Ernst Wiechert
Geschichte eines Knaben
Ernst Wiechert

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Er hieß Percy und war in Batavia geboren worden. Nicht in der Benedenstadt, der Stadt der Speicher, Giebelhäuser und Kanäle, wo auf bebauten Sümpfen eine erbarmungslose Sonne brütet und wo vom Sonnenuntergang bis zum -aufgang die Anopheles todbringend aus der Fiebererde steigt. Sondern in Weltevreden, der weißen Stadt, zu der die breite Doppelstraße sich aufhebt, an deren Innenrändern, im Wasser des Tjiliwoengflusses, die javanischen Mädchen ihr Haar spülen und ihren Sarong waschen.

Von den Balkonen eines jener weißen Häuser hatte seine Mutter zehn Jahre lang auf den glühenden Traum der Bataverstadt hinabgeblickt, mit Augen, die aus Jubel und fassungsloser Trunkenheit sich langsam zu Müdigkeit, zu Schwermut und Hoffnungslosigkeit verdunkelt hatten. Sie hob wohl noch die Hand zum Gruße, wenn am Abend das Signal des Autos zu ihr emporrief, aber sie erhob sich nicht mehr, wenn ihr Gatte die Veranda betrat. Ihre Hände blieben im Schoß gefaltet, und mit einem müden Lächeln empfing sie den gewohnten Kuß auf ihre Stirne. Herr Schurmann, groß, schlank und mit Sorgfalt gekleidet, blieb einen Augenblick hinter ihr stehen und folgte mit wenig verhüllter Gedankenlosigkeit dem Blick ihrer halbgeschlossenen Augen über die regungslosen Palmenwipfel hinaus bis an das schon dunkelnde Meer, wo die Signallichter der Häfen aufzuckten und erloschen. »Müde, Kind?« fragte er mit der gütigen Herablassung des Erwachsenen. »Ja, ich bin sehr müde«, erwiderte sie gehorsam. Dann ging er, sein abendliches Bad zu nehmen, und sie blieb noch eine Viertelstunde in ihrem Stuhl, während die Nacht sich mit betäubender Plötzlichkeit über Haus und Garten stürzte, die Sterne aufflammten und die Düfte der tropischen Erde mit furchtbarer Nacktheit sich über sie warfen.

Einmal in jedem Jahr fuhr sie hinunter zur Merians-besar, zur heiligen Kanone im Tor des Batavia-Kastells. Dort kaufte sie Blumen von einem der Händler und irgendeine der zahllosen Votivgaben, kniete nieder, verbrannte sie an einem Opferfeuer und blieb im Gebete versunken, ihrer Rasse entkleidet, gleich allen anderen javanischen und chinesischen Frauen, deren Leib nicht gesegnet war und deren Hoffnung leise frohlockend in einer Gebärde erglühte, die seit Jahrhunderten täglich neu uralte Götter im Staube rief.

Als sie erhört war, wußte sie, daß sie mit dem Leben zahlen würde. Allen Bitten und Befehlen, bis zur Geburt in die Heimat zu gehen, setzte sie einen Widerstand entgegen, dessen Beugung nur auf Kosten ihres Lebens möglich schien. Als man sie gewähren ließ, erblühte sie noch einmal in einer traurigen Schönheit, die Jugend und entsagende Reife zu einem ergreifenden Bilde zusammenschloß. Täglich fuhr der Kraftwagen sie die weiße Straße hinauf, die irgendwo in der Ferne gleich einem leuchtenden Pfeil in den grünen Schild des Urwaldes stieß. Dann stieg sie hinter dem Diener her den Pfad zur Bergkuppe empor, von der man die Gipfel der Vulkane sah, den blühenden Rausch der Wälder, die blitzenden Reisebenen, den weißen Traum der Städte und das schmerzhafte Blau eines Meeres, das vor dem Paradiese lag. »Amaga«, sagte sie leise, »weshalb ist dein Land so schön?« Dann traf der feuchte Blick seiner Tieraugen sie in Ergebenheit und Trauer. »Die Götter haben es gewollt, Herrin«, erwiderte er, und seine Augen gingen über das glühende Land.

Oft, im Dunkel der Veranda, pflegte sie nun den Vorhang von dem Gemälde ihres Lebens zu ziehen und mit nie gehörten Worten zu deuten, was in dunkler Tiefe sich ihr je offenbart hatte. Schwirrende Insekten spannen ihre glühenden Fäden von Wipfel zu Wipfel, und die Brandung des Meeres stand hinter den Gärten wie der langgehaltene Ton einer gestrichenen Saite.

»Dies Land hat mein Blut getrunken«, sagte sie mit glücklichem Lächeln, »und ich wehrte mich mit der Kraft des Abendlandes. Nun aber habe ich mich ihm hingegeben, und wir tauschen Blut um Blut gleich einer neuen Geburt ... du sollst ihn Parzival taufen, Magnus, hörst du? Ich habe es Sawah gesagt, die ihn nähren soll, wenn du es vergessen solltest ... du sollst ihn Parzival taufen und ihm sagen, seine Mutter habe Herzeloide geheißen.«

»Sprich doch nicht so«, bat er unbehaglich. Aber sie lächelte weiter vor sich hin.

In den letzten Wochen wollte sie niemand um sich dulden als Sawah, die Gärtnersfrau, die ihr erstes Kind geboren hatte und, zu ihren Füßen kauernd, die Lieder des Urwaldes singen mußte, die Lieder des Vollmonds und die Lieder der Zuckerrohrernte, die Melodien des Gamelang und die Weise des Ganderung, aus der Zeit, da sie selbst den Legon getanzt unter dem tausendjährigen Waringibaum von Karang Asem. Waren sie dann verklungen und verweht, aus Leidenschaft und Klage vertropfend wie Regen im Wald, dann schwiegen die beiden Frauen, bis Sawah sich lautlos erhob und sich über ihre Herrin beugte. »Weinst du, Herrin?« – »Es ist das Glück, Sawah, nichts als das Glück ...«

Sie starb, als sie ihre Stunde vollendet hatte, den Schrei des Geborenen in der erlöschenden Seele, und die Tränen der Malaiin waren die erste Spur, die das Leben über das gefurchte Antlitz des Kindes zog.

Es wurde nicht Parzival getauft, weil es dem Sohn von Magnus Schurmann, zweitem Chef des Exporthauses Walker & Sons, Ltd., schlecht angestanden hätte, einen solchen Namen zu führen. Doch vereinigte er eine dunkle Achtung vor dem Wunsche seiner verstorbenen Frau mit den Pflichten und sprachlichen Bindungen seiner Stellung, indem er ihn Percy taufte. Sawahs erbitterten Widerstand nahm er mit befremdetem Lächeln zur flüchtigen Kenntnis. Es war ein schlechtes Zuckerjahr, und er hatte andere Sorgen, als mit Namen zu spielen. Er fühlte sich einsamer in seinem großen Hause und nährte eine dumpfe, langsam wachsende Erbitterung gegen die Tote, die gleich einem unfaßbaren Duft noch immer die Räume erfüllte, wie sie sein Leben erfüllt hatte; fremdartig, körperlos, aller Berechnung entzogen. Er begann die Abende im Klub zu verbringen und etwas mehr Whisky mit Soda zu trinken. Er sah das Kind am Morgen, wenn es noch schlief, und nach erschöpfendem Tagewerk, wenn Sawah es zur Gutenacht hereinbrachte. Er pflegte es ungeschickt über die Wange zu streichen und aus einer inneren Ferne prüfend anzusehen, als blickte er über seinen Schreibtisch hinweg auf einen jener fremdländischen Agenten, die in seinem Kontor ihm gegenübersaßen und aus deren unbewegten Gesichtszügen er auf die Zuverlässigkeit des Angebots zu schließen versuchte. Mitunter wußte er nicht, ob dies Kind sein eigen sei, und er sah ihm lange nach, wenn schon die Türe sich geschlossen hatte, mit dem kalten und grübelnden Blick, mit dem man in der Benedenstadt eine Bilanz betrachtete.

Percy trank die Milch seiner malaiischen Amme, und seine Haut war braun wie die Farbe der Brust, die ihn nährte. Sein Haar war hell wie der Bast des Rotangs, und seine dunklen Augen waren die Augen der Toten, von einer Trauer erfüllt, die niemand zu deuten wußte. Das Seltsame, das aus dem dunklen Kelch seiner Seele langsam in die Enthüllung trat und das bei wachsamer Behütung und Erziehung sich hätte beugen, richten und leiten lassen, schoß unter der glühenden Sonne verzauberter Zonen gleich der Blüte im Urwald fieberhaft in Farbe und Form und war Besitz und Keim einer neuen Flamme, ehe Herr Magnus auch nur an die Möglichkeit einer Seele bei seinem Kinde gedacht hatte. Er gab ihm eine englische Bonne und einen holländischen Sprachlehrer, einen deutschen Erzieher und einen sorgsam ausgearbeiteten Unterrichtsplan, aber als er alles dieses um die Seele seines Sohnes herumstellte, war diese Seele schon zu Entscheidungen erwacht, mit denen zu rechnen gewesen wäre, zu Neigungen und Abneigungen, zu Urteilen über Gut und Böse, ja selbst zur Liebe und zum Haß. Sawah und mit ihr alle Malaien des großen Haushaltes betrachteten Percy als ihr Kind, und was seine immer schweigsame und immer aufmerksame Seele in den ersten Jahren empfangen hatte, war aus ihren Händen in sie hineingeflossen, gleich der Muttermilch, die er getrunken hatte. Die ersten Worte, die seine Lippen bildeten, waren malaiische Worte, und die ersten Töne, die seine Hände auf den Tasten des Flügels suchten, waren die Töne eines malaiischen Liedes. Es war keine Tafel, auf die zu schreiben war, sondern eine Tafel, die zu löschen war, mühsam und sehr sorgfältig, bevor man schreiben konnte.

