Bösen zusammengebracht wird, was im Guten niemals zusammenkäme. Aber die Frau Majorin kann ganz ruhig sein. Auch die Frau Pastorin wird sich eine neue Fata Morgana ausdenken, wenn dieses versunken sein wird.«

»Es war nicht die Pastorin allein«, sagt die Majorin leise. »Und vielleicht ist es zu verstehen, daß es für eine Mutter nicht leicht ist, die Augen vor denen niederzuschlagen, die du gestern hier gesehen hast. Ich habe wohl aufgehört, eine stolze Frau zu sein, hier in diesem Hause, und ich will mich dessen nicht schämen. Aber du wirst nicht wollen, daß ich auch dort damit aufhöre, und ich habe gedacht, du würdest es gern sehen, wenn die Frau Majorin eine stolze Frau bliebe.«

Da habe die Frau Majorin ganz recht gedacht, erwidert der Jäger, und dann bittet er sie, seine Blumen anzusehen, denn er habe inzwischen entdeckt, daß der Spaten wohl nicht schlechter sei als ein Gewehr, und das sei für ihn immerhin eine große Entdeckung, weil er geglaubt habe, niemals mehr einen Spaten anfassen zu können.

Ob der Jäger die Wiesenschnarre hier hören könne in der Nacht, fragt die Majorin, als sie wieder neben ihrem Pferd steht.

Ja, das könne der Jäger, und er sitze sogar jeden Abend am Waldrand, dort, wo der Roggen des alten Mannes stehe, um sie näher zu hören als hier.

Das sei ein guter Vogel, sagt die Majorin, schon im Sattel. Und wer sich verirrt habe im Leben oder auch nur nicht wisse, ob er rechts oder links zu gehen habe, der brauche ihm nur eine Weile zuzuhören, und dann werde er vielleicht hören, wie das Brot wachse in der Nacht, und wissen, daß es für den Menschen wohl nichts Schöneres gebe, als für Brot zu sorgen, damit die Hungernden satt würden.

Dazu nickt der Jäger nur, und während er eine Schnalle am Trensenzügel öffnet und wieder schließt, fragt er, ob die Frau Majorin glaube, daß er nun reinen Herzens sei oder jemals dazu kommen werde, es zu sein.

Und da beugt die Majorin sich noch einmal zu ihm herunter. Ja, sie glaube es, denn sie fürchte sich nicht mehr. Aber sie sei ohne Verdienst daran, ganz ohne Verdienst, und sie bitte ihn, sie als jemanden zu betrachten, der sich aufrichten müsse an seinem reinen Herzen. Es werde einem Manne wohl am leichtesten, gut zu sein, wenn er eine Frau aufrichten könne.

Lange sieht der Jäger ihr nach, als sie davonreitet. Es ist schwer zu wissen, ob eine Frau nur klug ist und die Fäden nur knüpft, die in ihre Hand gelegt sind, oder ob auch sie dem Gewebe unterworfen ist, das über den Menschen fällt, und nur stiller ist unter den Maschen. Aber es kommt wohl auf dasselbe heraus, und der Jäger wird nun versuchen, eine Probe zu machen, ob man sich auf die Meinung der Majorin verlassen kann.

Er holt das Fernglas und die Doppelflinte aus der Hütte und geht nach langer Zeit wieder zu den Brüchen, wo der Totenvogel zu rufen pflegt. Ein Wetter steht hinter dem Moor, und in das blaue Leuchten geht der Jäger langsam hinein. Auch hier noch, in der Tiefe des Waldes, ist der Ruf der Wiesenschnarre zu hören, und es müßte schön sein, jetzt in den Feldern zu sein und zu sehen, wie bei jedem Wetterleuchten das Pferd und die Majorin auftauchen würden über den reifenden Ähren. Wie die Bäume sich aufrichten würden ins blaue Licht, die schmalen Schäfte der Pappeln zum Beispiel, und wie alles wieder versinken würde wie eine Fata Morgana über gelben Dünen. Wahrscheinlich wird die Frau Majorin an ihre Felder denken, und ob das Gewitter mit Hagel kommen werde, oder an ihre Ställe und Scheunen und das Vieh auf den Wiesen. Und es werden wenig Gedanken übrigbleiben für das Holzhaus unter den Bäumen. Der Blitz wird nicht diejenigen treffen, die reinen Herzens sind. Der Blitz trifft die Lebendigen, aber nicht die Toten. Er trifft das Brot, aber nicht das Feuer im Ofen.

Lang und schwer ist der Weg heute zu den Brüchen. Das Licht blendet, und der Jäger kommt oft vom Wege ab. Schweiß steht auf seiner Stirn, denn die Luft ist unbewegt und schwer von unbekannten Gerüchen. Das Licht verwandelt den Wald. Es schießt zwischen die Stämme hinein und beleuchtet die Wände von Tälern, die sonst nicht dagewesen sind. Es löscht die Richtungen aus und versetzt die Bäume. Es ist gefährlich in seiner völligen Lautlosigkeit, mit der es tastet und erlischt.

Der Jäger bedenkt, daß es fast unmöglich sein wird, bei diesem Licht zu schießen, und daß es klüger sein würde, umzukehren. Aber dies ist wohl keine Nacht zum Klugsein. Nun rufen schon die Unken in den schwarzen Erlentümpeln, und so ist er also nicht falsch gegangen. Eine Nacht, die gut wäre zur Flucht, mit Donnern, die sich über die fliehenden Schritte stürzen würden, und mit Regen, der die Fußspuren auslöschen würde vom Gesicht der Erde. Aber die Sonne würde wieder aufgehen über dem reifenden Korn und über Menschen, die aufzurichten wären nach einer einsamen Nacht.

Nicht gut, zu träumen in solch einer Nacht, denn nun erschrickt man über den Ruf des Vogels, der hinter den Wiesen weint. So sehr, daß das Herz zu schlagen beginnt. Und es fürchtet sich doch nicht vor den Toten. Nicht vor des Jonas kleinem Bruder, der auf dem Grunde des Moores schläft, und auch nicht vor dem fremden Korporal, der dort unter den Erlen steht. Aber es ist nur ein Weidenstumpf, und das nächste Licht zeigt, daß es zwei trockene Äste sind, die sich erheben, und nicht zwei Arme, die schweigend vor die Augen gehoben sind. Nein, der Jäger fürchtet sich nicht vor den Toten. Der Jäger ist reinen Herzens. Er hat es aufgegeben, die Majorin in seinen Armen halten zu wollen, denn die Majorin hat getrunken an seinem Tisch, um ihn zu erlösen, und die Majorin hat einen Sohn, der sie eine Taube nennt.

Kühl ist das Metall der Flintenläufe. Das einzig Kühle in dieser heißen Nacht. Gut, die Hände darauf zu legen, und gut, die Stirn an die Läufe zu halten. Gutes fließt in das Blut aus ihrer Kühle, das Gute des Erzes, das geschmolzen und gegossen und gehämmert ist, bis es still geworden ist in der Erstarrung seiner befohlenen Form. Alle Erstarrung ist schön, die des Erzes wie die des Todes, wie die des Schmerzes. Sie ist das einzig Sichere auf dieser Erde, denn durch ihre graue Ruhe brechen keine Wünsche mehr. Niemand weiß von ihnen, und es ist, als wären sie nicht mehr da. Nur der Erstarrte weiß, was da ist, und er schweigt. Es gibt kein Gebot des Sprechens.

Zu Tode erschrecken würde die Majorin, wenn sie ihn so sähe, die Gewehrläufe an der Stirn. Aber sie braucht sich nicht zu fürchten. Kühle will der Jäger, aber nicht den Tod. Die reinen Herzens sein wollen, müssen auch kühlen Herzens sein, und auch der Jäger braucht etwas, an das er seine Stirn lehnen kann in einer solchen Nacht.

Der Vogel weint. Der Jäger hört, daß er wandert, in einem großen Kreise, der sich weitet und verengt. Aber der Jäger wartet. Er steht nicht auf, um zu suchen. Was ihm bestimmt ist, wird zu ihm kommen. Manchem ist die Liebe bestimmt, und sie wird zu ihm kommen in einer solchen Nacht. Und manchem ist der Totenvogel bestimmt, und auch er wird kommen, wenn es an der Zeit ist. Zu den Furchtlosen, die so furchtlos sind, daß sie sich auch vor der Zeit nicht fürchten.

Der erste Donner steigt über das Moor und rührt mit trägem Murren an den Wald. Ein kühler Hauch geht über das Gras, bewegt das Espenlaub und geht als eine einmalige leise Beugung über das weiße Wollgras hin. Nun erwachen die Vögel, suchen ein sicheres Nest und schlafen wieder ein. Was die Bäume denken, weiß der Jäger nicht. Fahl ist ihre Rinde und unbeweglich ihr Wipfelrand. Und plötzlich, noch vor dem zweiten Rollen ferner Donner, überfällt ihn die Erkenntnis, wie furchtbar allein er in diesem Wald ist. Ein Mensch auf einem Baumstumpf, ein Gewehr über den Knien, und rings um ihn und über ihm die Tausendfältigkeit der schweigenden Wipfel, auftauchend aus der Nacht und sich wieder begrabend in ihr. Und Vögel wohnen dort, die er nicht sieht, und unter der Rinde leben die Käfer, von denen er nichts weiß, und durch das Gras ziehen die Fährten der kleinen Wanderer, die er nicht kennt. Immer war das so, und nichts Neues hat er entdeckt, aber wie ein fahler, verborgener Spiegel ist mit einemmal der Wald, und in dem Spiegel erblickt der Jäger sein neues Gesicht. Nicht nur einsam ist er, sondern fremd ist er im Wald. Ein Jäger, der nie ein Jäger war, sondern ein Hirte zuerst und dann ein Soldat und dann ein Gefangener und dann ein Heimatloser in der Welt. Dem man ein Obdach gab im Verborgenen, und nichts verbirgt so gut wie der Wald. Aber man kann nicht im Keller leben, wenn man über der Erde geboren ist, und man kann nicht die Tropfen verstehen, die von den feuchten Wänden fallen.

Und der Totenvogel ruft. Ein böser Zauber ist um diese Nacht. Bis in die Höhlen der Tiere leuchtet das Licht, und auch das Licht weiß, daß ein Fremder umgeht im Wald. Für den Wald muß man geboren sein, als ein Jäger zum Beispiel, oder als ein Köhler, oder als ein Kräutermann. Als dieses alles ist der Mann mit dem Gewehr nicht geboren, und er beginnt nun zu verstehen, weshalb er das Holzdach seiner Hütte liebt und den grauen Zaun mit den wilden Blumen. Und auch die Majorin hat dieses nicht gewußt. Denn sie hat hier niemals gesessen, auf einem Baumstumpf im Bruchwald, unter dem bläulichen Gewitterlicht. So wird er es ihr also sagen müssen, daß es nicht gut war, ihn zum Jäger zu machen in einem großen Wald, und daß er nun doch davongehen muß, damit er nicht verstörten Herzens werde in diesem fremden Land.

Aber als der Jäger aufsteht, ruft es über ihm im Geäst, und der nächste Blitz schleudert sein ganzes Licht auf den Vogel, der im trockenen Eichenwipfel sitzt. Der Wipfel ist so weiß, als habe der Blitz seine Äste entrindet, und auch der Vogel ist weiß, wie verwesendes Holz, das aufglüht vor dem dunklen Wolkengrund.

Die Hand des Jägers tut das Ihrige von selbst. Sie weiß nicht, daß sie den Sicherungshebel zurückzieht vom Kolbenhals und die Mündung hebt. Die Hand des Jägers hat sich losgelöst von seinem Willen, und als das nächste Leuchten aufsteht als eine weiße Wand, berührt die Hand des Jägers den Abzug und läßt ihn ruhig los, nachdem der Donner des Schusses ihr angezeigt hat, daß sie das Ihrige getan hat.

Die Hand des Jägers hat getötet. Der Jäger aber weiß nichts von seiner Hand. Er steht da und starrt in die Schwärze hinauf, und leise rieselt das Kalte der Angst von seinem Nacken abwärts, zwischen die Schulterblätter hinein. Eine kleine Eule, Jäger Michael, was ist denn zu fürchten bei ihrem Tod? Auf andere Dinge schon war das kühle Metall gerichtet in deiner Hand. Hörtest du sie fallen? Nein, nur das Echo hast du gehört, das aus den finsteren Wäldern brach. Das Licht entfloh vor deinem Schuß, weit hinter das Moor, zurück durch die Spalten der Wolken. Wie, wenn es nun aufweint von neuem, die weglose Stimme, und dich narrt und verfolgt durch die ganze Nacht? Geh fort aus dem Wald, Jäger Michael! Geh zu dem Kornfeld, in dem ein anderer Vogel ruft, der Vogel, der über der Ernte wacht. Ein neuer Schein, der aufflammt über der ganzen Welt. Und der weiße Wipfel ist leer. Regungslos glüht das Geäst, verdunkelt sich, brennt noch einmal auf und erlischt. Einen tiefen Atemzug tut der Jäger, und mit ihm kommt das Vertraute wieder zurück, der bittere Geruch der Birken, das Harz der Fichten, die Kühle der Gräser und Erlen. Im Dunkeln geht er bis zum Eichenstamm und wartet dort auf das Licht.