Es war ein Kind, bei dem das Schweigen erwachte, wie bei anderen Kindern die Sprache erwacht. Ein sanftes und schwermütiges Schweigen wie das der Tiere, und früh legte er dabei die Hände zusammen, wie seine Mutter es auf der Veranda getan hatte. Seine erste Liebe erschloß sich den Blumen, um die er behutsam die Finger zu falten pflegte, um dann mit geschlossenen Augen ihren Duft in sich hineinzuatmen. Später kamen die Tiere, viel später die Menschen. Als die Engländerin erschien, war seine Welt schon klar geteilt in Dunkel und Hell, und Wärme, Güte, Glück und Trost lagen allein auf der dunklen Seite.

Ehe Herr Magnus mit Percys Erziehung begann, trug dieser ein glühenderes Bild der Wunder Javas in seiner jungen Seele, als sein Vater es auf seinen ungezählten Geschäftsreisen gewonnen hatte. Da war Sawah, die mit Liedern und Tänzen, mit Märchen und Sagen seine Mutter war. Da war Amaga, der Vaters Wagen führte und der Tag für Tag mit dem Sohn der toten Herrin auf den weißen Straßen bis in jene Ferne flog, wo der weiße Mann nicht mehr war. Wo die Dörfer lagen wie an Gottes erstem Tag. Wo die Hähne kämpften und die Trommel zum Gamelang rief. Wo der Schwefelturm über Krateröden stand und das Gewirr der Terrassen, dämonengeschmückt, zum ewigen Stein verlassener Tempel sich formte. Wo aus Ebene und Tal, aus Schweigen und Schrei, aus Blüte und Antlitz eine fremde Seele sich gebar, fromm und verrucht, selig und verstoßen, die dunkle Seele einer Erde, die vielleicht den Garten Eden getragen und die vor den Augen des Kindes aufstand, sonder Hülle und Scheu, wie das Antlitz einer Mutter, unverlierbar, unvergeßlich, Leben und Tod.

Er nahm gehorsam, was man ihm bot. Er empfing das Wesen des Abendlandes und hängte es als ein loses Gewand um seine schmalen Schultern. Er empfing es als eine Last, vielleicht als einen Schmuck, aber nie als ein Gut. Darunter trug er den Sarong seiner Seele, das schmiegsame, leuchtende, zärtliche Gewand einer anderen Erde und eines anderen Himmels. Als er zehn Jahre alt war, sprach er vier Sprachen, als seien sie die Sprachen seiner Mutter, aber wenn er über den letzten Teefeldern auf den Hängen der Berge lag oder am Ufer eines Urwaldsees, den versunkenen Blick in die Blüte des roten Lotos tauchend: wenn seine Seele abstreifte, was man mühsam über sie gehängt; wenn er nicht dachte, nicht begehrte, nicht litt: dann formten seine Lippen bewußtlos Ton um Ton, die nach nichts strebten als nach zwecklosem Klang, ein Ring von Melodie um die engste Enge eigenster Heimat, malaiischer Worte spielerisches und klingendes Bild. »Alang-Alang«, sang er vor sich hin, »tendä – tendä ... Tu-ku-i-u ...« Und er empfand das reine Glück eines Vogels, den der Wind über die Wälder wiegt, in die er sich senken kann, zur Liebe oder zum Traum. Die weiße Welt blieb ihm Schatten und Zwang. Er sah sie wie Seiten eines Buches, aber aus ihrer Strenge und Form stieg nichts als das Wort. Vielleicht ein Begriff, vielleicht eine Macht. Aber der Duft einer Blüte war süßer als die Spröde ihrer Frucht. Ihre Sprache war hart, und ihre Augen waren hell. Sie glichen den Soldaten in gleicher Uniform, deren mächtigster Besitz das Gewehr war, ein dunkler Stahl, der die Achtung erzwang. In ihren Reden häuften sich das »Ich will« und das »Du sollst«, und ihre Augen gingen suchend über Antlitz und Kleid, als spähten sie nach Waffen, die man versteckt hielt. Sie fürchteten die Schlangen, die Sonne und die Nacht, und sie blickten auf das Land wie auf ein Schiff, das zu ersehnter Küste führt.

Und was sie einzeln konnten, die man zur Erziehung über ihn gestellt, das konnte der Vater als eine Summe ihrer aller. Er war der Richter auf dem Stuhl und das Dach der fremden Welt. Man sah ihn nur am Morgen und am Abend, aber die Qual der Tage sammelte sich vor seinem Blick. Er wollte wissen, was man gelernt, was man gedacht und vollendet. Er stieß seinen Finger bis an das Tor der Seele, und es schmerzte, wo er traf. Man konnte schweigen: aber das Schweigen rief jene eisigen Worte der fremden Sprache ans Licht, in denen »Gehorsam«, »Ehrgeiz«, »Rasse« und »Pflicht« wie Peitschenschläge niederschlugen. Man konnte auch antworten, aber die Worte entkleideten, sie öffneten Riegel und Tor, sie zerrissen jede Blüte Blatt um Blatt, und sie schmerzten mehr als der Schlag der Peitsche. Und was war zu erzählen? Daß man mit einer malaiischen Flöte vor dem verborgenen Glaskasten im Bodenraum gesessen und auf das Wiegen der Schlangenkörper gestarrt, die man vorher mit Milch gefüttert? Hatte man nicht schon der Engländerin drohen müssen, man werde die Schlangen im Garten aussetzen, wenn sie ein Wort verrate? Oder sollte man erzählen, daß man im heiligen See gebadet und am Grab der Mutter gesessen und das Lied von Alang-Alang gesungen habe? Besser war es, zu schweigen und nach der Qual des gemeinsamen Abendessens, wenn der Wagen zum Klub gefahren war, vor dem schwarzen Flügel zu sitzen, das Lied der fremden Erde zu spielen und den seltsamen Akkorden nachzulauschen, wie sie hinter den schimmernden Tasten sich aufhoben und verwehten gleich einem verlorenen Ton im Dämmer des Urwaldes. Man schlug sie wieder an, und noch einmal, und mit dem Dämpfer ließ man sie auf und nieder schwingen, wie gefangene Vögel von traumhaftem Blau, bis man sie entließ, über die Wipfel hinweg, und Trauer und Schweigen blieben. Ja, von allem war das Schweigen das Beste, das Falten der Hände, das Lösen der Glieder und der halbgeschlossene Blick, der durch die Mauern hinausging zu dem großen Geheimnis.

Zu Beginn von Percys elftem Lebensjahr lief die Woge des großen Krieges rund um die Erde, und der Schaum ihres dunkel getürmten Berges begrub das weiße Haus in Weltevreden. Herr Magnus verlor Stellung und Vermögen und mit diesen Grundlagen seines Lebens Glauben und Vertrauen und den Rest seiner spröden Güte. Die Entrechtung seines Herrentums, gefährlicher, weil sie ihn im fremden Lande traf, als Schauspiel vor der niederen Rasse, nahm ihm nicht nur Tätigkeit und Besitz, sondern durchschnitt die einzigen Wurzeln, die den Stamm in fremder Erde hielten, und ließ nichts zurück als eine verwüstete Szene, wo das Licht erlosch und der Flitter fiel. Nichts war ihm Vaterland und Tod von Tausenden, und das Ringen eines Volkes war pur ein störender Jahrmarktslärm neben dem Ringen um sein Recht und sein Selbst. Sein Leben war bankerott, aber andere trugen die Schuld, und am Rande des Strudels stieß er zurück, was mitleidend vor seine blinden Augen kam.

Er rettete, um jeden Schilling kämpfend, ein spärliches Kapital, doch verlor er auf unwiederbringliche Weise sich selbst. Was bis dahin kalte Betrachtung gewesen war, entstellte sich zum Haß, Objektivität zum Mißtrauen, Kritik zur Nörgelei, Stolz zur Feindschaft. Die Unsicherheit der Weltlage und seine Tätigkeit in einem englischen Hause verschlossen ihm die Türen der holländischen Firmen. Das Haus wurde verkauft, Erzieher und Dienerschaft entlassen, und in gemieteten Räumen standen ein paar Wochen später Vater und Sohn, der Tätigkeit und des Reichtums entkleidet, in erschreckender Einsamkeit und Ausschließlichkeit einander gegenüber.