Der Vogel liegt vor seinen Füßen, auf dem Rücken, die gelben Fänge eingezogen und leise gekrümmt. Nichts von Grauen und Spuk. Eine fremde Eule, leicht und weich in der Hand, noch warm vom Leben, zwei rote Tropfen auf der grauen Brust.

Lange flammt es nun über dem Wald. Und der Jäger blickt in die Augen des Vogels. Bernsteingelbe Augen, mit einem matten bläulichen Schleier, der sie abschließt von seinem Blick. Traurig wie aller Tiere Augen und weit entfernt, obwohl er sie dicht heranhebt an sein Gesicht. Des Jonas kleiner Bruder? Ach nein, anders werden seine Augen sein, auf dem Grunde des Moors, zugedeckt von Schwere und Dunkel, und längst ist das Grauen ausgelöscht in ihnen über ihren bitteren Tod.

Jonas aber wird glauben. Ruhig wird er nun am Hoftor stehen und nach der Majorin ausschauen, die im Dunklen über die Felder kommt. Keine Gefahr mehr für die Majorin von den Stimmen zur Stunde der Eulenflucht. Brot wird wachsen auf den Feldern, und Jonas wird am Küchenherd sitzen, das Schnitzmesser in der Hand. Lieder werden die Mädchen singen, und die Majorin wird eintreten und bei Jonas stehen. »Wir beide, Jonas … nicht wahr?« Die Felder werden nicht untergehen, und der Mond wird aufsteigen über dem Park. Der Jäger Michael? Ja, einmal war ein Jäger hier, der den Toten erlöste. Aber niemand hat den Jäger erlöst, und fort ist er wieder gegangen, in die weite Welt hinaus. Das Holzhaus verfällt. Niemand will mehr auf der Bank sitzen, auch die Majorin nicht. Der Zaun stürzt um, und die wilden Blumen wachsen und wuchern zu einem leuchtenden Wald. Der Weg wächst zu. Gras wächst über die Spur des Rappen, die Tafel fällt ab, und Moos überzieht die drohende Schrift. Selig aber sind, die reinen Herzens sind.

Eine Weile noch sitzt der Jäger auf seinem Baumstumpf, den toten Vogel in der Hand. Die Donner brüllen schon über dem Wald, aber sie fallen nicht in den Jäger hinein, todmüde ist der Jäger nach seiner Tat, ein Mensch, der nicht weiß, was er mit dem Morgen soll.

Erst als der Regen niederstürzt in den aufrauschenden Wald, geht er heim, den Vogel unter dem Rock an seiner Brust. Die Blitze schlagen hinab in das Land, und die Erde erbebt unter seinem Fuß, aber er geht mit stillem Gesicht dahin, aus dem Walde hinaus, an Kornfeldern entlang, immer geradeaus, bis zum Tor an der Majorin Hof.

Dort sitzt Jonas, mit dem Spaten zwischen den Knien, und auch das verwundert ihn nicht. Ja, Jonas hat den Schuß gehört und gewußt, daß der Jäger reinen Herzens ist. Jonas ist kein Fremdling im Wald, und vielleicht weiß er auch von den Menschen mehr als die Weitgewanderten.

Und er hat auch keine Angst, denn er hält den Vogel in der Hand und hebt ihn nahe an sein Gesicht. »So klein …«, sagt er nur. »So müde und klein …«

Er hebt das kleine Grab in der Ecke des Friedhofs aus, und der Jäger sitzt auf einem verfallenen Hügel und sieht ihm zu. Die Kreuze leuchten auf und versinken, der Regen rauscht, und es ist eine gute Nacht für solch eine verborgene Tat. Der Jäger möchte lächeln, aber er kann es nicht. Viele Gräber hat er graben sehen, viele selbst gegraben, aber ein so kleines noch nicht. Und auch ein so gläubiges noch nicht. Ein guter Kamerad ist Jonas gewesen, von Kindesbeinen an. So war es nicht umsonst, heimzukehren und einem Toten die Ruhe zu geben. Unwichtig vielleicht sind die Lebendigen neben den Toten.

Ja, sie wollen es einebnen, daß der Pastor es nicht merkt. Es kann sein, daß der Pastor keine Eulen in seiner geweihten Erde haben will. Und das übrige besorgt der Regen. Schön klingt das Vaterunser, wenn es von den Lippen der Schwerfälligen kommt. Wie ein erstes Gebet, nicht entheiligt durch Wiederholung und Beruf. Auch der Jäger faltet seine Hände um die Flintenläufe, weil es wohltut zu sein, wie Jonas ist.

Und dann gehen sie beide heim. Jonas fragt nichts, denn er glaubt. Und es ist schön für den Jäger, daß jemand ihm ohne Frage glaubt. Und nun wird er schlafen, unter dem gedichteten Dach, auf das der Regen fällt. Nichts als schlafen, sehr lange und sehr tief.

Es ist wahr, daß er lange schläft, aber es ist ein bitterer Schlaf, und er brauchte nicht so zu sein nach einer guten Tat. Er kennt diesen Schlaf aus den Lagern hinter dem Stacheldraht, ein Schlaf mit Träumen, von denen man nichts weiß, als daß sie schwer und würgend auf der betäubten Seele liegen. Und er kennt vor allem das Erwachen aus diesem Schlaf, nicht ein einziges in der Morgenfrühe, sondern viele Erwachen, blind und verstört, ohne Erinnerung, aber mit einem furchtbaren Schmerz in der gänzlich ausgeleerten Brust. Das Erwachen zu einem leeren und ganz und gar hoffnungslosen Tag, zu einer Kette von Tagen, Monaten und Jahren. Das Erwachen eines Verdammten ohne Urteilsspruch, der sich nicht erinnert, aber der weiß, daß irgend etwas geschehen ist, etwas Hoffnungsloses, an das er sich schon erinnern wird, ein Tod vielleicht oder eine Verstoßung. Und der den Regen rauschen hört ins Leere. Und bei diesem Wort fällt es ihm ein, was so schrecklich hinter seinem Schlaf hergeht: die Leere des Lebens. Ja, das ist sein Wort, für ihn gebildet. Es ist abgeschliffen zum Erträglichen durch die sinnlose Wiederholung des Alltags, aber ein furchtbarer Sinn liegt in seinem strengen Gebrauch. Ein leeres Gefäß, ein leeres Haus, ein leerer Wald. Das ist mehr als der Tod. Denn ein leeres Leben ist schrecklicher als ein abgeschlossenes Leben. Alles könnte hinein, da die Türen ja geöffnet sind, aber nichts kommt herein. Niemand und nichts.

Lange schläft der Jäger, und viele Erwachen zerteilen seinen Schlaf. Aber am Morgen weiß er nichts anderes, als daß er nun fortgehen wird. Er hat es nicht überlegt, er hat wohl immer noch gehofft, es brauchte nicht zu sein. Aber wie soll er bleiben? Da könnten Tiere geschossen werden, aber er will nicht. Er hat seine Tat getan. Da könnten Blumen gepflanzt werden, noch mehr, so viele, daß der ganze Raum zwischen den Zäunen von ihnen erfüllt wäre. Aber er will nicht. Er will dessen ledig sein. Das ist es. Der Tiere, der Blumen, der Menschen. Und des reinen Herzens. Ja, auch des reinen Herzens. Sie haben ihn getäuscht, listig und ganz langsam, bis sie die neuen Fesseln um ihn gelegt hatten. Er sollte werden wie sie alle, ruhig, fleißig, nicht zu fürchten.

Aber er will nicht. Eine Weile haben sie ihn getäuscht und verführt, der alte Mann, Jonas, die Majorin. So weit, daß er die Hände gefaltet hat zum Gebet. Aber nun will er nicht mehr. Nun will er wieder trinken, daß die leere Stelle zugeschüttet wird in der schmerzenden Brust. Nun will er wieder gehen, lange und allein, die freien Straßen, wo der Abend anders ist als der Morgen. Nun will er wieder schlafen im Gebüsch, ein Feuer zu seinen Füßen, trockene Nadeln im Haar. Und wenn er will, wird jemand sein Feuer teilen und seinen Schlaf, und wenn es genug ist, wird er sie fortjagen und allein sein. Nichts leer an seinen Tagen, nichts leer an seiner Nacht. Kein Warten auf einen Hufschlag, auf ein Lächeln, auf ein Wort. An nichts gebunden sein als an Speise und Trank und Schlaf. An Dinge, die es überall gibt für einen Menschen ohne Furcht.

So schnürt der Jäger seinen Rucksack zusammen und geht davon. Er geht so schnell, daß er die Tür nicht verschließt. Er geht quer durch den Wald, von den Feldern fort, dorthin, wo dies alles nicht ist. Er geht wie ein Blinder, den man jagt, und er reißt selbst die Gedanken ab, die noch dort bleiben, wo alles war. Er geht nach Westen, so daß er seinen Schatten sehen kann, damit er weiß, daß er geht. Er geht wie ein Pferd, das man schlägt, blindlings und geradeaus, durch Gräben und Moor. Er geht nicht, sondern er flieht.

Und erst als er aus dem Walde heraus ist, hält er an. Er bleibt stehen und sieht sich um. Die Sonne scheint wieder nach dem Gewitter in der Nacht. Die Felder funkeln, und in dem Wasser der Straße blitzt das Licht. Weit und niedrig ist der brennende Horizont. Da ist sie, die Freiheit. Das Unbegrenzte des Raumes, in den er seine Spur legen kann, wie es ihm gefällt. Da ist die Straße, aber da ist auch Heide und Feld. Da sind Roggenschläge und Heuhaufen, über denen das Flimmernde der Hitze steht. Da sind weiße Wolken, großartig getürmt, die ihm vorausziehen mit wandernden Schatten über dem Feld. Da ist der große Wind der Ebene, gereinigt in der Nacht und gesättigt vom Geruch der Erde und des Korns. Da ist sie, die Freiheit.

Ja, da ist sie, und der Jäger und die Freiheit sehen einander an. Und hier schon, an dieser Stelle, geschieht das Merkwürdige, daß der Jäger die Augen niederschlägt vor der Freiheit und nach innen sieht. Und es tut nichts, daß er zuerst eine Weile im Heidekraut sitzen und eine Pfeife rauchen will. So müde ist ein Wanderer nicht, Jäger Michael, nach einem solchen Wald. Aufschreien würde ein Wanderer, der aus einem Gefängnis kommt, wenn er an den Rand der Ebene träte. Die Arme würde er heben, die entfesselten Hände, noch wund von seinen Stricken, und das Herrliche umfangen, das vor sie gebreitet ist, Farben und Linien, Sonne und Wind. Und hineingehen würde er in das Herrliche, wie ein Kind in ein Kornfeld geht, taumelnd und berauscht, und mit einem süßen Grauen vor dem Mittagsgespenst.

Aber alles dieses tut der Jäger nicht. Er sitzt im Heidekraut und raucht. Sehr schön sei dies alles, sagt sich der Jäger. Herrlich sei es, in der Freiheit zu sein. Aber lange sieht er dem Wildtaubenflug nach, der waldeinwärts zieht, vielleicht über die Hütte hin und vielleicht zu den großen Feldern, wo sie bald ernten werden und wo auch die Wildtaube sich nähren kann.

Der Jäger dreht sich um und lauscht, aber es ist keine Wiesenschnarre zu hören. Der Jäger müßte ja wissen, daß es selten ist, wenn die Wiesenschnarre am Morgen ruft, aber er weiß nur, daß der Raum leer ist ohne diesen Ton. Tut nichts. Zur Nacht wird sie wieder rufen, aus anderen Feldern, und auch dort werden sie die Sensen dengeln, indes er am Hügel liegen wird, eine Kornblume zwischen den Lippen und die Hände unter dem Kopf gefaltet.

Tut es wirklich nichts? Weshalb stehst du nicht auf, Jäger Michael, solange die Sonne noch nicht brennt? Weshalb sorgst du nicht dafür, daß der Rand dieses Waldes verschwindet hinter dem Horizont? Bist du nicht frei und fröhlich, Jäger Michael? Natürlich ist der Jäger fröhlich. So fröhlich, daß er die Pfeife am Stiefelabsatz ausklopft und zu singen beginnt. Und nun wird er sich entschließen, welchen Weg er gehen wird. Da ist die Landstraße, die um das Moor herumführt. Aber die Landstraße ist offen und breit, und es sind zu viele Spuren in ihre Ränder gedrückt. Und da ist ein Steig am Roggenfeld entlang, der in die Wiesen abbiegt und in der Heide verläuft. Ein Steig ist besser als eine Landstraße, aber Kinder könnten auf ihm zur Schule gehen oder ein alter Mann, der Fallholz auf seiner Karre hat. Verdächtig ist ein Mann, der mit dem Rucksack geht, einen Stock in der Hand, ohne Spaten oder anderes Gerät. Die Kinder treten zur Seite und bleiben stehen. Der alte Mann setzt die Griffe der Karre nieder und bleibt stehen. Lange sieht man ihm nach, ob er nicht die Heide anzündet oder die Bohle ins Wasser wirft, die den Graben überquert.

Nein, auch der Steig ist nicht gut. Seinen eigenen Steig muß man hineintreten in die Welt. Und so wird der Jäger also quer durch die Wiesen zu den drei Birken gehen, wo die Heide beginnt. Und dann wird er weiter sehen. Ist Platz genug auf dieser Erde, daß man niemanden auf die Füße zu treten braucht.

Aber der Jäger bleibt sitzen und starrt vor sich hin. Eine furchtbare Müdigkeit fällt über seine Schultern, seine Füße, sein Herz. Er weiß es längst, daß er nicht fröhlich ist, und er hat nur noch Angst, sich zu sagen, weshalb er nicht fröhlich ist. Aber auch das dauert nicht lange, und dann weiß er alles, Er liegt auf der Seite, das Gesicht in den Händen, und schließt die Augen. So ist es also, und so weit haben sie ihn gebracht. Daß er nicht mehr gehen kann. Daß er freudlos ist an diesem Morgen der Freiheit. Leer und freudlos wie ein Krüppel, der die Mütze hebt am Straßenrand. Zerbrochen haben sie ihn und gelähmt wie einen Vogel. Seine Kraft haben sie ihm genommen, seine Wildheit, sein Glück. Ja, das Glück der Straße ist nicht mehr da. Öde ist die Landstraße, öde der Steig, öde das Weglose durch die Wiesen. Öde und fremd.

Dieses ist es, daß das Unbekannte fremd geworden ist. Der Herr der Straßen ist freudlos geworden. Ein alter Mann, der nicht mehr wandern will. Der nicht mehr vorwärts will und nicht zurück.

Und nun weint der Jäger. An der Schwelle der Freiheit liegt er im nassen Heidekraut, mit geschlossenen Augen, und weint. Kein Pfeil ist er mehr, keine Wolke, kein Vogel. Sondern ein Stein, den man losläßt aus der geschlossenen Hand, und der nun fällt. In einen Brunnen oder in ein Moor. Reinen Herzens? Verflucht alle, die reinen Herzens sind! Reinen, aber gebrochenen Herzens. Müden und leeren und ganz zerbrochenen Herzens.

So, und nun werden wir etwas tun. Zurückgehen werden wir in die Hütte, langsam und immer fröhlicher mit jedem Schritt. Durch das Schilf werden wir schwimmen, auf das schwarze Wasser hinaus, und tauchen bis auf den grünen Grund, wo die beiden Flaschen liegen. So lange, bis wir sie gefunden haben oder wenigstens eine von ihnen. Noch gibt es ein paar Dinge, die wir gelernt haben in der Welt. Keine Angst zu haben zum Beispiel auf einem grünen Grund, über dem das schwarze Wasser steht. Und zu trinken zum Beispiel, auch wenn es nicht reinen Herzens ist. Und einen kühlen Metallauf zwischen den Händen zu halten und nicht mit den Händen zu zittern, wenn es Zeit ist. Das haben wir gelernt. Und wenn uns noch einiges unbekannt ist daran, so wird es uns eben bekannt werden. Zweimal sind wir geflohen, und zweimal haben sie uns gefangen. Aber nun wird uns niemand fangen, denn es wird uns niemand nachgehen können, dorthin, wo wir sein werden.

Auch die Frau Majorin nicht, obwohl sie alles besser weiß und sich ihres Stolzes begeben hat, wie sie sagt. Ach nein, wir verstehen etwas anderes darunter, wenn eine Frau sich ihres Stolzes begibt. Ein paar Gläser Branntwein, das zählt nicht viel bei uns. Der Stolz, Frau Majorin, liegt nicht in der Kehle, und mag sie auch so weiß sein wie bei dir. Der Stolz liegt woanders, aber nun ist es vorbei, und du brauchst ihn uns nicht nachzutragen, dorthin, wo wir sein werden. Die Tür ist zu, und wir wollen allein sein. Versteht die Frau Majorin? Ganz allein. Nicht reinen oder unreinen Herzens, aber stillen Herzens, Frau Majorin! Kalten Herzens, Frau Majorin, damit es noch richtiger ist! Versteht die Frau Majorin?

So, und nun weiß der Jäger endlich, was zu tun ist. Landstraße oder Steig oder querfeldein, das ist nun alles sehr gleichgültig. Nun geht er auf der breiten Straße in den Wald zurück. Gleichviel, ob die Spuren an ihrem Rande sind. Gleichviel auch, ob dort ein Wagen ihm entgegenkommt. Wagen fahren zum Markt oder zum Gericht, zu vergänglichen Dingen also. Und wenn sie geschlossen sind wie dieser, so fahren sie vielleicht zur Trauung oder zur Taufe oder zu einer Beerdigung. Und wenn es ein Wagen vom Gutshof ist wie dieser, so schickt die Majorin wohl einen Kranken zum Krankenhaus, die Mamsell vielleicht oder das Mädchen mit der Korallenkette, wenn es ein Kind bekommen soll. Und da das Kind nicht von ihm ist, so kann es ihm sehr gleichgültig sein, nicht wahr?

Sehr langsam fährt der Wagen, und so hat der Jäger Zeit genug, durch das offene Fenster das Gesicht zu sehen und die beiden Hände im Schoß, die mit weißen Handtüchern gebunden sind, und des Jonas Gesicht zur Rechten und ein fremdes Gesicht zur Linken. Und alles dieses muß so seltsam zu sehen sein, daß der Wagen hält, damit der Jäger es sich genau und der Reihe nach betrachten kann. Und es hilft Jonas nichts, daß er dem Kutscher etwas zuruft, denn nicht nur ist eine Glasscheibe zwischen ihnen, sondern der Kutscher ist auch ein einfacher Mensch, und die einfachen Menschen wissen, daß man anzuhalten hat, wenn der Sohn dem Vater auf einer solchen Fahrt begegnet. Denn wenn die Fahrt auch nicht hinter die Kirchhofsmauer geht, wo es kein Wiedersehen gibt, so geht sie doch hinter andere Mauern. Mit Fenstern zwar, aber mit eisernen Gittern davor. Und es ist schon vorgekommen, daß ein Sohn auf ein Wiedersehen verzichtet, wenn es jemanden wiederzusehen gilt, der auf der Erde kniet und mit Steinen spielt und zu den Steinen spricht, als wären es Soldaten aus dem großen Kriege. Söhne zum Beispiel, drei an der Zahl, und der jüngste hieße etwa Michael.

Und so fahren sie nun mit dem alten Mann in die Anstalt, wo Leute mit weißen Mänteln sich seiner annehmen werden und bedauernd die Achseln zucken werden. Nein, da werde es wohl keine Wiederkehr geben. Und da der Jäger einige solcher Gesichter in den letzten zwanzig Jahren gesehen hat, von denen keines wiedergekehrt ist, so ist es wohl recht, daß er das Gesicht des alten Mannes betrachtet. Er kann es so ungestört betrachten wie einen Stein oder wie eine immer wechselnde Wasserfläche, denn sie haben nichts dagegen, daß man sie betrachtet. Sie merken nichts davon. Und auch der alte Mann merkt nicht, daß sein Sohn Michael ihn ansieht. Andere Dinge hat der alte Mann zu tun, schwere Dinge und wahrscheinlich furchtbare Dinge, denn ihr Widerschein läuft oder springt oder jagt über sein zerstörtes Gesicht und bricht aus seinen toten Augen auf und bewegt seine Lippen zu unverständlichen, eiligen, furchtbar eiligen Worten. Ein schlechter Weg, um fröhlich zu sein, Jäger Michael. Das letzte Mal lud der alte Mann Kloben auf, und dann nahm er die Mütze ab und trank aus dem See mit seiner hohlen Hand. Ein weiter Weg von dort bis hier. Vielleicht sind sie ausgeblieben, die guten Toten, die bei dem alten Mann zu sitzen pflegten, um das Brot mit ihm zu brechen oder seinen Acker zu segnen für das nächste Erntewerk. Und als sie ausblieben, ist er ihnen entgegengegangen, der alte Mann, näher zu den Toten hin, und da hat er sich im Weg geirrt. Und der alte Mann, dem die Grenzsteine heilig gewesen sind wie ein Sakrament, hat die schmale Grenze übersehen und ist abgekommen vom Weg der Lebendigen. Kein Wunder, daß seine Worte eilig sind, furchtbar eilig, denn ein alter Mann, der seinen Weg verloren hat, hat nicht viel Zeit, und da sind so viele Gestalten, die ihm den rechten Weg verstellen, schrecklich viele Gestalten, und sie müssen beschworen werden, ihn durchzulassen, auch wenn sie seine Handgelenke gebunden haben.

Ein schlechter Weg, Jäger Michael, auch wenn wir gelernt haben, keine Angst zu haben. Auch wenn wir selbst Gesichte haben, am Feuer zum Beispiel im herbstlichen Wald, oder vor der weißen Flasche, die nun auf dem grünen Grunde liegt. Es muß ein Unterschied sein zwischen Gesichten und Gesichten, denn so eilig haben wir noch niemals gesprochen, Jäger Michael, auch nicht in unserer großen Rede an die Frau Majorin, und soviel Grauen ist in unseren Augen wohl noch nicht gewesen, auch wenn wir die zwanzig Jahre zusammenrechnen und alles, was wir in ihnen gesehen haben.

Ja, sagt Jonas, da wisse er nun auch nicht viel. Und da sei wohl nur der Herr Pastor, der alles wisse. Denn der sei bei ihm gewesen, am Abend, als der alte Mann die Axt genommen habe, um sein Haus zu zerschlagen, und da sei der Herr Pastor auf das Feld gelaufen gekommen, und die Frau Majorin sei mit Leuten hingelaufen, und sie hätten ihn mit Mühe überwältigt. Und am Morgen, da sei der Jäger nicht mehr in seinem Haus gewesen, und da hätten sie eben fahren müssen. Und nun sei es wohl am besten, wenn Michael zurückginge und sie selbst den alten Mann dorthin brächten, wo man sich auf ihn verstünde.

Und so bleibt der Jäger am Wege stehen, indes der Wagen von ihm fortrollt, dieselbe Landstraße, an der er gesessen hat, in dieselbe Ferne, in die er einen Weg gesucht hat. Bleibt lange stehen und sieht ihm nach, obwohl es zwecklos ist, einen alten Mann einzuholen, der seine Grenzsteine versetzt hat und der so lange mit den Toten gesprochen hat, bis er die Lebendigen nicht mehr erkennt.

Und darauf geht er ganz langsam zu seiner Hütte zurück.

Er sieht an der Tür, daß jemand dagewesen ist, aber nun ist niemand da. Sie haben den Sohn holen wollen, daß er dem alten Mann beistehe. Das ist nur natürlich. Aber der Sohn war nicht da in der schweren Stunde. Der Sohn hat an der Landstraße gesessen, um fröhlich zu werden. Aber es war nichts mit der Fröhlichkeit. Und da hat er etwas anderes beschlossen, um die Fröhlichkeit einzuholen. Statt dessen aber hat ihn der Wagen eingeholt. Der Wagen war schneller als die Fröhlichkeit, so langsam er auch gefahren ist. Und nun ist es wieder nichts mit der Fröhlichkeit. Des Jonas kleinen Bruder hat der Jäger eingeholt und ihn still gemacht, aber der alte Mann wird nicht mehr einzuholen sein, und still wird er auch nicht werden. Etwas wenig hat der Jäger sich um den alten Mann gekümmert, und da ist der alte Mann allein aufgebrochen, dorthin, wo die Toten stehen, die ihn nicht mehr besuchen wollen.

Und nun ist es nichts mehr mit der weißen Flasche auf dem grünen Grund. Nun ist da ein Haus, das der alte Mann zerschlagen wollte mit der Axt, und auch Felder sind da, die der alte Mann mähen wollte mit der Sense. Ein verlassenes Reich, in dem eine alte Magd sitzt, verstört und die Hände vor den Augen. Es ist nicht wahr, daß der Krieg das Schwerste ist und der Kerker und der Stacheldraht. Sie alle haben ihr Tagewerk, und in ihnen ist alles an seinem Platz. Aber viel schwerer ist der Friede, denn dort ist nichts an seinem Platz. Dort muß erst alles an seinen Platz gestellt werden, und es gibt weder Tagesbefehl noch Aufseher, noch Stundenschlag. Da steht nur der Mensch davor, der Mensch in Freiheit, und alles wartet auf seine Hände. Sehr schwer ist es, wenn der Tag auf die Menschenhand wartet, und die Menschenhand ist müde und weiß nicht, was sie tun soll.