Da waren Monate, wo Herr Magnus die Kette leerer Tage durch die Bataverstadt schleppte, von Büro zu Büro, von Advokat zu Advokat, an Hoffnungen geklammert, die wie Glas zersplitterten, von Versprechungen genährt, die nichts als eine höfliche Geste waren. In diesen Zeiten war Percy der Baumeister traumhafter Schlösser, oder wie ehemals war er Sawahs Kind, das am Abend zurückkehrte in die fremde Welt. Da waren Monate, wo der Vater vermeinte, daß im Zerfließen enttäuschten Lebens nichts bliebe als sein eigenes Kind, und er Stunde für Stunde es zu bereiten suchte zur Rache an erlittener Schmach. Aber furchtbarer als alle Wissenschaften des Abendlandes, ja als Wechselrecht und Buchführung, womit die Sinnlosigkeit krankhafter Wünsche das Kind betäubten, war für Percy die körperliche Qual dieses Beieinanderseins, diese greifbare Nähe der kalten oder zornigen Augen, der harten Hände, der drohenden, scheltenden Stimme. Die Qual des Entblößtseins, des Sprechenmüssens und der Wachheit, das erbarmungslose Ausgeliefertsein an den Stahl eines Willens, der grausam vorschrieb, was man haßte, und noch grausamer löschte, was man liebte. Und da waren schließlich Monate, die entsetzlichsten im grauen Strom der Jahre, wo Herr Magnus der Whiskyflasche verfiel, wo der Unterricht zur höhnischen Groteske wurde und das entwurzelte Machtgefühl sich an der Qual der hilflosen Kreatur berauschte. Dann mußte Percy hundertmal dieselbe endlose Zahlenreihe schreiben oder in einem Winkel des glühenden Raumes knien, bis der Trunkene in den Schlaf der Erschöpfung fiel und das Kind zu Sawah lief, wo es in dumpfem Grübeln vor seinem Schlangenkäfig saß.

Im fünften Kriegsjahr überstand Herr Magnus den ersten Malariaanfall, und die Heimreise wurde beschlossen. Der Haß des Entrechteten gegen die weiße Stadt und ihre Bewohner wuchs zu einer Form, die das verlorenste deutsche Dorf zu einem Paradies erklärte im Vergleich zu aller tropischen Verruchtheit.

Bevor Percy zu fassen vermochte, was am Rande seines Lebens furchtbar aufstand, lag der Schatten schon betäubend über ihm und verdunkelte ihm aller Wege Richtung und bewußten Sinn. Erst als das Haus schon leer war und die Frist nur noch nach Tagen zählte, erwachte er wie ein Tier in der Falle und floh zu Sawah. Aus ihren Tränen riß er sich los und verschwand.

Polizisten fingen ihn am Rande eines Eingeborenendorfes und rasten mit ihm im Kraftwagen zum Pier, wo das Fährboot zum Dampfer noch lag. Im Angesicht der Menge züchtigte sein Vater ihn hart und stieß ihn an Deck. Dann schrie die Sirene auf. Vor seinen Augen schwankte ein glühendes Bild von Häusern, Palmen und Masten, und mitten in seinem wirbelnden Kreis sah er die erhobenen Arme zweier Menschen. »Sawah!« schrie er. »Amaga ... Sawah!« Dann war nichts mehr als eine dunkle Woge, auf deren drohendem Kamm in bleichem Licht eine Flut der roten Lotosblüten mit der unheimlichen Deutlichkeit einer Vision erglühte, und eine Stimme, fern wie vom anderen Rand der Erde, die über die zusammenstürzende Flut sich singend hob: »A ... lang, A ... lang ... Tuku-i-u ...«

Die Stadt lag im Osten Deutschlands, so weit vom Meere, daß sie nur dessen Regen und Winde empfing, und so weit vom Walde, daß man von den Bodenfenstern die blaue Linie seiner Wipfel am flachen Horizonte sah. Sie lag in einer Ebene, in der man Roggen und Kartoffeln baute, durch die zerwühlte Straßen liefen, mit gekappten Weidenbäumen an ihren schmutzigen Rändern, und über der die schweren Wolken des Flachlandes scharfgerandet und düster hingen.

Sie bestand aus einer Reihe dumpfer Straßen, die man mit grauen und geraden Häusern zugebaut hatte, einem Marktplatz mit einem Denkmal und aus ein paar Amtsgebäuden, aus deren Bodenluken mitunter verwaschene Fahnen hingen. Es war eine Stadt ohne Strenge wie ohne Zauber. Die Hand des Krieges hatte gelöscht, was dem Rest einer Flamme geglichen hatte. Nun sah sie aus, als hätte es fünf Jahre geregnet und fünf Jahre lang habe sich kein einziges der blinden Fenster geöffnet. Die Menschen trugen schwarze Kleider oder einen Kriegsstoff, der sie wie Kolonnen erscheinen ließ, ohne Geschlecht, ohne Alter, ohne Namen. Die Kinder hatten dünne Glieder und den hungrigen und leise verschlagenen Blick wildernder Tiere. Sie schlugen sich um Brot und stahlen die Äpfel der dürftigen Gärten. Von den schmutzigen Mauern und halb abgebrochenen Zäunen schrien die Plakate der neuen Parteien. Mitunter knallten ein paar Schüsse durch den winderfüllten Abend, und Geschrei lief eine dunkle Straße entlang, aber selbst die Schüsse klangen matt wie hinter gepolsterten Wänden, und das Geschrei erstickte im Lehm der Dämmerung. Die Kirchen waren voll, und auf den Scheitel der Enterbten und Verirrten fielen die tönenden Worte der Zeit, wo das Brot so kostbar war, daß selbst die Hirten Steine statt seiner reichten und die Lehre Christi entheiligt wurde zur Fahne irdischen Begehrens.

Das »malaiische Haus« war ein Haus wie die anderen, aber es hatte an seiner Hinterseite einen Garten, der in nützlicher Nüchternheit begann und in einer Wildnis endete. Unten, hinter den Resten eines gestohlenen Zaunes, glitt das graue Wasser des schmalen Flusses durch immer bewegtes Schilf dem Meere zu: dahinter spannen die Nebel über gepflügtem Land, und die Giebel verstreuter Feldscheunen standen wie dunkle Klippen über dem grauen Schein.

Wenn Percy in seinem Zimmer im Oberstock erwacht, aus glühenden Träumen in das eisige Bewußtsein des Tages stürzend, hört er das lärmende Zwitschern der Spatzen vor seinem verdunkelten Fenster, das dumpfe Aufstoßen des Stockes, an dem sein Großvater unten durch die Räume geht, und den heiseren Klang seiner scheltenden Stimme, die irgendeine »Eigenmächtigkeit« der Haushälterin tadelt. Er legt die Hände über die Augen und versucht, »nicht zu sein«. Aber es gibt keine Hilfe und kein Wunder. Der aufstehende Tag faßt ihn mit der stählernen Erbarmungslosigkeit eines Rades und zieht ihn Maß um Maß in die kreisenden Speichen. Er haßt die Kälte des Wassers, das schwere und harte Vielerlei seiner Kleidung, das schwelende Grau der Luft und des Lichtes. Er verzieht das Gesicht wie unter einer Schande und tastet durch die erste Stunde der Frühe wie durch die verschlungenen Pflanzen einer bodenlosen Meerestiefe.

Unten klopft er an die Tür mit der Visitenkarte »Magnus Schurmann sen.« und tritt in das Wohnzimmer des Großvaters. Der »Chef des Hauses«, wie er sich mit kaltem Hohn zu nennen liebt, steht dann am Ofen und sieht ihm schweigend entgegen. Er hat Gesicht und Gestalt seines Sohnes, nur gewissermaßen dumpfer und unschärfer, weil Luft und Boden der kleinen Stadt verhindert haben, daß der Formtrieb des Geschlechtes den schweren Stoff zur reinen Linie adelt. Er hat ein Provinzgeschäft besessen und es früh verkauft. Nun sieht er die Taler auf stündlich tiefer sich neigender Ebene rollen, und ihm bleibt kaum Zeit, mehr zu halten vom Gewinn seines Lebens als Garten und Haus und ein paar dürftige Äcker. Was groß an seinem Sohn geworden ist, Geist, Urteil, Schärfe und Wille, ist bei ihm nichts als bürgerliche Standfestigkeit, weil Größe des Raumes, Ferne der Zonen und Wind des Geschehens ihm versagt geblieben sind: und wenn der Bankerott des Lebens, gleich der Feuchtigkeit eines verengten und nicht gelüfteten Raumes, die Seele seines Sohnes mit grauen Flecken bedeckt hat, so hat der gleiche Bankerott die Seele des Vaters zerfressen, weil sie in Dumpfheit und Enge gelebt und den Gipfel der Woge nie anders als aus dem Tale erblickt hat. Er ist nicht verbittert, sondern mit der Säure des Hohnes erfüllt: er beneidet nicht, sondern er haßt: er geht nicht gleichmütig oder blind an den Blüten vorüber, er schlägt auch nicht nach ihnen in jähem Zorn, sondern er speit sie an, und wenn es ohne Gefahr ist, tritt er sie mit den Füßen in die wehrlose Erde.