Aber schön ist es, hier zu sitzen nach diesem Tagesanfang. Den Kopf an die Stämme der Hütte gelehnt, die Hände auf der Tischplatte, den Blick auf dem dunklen Wasser, in dem das Spiegelbild der Stämme steht. Es wird schon jemand kommen und sprechen. Sprechen vor allen Dingen, denn der Wald ist sehr still. Die Majorin vielleicht, und wenn nicht sie, dann Jonas. Am Abend, wenn er zurückkommt mit dem geschlossenen Wagen.

Aber bevor die Majorin oder Jonas kommt, kommt der Pastor. In seinem schwarzen Rock, den Hut in der Hand. Das ist wohl nicht so seltsam, denn der Pastor allein weiß, wie es gekommen ist, und es ist natürlich, daß er zu dem Sohn des alten Mannes kommt, um ihm zu berichten, und wahrscheinlich auch, um ihn zu trösten. Aber doch ist es seltsam, weil der dunkle Rock merkwürdig aussieht im Wald und weil auch das Gesicht des Pfarrers verändert ist, ohne Glanz und Sicherheit wie sonst.

Der Jäger ist sehr müde, aber nun muß er doch aufstehen, um den Gast zu begrüßen. Sie sind nicht sehr in Frieden auseinandergegangen, damals auf der Terrasse, aber das ist ja lange her, und es ist ja wohl auch eine schwere Stunde gewesen für den Pastor, gestern, als der alte Mann die Axt genommen hat.

»Ja, Michael«, sagt der Pastor und trocknet seine Stirn mit einem großen Tuch, »du weißt … Sie wissen es wohl schon …«

Ja, die Hauptsache weiß der Jäger.

»Ja, und nun bin ich gekommen, um Ihnen zu berichten. Weil Sie doch der Sohn sind, der letzte, und weil mich da einiges bedrückt, das ich mir nicht erklären kann. Ich meine nicht, daß ich mir Vorwürfe mache, aber es war so anders, als ich erwartet hatte, ganz anders und ganz unerklärlich, und es ist ja vielleicht möglich, daß Sie es erklären können, weil Sie doch einen Tag bei ihm gewesen sind, den ersten, damals, als Sie ankamen.«

Es ist also so gewesen, daß der Pastor schon lange sich damit gequält hat, daß der alte Mann wunderlich gewesen ist und auch nicht in die Kirche gekommen ist. Tote zu sehen, das sei nicht erlaubt in einem christlichen Kirchspiel, und mit ihnen zu sprechen und das Brot zu essen, das sei verwirrend und gefährlich in einer gesunden und ordentlichen Landschaft. Und es falle auch immer etwas auf den Pastor zurück, weil er dazu da sei, dunkle Seelen hell zu machen. Und es gehe nicht gut an, daß jemand vor der Auferstehung des Fleisches mit einem Toten spreche, als sei es Fleisch und Blut.

Ein paarmal habe der Pastor es versucht, den alten Mann zurückzuführen auf den Weg des Lichtes, aber es sei vergeblich gewesen. Und da sei nun Michael wiedergekehrt, und da sei die Verwirrung noch größer geworden, denn nun habe der alte Mann einen Lebendigen zu den Toten gezählt und so in Gottes Urteil eingegriffen. Das habe den Pastor noch mehr bedrückt, wie übrigens das ganze Kirchspiel, und hier sei nun eine Gelegenheit gewesen, eine große Heilung vorzunehmen, so daß die Toten wie die Lebendigen zu ihrem Recht gekommen wären. So geht nun also am Nachmittag der Pastor zu dem alten Mann. Er hat einen grauen Aktenbogen mit, in dem von Amts wegen bescheinigt wird, daß der Michael Fahrenholz am Leben ist und daß er die und die Schicksale gehabt hat. Wunderbare Schicksale zwar, aber doch ganz natürliche und auf keine Weise der irdischen und göttlichen Ordnung widersprechende.

Der alte Mann sitzt in der großen Stube und trinkt kalten Kaffee, wozu er sein Schwarzbrot ißt. Und der Pastor wird freundlich eingeladen, dasselbe zu tun. Und nach einer Weile, als sie verständig über die Ernte und das Wetter gesprochen haben, beginnt der Pastor. Nicht mit den Toten, sondern mit Michael, dem Lebendigen. Er schlägt den grauen Aktenbogen auf und geht Schritt für Schritt dem Schicksal des Heimgekehrten nach. Ein mühsamer Bericht, und zu jedem Abschnitt gibt es eine Urkunde, beglaubigt, gestempelt, unanfechtbar.

Zuerst hört der alte Mann freundlich zu. Seine durchsichtigen Augen gehen von der Urkunde zu dem Gesicht des Pastors und wieder zurück. Er lächelt zwar still vor sich hin, aber ohne Spott oder Kränkung. Bis der Pastor bei der Heimkehr angelangt ist. Er erzählt sie sehr ausführlich, jeden Schritt vom Moor bis zur Hütte im Wald. Und weshalb Michael nicht geschrieben habe und nicht habe bleiben wollen. Und ob es dem alten Mann mit den beiden andern Söhnen vielleicht so ergangen sei, daß sie vom Morgen bis zum Abend geblieben seien? Und ob die alte Magd die beiden Söhne vielleicht auch erblickt habe? Nein, das habe sie nicht, aber diesen habe sie gesehen, Fleisch und Blut. Und viele andere hätten ihn gesehen, der alte Kätner Johann zum Beispiel, auf den er geschossen habe, und das Dorf, wo er den Schwan getötet habe, und der Landrat auf der Terrasse der Majorin. Und wenn dieses also ein Irrtum sei, mit Michael, so sei es auch mit den beiden andern ein Irrtum, eine Täuschung der Sinne, und der alte Mann möchte nun doch umkehren und Gott danken, daß einer seiner Söhne wenigstens wiedergekehrt sei, und bedenken, daß dieser Sohn im Walde hause, rastlos und unstet wie Kain, weil sein Vater ihn zu den Toten zähle und ihn nicht einlasse in sein Erbe, so daß er nun böse und wild geworden sei, weil sein eigener Vater ihm zu leben verbiete.

Nun lächelt der alte Mann nicht mehr. Seine Lippen zittern, und seine Augen sehen aus wie ein Spiegel, durch den viele kleine Risse laufen. Er hebt die Hände auf gegen den Pfarrer, als wollte er ihn beschwören, zu schweigen und nicht an eine Welt zu rühren, die in zwanzig Jahren aufgebaut wurde, eine Welt des letzten Trostes, die auf einem dunklen Glauben ruht. Aber der Pastor will nicht schweigen. Er ist eingesetzt dazu, das Dunkle hell zu machen und den Teufel auszutreiben, und er ist nun wie ein Mann mit einem Brecheisen, der den Stein zum erstenmal erzittern fühlt. »Fahrenholz!« sagt er und zieht das Kreuz aus seinem schwarzen Rock, »so wahr ich an dieses Kreuz glaube, das ich hier in den Händen halte, so wahr lebt dein Sohn Michael, verstoßen von seinem Vater!«

Wieder erzittert der Stein, stärker als vorher, aber immer noch kämpft der alte Mann um seine Toten. »Sein Name steht auf dem Stein der Toten«, sagt er mühsam. »Auch über den Namen steht das Kreuz, und der Herr Pastor hat es geweiht als ein Zeichen des Opfers und der Auferstehung.«

Aber da lächelt der Pastor. Ja, so sehr erfüllt ihn das Bewußtsein der Wahrheit und des guten Kampfes, daß er zu lachen beginnt, als nehme er eine törichte Angst von einem Kinde. Aber der Pastor hat wenig mit Kindern zu tun gehabt, außer im Konfirmandenunterricht, und es waren nicht seine eigenen, und er weiß nicht, was es bedeutet, drei Söhne dahinzugeben und trotzdem seinen Acker zu bestellen und fröhlich zu bleiben. Sonst würde er nicht lachen über die Angst des alten Mannes und ihn fragen, wie lange es denn her sei, daß er an dem Stein der Toten gewesen sei. Und würde nicht nach der Antwort triumphierend auf den Tisch schlagen und den alten Mann auffordern, mit ihm auf den Hügel zu gehen, sofort und ohne Zögern. Denn dann würde der alte Mann sehen, daß Michaels Name von dem Stein verschwunden sei, ausgelöscht mit einem eisernen Meißel, und jedermann wisse, daß dies die erste Tat des Heimgekehrten gewesen sei, am frühen Morgen, eine halbe Stunde, bevor er auf der Bank unter dem Birnbaum gesessen habe. Und wenn er es nicht glaube, so könne er die Frau Majorin fragen, die zugesehen habe, und er werde sich wohl nicht erinnern, daß die Frau Majorin jemals ein unwahres Wort gesprochen habe oder Gespenster sehe.

Und in der Atemlosigkeit seines Sieges nimmt er den alten Mann bei den Händen, um ihn zu dem Stein zu führen, der nun wirklich ein Stein der Auferstehung werden soll, fortgewälzt von einem Grabe. Und der alte Mann gehorcht auch und geht mit und folgt ihm, durch die Tür und über den Hofplatz. Aber es ist ein Unglück, daß der Weg am Küchenholz vorbeiführt, das schon für den Winter kleingemacht wird, und daß die Axt im Hauklotz steckt. Denn plötzlich schreit der alte Mann auf, ein einziges Mal, wie ein Tier unter einem Schlag, und ergreift die Axt. Und erhebt sie gegen den Pastor, daß dieser schreiend auf das Feld stürzt, und dann gegen das Nächste, das zur Hand ist, gegen einen Pflug, und dann gegen das Haus, das schweigend und wehrlos dasteht, wie es hundert Jahre gestanden hat, und dessen Fensterkreuze nun splittern, und dann gegen die Magd und gegen die Leute der Majorin, bis sie ihn überwältigt haben und gebunden und auf die Erde gelegt, einen alten Mann, dem der Boden unter den Füßen gewichen ist, um dessen sanfte Lippen nun ein dünner Schaum steht, aus dem heraus die furchtbaren Schreie brechen, die sich auf den Pastor stürzen wie die Schreie der Verdammten. Schweigend hat der Jäger zugehört, und auch jetzt sagt er nichts, als der Pastor die blasse Stirn mit dem großen Tuch trocknet. Er sieht wieder hinaus auf den See, in dem sich die alten Stämme spiegeln, und es kann wohl sein, daß er an den alten Mann denkt, wie er das Wasser mit der Hand geschöpft hat. Und erst auf die Frage des Pastors, ob er das erklären könne, diese plötzliche Zerstörung eines alten und ruhigen Mannes, wendet er seine Augen wieder auf das erschöpfte und gänzlich ratlose Gesicht und sagt langsam und ohne Tadel: »Der Herr Pastor hat wohl keine glückliche Hand für solche, die sich nach innen verbluten.«

Und dann geht er ins Haus und schließt die Tür hinter sich zu. Es ist nicht viel mit solch einem Tag anzufangen, und es ist ja auch natürlich, daß aus der Erzählung des Pastors etwas Dumpfes um das Haus zurückbleibt. Da ist also ein alter Mann, der niemandem etwas zuleide getan hat, solange man ihm seine Toten ließ, und der zerstört wurde, als er an des Jägers Leben glauben mußte. Wenig Segen also scheint an diesem Leben zu hängen, und es hat nicht viel geholfen, daß sie den Totenvogel in geweihter Erde begraben haben. Es wäre wohl besser gewesen, sich um den alten Mann zu bekümmern, und am besten wäre es gewesen, wenn man eine andere Straße gegangen wäre, statt damals über das Moor zu kommen, unter dem hohen Ruf der Brachvögel, die die Schritte des Menschen verführen. Denn es ist nicht viel Gutes daraus geworden, außer daß Jonas seine Ruhe gefunden hat. Aber dafür hat die Majorin geweint, am Hals ihres Pferdes, und der alte Mann wird nun hinter den Gittern sitzen und mit kleinen Steinen spielen. Nein, es ist nicht wahr, daß der Krieg das Schwerste sei, und da muß dem Jäger wohl noch etwas fehlen, damit er das in Wahrheit Schwerste bezwinge. Und so wird wohl Jonas recht haben, daß es darauf hinauskomme, ganz reinen Herzens zu sein. Aber auch er hat nicht sagen können, wie man dazu gelangt.

So bleibt also nichts zu tun, als auf die Majorin zu warten. Es ist anzunehmen, daß sie kommen wird, denn um die Mittagszeit kommt das Mädchen wie sonst mit dem Essen, aber das Essen wird am Zaun hingesetzt, und dann ist das Mädchen wieder fort. Als ob ein böser Geist in dem Hause wohnte.

Ein bißchen kann man an den Blumen arbeiten, und außerdem kann man einen kleinen Abflußgraben ziehen, weil das Wasser noch immer auf dem Hof steht. Aber das reicht nicht aus, um ein Tagewerk zu erfüllen, und außerdem beginnt am Nachmittag die Wiesenschnarre zu rufen. Es ist sehr still und warm unter einem verhängten und schwermütigen Himmel, und man kann lange dasitzen, mit gefalteten Händen, und dem Vogel zuhören, der immer so ruft, als sei er allein auf der Welt. Und um die Feierabendzeit kommt dann ein neuer Ton hinzu, das Pochen kleiner Hämmer, das von fernen Höfen aufsteigt, eintönig und schnell, und tief in den Wald hineinreicht.