Er leidet an dem Geschick seines Sohnes, schwerer vielleicht als dieser selbst. Aber er leidet nicht aus Liebe oder Mitleid. Er leidet aus der beschränkten Makellosigkeit des Bürgers heraus, und er leidet, weil die ehernen und blinden Gesetze seines Lebens, das heißt der Stadt, ihn zur Hilfeleistung zwingen. Es ist nicht leicht, sein Brot zu essen oder einen Teil seines Brotes. Er gießt ein paar Tropfen Essig in die süßeste Speise, damit es dem anderen nicht zu wohl werde am gedeckten Tisch des Schiffbrüchigen, und an keinem Morgen vergißt er zu bemerken, daß die Butter um soundso viel teurer geworden sei. Trotz allem trägt er noch eine Maske, aber sie hängt an einem dünnen Faden. Es ist seine Hoffnung auf eine Entschädigungssumme, die sein Sohn erhalten könnte. Vom Staate oder von England oder von Holland. Sie beseelt sein dürftiges Lächeln, und sie mildert das Gift seiner Scherze.

Wenn Percy eintritt und nach dem Ofen blickt, sieht er nur den ungepflegten Anzug von totem und etwas fettigem Grau, der ihn an seine Lehrer erinnert. Er sieht nicht gerne in das Gesicht, das ihn mit spöttischen Augen mustert. Es ist ihm unerträglich, sich davon zu überzeugen, daß es zwei solcher Gesichter auf der Erde gibt, mit denen er unlöslich verbunden ist und die gleich zwei Fischen derselben Gattung, kalt, böse, lauernd, seine Bewegungen verfolgen. Er sagt »Guten Morgen« und nimmt zu kaum wahrnehmbarer Berührung die kalte und vielgliedrige Hand. Herr Schurmann schweigt, ohne den Blick von ihm zu wenden. Er weiß, daß Percy ihn fühlt und daß es ihm eine körperliche Qual bereitet. Aber junge Wilde müssen gezähmt werden. »Nun, du Kopfabschneider?« sagt er dann spöttisch. Er denkt aus irgendwelchen Gründen, daß alle Malaien Kopfabschneider seien, und er bringt damit ein dunkles Unterschiedsgefühl der Rassen zum Ausdruck, weil er nicht begreifen kann, wie ein Schurmann einen solchen Sohn haben kann. Er fürchtet, daß die Mutter eine Eingeborene gewesen sei.

Percy schweigt. Sein höfliches Lächeln erstickt im Widerwillen. Kein Morgen vergeht ohne diese Einleitung.

»Dein Appetit wird immer gesegneter«, bemerkt Herr Schurmann nach einer Weile. Er weiß, daß es nicht wahr ist, aber es kann nicht schaden.

Percy legt das Brot zurück und steht auf. Herr Schurmann sieht, daß die Adern an seinen Schläfen zittern. »Nun, nun, so war es nicht gemeint«, sagt er lächelnd. Dann sieht Percy ihn an, zum erstenmal. Der Blick seiner dunklen Augen zeigt keinen Haß. Eine leise, fast tierische Angst liegt in ihm und eine große, unverhüllte Trauer.

Es sind keine europäischen Augen, gleichviel welcher Länder. Sie haben den feuchten Glanz eines frommen Tieres, die machtlose Resignation tausendjähriger Vergangenheit und die unmeßbaren Abgründe beseligter Zonen, wo der Tod beschattend über der Blüte des Lebens steht. Für die Stadt sind sie »interessant«, für die Lehrer »verstockt«, für Herrn Schurmann sind sie »komisch«.

»Mach, daß du in die Schule kommst!« sagt er böse, Percy holt seine Bücher und zieht einen Mantel an, der aus des Großvaters grauem Kleidervorrat stammt. Er friert immer, und in den Nächten hustet er. Auf der Treppe geht er mit kaum hörbarem Gruß an der Haushälterin vorbei. Sie ist gelbsüchtig und schwarz gekleidet, und sie erinnert ihn an die Vögel, die in seiner Heimat am Rand der Sümpfe standen, verschlagen, aber lauernd, und sich vom Tode nährten.

Draußen schlägt er den Kragen hoch und setzt die Füße wie im Traum über die schmutzigen Steine. Der Nebel drückt ihm die Kehle zu, und die Menschen erscheinen ihm wie wandelnde Fratzen von den Terrassen der javanischen Tempel. Er hat noch kein Gesicht gefunden, das wie das seiner Mutter wäre oder wie Sawahs leuchtende Frommheit.

Er fühlt keine Neugier nach der fremden Welt, keine Hochachtung, keine Erschütterung. Er fühlt auch nicht Haß. Er fühlt nur die Lähmung des Käfigs, die Gitterstäbe, den Blick der Wärter. Und er geht an den Stäben entlang, müde, leer, zwecklos, weil man ihn antreibt zu gehen. Und wenn man die Peitsche fortlegen wird, beim letzten Klingelzeichen der Schulglocke oder nach dem Abendessen, dann wird er irgendwo den Schatten suchen, eine Ecke seines Zimmers, oder das Klavier, das oben steht, oder die Schilfdeckung am Fluß: dann wird er sich niederkauern und die Hände zusammenlegen, und dann werden die Träume kommen, die glühenden Visionen, die schwirrenden Klänge, die tropfenden Töne. Und dann kommt der Urwald der Nacht und des Schlafes.

Er tritt in den Lärm seiner Klasse und setzt sich auf seinen Platz. Man fragt ihn, und er gibt Antwort. Der Geruch des Raumes senkt sich wie eine Kellerdecke auf ihn hernieder, Stimmen und Gesichter dringen durch die Stäbe des Gitters, und er empfängt das alles wie ein gefesseltes Opfer. In den ersten Tagen war er eine Sensation, ein unerhörter Einbruch tropischer Welt in die flache Schale bürgerlicher Öde. Man fragte, man schmeichelte, man umwarb ihn.

Als er teilnahmslos blieb, verschlossen, fremd, begann man ihn zu hassen. Er vernahm Hohn und Unflätigkeit, aber gegen den ersten, der ihn berührte, erhob er mit jäher Wildheit den Kris aus seiner Tasche. Nun steht er unter ihnen wie auf einer fremden Straße. Sie haben ihm nichts zu sagen. Ihre Worte stoßen an seine Seele wie treibende Dinge an den Bord eines Schiffes.

Es gibt einen dumpfen oder kratzenden Laut, man beugt sich flüchtig zu ihnen, und dann sind sie schon weit im Kielwasser und tanzen gleich leeren Hülsen im grünweißen Schaum. Percy handelt nicht mit Zucker, Schokolade und Zigaretten wie die andern. Er ist kein chinesischer Straßenhändler, und Inflation ist ein sinnloses Wort für ihn.

Was sollte er mit ihnen sprechen? Die Schule, der Lehrer, die Aufgaben, Mädchen, die man wie Pferde bespricht und bewertet ..., er kennt das alles. Aber das alles steht jenseits des Gitters, und in dem nackten Käfig ist er ganz allein.

Auch auf die Lehrer blickt er wie auf den Großvater. Sie sind grau gekleidet und von Sorgen zerfressen. Die aus dem Krieg zurückgekommen sind, erzählen von ihren Taten mit einer beleidigten, hochmütigen Würde oder mit wortreichem Haß gegen die Feinde und das »Volk«. Sie tragen ihre Orden, und auf ihrer Stirn steht eine grenzenlose Verachtung gegen »Drückeberger« und alle Daheimgebliebenen. Die anderen sind behaglicher, menschlicher, aber der Mangel des Lebens und des Erlebens hat ihre Aufseherseele schärfer und mißtrauischer gemacht. Sie tasten wie Bohrer an der stumpfen Wand der Klasse. Im wankenden Gebäude des Staates stützen sie leidenschaftlich die »Autorität«, überall Auflehnung und Meuterei vermutend, und die jahrelange Öde des »Pensums« läßt sie wie tibetanische Priester erscheinen, an Gebetsmühlen drehend und Papierstreifen statt des Brotes reichend.

Auch ihnen ist Percy zunächst ein »Sonderfall«. Sie stellen seine »Begabung« fest, »erhebliche Lücken« seines Wissens, »nicht gleichmäßige Teilnahme«. Aber sie sind ihm nicht abgeneigt. Die Jüngeren unter ihnen zeigen ein leutseliges Interesse, als setzte ihre Bildung sie instand, überall auf der Erde zu Hause zu sein, auch in Java, selbst in Weltevreden. Einer hat sogar auf einer Eisenbahnfahrt ein langes Kolonialgespräch mit einem Holländer gehabt. Aber auch hier verläuft es wie nach unerbittlichen Gesetzen. Percy ist höflich, artig, er ist sogar fleißig. Aber er ist ein Fremder, und er verbirgt es nicht. Er überwindet sich und spricht von Dingen der anderen Welt, aber nur von den Dingen, nie von dem Eindruck, ihrer Seele, geschweige denn von seiner eigenen. Er findet auch nicht alles großartig, wie man es von ihm erwartet. Und er ist überlegen, das ist sein Verderben. Nicht in Miene oder Haltung etwa, sondern unpersönlich, in der Sache. Er spricht Englisch wie seine Muttersprache und dazu Deutsch, Holländisch und Malaiisch. Er verbessert den Lehrer nicht, aber wenn er gefragt wird, erklärt er, daß es so niemals heißen könne. Seine Mitschüler grinsen, und der Lehrer schweigt. Ein böses Schweigen, aus dem der Haß sich unerbittlich hebt.

In der Erdkundestunde, zu der der Professor sich sorgfältig hat vorbereiten müssen, fällt eines der geläufigen hochmütigen Urteile über die malaiische Rasse. Alle Köpfe wenden sich Percy zu. Sein Blick hängt mit abwesender Trauer an der Landkarte, wo die gelben Inseln leblos im blauen Meere liegen. »Nun, Schurmann?« fragt der Professor mit etwas unsicherer Ironie. »Haben Sie wieder eine Privatmeinung?« Percy wendet müde den Blick zu ihm. »Ich habe keine Meinung«, erwidert er ohne Teilnahme, »sondern ich weiß, daß kein Europäer eine Ahnung von dem Adel des malaiischen Volkes hat.« – »Sehn Sie mal an«, sagt der Professor, um Zeit zu gewinnen, »sehn Sie mal an ... wollen Sie uns nicht etwas von diesem Adel verraten?« – »Nein«, antwortet Percy schroff.

»Ein impertinenter Bursche«, erklärt der Direktor in der Konferenz. Er spielt eine geistige Führerrolle in der Stadt, leitet einen literarischen Verein und ist ein bewunderter Redner. Er ist an Verehrung gewöhnt und erwartet, daß seine Schüler der Stufen bewußt sind, auf deren höchster er seinen Thron hat. Percy kennt keine Götter dieser Art, und Haltung und Sprache bei ihm sind, ohne sein Wissen, unvergeßliche Sakrilegien.

In der Pause steht er auf dem lichtlosen Hof, frierend, an eine gelbe Mauer gelehnt. Seine Sehnsucht schlägt Kreis auf Kreis, am heiligen See anfangend und sich immer mehr verengend, bis zu der dunklen Ecke seines Zimmers, an dessen Fenstern der Regen tropft. Er sieht Farben und das edle Gleiten nackter Körper, und er hört die erregenden Schreie der Wälder und der Tanzplätze. Alle Wege seines Lebens führen zurück, und vor ihm steht nichts als die Nebelwand des Hofes, die über den Gesichtern liegt, der Stadt und dem weiten, unendlich weiten Land.

Nach dem Essen, bei dem alle Blicke auf ihn gerichtet erscheinen, ist er bis zum Abend allein. Sein Vater begründet mit zwei Afrikanern einen Bund der Auslandsdeutschen, und der Großvater macht eine Bilanzaufstellung aller Geschäfte der Stadt. Ohne Auftrag und Unterlagen, eine reine Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie lange sie »überhalten« werden. Den ganzen Vormittag verbringt er mit Gängen und Gesprächen, um Material zu sammeln. Dann sitzt er am Fenster, so daß er die Straße überblicken kann, und wartet auf die Zeitung. Wenn der Wert des Geldes gesunken ist, lächelt er höhnisch vor sich hin.

Percy schläft bis zur frühen Dämmerung. Er hat keine Lampe in seinem Zimmer, sondern nur ein räucherndes Licht aus Ersatzstoffen. Aus einem Versteck, das er sorgsam hütet, holt er einen flachen Kasten und legt ihn vor dem Fenster über seine Knie. Im gelben Abendlicht, das jenseits des Flusses erlischt, gleiten seine Blicke und Hände über die Trümmer seines Glückes, die er Sawah verdankt: das fließende Gewebe eines Sarongs, ein Batikkopftuch, eine malaiische Flöte, zerbröckelnde Blüten der Gärten und Wälder. Ganz unten liegt ein dunkler Buddha, mit starrem, aber gütigem Antlitz, die Hände voll segnenden Lebens. Ein feiner Duft steigt aus allem empor, und mit geschlossenen Augen gibt er sich dem quälenden Rausche hin.

Dann sitzt er am Klavier und hebt die Klänge aus dem Dunkel, abwesend und versunken, als schöpfte seine Hand zwecklos aus einem blauen Meer. Wie als Kind läßt er die Akkorde sich heben und senken, und jede Schwingung durchdringt ihn wie ein Hauch der tropischen Fieber. Dann legt er die Hände zusammen und blickt in das Nichts, oder er stiehlt sich lautlos in den Garten bis an den Schilfwald am Flusse. Man hört das Wasser ziehen und den Wind die trockenen Halme rühren. Aber alles ist tot, eisig und feucht, und die Illusion verweht.

Am Abend sitzt er am Eßtisch beim Großvater und arbeitet für die Schule. Herr Magnus sen. steht am Ofen und beobachtet ihn. Percy weiß, daß er lächelt, aber er sieht nicht auf. Er fühlt die letzten Tropfen in die Schale seiner Qual rinnen und weiß, daß die Nacht lang und vom Dunkel eines Abgrundes ist.

Der Vater kommt heim, etwas laut und mitunter nicht ganz nüchtern. Aber angesichts des alten Mannes, der die zu erwartenden Konkurse heiter aufzählt, verliert sich das lärmende Wesen in ein finsteres und argwöhnisches Verstummen, und das Gespräch schleppt sich müde zu Tal, von Anspielungen und verhüllter Bosheit wie von fernem Wetterleuchten erhellt.

Percy sagt leise gute Nacht und geht nach oben.

In der neuen Klasse, nach den Osterferien, fand Percy einen neuen Schüler unter den bekannten Gesichtern. Graf Holger hatte ein erfolgloses Gastspiel auf einem Gymnasium der Hauptstadt gegeben und war von seinem Vater kurzerhand in die Stadt verpflanzt worden, in deren weiterem Bezirk seine Güter lagen. Er war Pensionär des Direktors, und beide Parteien, außer Holger selbst, erwarteten das Beste von dieser Anordnung. Er war groß gewachsen, von der selbstverständlichen Sicherheit des Benehmens, die Name, Vermögen und schlechte Leistungen in diesem Alter zu verleihen pflegen. Sein Gesicht war schwer, fast bäurisch, und nur der klare, eindringlich unerschrockene Blick seiner Augen und seine edlen Hände verrieten äußerlich seine Abkunft.

Er hatte die Klasse betreten, als die Schüler noch um ihre neuen Plätze stritten, hatte sie der Reihe nach kühl und sorgfältig gemustert und war dann zu Percys Bank getreten. »Sie erlauben?« sagte er höflich, seine Bücher mit verächtlichen Bewegungen auspackend. »Ich bin Holger Einsiedel.« Percy machte ihm errötend Platz, und Holger, die Beine übereinanderschlagend und die Hände in den Taschen, erklärte sachlich die Gründe seiner Übersiedelung und gab die wichtigsten Daten seines Lebens an. »Der Alte hat mich gewarnt vor Ihnen«, schloß er, den vollen Blick auf seines Nachbarn Antlitz richtend. »Deshalb habe ich mich zu Ihnen gesetzt. Es muß etwas dran sein an Ihnen, wenn der alte Idiot die Augen verdreht ... das andere ist sowieso nur Bruch.«

»Es ist gefährlich für Sie, neben mir zu sitzen«, erwiderte Percy mit trübem Lächeln, während er eine leise Erregung in sich aufsteigen fühlte.

»Gefährlich?« Holger sah ihn vergnügt an. »Wer auf Java geboren ist, sollte doch in diesem Kasten nicht von Gefahr sprechen. Diese Männchen sind nicht gefährlich. Höchstens amüsant, mehr nicht.«

Der Ordinarius trat ein und hielt eine kleine Ansprache, von der Aufgabe der neuen Klasse, nicht nur der geistigen, sondern auch der sittlichen, in der Vaterland, Manneszucht und der Geist von 1914 eine etwas häufig wiederholte Rolle spielten. Dazu sah er sorgenvoll aus und von gemessener Feierlichkeit, als stünde er am Grabe alles Guten und Edlen.

»Schleim«, bemerkte Graf Holger kühl und sah aus dem Fenster.

Verschiedene Plätze wurden noch einmal gewechselt. »Graf Einsiedel, Sie könnten sich besser auf die hinterste Bank setzen«, sagte der Ordinarius lächelnd. »Sie sind etwas groß hier vorne ...«

»Nein, danke«, erwiderte Holger freundlich, aber mit nicht zu verkennender Entschlossenheit. »Ich möchte neben Percy Schurmann sitzen.«

»Wenn Sie so schnelle Sympathien haben ...«, kam es vorsichtig zurück.

»Allerdings, die habe ich!«

Sein furchtloses Auge verwirrte, und der Ordinarius runzelte nur mit seitwärts ausweichendem Blick die Stirn.

So begann ihre Freundschaft.

Percy glaubte, daß ein neues Leben für ihn anhebe. Im Nebel der Stunden und Tage sah er etwas auftauchen, was nicht Nebel war, was nicht verfloß und verdämmerte, sondern Gestalt wurde; die Linien eines Gesichtes, einer Gestalt, den Glanz eines Auges, die Beugung eines Lippenpaares.

Und dieses Etwas trat nicht nur heraus aus der Masse, um bequemer an seinem Gitter zu stehen, sondern es öffnete unbekümmert die Tür und trat zu ihm ein. Es ließ sich bei ihm nieder, im gebannten und verfemten Raum, es teilte Speise und Trank, Gefahr und Verachtung, und es blickte mit ihm zusammen durch die Stäbe auf das dumpfe Antlitz jener Menge. Es spottete ihrer, es verhöhnte sie, und wenn es ihrer müde war, kehrte es ihr den Rücken und ging mit dem anderen in das Dickicht, in die Wüste, wo nur ihre beiden Herzen schlugen. »Es ist, als ob Amaga bei mir wäre«, bekannte Percy erschüttert.