Der Jäger weiß, daß sie die Sensen dengeln. Es geht ihn nichts an, aber er steht doch auf und beginnt, auf dem kleinen Hof auf und ab zu gehen, die Hände auf dem Rücken, die Stirn gesenkt, so wie er viele Jahre hinter dem Stacheldraht auf und ab gegangen ist. Und obwohl keine Kameraden da sind und keine Wächter, hat er nach einer Weile schon vergessen, daß er frei ist, und ist ohne sein Wissen wieder ein Gefangener geworden, im Schritt, in der Haltung der Arme und der Beugung der Schultern. Er gleitet zurück wie in einem Traum, bis die gefährliche Müdigkeit des Lagers ihn wieder umfängt, das Zeitlose und Willenlose und die dumpfe Traurigkeit zusammengetriebener Tiere, vor denen das Unbekannte menschlicher Bedrückung steht.

Eine Weile hat die Majorin ihm schweigend zugesehen. Sie ist zu Fuß gekommen, als gehöre es sich an diesem Tage nicht, erhöht auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen. Sie steht nun am Zaun, die Arme auf die Sprossen gelegt, und blickt mit einer leisen Angst auf den Gang des Jägers. Sie hat dies noch niemals gesehen, und es ahnt ihr, daß man viele Jahre gebraucht haben muß, um das zu lernen, und daß viele Jahre vergehen müssen, ehe man nach diesem wieder lernen kann, hinter einem Pfluge herzugehen. Denn es ist wohl nicht genug mit der Freiheit des Daseins. Sie kann geschenkt und gewaltsam erworben werden. Aber die Freiheit des Ganges ist mehr als das, und sie kann erst aus einem ruhigen und stolzen Herzen kommen. Viel Mühe hat man mit den Menschen, mehr als mit Feldern und Tieren, und ein ruhiges Herz braucht man selbst dazu, ein Herz, das hinter allen Wünschen steht.

»Etwas lange läßt du mich hier stehen«, sagt die Majorin endlich.

Der Jäger erschrickt, und es dauert eine Weile, bis er zurückgefunden hat in seinen Wald. Auch ist die Majorin verändert ohne ihren Reitanzug und die hohen Stiefel, und auch daran muß er sich zuerst gewöhnen.

»Wolltest du fortgehen?« fragt sie ohne Einleitung. »Es hat so ausgesehen heute früh …«

Ja, er habe fortgehen wollen.

»Jonas ist schon zurück«, sagt sie. »Du brauchst es nicht zu erzählen.«

Jonas habe wohl nicht alles erzählen können, erwidert der Jäger. Denn er habe wohl nicht gemerkt, daß er, Michael, schon auf dem Rückweg gewesen sei, als er den Wagen getroffen habe.

Nein, das habe Jonas allerdings nicht gewußt.

»Weshalb fragt die Frau Majorin nichts?« fragt der Jäger nach einer Weile zornig.

Die Majorin legt zwei Finger ihrer Hand ganz leise auf die tiefe Falte zwischen den Augen des Jägers und bewegt sie sehr sanft hin und her. »Du wirst es schon sagen«, erwidert sie leise.

Und nach einer Weile ist es auch so. Ganz aus der Nähe sind die Augen der Majorin ein unbegreifliches Wunder für den Jäger. Es ist nicht der Kranz von kleinen goldenen Sternen, der auf dem blauen Untergrunde schwebt, sondern es ist die tiefe Stille, aus der er heraufsteigt, das von innen Leuchtende und Erwärmende, das er vielleicht nicht mehr gesehen hat, seit er ein kleines Kind gewesen ist. Und wahrscheinlich wird es das sein, was Jonas »reinen Herzens« nennt.

»Es war so«, beginnt der Jäger nach einer Weile, viel sanfter, als er gewollt hat, »daß ich erkannt habe, daß die Frau Majorin mich verdorben hat. Die Frau Majorin und der Wald und alles andere. Daß ich dort saß, vor dem Wald, und mich nicht mehr freuen konnte. Daß ich nicht wußte, in welche Richtung ich gehen sollte, oder ob ich überhaupt gehen sollte. Und daß ich nun nicht weiß, was ich hier tun soll, nachdem ich nicht gegangen bin.«

»Und als du umkehrtest«, fragt die Majorin, »bevor der Wagen kam, wußtest du da, weshalb du umkehrtest?«

Ja, er habe trinken wollen, erwidert der Jäger finster.

Und nichts mehr? Die Majorin könne nicht annehmen, daß ein Mann wie der Jäger nichts als eine Flasche Branntwein brauche, um sein Schicksal zu ertränken. Das sei vielleicht noch vor ein paar Wochen so gewesen, aber inzwischen seien sie beide doch wohl etwas weiter gekommen? Nichts mehr also?

Die Frau Majorin möchte bitte nicht so wie der Herr Pastor sein, sagt der Jäger. Es sei schon genug an dem, was er gesagt habe. Vielleicht sei ein kleiner Unterschied, meint die Majorin, zwischen dem, was einer um Gottes willen, und dem, was einer um eines Menschen willen tue. Aber er brauche nun nicht mehr darüber zu sprechen. Am Anfang habe sie ihn einmal gefragt, ob er wolle, daß sie graues Haar bekomme. Das sei wahrscheinlich eine törichte Frage gewesen, denn es sei wohl nicht so wichtig, wie sie gedacht habe, ob sie graues Haar bekomme oder nicht. Aber inzwischen sei ja einiges geschehen, was wichtiger gewesen sei, zum Beispiel, wie er vorher auf und ab gegangen sei, und manchmal wisse sie nun selber nicht, ob ein Mensch sich anmaßen könne, das Rechte zu wissen und zu wollen.

»Man muß es wohl nicht so machen wie der Herr Pastor«, sagt der Jäger. »Er war heute hier.« Aber die Frau Majorin solle sich nun nicht mehr sorgen. Der Jäger werde nun bleiben, da er für die Landstraßen verdorben sei. Und trinken werde er wohl auch nicht mehr. Aber es könne sein, daß er sich nun verbergen möchte in dieser Hütte, ganz verkriechen gleichsam, weil er im Augenblick nicht wisse, wozu er da sei.

»Wir müssen nun den Roggen mähen«, sagt die Majorin nach einer Weile, »und es wird niemand in den Wald kommen außer mir. Ich habe gedacht, daß ich Jonas über deinen Hof setze, damit er für die Magd und die Tiere sorgen kann. Und ich wollte dich bitten, daß du es erlaubst.«

Der Jäger soll es erlauben? Der Jäger sieht sie von der Seite an, und es ist der Majorin, als erröte er sogar ein wenig unter seiner braunen Haut. »Ich habe gedacht«, setzt sie hinzu, »es würde dir lieber sein, als wenn man einen Verwalter einsetzte von Amts wegen.«

Ja, natürlich sei es dem Jäger lieber. Er habe nur nicht gewußt, daß er etwas zu erlauben habe.

Es sei damit wie mit einer Krone, sagt die Majorin. Auch wer eine Krone auf die Stirn gesetzt bekomme, wisse es manchmal nicht. Und wer für Acker und Tier zu sorgen habe, trage immerhin eine Krone, so demütig sie auch sei.

Und dann bittet sie ihn, sie noch bis an den Waldrand zu begleiten. Es sei ihr ein wenig bang zumute nach allem, was in diesen Tagen geschehen sei.

Auf dem grünen Weg singt die Majorin leise vor sich hin, ohne Worte, wie an dem ersten Abend am Moor. Ein trauriges Lied, wie es passend ist für die Dämmerung, und der Jäger geht leise neben ihr her und hört zu. »Singt die Frau Majorin wieder manchmal?« fragt der Jäger, als sie aus dem Walde treten und an dem Roggenfeld stehenbleiben.

»Nein, es war das erstemal heute.«

»Die Frau Majorin sollte häufiger singen«, sagt der Jäger. »Es ist gut, der Frau Majorin zuzuhören …«

Aber vielleicht fürchte sie sich, sagt die Majorin, den Jäger noch mehr zu verderben.

Sie lächelt ein bißchen, als sie das sagt, und so nimmt sie auch Abschied von ihm.

Allein bleibt der Jäger wieder, unter dem großen und traurigen Himmel, auf dem die Wolkenbänke regungslos liegen, von weißen, schmalen Bändern getrennt. Wieder sitzt er im Grenzgraben, zwischen Wald und Korn, und hört den unermüdlichen Vogel rufen. Viel ist geschehen, seit er zuletzt hier gesessen hat, aber es ist nur im Bezirk der Menschen geschehen, und weder im Kornfeld noch im Walde ist eine Spur davon geblieben. Noch etwas gelber ist der Roggen geworden, aber der Mensch hat nichts dazu getan, und noch stiller steht der Wald, weil kein Wind über der Erde ist. Es ist gut, daß so große Dinge auf der Welt sind wie Feld und Wald, weil ein Mensch ganz still zwischen ihnen sitzen kann, ohne daß sie ein Aufheben davon machen. Man kann den Arm heben und ein Korn aus einer Ähre lösen, ohne daß das Feld es merkt, und das Korn bricht schon über dem Fingernagel und schmeckt nach Mehl und Brot, wenn man es in den Mund nimmt.

Jonas also wird den Roggen schneiden, und die alte Magd wird die Garben binden. Damit es nicht von Amts wegen geschieht. Und der Jäger wird vor seiner Hütte sitzen, weil ja niemand in den Wald kommen wird, und wenn der Wind günstig ist, wird er vielleicht hören, wie Jonas seine Sense schleift. Schön wird es aussehen, wie Jonas die Schneide durch den Roggen zieht. Ein breiter und glatter Schnitt, wie es sich für einen Riesen geziemt. Für jemanden, der sein Leben lang die Sense geführt hat oder den Hirtenstab oder den Pflug. Nicht ein Gewehr wie der Jäger oder eine Feder wie der Landrat. Ein Gewehr kann gut sein, für einen Totenvogel oder für Leute mit andern Gewehren. Und eine Feder kann gut sein für Leute, die tot sind und die lebendiggeschrieben werden sollen. Aber für ein Roggenfeld taugen sie nichts, und es würde seltsam sein, einen Landrat mit einer Sense vor ein Roggenfeld zu stellen. Und einen Jäger wahrscheinlich auch. Sehr lange her, daß der Jäger eine Sense geführt hat, und am Rand einer Wüste Sand zu karren ist ja nicht dasselbe, wie ein Feld zu mähen.

Ja, so ist es also, Jäger Michael. Die Krone, von der die Frau Majorin gesprochen hat, bekommt nun Jonas, und wir selbst wollen wenigstens noch ein Korn aus der Ähre dort brechen und es essen. Haben zu lange den Stahlhelm getragen, so daß uns wohl keine Krone passen wird. Sind nicht die Frau Majorin, der eine Krone wohl anstehen würde, und sind auch nicht Jonas, der reinen Herzens ist. Sind nur ein Mann, der nicht weiß, was er tun soll, und den sie verdorben haben für die freien Straßen. Müssen uns abfinden damit und zusehen, ob sich im Walde etwas für uns zu tun findet. Pilze sammeln zum Beispiel, oder Käfergräben um die Kulturen ziehen, oder Zäune bauen für alles, was allein sein will. Hätten ja als Krüppel wiederkommen können, ohne Beine, und in einem Wagen gefahren werden müssen bis zum Ackerrain, um von dort aus zuzusehen, wie sie pflügen würden, wie ein Kind aus einem Kinderwagen. Und nun können wir doch wenigstens gehen.

Der Jäger steht auf und geht langsam den Grenzgraben entlang. Die schweren Halme beugen sich herunter, und er hebt sie mit der Hand empor, wenn er vorübergeht. Hinter dem Feld kommt der Roßgarten, und da stehen die beiden Pferde mit dem Fohlen. Der Jäger legt die Arme auf den Drahtzaun, an einem verblühten Heckenrosenbusch, und sieht ihnen zu. Jonas ist nicht zu sehen, und so kann er ruhig dableiben. Es sind dieselben Pferde, die vor dem Pflug gegangen sind, aber damals hat er sie wohl kaum angesehen. Damals war der alte Mann noch da, der sich auf der Mitte des Feldes immer umgedreht hat, ob der Tote auch noch da sei. Der Tote ist immer noch da, aber der alte Mann ist nun fort, und seine Pferde weiden auch ohne ihn.

Ganz leise beginnt der Jäger zu pfeifen, so, wie er als Kind getan hat, wenn die Pferde aus der Koppel geholt werden mußten. Und so wie früher heben die Pferde die Köpfe. Die Stute bleibt bei ihrem Fohlen, aber das andere Tier kommt langsam an den Zaun und hebt die warmen Nüstern an die Hand des Jägers. Ganz still muß man die Hand halten, und erst ganz langsam darf man anfangen, die eine Hand auf dem Hals des Tieres zu bewegen, immer auf und ab, daß die Fingerspitzen die Haare aufrichten und wieder glätten.

Sehr schön ist solch ein Tier, wenn man in seine Augen blickt und sein eigenes Bild wiederempfängt. Ein feuchter, sanfter Spiegel, in dem keine Trübung ist, sondern die große Stille einer fremden Welt. Das Geflecht der Adern, das heraustritt aus der zarten Haut, und sanfter Glanz des Haares, der noch im Dunklen leuchtet.

Und wenn nichts Böses an dem Menschen ist, der sich über einen Zaun lehnt, dann legt das Pferd seinen Hals über die Schulter des Menschen und hält ganz still unter der fremden Hand, die nun auf und ab fährt. Stark und warm ist der Geruch der Haut, und mitunter läuft ein Zittern über den ganzen schweren Leib, wenn die Mücken sich niederlassen, um zu trinken. Es läuft wie ein Windhauch über ein schweres Wasser, und nachher ist alles noch stiller als zuvor.

Und da niemand zusieht und es nun ganz dunkel ist, kann der Jäger seine Arme langsam um den Hals des Tieres legen und sein Gesicht verbergen in der Wärme des fremden Geruchs, der doch näher ist als vieles andere in der Welt. Sehr lange kann man so stehen, indes der ruhelose Vogel aus den Feldern ruft und es langsam zu tröpfeln beginnt aus dem traurigen Himmel. Auf die Blätter der Buche, die am Grenzgraben steht, auf die gebeugten Halme des Roggenfeldes, auf die Haut des Pferdes und ab und zu auf die eigene Stirn, die unter der Mähne verborgen liegt. Es rückt dann alles zurück und ganz in die Ferne, das Haus im Walde und das Schicksal des alten Mannes, und ist wie ein großer, gebannter Kreis, aber im Mittelpunkt ist Schweigen und Friede, am Hals eines großen, fremden Tieres, das geduldig stillhält, wenn eine Menschenstirn ausruhen will, die nicht weiß, wozu sie auf der Welt ist.

Und dann endlich trennen sie sich beide, der Jäger und das Pferd, und kehren in ihre Welten zurück. Das Tier zu seinem Gefährten und zu seiner Nahrung und der Jäger durch den fallenden Regen zu seinem Haus und seinem Lager. Und noch unter seiner Decke bleibt der Geruch bei ihm, mit einer warmen Tröstlichkeit, der Geruch eines lebendigen Wesens, das stillgehalten hat unter seiner scheuen Zärtlichkeit.

Am nächsten Tage geht der Jäger also in den Wald, mit einem Korb über dem Arm und einem Messer in der Tasche. Er geht sehr früh, und er nimmt ein Stück Brot mit, damit er bis zum Abend fortbleiben kann. Er pfeift vor sich hin, solange er auf dem Hof ist, ziemlich laut, obwohl sein Gesicht nicht besonders fröhlich ist. Aber mitunter muß er Atem holen und seine Lippen anfeuchten, und dann ist ihm, als werde draußen auf den Feldern eine Sense geschliffen. Es ist möglich, daß er sich irrt, weil der Wind nicht zu ihm herübersteht, und er beeilt sich, fortzukommen, tief in den Wald hinein, wo nur der Specht klopft und die Wipfel über ihm leise brausen.

So ist es doch wohl nicht wahr gewesen, daß der Wald ein fremdes Haus für ihn ist. Für die Nacht mag es wohl wahr sein, wenn die Gewitter über das Moor steigen und das blaue Licht ohne Laut in die Gründe fällt. Aber nun, im rötlichen Licht der Frühe, ist eine schöne Stille für den, der allein sein will. Da sind die Drosseln in den ersten Vogelbeeren, aber sie kümmern sich nicht um den Mann, der nach Pilzen sucht. Da ist der Schwarzspecht in seinem dunklen Kleid, mit der roten Kappe auf dem Kopf, aber er hämmert ruhig an seinem Eichenast, und wenn er schweigt, so tut er es nur, um auf den Gang der Würmer zu lauschen, die er aufgestört hat in ihrem dunklen Haus. Da hat alles sein Tagewerk im großen Wald, von der Ameise an des Jägers Fuß bis zum frühen Bussard, der über der Lichtung kreist. Und auch für den Jäger ist Platz in einem großen Wald, wenn er kein Gewehr in der Hand trägt, sondern einen geflochtenen Korb, den er mit Steinpilzen füllen und heimtragen will zu seinem Haus.

Zwar »heimtragen« ist vielleicht etwas viel gesagt, und der Jäger läßt die Hand mit dem Messer ins Moos sinken, in dem Eichenhorst, in dem er kniet. Eine Weile starrt er vor sich hin, auf die Grashalme, an denen der Tau noch hängt, aber dann schüttelt er den Kopf, und wieder geht das Messer durch den niedrigen braunen Stamm, auf dem die Pilze stehen wie ein kleiner Baum. Schön sind sie anzusehen, diese Zwerge des Waldes, mit dem festen Hut über dem niedrigen Fuß, ganze Familien in einem kleinen Kreis. Gras steht noch über den jüngsten, ein braunes, feuchtes Geflecht, das sie heben und zerreißen müssen, um wachsen zu können ins Licht, und mitunter frißt eine Schnecke an ihrem Rand, und wenn die Hand des Jägers sie fortstreift, ist eine weiße Wunde in dem bräunlichen Rand. Aber schön ist die Einfachheit ihrer Form, nachzuziehen mit einem einzigen Strich, und schön ist ihr bitterer und strenger Geruch, der über dem Messer sich erhebt und an den Händen bleibt.

Ein anderer Geruch als der des Pferdes am Zaun, kühler und den Wurzeln mehr verwandt, die in die Erde reichen. Aber doch zu dem großen Kreis gehörig, der den Menschen umschließt, wenn er einsam lebt. Ein Kreis, in dem es nach Bäumen riecht und Moos, nach Feldern und Pferd, nach Pilzen und Gras. Ein tröstlicher Kreis, weil er nicht vergeht wie ein Mensch, der anklopft, um wieder fort zu sein nach seiner Zeit, sondern bleibt und da ist, wenn man ihn braucht.

Für den Jäger zum Beispiel, den sie verdorben haben für die Straßen und der sich nun einrichten muß in einer kleinen Welt. Der nun am Rand der Schonung sitzt, mit dem gefüllten Korb neben sich, und Blaubeeren pflückt zu seinem trockenen Brot. Der bis zum Abend bleiben wollte im schützenden Wald, in den niemand hineinkommt, weil sie den Roggen mähen rings um den Wald. Und der sein kleines Tagewerk nun schon beendet hat und nicht weiß, wo er bleiben soll, weil er nicht hören möchte, wie die Sensen gehen über das Feld. Denn die Krone, von der die Frau Majorin gesprochen hat, hat sie Jonas auf die Stirn gesetzt, weil bei Jonas alles in guten Händen ist. Ein Reitpferd zum Beispiel, auf das er wartet am Tor, oder ein kleiner Bruder, den er ins Grab legt, damit er nicht mehr ruft um die Eulenflucht. Oder ein alter Mann, der fortgefahren werden muß, wenn er sein Haus zerschlägt, oder ein Hof, der zugrunde geht, wenn Jonas ihn nicht in seine starken Hände nimmt.

Ein Soldat aber, der so lange den Stahlhelm getragen hat, ist verdorben für eine Krone. Nichts Zuverlässiges ist an ihm, denn bald will er gehen und bleibt doch da, und bald will er trinken und läßt es doch sein, und bald will er reinen Herzens sein und weiß doch nicht, wie man das tut. Einen Wald bewachen, das kann er vielleicht noch tun, oder Blumen pflanzen an einem geflickten Zaun oder Pilze suchen, wenn die andern das Brot schneiden auf dem Feld. Aber nicht mehr. Und statt einer Krone legt die Majorin wohl zwei Finger auf seine Stirn, dort, wo die Falte ist. Das ist gut von der Majorin und kommt aus ihrem reinen Herzen, aber es ist eine Gebärde, mit der man Kranke tröstet, und wahrscheinlich nicht mehr.

Und da die Majorin klug ist und jedem das Seine zuteilt in ihrem Reich, so wird es wohl auch richtig sein, was sie tut. Denn einen Hof verwalten, das könnte der Jäger doch wohl nicht, der mitunter auf alte Leute schießt und mitunter Blumen pflanzt. Der wie ein Gras im Winde ist, auf und ab in seinem Lebensweg, und bald fröhlich ist und bald traurig, wie ein Feld, über das die Schatten der Wolken ziehen. Wer aber einen Hof hat, der darf nicht fröhlich und traurig sein, sondern der muß ruhig und ernst sein, daß Feld und Tier ihren gerechten Herrn in ihm erkennen.

Und wenn der Jäger schon keinen Hof verwalten kann, so würde er wohl nicht einmal die Sense führen können. Denn das will nicht nur gelernt, sondern auch geübt sein. Es ist die Kunst der einfachen Leute, aber der Jäger ist ausgeschieden aus dem Kreis der einfachen Leute. Er kann viele Dinge, von denen hier in der Landschaft niemand weiß, aber sie sind nun überflüssig und taugen nicht für ein einfaches Leben. Und da die Majorin eine kluge Frau ist, hat sie das alles bedacht, als sie die demütige Krone an Jonas gab.

Der Jäger ist nun fertig mit seinem Brot und sieht sich um. Er steht sogar aufrecht und geht zwischen den niedrigen Stämmen der Schonung umher. Und dann nimmt er sein Messer und beginnt sich ein hölzernes Werkzeug zurechtzuschneiden. Es ist so lang wie er selbst und hat zwei Querhölzer, ein kurzes in der Mitte für die rechte Hand und ein längeres am Ende. Und nachdem der Jäger sich lange und vorsichtig umgesehen hat, legt er seinen Rock ab und tritt an den Rand der Waldwiese, die mit einem Keil in die Schonung tritt. Und hier beginnt der Jäger zu mähen. Die Wiese ist bedeckt von Moos und trockenem, braunem Gras, und die Sense des Jägers hat keine Schneide, aber der Jäger sieht das nicht. Zuerst schließt er die Augen, damit das einmal Gewußte leichter aus der Erinnerung aufsteige, die Beugung des Körpers und die Haltung der Arme und das langsame Schreiten, Fuß vor Fuß. Sobald er die Augen öffnet und mit aller Mühe sich erinnern will, gelingt ihm nichts, aber wenn er sich hingibt wie an einen Traum, dann ist es nur das Blut, das ihn lenkt, die Stimme eines Erbes, das noch nicht verdorben ist.

Und nachdem er dreimal den Rand auf und ab geschritten ist, kann er die Augen öffnen und nun sehen, wie es geht. Es geht nicht immer gut, und es kommt oft genug vor, daß die Spitze seines Holzes in den Boden fährt. Aber dann wird alles langsam besser und ruhiger und gleichmäßiger, und zuletzt ist er von ferne nicht mehr ganz unähnlich einem der einfachen Leute, an die er vorher gedacht hat. Er flucht nicht mehr, wenn der Schnitt in die Erde geht, und wenn er sich aufrichtet am Ende einer Mahd, fühlt er die schönen Schmerzen im Kreuz und in den Armen, und der Blick, den er auf die Wiese wirft, hat schon die Weite und Stille des Blickes, den die Schnitter haben, wenn sie die Sense über die Schulter legen und in langer Reihe durch das Gras gehen, dorthin, wo die neue Mahd beginnt.

Der Jäger merkt nicht, daß die Sonne steigt und der Schweiß von seiner Stirn fällt, und erst, als ein Häher hinter ihm zu lärmen beginnt, erschrickt er und ist mit raschen Schritten im Wald. Er steht und lauscht, und erst, als er das Wiesel sieht, das durch den trockenen Graben schleicht, atmet er auf. Aber er verbirgt nun sein Werkzeug hinter einem Erlenbusch und geht zu seinem Pilzkorb zurück. Er sieht nicht mehr auf die Wiese hinaus, wo seine Fußspuren als dunkle Linien durch das Moos gehen, und zwischen seinen Augen ist wieder das Dunkle da, das die einfachen Leute nicht haben, wenn sie heimkehren von ihrem Feld.

Langsam und verloren geht er durch den Wald, den Korb über dem Arm, wie ein alter Mann, der in sein Ausgedinge geht. Er wundert sich, daß er von der andern Seite an sein Haus kommt und daß das Mädchen ihm schon bei der Rückfahrt begegnet auf dem grünen Weg. Er hat nicht gewußt, wie spät es ist.