»Ach was, du mußt ihnen die Zähne zeigen, Percy! So wie damals mit dem Kris. Das haben sie mir gleich versetzt. Sie behaupten übrigens, daß er vergiftet sei. Idioten! Du siehst doch, was sie sind. Ein Wrukenfeld, nichts weiter. Klopsfresser, sagt mein Onkel, und der weiß Bescheid in der Welt. Sie haben die Macht. Schön. Aber wie weit reicht sie? Bis an deine Fußsohlen. Alles Bruch!«

Es war schwer zu sagen, worauf Holgers Liebe zu Percy beruhte. Es konnte der Blick des Bauern für den Adel der Zucht sein, es konnte auch ein Rest jenes Erbgutes sein, das die Schirmung der Schwachen und Bedrängten auf seiner Fahne trug. Es war ein tapferes Gefühl, von Verantwortung getragen, nicht frei von edlem Egoismus, der das eigene Wesen an der Güte der Tat sich läutern und wachsen sah.

Sie verbrachten jede freie Stunde gemeinsam, in Percys Zimmer, auf dem Fluß, weit vor der Stadt. Niemand war da, der sie zu behindern wagte, seit Holger auf eine Bemerkung von Magnus Schurmann sen. diesem folgende »Erklärung« abgegeben hatte, wobei er freundlich lächelnd den obersten Knopf des grauen Rockes hin und her gedreht hatte: »Zur Zeit der Schlacht von Mantinea, verehrter alter Herr, mögen solche Beziehungen zwischen der alten und der neuen Generation ja obgewaltet haben. In diesem etwas fortgeschritteneren Zeitalter pflegen wir unsere Belange selbst in die Hand zu nehmen. Wir gehen zur Penne. Schön. Wir schlagen keinen Spießbürger tot. Schön. Dafür verbitten wir uns freundlich alle Übergriffe in unser eigenes Leben, nicht wahr?« Und der alte Provinzkaufmann schien sich wieder am Ladentisch zu sehen, an dem er die Grafen Einsiedel mit erlesenster Höflichkeit bedient hatte, versuchte eine Erwiderung, stolperte über ihren Anfang und verließ schweigend und blaß vor Zorn das Zimmer.

Nicht daß Percy ein Held wurde oder ein müßiger Nachahmer des Freundes. Aber er gewann Unendliches. Aus seiner schrecklichen Einsamkeit vernahm er den Schlag eines menschlichen Herzens. Er vermochte zu sprechen, leidenschaftlich und über alle Grenzen hinweg. Er fand Teilnahme und Widerhall, und wenn er auch nur verwirrtes Schweigen fand, so fand er nie ein spöttisches Lächeln. Er war von einer Dankbarkeit, die lächelnd den Tod gelitten hätte. Er achtete gering, was er geben konnte, obwohl es der Glanz einer brennenden Erde war und Blut und Widerschein einer edlen Mutter. Aber Holger erkannte es.

»Wir sind die Enterbten«, sagte er, wenn sie am Fluß lagen und über das Wasser starrten. »Ich bin aus zweiter Ehe, weißt du. Die erste war eine Gräfin, aber meine Mutter war eine Bauerntochter. Jawohl. Der Alte hatte tausend Morgen, aber er war ein Bauer. Onkel Byron sagt, daß ich die Rasse verschandele. Die dritte ist wieder eine Gräfin. Die Brüder sind first class, durchaus. Aber ich bin minderwertig, ein Mischling. Wie sagt man bei euch ... halfcast, ja. Sie werden mir ein Vorwerk geben und die Nase krausen, wenn sie von mir reden. Aber wir werden ein neues Geschlecht anfangen, Percy, auf Java oder Kamtschatka, ist mir ganz gleich.« Er hob die Faust und schleuderte den Stein weit über den Fluß hinaus.

Percy schob die Arme bequemer unter den Kopf und lächelte. »Du ja, Holger, sicherlich ... ich nicht.«

»Quatsch!« sagte Holger und warf einen schnellen Blick der Sorge auf ihn.

Dann schwiegen sie. Fern zu ihrer Seite glänzte die Stadt mit dem trägen Rauch der Nachmittagsstunde über den toten Dächern. Ein Taubenschwarm hob sich aus der jungen Saat, aufleuchtend in jäher Wendung, und sonnenbeglänzt hingen die weißen Wolken über dem flachen Lande.

»Ich möchte wohl wissen«, begann Percy leise, »wohin das alles zieht, der Fluß und die Tage und Jahre. Dort unten, da bleibt alles, es ruht in sich, aber hier sind alles Wege, Fortschritt, neue Zeit ... wohin zieht das alles mit mir?«

»Was hat der Alte vor?«

»Jura. Ich soll seine Prozesse gewinnen.«

»Halt ein paar Jahre durch, Percy!« sagte Holger eindringlich. »Nur ein paar Jahre!« wiederholte er fast beschwörend. »Dann bin ich soweit, dich herauszureißen. Erst mündig sein! Du mit deinen Sprachen ... es wäre ja lachhaft.«

»Es wird nicht vorhalten«, erwiderte Percy müde. »Ich habe ihm gesagt, er soll mir eine Stelle besorgen, meinetwegen zuerst in Amsterdam. Eher kaufe er mir einen Strick, hat er gesagt. Am liebsten möchte er die Kolonien aus dem Atlas reißen.«

»Ich möchte wohl wissen«, grübelte Holger, »ob die Väter zu allen Zeiten so verbohrt gewesen sind wie heute ... aber egal! An die Arbeit jetzt!« Dann begannen sie ihre Wettkämpfe, »zu Wasser und zu Lande«, wie Holger es nannte. Er war von unerbittlicher Strenge, und so widerspruchslos er sich Percys geistiger Leitung und Hilfe hingab, so bewußt, berechnend und fast systematisch nahm er seine körperliche Ausbildung in die Hand. Er wußte, daß Percys Gesundheit zu wünschen übrigließ und daß er mehr als Freundespflichten zu erfüllen hatte.

In diesem Frühjahr kamen sie überein, daß die »Sache mit dem lieben Gott« bedenklich stehe. Weder Väter noch Lehrer, noch Pfarrer sprachen zu seinen Gunsten. Die Absetzung erfolgte ohne wesentliche Konflikte, und es erwies sich, wie sehr Percys Seelenwelt von den Kräften der fernen Insel erfüllt war, als er behauptete, daß es ein Verbrechen sei, Gott über die Natur zu setzen. Um dieselbe Zeit, an den dunstverschleierten, ahnungsvollen Abenden, verneinten sie mit kühler Verachtung die gewohnten Grundlagen des Staats- und Gesellschaftslebens und kamen nach und nach dazu, von ihrem einsamen, dunkelnden Zimmer aus die Grundlagen einer Welt zu erschaffen, von deren Peripherie aus sie einmal heldenhaft und einsam zu jenem Mittelpunkt schreiten würden, aus dem die Achse einer neuen Zeit sich glänzend zu den Sternen erheben sollte. Die nihilistische Neigung jenes Lebensalters, verschärft durch die Enge ihres Lebensraumes und die erbarmungslose Betrachtungsschärfe ihrer Einsamkeit, schuf, alles Hergebrachte zerbröckelnd, eine trümmerhafte Welt um ihre beiden Gestalten, in der sie wohl gleich Schöpfern aus dem Chaotischen zu stehen vermeinten: aber sie erzeugte auch, mehr als bei normalen Verhältnissen, jene Schwüle und Gereiztheit des Lebenszustandes, die jeder Einsamkeit eignet, die nicht durch Erfahrung, Weisheit und entsagende Reife geschritten. So daß ein plötzlicher Einbruch der natürlichen Welt, ein Aufblitzen der Ewigkeit, ob in der Gestalt einer jähen Erweiterung des Lebensraumes und seiner Umstände oder in der Gestalt einer wahren Menschlichkeit, zu Erschütterungen führen mußte, denen keine Philosophie gewachsen sein konnte. Ihr Leben bedurfte, über lächelnde Skepsis hinweg, des Schwertes oder der Tränen. Was Holger, in bäuerlicher Erde schwerer ruhend, nicht empfand, sprach Percy, ahnungsvoller, aus, wenn er die Hände über den Tasten hielt. Aus einem leidvollen Sang des Heimwehs wurde in diesem Frühling aus seinem Spiel ein leises, wiewohl unbewußtes Aufdämmern jener Erkenntnis, daß alle Negation im besten Falle einer Fläche gleichkomme, dimensional beschränkt, dem eisigen Stolze, hinter der die Leere eines Weltraumes stehe.

Es schien, als verdichtete sich der Hauch aller Schmerzen dieses im Mutterleibe gebrochenen Lebens ganz langsam, einem Nebel gleich, über den kalten Gründen der Skepsis und als sammelte er sich in unmerklichem Wachsen zu der Träne, die aus geschlossenem Auge schwer und bitter niederrollt. Dann sagt Holger aus dumpf erwachtem Instinkte: »Du mußt nicht so spielen, Percy ...« Und dieser, die Hände ruhen lassend und den Blick in den Abendhimmel gehoben, erwidert leise, vor sich selbst sich verhüllend: »Weshalb nicht? Kennst du keine Sehnsucht, Holger ?« – »Man darf nicht«, sagt Holger nach einer langen Weile. »Man darf das nicht ... noch nicht.« Und dann gehen sie schweigend auseinander.