Das Mädchen möchte ausbiegen, aber da der Jäger nicht zur Seite tritt, muß es absteigen und wartet nun hinter dem Rad, als wollte es sich damit verteidigen. Aber der Jäger fragt nur, ob sie den Roggen schon mähen auf dem Gut. Ja, sagt Lena erstaunt, das täten sie allerdings. Und … ja, ob auch Jonas schon mähe, der doch nun den Hof verwalte? Nein, davon habe sie nichts gesehen, und da der Jäger nur gedankenlos über sie hinsieht und keine Gefahr von ihm zu vermuten ist, lächelt sie wie sonst und fragt, ob der Herr Jäger etwas im Feld verloren habe, daß er sich soviel Sorge mache um das Mähen. Ja, erwidert der Jäger nun ganz fröhlich, ein Netz habe er verloren, mit dem man junge Mädchen fange, und er fürchte, daß die Schnitter es zerschnitten mit ihren Sensen.

Darüber hat Lena nun sehr laut zu lachen, aber da der Jäger ihr plötzlich zunickt und an ihr vorüber zu seinem Haus geht, als sei sie ein junger Baum am Wege, weiß sie wieder nicht, was das bedeuten soll, und nachdem sie ihm nachgesehen hat, bis er hinter seinem berankten Zaun verschwunden ist, bleibt ihr wohl nichts anderes übrig, als sich auf ihr Rad zu setzen und davonzufahren. Es scheint also, daß der Jäger sich lustig mache über sie, und erst, als sie auf dem Felde ist, wird sie wieder zornig, aber nun ist es zu spät, ihm etwas zuzurufen, und vielleicht ist es auch gefährlich, nachdem das mit dem alten Mann geschehen, ist. Auch ihm hat der Herr Pastor nur etwas zugerufen, und schon hat er die Axt genommen und den Herrn Pastor ins Feld getrieben. Und sie beschließt, die Frau Majorin zu bitten, einen andern mit dem Essen zum Jäger zu schicken. Es hat keinen Zweck, zu einem Mann zu fahren, der fast nie zu sehen ist und der ein Stück Zucker in seiner Hand hält, um es dann selbst in den Mund zu stecken.

Der Jäger hat lange geschlafen nach seinem halben Tagewerk, und nun sitzt er auf seiner Bank, reinigt seine Pilze und schneidet sie in kleine Stücke. Dann holt er Bindfaden aus seinem Rucksack, fädelt die Pilze auf und spannt die Schnüre in der Sonne von Baum zu Baum. Er wird also seine Winterspeise trocknen wie ein Bauer in Rußland und seßhaft werden in diesem großen und stillen Wald. Einen Teil der Pilze behält er zurück. Am Abend wird er ein kleines Feuer machen auf seinem Hof und sie rösten auf der Glut. Dann wird er sie ausdrücken in einem Tuch und Salz daraufstreuen wie damals am Moor, als er mit Jonas die Schafe gehütet hat. So wird er zu leben beginnen wie ein einfacher Mensch, und wenn die Straßen auch verschlossen sind vor ihm, so kann er doch auch hier leben, wie man an den Straßen lebt. Und vielleicht wird Jonas kommen zur Nacht, da er doch nun sein Nachbar ist. Jonas wird nicht hochmütig geworden sein auf seinem Hof, denn sie haben nicht nur zusammen Flöten geschnitten, sondern auch zusammen den Totenvogel in die Erde gelegt. Ein einfacher Mensch ist Jonas gewesen. Zeit seines Lebens, und die Einfachen sind nicht hochmütig.

Der Jäger hat richtig gedacht, daß Jonas kommen werde zur Nacht. Er hat die Äste schon zusammengetragen, und als Jonas durch den Zaun kommt, zündet er gerade das Feuer an. Jonas betrachtet zuerst die Schnüre mit den Pilzen und läßt sich dann am Feuer nieder. »So tun sie dort hinter der Grenze, wenn sie an den Winter denken«, sagt er über das Feuer hin. Und er nimmt den kleinen Vorrat in die Hand, den der Jäger zum Rösten gelassen hat, und legt die Pilze wieder einzeln zurück.

»Du glaubst, daß ich nicht mehr weiß, welche gut und böse sind?« fragt der Jäger.

O nein, das habe Jonas nicht geglaubt. Das habe er nur so in Gedanken getan, und es sei schön von dem Jäger, daß er Pilze braten wolle im Feuer. Immer sei es gut, nicht zu lächeln über das, was man als Kind getan habe. Und nun wollten sie wieder eine Pfeife zusammen rauchen nach den schweren Tagen.

Das Fleisch der Pilze krümmt sich in der schwachen Glut, und es riecht nach großen Wäldern im Herbst, in denen die Blätter fallen unter einem leisen Wind.

Ob der Jäger etwas wissen wolle von dem großen Haus, zu dem sie mit dem Wagen gefahren seien?

Nein, der Jäger will nur wissen, ob der alte Mann es dort gut haben werde.

Ja, das werde er wohl. Und zuletzt sei er still gewesen wie ein Kind. Ob der Jäger auch gemerkt habe, daß es nicht mehr gerufen habe vom Moor seit jener Gewitternacht? Und da sei er ihm nun sehr dankbar für den Frieden, den er einer armen Seele geschenkt habe.

Nun drücken sie die ersten Pilze aus, der Jäger mit einem Tuch und Jonas mit der bloßen Hand, streuen Salz darauf und beginnen zu essen. Und zwischendurch fragt Jonas, indem er mit einem Ast die Glut verteilt, ob der Jäger wohl einverstanden sei, daß Jonas morgen an den Roggen gehe. Die Körner brächen schon über dem Nagel, und der Wind stehe gut und leicht von Südost.

Der Jäger hat mit seiner Pfeife zu tun, für die er einen langen Grashalm sucht, aber natürlich ist er einverstanden, denn er verstehe nichts mehr von diesen Dingen, und die Majorin habe ja Jonas eingesetzt, weil er zuverlässig sei für Feld und Tier.

Einmal sieht Jonas an ihm vorbei, in das Gewölbe der Fichte hinauf, aus dem ein paar trockene Nadeln fallen im Rauch des Feuers. Aber dann nickt er nur vor sich hin, und sie rauchen schweigend ihre Pfeifen aus.

»Ist es schwer?« fragt der Jäger, als das Feuer schon verglüht und Jonas die Pfeife in die Tasche steckt, »so zu sein?«

»Wie zu sein?«

»Nun so … ein einfacher Mensch mit einem stillen Leben?«

Wieder sieht Jonas einmal in die Fichte hinauf. Nein, das sei nicht schwer. Man müsse nur dasein für etwas, für ein Pferd zum Beispiel, oder für ein Feld, oder für einen kleinen Bruder, der nicht schlafen könne. Für etwas anderes als sich selbst müsse man dasein, und er glaube nicht, daß das sehr schwer sei. So, und nun sei es wohl Zeit, zu gehen.

Das Gras auf dem Hof ist schon feucht vom Tau, und der Jäger bückt sich und streift mit der Hand über die Halme. Ob Jonas ihm wohl bald eine Sense bringen könne, fragt er so nebenbei. Der Hof sei ganz wild und wüst von dem hohen Gras, und er brauche auch etwas Heu für sein Lager.

Ja, das werde Jonas gern tun, am nächsten Abend vielleicht.

In der Nacht steht der Jäger noch einmal auf, weil der Schlaf nicht kommt, und geht bis zum Rand des Waldes, wo der Roggen steht. Das Feld ist noch nicht gemäht, und er kann noch eine Weile im Grenzgraben sitzen und zuhören, wie der Erntevogel ruft. Der volle Mond steht über dem Feld, und die Ähren sind ganz hell in seinem weißen Licht. Aber morgen wird das nicht mehr da sein. Da werden sie die Garben schon aufgestellt haben, und auf den Stoppeln werden ihre Schatten liegen. Der alte Mann wird das nicht mehr sehen. Er wird es ganz und gar vergessen haben, und andere Dinge werden vor seinen Augen sein. Und auch dem Jäger wird es wohl nicht besonders gut sein, das zu sehen. Es ist ein schöner Platz gewesen hier, am Abend, verborgen zwischen Wald und Feld, aber morgen wird das Feld schon offen sein, für fremde Augen etwa, die von drüben nach dem Walde blicken wollen, und auch für den Wind, der dann kein Hindernis vor sich haben wird.

Bis zu dem Rosenbusch will der Jäger noch einmal gehen. Aber die Pferde sind heute nicht da. Jonas hat sie im Stall gelassen, und der Jäger weiß nicht, weshalb. Aber es genügt ja, daß Jonas es weiß, denn Jonas ist auch über die Pferde gesetzt, nicht nur über das Feld.

So ist also nichts mehr zu tun hier im Grenzgraben, denn der Mond ist da und der Erntevogel, und mehr braucht ein Feld nicht in der letzten Nacht, bevor die Sense kommt. Und nun wird wohl auch der Schlaf kommen, denn die Glieder schmerzen nicht mehr so, und der silberne Wagen steht schon im Zenit. Schwer ist der Schatten des Waldes, und es ist gut, daß keine Sense kommen wird, um den Wald zu mähen. Immer bleibt noch etwas für den, der sich verbergen will.

Am nächsten Morgen beginnt der Jäger sein Winterholz zu sägen. Er beginnt so früh, als ob der Winter schon am Waldrand stände, und er zieht die Säge so scharf durch das Buchenholz, daß der ganze Wald erfüllt ist von dem Widerhall seines Werkes. Immer wenn er ein Dutzend Kloben geschnitten hat, nimmt er die Axt und spaltet die Stücke, und dann schichtet er sie an der Südwand des Hauses auf. Eine fröhliche Arbeit ist es, laut und voller Bewegung, und der Geruch des Holzes ist rein und gesund, durchsetzt von dem Duft des Harzes, das an seinen Händen klebt.

Aber das Gesicht des Jägers ist nicht immer so fröhlich wie sein Werk. Da muß noch etwas anders sein, was ihn erfüllt, als die Arbeit seiner Hände, und er kann nicht vermeiden, daß es mitunter still ist auf dem Hof, so still, daß man lauschen muß, ob nichts vorgehe in der Welt, die hinter dem Walde ist. Und um die Mittagszeit verbirgt er sich wieder, so daß er nicht zu sehen braucht, wer sein Essen bringt, und nachher läßt er sogar Axt und Säge liegen und geht tief in den Wald hinein, zum Horst des Hühnerhabichts, den er zerstören will, weil die Majorin über den Schaden geklagt hat, den sie unter ihrem Geflügel hat.

Es steigt sich leicht hinauf in der alten Fichte, aber als er über dem Horst steht, hat er keine Lust mehr, ein Haus hinunterzuwerfen, das noch eben bewohnt war. Der Baum steht auf einer Höhe, und von seinem Platz kann der Jäger weit hinaussehen über Wipfel und Hänge und Schonungen. Eine stille Sonne liegt über dem Wald, und im Westen steigen ferne Felder über den Rand der Bäume. Es glänzt von reifendem Korn, und große weiße Wolken ziehen langsam darüber hin. Da vergißt der Jäger, weshalb er hinaufgestiegen ist, und bleibt so stehen, die Arme über einen Ast gelegt. Es riecht nach Sommer in seinem Baum, und wenn er den Atem anhält, glaubt er, das Harz tropfen zu hören am grauen Stamm. Leise wiegt der Wind die Krone hin und her. Dann rühren sich lautlos die Fächer der großen Äste, und unter seinen Füßen rieselt es von unsichtbaren Nadeln, die abwärts fallen. Er selbst aber ist ganz verborgen in einer fremden Welt, unsichtbar selbst für die Taube, die über die Wipfel streicht. Besser als ein Haus ist solch ein Baum und eine schöne Zuflucht für alle, die keine Krone tragen dürfen. Denn der Mensch, der zu nichts nütze ist, kann wenigstens aufsteigen und die Hand an die Krone der Bäume legen.

Aber zuletzt muß auch der geduldigste Mensch heruntersteigen aus der Krone eines Baumes, weil er nicht die ganze Nacht dort stehen kann. Und obwohl er noch ein paar Stunden im Moos liegen und eine Stunde an einem Ameisenhaufen sitzen und eine Stunde Birkenzweige schneiden kann, zu vielen Besen, mit denen man ein Haus fegen kann, so muß er doch endlich zu diesem Haus heimkehren, um ein Stück Schwarzbrot zu essen mit ein paar Beeren dazu und um Axt und Säge unter Dach zu bringen, damit der Tau nicht auf sie falle, und um auf Jonas zu warten, der eine Sense bringen wollte für das Gras, das auf dem Hofe steht und das die Füße der Majorin feucht machen könnte, wenn sie einmal am Abend wiederkäme.

Aber Jonas ist müde von seinem Tagewerk und kommt nicht. Er hat drei Viertel des Feldes gemäht, und da die Magd alt und immer noch ein wenig verstört ist, so ist es langsamer gegangen, als er gedacht hat, und er ist nicht fertig geworden, weil er selbst einen Teil der Garben hat binden müssen.

Aber er würde trotzdem gekommen sein, weil er nie vergißt, was er gesagt hat, wenn nicht die Majorin gekommen wäre, zu Fuß wieder und in einem leichten Kleid, und eine Weile bei ihm auf der Bank gesessen hätte, nachdem sie sein Feld angesehen hat. Und als er erzählt, wie es bei dem Jäger gewesen ist, hat sie vieles zu fragen, und sie möchte nicht nur wissen, was er gesagt hat, sondern auch, wie er es gesagt hat, und dann hat sie lange darüber nachzudenken, besonders über seinen letzten Wunsch.

Und schließlich nimmt sie die Sense, obwohl Jonas leise widerspricht, und geht davon. Sie sei wohl verständig genug, um eine Sense auf der Schulter zu tragen, sagt sie fröhlich, und vielleicht habe sie auch etwas vor, was sie nicht sagen könne. Aber Jonas möchte so gut sein und ein stilles Gebet sprechen wie über den Totenvogel, denn das Gebet eines reinen Herzens höre Gott am leichtesten.

Wo der Weg in den Wald führt, legt die Majorin die Sense in den breiten Streifen des Feldes, der noch auf dem Halm geblieben ist. Sie geht sehr langsam weiter, und unterwegs bleibt sie mitunter stehen, als müsse sie vieles bedenken, bevor sie an das graue Haus komme. Auch singt sie einmal eine traurige Melodie leise vor sich hin, stockend und mit Wiederholungen, als sei sie ihr entfallen und müsse nun langsam und vorsichtig wiedergewonnen werden.

Aber schließlich ist das Haus doch da, und der Jäger steht am Zaun und ist verwundert über den späten Besuch. Ja, sie habe noch mit Jonas geredet, sagt die Majorin, und sie habe die Sense mitbringen wollen, aber sie doch am Waldrand gelassen, weil sie nicht wie der Tod habe ankommen wollen. Und wenn der Jäger sie nachher begleite, könne er sie ja mitnehmen. Aber es rieche so schön nach frischem Holz, und ob der Jäger beginne, den Wald zu fällen?

Sie will nun alles sehen, was der Jäger geschafft hat, und lobt ihn wegen seines Fleißes und ist fröhlicher und unruhiger als sonst, so daß der Jäger sie von der Seite ansieht und immer stiller wird. Auch das Haus will sie noch einmal sehen, und sie steht neben dem Herd, die Kerze in der erhobenen Hand, und sieht sich um in dem engen und ärmlichen Raum.

»Sei nun nicht böse, Michael«, sagt sie plötzlich mit einem verzagten Lächeln. »Wir wollen nun gehen …«

Der Jäger ist nicht böse, aber ihre Unruhe geht langsam in ihn hinein. Er ist es nicht gewohnt, daß die Majorin unruhig ist, und es ist auch nicht gut, daß der Tag so endet, mit einem neuen Rätsel an seinem Rand.

Der Mond steht schon über dem Feld, so tief, daß die Ähren des Korns noch vor seiner roten Scheibe stehen. Er ist sehr groß über dem Horizont, fast wie eine fremde Sonne, und sie bleiben beide stehen, weil das Feld so feierlich aussieht. Aber dann entdeckt der Jäger die Reihen der aufgestellten Garben hinter dem ungeschnittenen Feld, und er atmet einmal tief auf, als schmerze ihn etwas in seiner Brust.

Die Majorin aber, ohne die Augen von ihm zu lassen, zieht ein weißes Tuch heraus, das sie an ihrer Brust verborgen getragen hat, und bindet es langsam um ihr bloßes Haar.

Neben der rechten Wange der Majorin sieht der Jäger die Mondscheibe mit den drei schweren Kornähren, die sich senken in dem roten Licht. Und einen Augenblick denkt er, daß sie so lange bleiben müßten, bis der Mond über das Tuch der Majorin stiege, als eine rote Krone über ihrer erhobenen Stirn.

Aber dann tritt die Majorin zurück und hebt die Sense aus den Halmen auf. Die Schneide glänzt im Licht, als die Majorin den Stiel in die Hände des Jägers legt. »Ich bitte dich sehr«, sagt sie, »daß ich dir helfen darf.«

Der Jäger hat die Hand ausgestreckt, aber nun tut er nichts weiter. »Die Frau Majorin weiß nicht«, sagt er finster, »daß ich das wohl nicht mehr kann, weil ich es zwanzig Jahre nicht getan habe. Und die Frau Majorin hat vergessen, daß sie Jonas eingesetzt hat über mein Feld.«

»Immer ist der gute Knecht dazu da«, erwidert die Majorin, »daß er wartet, bis der Herr heimkommt. Und … hast du geglaubt, daß ich zwanzig Jahre lang Garben gebunden habe? Einen kleinen Lohn könntest du mir wohl gönnen, Michael, für diesen Sommer.«

»Wenn die Frau Majorin lachen wird«, sagt der Jäger nach einer Weile, »dann wird sie mich nicht mehr wiedersehen.«

Der Jäger kann wohl nicht wissen, daß der Majorin das Weinen näher ist als das Lachen. Denn ihre Stimme klingt sehr fröhlich, als sie sagt: »Du mußt dich ab und zu umdrehen, ob ich auch nachkomme. Und wenn du lachst, dann wirst du deine Garben allein binden müssen.«

Nein, zum Lachen ist auch dem Jäger vorläufig nicht zumute, und als er die Sense ansetzt zum ersten Schnitt, schlägt sein Herz so laut wie vor dem Totenvogel. Wenn der erste Schnitt in die Erde geht, wird er die Sense fortwerfen und in den Wald gehen, immer geradeaus, so weit ihn seine Füße tragen, und niemals mehr wird er wiederkommen.

Aber der erste Schnitt rauscht schwer und voll und gerade durch das stürzende Korn, eine breite Mahd, die im Mondlicht bricht und sich ordnet und stille liegt. Und mit diesem ersten Schnitt strömt ein großes Glück in den Jäger hinein, so daß er die Majorin vergißt, die wartend hinter ihm steht, mit gefalteten Händen, die er nicht sehen kann. So daß er alles andere vergißt, was hinter ihm ist, den Wald und das Haus und den alten Mann. Und nichts sieht als die blassen Halme vor seinem Fuß und das Leuchten der Schneide und darüber den roten Mond, der ihm langsam entgegenkommt.

Und es tut nun nichts mehr, daß nicht jeder Schnitt gelingt, denn auf der Hälfte der Feldbreite ruft die Majorin ihm zu, daß er vergessen habe, sich umzudrehen und sie nun im Stich lasse wie eine Magd mit grauen Haaren.

»Verstellt die Frau Majorin sich?« fragt er streng.

Nein, sie verstelle sich nicht, aber sie sehe nun, daß sie doch nicht alles besser wisse und es gut sei, daß ihr niemand zusehe.

Und dann bleiben sie beieinander und schreiten das Feld auf und ab. Sie sprechen nicht mehr, und auch wenn der Jäger sich umdreht, hebt die Majorin nur das Gesicht und lächelt ihm zu. Das weiße Tuch ist ihr schon lange in den Nacken geglitten und liegt nun wie ein Schmuck um ihre Schultern. Und wenn der Jäger die Sense schleift und sie die letzte Garbe zu seinen Füßen bindet, sieht er, daß kleine Schweißtropfen auf ihrer Stirn und ihrer Oberlippe stehen. Das ist nun wieder ein Wunder, denn er hat nicht geglaubt, daß es der Frau Majorin warm sein könne wie andern Menschen. Und er setzt die Füße noch langsamer voreinander, denn auch die Wand des Waldes rückt immer näher, und einmal wird es zu Ende sein mit diesem Feld.

Aber als es zu Ende ist, ist es nicht so traurig, wie der Jäger gedacht hat. Sie haben auch noch die Garben aufzustellen. Und als die Garben aufgestellt sind, kann der Jäger noch neben der Majorin im Grenzgraben sitzen und auf das Feld sehen. Und wenn die Majorin wieder aufsteht und an die nächste Hocke tritt, so daß er nur ihr Gesicht und ihre Arme sieht, die eine Ähre nach der andern herausziehen aus den Garben, so ist das wohl ein alter Brauch, an den auch er sich erinnert, und es ist gut, ihr zuzusehen, wie ihre Hände weiß sind im Lichte des Mondes, der nun schon hoch über dem Felde steht.

Und auch, daß die Majorin leise dazu hinsingt vor sich, ist gut, denn er hat ihr ja gesagt, daß sie häufiger singen sollte. Es ist eine traurige Melodie, stockend und mit Wiederholungen, als sei sie der Majorin entfallen, und als müsse sie nun langsam und vorsichtig wiedergewonnen werden.

»Will die Frau Majorin nicht auch sagen, was sie singt?« fragt der Jäger endlich.

Die Majorin hebt ihren Ährenstrauß in die Höhe und betrachtet ihn, und während sie ihn vorsichtig mit ein paar langen Halmen zusammenbindet, wiederholt sie das traurige Lied, leise, aber der Jäger kann nun jedes Wort verstehen:

»Als der Soldat aus dem Krieg heimzog,
immer fein sacht …
Als der Soldat aus dem Krieg heimzog,
immer fein sacht …
Auf schlechter Straß', im schlechten Kleid,
armer Soldat, du tust mir leid …
immer fein sacht …«

Und nun ist der Strauß fertig, und sie legt ihn dem Jäger in die Hände. »Du sollst ihn nun an die Wand hängen«, sagt sie, »wo der alte Mann seine Bibel hatte. Und wenn wir einfahren von diesem Feld, dann will ich auch noch die Krone flechten.«

»So glaubt die Frau Majorin, daß ich einziehen werde in das Haus … in meinem schlechten Kleid?«

»Ich glaube«, sagt die Majorin leise, »daß der Soldat Michael schon zu Hause ist …«

»Und das andre? Das andre, Frau Majorin?« Der Jäger steht auf, den Strauß in beiden Händen. »Weiß die Frau Majorin nicht, daß es ein leeres Haus ist?«

Da legt die Majorin die Hände um sein Gesicht. »Ich glaube«, sagt sie langsam, »ein Haus mit einer Mutter ist kein leeres Haus …«

Sie nickt ihm zu und geht über das Feld davon. Sie geht so langsam wie damals, als sie mit dem Jäger aus der weißen Flasche getrunken hat, aber doch ist es anders, denn sie hat nun nicht Mühe, die Dinge festzuhalten, die sie sehen will, in einem engen Kreis. Sondern die Dinge bleiben an ihrem stillen Platz, und der Kreis ist so groß, daß nichts herausfallen kann, weder die beglänzten Felder noch die Büsche, die zwischen ihnen schlafen, noch die Scheibe des Mondes, die das alles bescheint. Sehr ruhig und groß ist die Welt, durch die sie geht, und an ihrem Rande ruft noch immer der Vogel, der über der Ernte wacht.

Vielleicht geht die Majorin langsam, weil ihr Rücken schmerzt von den vielen Garben, die sie gebunden hat. Oder weil alles so still steht am Himmel und auf der Erde und es nicht passend sein würde, laut und schnell zu sein in einem so stillen Haus. Oder vielleicht auch, weil es schwer ist für eine Frau, und selbst wenn es die Frau Majorin ist, fortzugehen aus einem Land, in dem zu nehmen erlaubt ist, in ein Land, in dem nur zu geben erlaubt ist, wie es sich für eine Mutter gehört.

Aber auch wenn ihr Rücken schmerzt und die Füße ihr schwer sind, so geht sie doch wieder sehr gerade, weil die Leute es an ihr gewohnt sind. Sie singt nun nicht mehr, denn sie kann die Melodie jetzt, und es ist auch besser für eine Herrin, die allein zur Nacht über ihre Felder geht, daß sie den Schlaf der Felder nicht stört. Denn der Tau fällt unter dem Mond, und was dem einsamen Vogel erlaubt ist, ist dem Menschen nicht erlaubt in solch einer Nacht.

Erst als sie die Pappeln schon erkennen kann über dem Hof, die wie lautlose Fontänen stehen, Silber und Schwärze um die schmalen Schäfte, bleibt sie am Weidegarten stehen und pfeift leise nach ihrem Pferd. Und dann steht sie eine Weile, wie der Jäger gestanden hat, die Arme um den Hals des Tieres. Aber sie hat ihre Stirn nicht verborgen unter der dunklen Mähne, sondern nur ihre Wange an den Hals des Pferdes gelegt, und so sehen sie beide hinaus, dorthin, wo der Mond nun über den Wäldern steht.

Und endlich steigt die Majorin die weiße Treppe hinauf, wo das lautlose Licht auf den Steinen liegt. Als sie die Hand auf das kühle Metall des Türgriffes legt, dreht sie sich noch einmal um. Die Dächer stehen schwarz und steil um den weiten Hof, in den das Licht sich stürzt, und an seinem Rand blitzt eine Pflugschar wie Glas. Ein großes Reich, das zu ihren Füßen schläft, und unter den Dächern der Insthäuser und der Ställe ruht Gesicht an Gesicht. Und wissen, daß sie das Ihrige erhalten, wenn die kleine Glocke am Morgen ruft und die Herrin das Fenster öffnet über dem grauen Portal.

Und dann bindet die Majorin das weiße Tuch auf, das sie noch immer um die Schultern trägt, und tritt aufrecht in das große, schweigende und leere Haus.

 


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