Am zweiten Tage der Sommerferien, um die Nachmittagszeit, hielt Holger mit dem gräflichen Kraftwagen vor der Tür des malaiischen Hauses, übergab Herrn Schurmann jun. einen höflichen Brief des Grafen, in dem dieser seine gemessene Freude aussprach, den Kameraden seines Sohnes während der Ferien bei sich aufzunehmen, und begann ohne weiteres, Percys Koffer zu packen, während dieser fassungslos seinen sachlichen Erklärungen lauschte: »Nummer eins: der Bierzettel, mein lieber Junge! Allgemeine Verblüffung der Magnaten. Versuch, die Verdienste auf die Schultern des schätzenswerten Herrn Direktors zu legen. Gelang durchaus vorbei. Percy Schurmann sei derjenige, welcher. Percy imponierte. Schurmann weniger. Weltevreden war entscheidend. Wenigstens bei Onkel Byron, und das genügt bei uns. Er hat zwei Wochen im Hôtel des Indes in Batavia gewohnt. Aber davon später. Es gibt Überraschungen ... fertig mit der Kiste! Los!«

Es gab keine Verabschiedungen im Hause Schurmann, aber Percys Vater stand draußen vor dem Wagen, ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck betrachtend, und Magnus Schurmann sen. lehnte aus dem Fenster. »Tja, das sind die schlechten Zeiten«, bemerkte er freundlich, und seine Augen glitten spöttisch von Holger zu dem Wagen. »Hm?« erwiderte Holger. »Keine Neidgefühle, Alter Herr! Never mind, my deary.« Sie schnallten den Koffer fest. »Du sollst steuern, Percy«, sagte Holger und errötete vor Freude über seinen Entschluß. »Die Klopsfresser sollen sehen, wer du bist!«

Dann fuhren sie ab. Percy mit zitternden Händen, Holger zurückgelehnt, auf der malaiischen Flöte blasend und die Menschen mit Blicken streifend, als seien sie Bäume.

Das Schloß verwirrte Percy nicht, aber die Menschen machten ihm zunächst Mühe. Die Jahre der Zerrüttung standen gleich einer Mauer zwischen der Welt und ihm, und sein allmähliches Hinausgleiten aus jeder Gemeinschaft hatte ihn fremd gemacht in Gesprächen und Bewegungen, die Hinneigung und Abstand zu gleicher Zeit verlangten. Doch überwand die Gräfin durch Schönheit und Teilnahme die erste Bedrückung, während der Graf, wenn auch Gemessenheit und ein deutliches Aufsichbeschränktsein nicht ablegend, doch mit gewisser Wärme seinen Dank für das hocherfreuliche Ergebnis aussprach, das, wie sein Sohn berichtet habe, Percy allein zu schulden sei. Die verwirrendste und zugleich anziehendste Erscheinung aber war für den neu Eintretenden Graf Manfred Einsiedel, der ihm aus den Gesprächen mit Holger als Lord Byron flüchtig bekannt war. Nicht daß er einen weißen Anzug und einen Tropenhelm trug oder daß seine Räume, wie Percy späterhin erkennen konnte, die Schätze und Seltsamkeiten aller Welten enthielten, sondern daß Gesicht, Gebärde und Urteil bei ihm von einer erschreckenden Übereinstimmung waren, von einer betäubenden Eindringlichkeit und einer fast gemeißelt erscheinenden Härte und Leidenschaftslosigkeit. Er war der einzige, der ihn bei der Begrüßung lange und gänzlich unbekümmert ansah. »Da hast du mal ein gutes Auge für Echtheit gehabt, Holger«, sagte er dann mit seiner unbewegten, etwas schläfrigen Stimme. »Karang Asem oder dort herum ... leise dekadent. Ihre Mutter muß sehr schön gewesen sein.«

Und als die Gräfin, etwas peinlich berührt, zum Sitzen nötigte, fuhr er unerschüttert fort: »Und den wird man nun durch unsere Schulen und Universitäten schleifen, ihm ein Amt geben und ihn mit einer der üblichen Gänse verheiraten ... schade.« Und während der ganzen Zeit, in der sie Tee tranken, blieb er in eine stumme Betrachtung Percys versunken, während er – sein Vorrecht – an einer schwarzen Zigarre rauchte und weite, etwas sorgenvolle Wege zu gehen schien.

»War der Name Percy dort unten üblich?« fragte die Gräfin höflich.

»Ich sollte Parzival heißen«, erwiderte Percy scheu. »Meine Mutter ... hatte es gewünscht. Nachher wurde es dann geändert.«

»Man ist dort nicht sentimental«, meinte Graf Manfred.

»Sie haben Ihre Frau Mutter noch gekannt?« fuhr die Gräfin fort.

»Meine Mutter starb bei meiner Geburt.« Die Antwort kam sehr leise.

»Oh, verzeihen Sie mir!«

»Sawah hat ihn erzogen«, erklärte Holger voller Stolz. »Eine Malaiin.«

»Ah!« machte Graf Manfred.

»Aber vermutlich nicht allein?« fragte Holgers Vater.

»Nein, Herr Graf. Ich hatte eine Engländerin, einen Holländer und einen Deutschen.«

Die Gräfin lächelte über die Reihenfolge. »Aber Sawah liebten Sie am meisten?«

Percy sieht sie an mit seinen fremden Augen, deren Trauer für diese Menschen von unerklärlicher Eindringlichkeit ist. Er weiß nicht, weshalb sie lächelt. »Sie war meine Mutter«, sagte er einfach. »Sie hat mir das Leben aufgeschlossen.« Er beginnt in dieser Umgebung zu sprechen, wie es in seinen Träumen aus ihm zu sprechen pflegt. Sie sind betroffen, fast verwirrt, von der Art seines Sprechens und der fast pflanzenhaften Schönheit seines Gesichtes, über die die Bewegungen seiner Seele wie über einen bräunlichen Spiegel zittern. Graf Manfred starrt ihn an, und die andern sind verlegen. Aber unwillkürlich behandeln sie ihn wie einen Erwachsenen, mit einer Spur der zarten Schonung, die man Kranken darbringt. Holger fühlt, daß auch ihm ein Teil der Achtung zukommt, und seine Fröhlichkeit, die er darüber empfindet, gibt ihnen allen ein gewisses Gleichmaß wieder und schenkt ihnen statt der Kühle der ersten unbehaglichen Fremdheit eine festliche Stunde.

Darauf ließ man sie allein, und Holger gab die notwendigen Einführungen in Örtlichkeiten, Personen, Tageswerk und Pläne. Erst gegen Abend traf man sich im Park wieder, und Holger hatte eine leise, aber lebhafte Unterredung mit dem Grafen Manfred. »Also Percy!« sagte er dann, und man las von seinem Gesicht, daß er lange um die Bewahrung eines frohen Geheimnisses gekämpft hatte. »Percy, jetzt kommt es!« Percy lächelte schweigend, und die Gräfin sah etwas unruhig auf ihren Schwager. Der zuckte die Achseln, und dann gingen sie alle zusammen in die Tiefe des unübersichtlichen Parkes.

Nun hatte Graf Manfred, unbeschränkt in seinen Mitteln und Neigungen, nach der Rückkehr von seiner letzten Weltreise mit ungeheuren Kosten ein tropisches Gewächshaus im Parke errichten lassen, von einer verschwenderischen Pracht und Echtheit, das in diesem winterlichen Lande wie ein glühender Traum den dunklen Himmel zu versengen schien. Öffnete man die Tür der riesigen Glashalle, so schlug die Luft der Tropen wie ein heißes und feuchtes Tuch hernieder; das verwirrte, geblendete Auge schloß sich schmerzend vor der berauschenden Phantastik der lianenbehangenen Palmen, Araukarien, Passifloren, Galatheen, des Rotang und des Pandanus, vor der gleich Händen deutenden Feierlichkeit der Riesenfarne, vor der flammenden Verruchtheit der Orchideen. Aus dem Dämmer des zu Dschungeldichte verfilzten Grundes erklangen die geheimnisvollen Laute unsichtbaren Lebens, der helle Klageton der Lemuren hob sich gespenstisch aus den Wipfeln, die Spitzmaus raschelte im verwesenden, fast verschwelenden Laube, und im Wasser des schwärzlichen Teiches liefen glühende Kreise von trägen Gliedern, über denen die Riesenschilde der Victoria Regia leise schwankten. Der unheimliche Zauber einer fremden Erde, das Paradies wie die Schlange sehnsüchtig wie drohend umfassend, stieg hier, alles Künstlichen gänzlich entkleidet, aus einem Raum, dessen mattschimmernde Wände ihn verdichteten, statt ihn aufzulösen, und wenn die Türe sich schloß und das Licht des fremden Tages sich langsam verlor, hauchte hier der Atem einer Welt, die einer Inkarnation der Sünde glich wie der Seligkeit, der Lebensekstase wie des brennenden Todes, der höchsten Lust wie des tiefsten Grauens.

Zu diesem Hause hatte Graf Manfred allein den Schlüssel. In ihm verbrachte er den besten Teil seiner Nächte, in einer Hängematte liegend und mit kalten, ein wenig schläfrigen Augen dem Rauch seiner schweren Zigarren nachstarrend. Als sie eintraten, war die Sonne eben gesunken, und ein nachglühendes Dämmerlicht löschte alles einzelne und schuf eine gewaltige Düsterheit, von brennenden Reflexen zerrissen und in grandioser Wildheit sich bäumend.

Aus der Welt des bewegten und klaren Tages ohne Schwelle eintretend, empfanden sie das tonlose und verdunkelte Schweigen des Hauses als eine unerhört feierliche Drohung. Und nun, während die Tür mit leisem Wehen hinter ihnen zufiel und sie regungslos standen, der Fremdheit gleichsam erbarmungslos ausgeliefert, schien es, als erkennten sie zum erstenmal das Wesen, die Berechtigung dieses Hauses. Daß es nicht nur die Laune eines Weltenwanderers sei, ein verschwenderisches und hochmütiges Spiel, sondern das unentrinnbare Netz eines Zaubers, zu glühenden Fäden gesponnen. Es schien faßbarer, notwendiger, seit sie Percy gesehen hatten, aber es schien auch gefährlicher, unheimlicher, und sein glühender Atem strahlte Leidenschaft und Grauen aus, als hielten sie das entblößte Herz des Knaben in ihren bebenden Händen und würden nun aller der Rätsel gewahr, die es verbarg.

Und dann schrie Percy, die blassen Hände emporgehoben. Es war kein dumpfer Laut der Erschütterung, eines wilden Herzens wilder Ton. Sondern es war ein Wort, das er ausstieß, ein fremdes, nie vernommenes Wort, nicht nur seinem Klange nach, sondern nach Wurzel, Farbe und Geruch gewissermaßen. Es war erfüllt von tiefster Klage und zugleich von Zärtlichkeit und Wildheit, und seine Melodie stieg auf in jähem Anlauf, um wie zerschnitten zu fallen, fast zu stürzen und dann auszuströmen wie nicht zu stillendes Blut. Es erhob sich gleich einem brennenden Pfeil hinter ihnen und über sie hinweg, den Himmel seltsam überleuchtend, und fiel irgendwo in die Schwärze des Dschungels, verlöschend im unbewegten Wasser. Und es erwies mit einer schrecklich unmittelbaren Gewalt, daß dieser Knabe einer anderen Erde zugehörig war, einem anderen Blute und anderen Göttern, und daß die Qual seines Lebens nicht zu messen sein könne, die zu solcher Klage sich erhebe.

Nach diesem unbeherrschten Ausbruch seiner Seele blieb er still und schmerzlich beschämt. Er löste sich mit schnellen, geräuschlosen Schritten von ihnen und verschwand im Dunkel der Schatten, und man sah nur seine hellen Hände mit zärtlicher Behutsamkeit über Blatt und Blüte streichen. Graf Manfred brachte ihn dann zurück, wobei er mit gedämpfter Stimme kühl erklärend hierhin und dorthin wies.

Aber dann bleibt Percy vor den Schlangenkästen stehen und neigt das Gesicht bis an die Glaswand. Auch sein Körper, äußerlich von dem der anderen nicht verschieden, scheint sich zu verändern und fremd zu werden, zu erstarren in der Gebärde eines Beters zu anderen Göttern. Sie haben das Gefühl, daß seine Kleider häßlich und maskenhaft seien, daß man Spott mit ihm treibe wie mit einem armen Tiere und daß er vor einer Verwandlung stehe, um ihnen ganz zu entgleiten in den Ursprung seiner Geburt.

Und dann zieht er die Flöte aus der Tasche und spielt. Er beginnt so sanft wie das Wehen des Windes vor Sonnenaufgang, und die Melodie gleicht dem traurigen Laut eines einsam weinenden Kindes mit der steten Wiederkehr schwebender und fallender Töne. Nichts ist in ihr, das sich mit einer Flöte des Abendlandes vergleichen ließe. Die Intervalle sind anders, enger und gleichsam schmerzender, auch die Tonfolge ist anders, gebundener und eintöniger. Aber die Wirkung ist von einer tiefen Schmerzlichkeit. Sie spricht eine andere Sprache, eine Sprache, die man nie zuvor vernommen hat, die man nie erlernen kann und die doch das Herz anrührt an einer Stelle, die noch nie berührt worden ist.

Und die Schlangen, kaum erkennbar im Dunkel der Schatten, lösen sich aus ihren kühlen Ringen und heben lauschend das flache Haupt. Ihre edelsteingleichen Augen scheinen matt zu schimmern und mit jeder Melodienfolge ihren Glanz zu vertiefen. Und unter den sich langsam wiegenden Häuptern heben sich die Glieder, Ring um Ring emporgezogen, immer mehr sich entwirrend und steigend, bis ein geisterhaftes Schweben und Deuten den engen Raum erfüllt, tonlos und hingegeben, den Atem bedrückend wie der Spuk eines lautlosen Tanzes. Und dann fällt der letzte Ton aus dem dunklen Mund der Flöte. Die Bewegung erstarrt, bleibt lauschend und gespannt und sinkt dann wieder zu verschlungener, gestaltloser Wirrnis, zu einer kalten Häufung von Lauern, Gefahr und Tod.

Holgers Gesicht ist weiß geworden, und die Gräfin zittert am Arm ihres Mannes. Der Graf ist verblüfft, aber schon ein wenig ungehalten über diese Künste eines jungen Mannes, den sein Sohn sich zum Freunde gewählt. Und nur der Lord sieht, äußerlich unbewegt, mit seinen kalten Augen zu, wie seine Schlangen zurücksinken und Percy die Flöte wieder einsteckt. Nur sein Mund scheint trauriger, wie bei einer schweren Erinnerung, die blaß und flüchtig ihre Flügel hebt.

Schweigend verlassen sie das Gewächshaus. Es war nicht zu verkennen, daß Percy ihre Herzen gewann. Wohl waren auch sie in den Kreis ihres Blutes gebannt und der Form ihres Lebens dienend unterworfen, aber die Freiheit ihres Verhältnisses zu diesem Knaben, die Entbindung von jeglicher Pflichtbetonung ließ sie ihn anders anblicken, als man in seiner sonstigen Welt auf ihn sah. Er war ihnen weder Sohn noch Schüler, weder Zukunftshoffnung noch Glied der gesellschaftlichen Ordnung. Er war ihnen Gast, ein anziehendes und schönes Spiel des Sommers und weit über seine Jahre hinaus gleichwertig durch Seltsamkeit des Schicksals und der Erscheinung.

Percy wiederum erschloß sich mit unerwarteter Innigkeit. Die Stunde im Gewächshaus wuchs über das bloße Erlebnis zu einer symbolischen Macht, und obwohl ihr Schatten, täglich erkennbar, über ihm lag, verlieh sie eine lösende Weichheit, die beglückte und die nur Graf Manfred mit Sorgen erfüllte.

Tätigkeit und Müßiggang wechselten wie bisher, aber nur er allein bemerkte, wie der Knabe mit jäher Raschheit über den Kreis seines bisherigen Lebens hinauswuchs, als hätte die Glut jenes Abends verborgene Keime flammend geöffnet. Wie selbst die herzliche Verbundenheit mit Holger mitunter etwas gütig Hingebendes zeigte und wie er zuzeiten aus ihrer Mitte fortzugehen oder hinwegzulauschen schien, als würde er allein sich plötzlich seines wahren Gasttums bewußt und erinnerte sich schmerzhaft, daß da etwas vergessen sei, etwas zu tun oder zu leiden, was aber unabwendbar sei und ein stets gewußtes Geschick.

Am letzten Abend erst sprach Graf Manfred andeutend über diese Dinge. Er trat, wenn auch etwas widerwillig, aus der Kühlheit seines Beobachtens heraus, weil dieser Knabe ihm irgendwie als ein zart beschattetes Spiegelbild seines eigenen Lebens erschien, oder wenigstens seines Lebensganges, das nach der Erkenntnis der letzten Blüte leidenschaftlich gesucht hatte und nun in der Erinnerung und sorgfältigen Absonderung ein mühsam bewahrtes, entsagendes Gleichgewicht fand.

Sie traten aus dem Tropenhaus, in dem Percy schweigend Abschied genommen hatte von einer unaufhaltsam versinkenden Welt, und gingen nebeneinander die beschatteten Parkwege entlang. »Ich hätte Ihnen das nicht zeigen sollen, Percy«, begann Graf Manfred. »Aber ich habe erfahren, daß niemand seinem Schicksal entgeht ... man müßte vielleicht richtiger sagen, daß niemandem sein Schicksal entgeht.«

»Ich weiß es«, erwiderte Percy.

»Sie wissen es nicht. Die Jugend sollte niemals sagen ›Ich weiß‹. Der Mann von fünfzig Jahren darf es vielleicht sagen, eher noch der von sechzig Jahren. Er allein weiß, weil er rückwärts sieht. Die Jugend ahnt. Sie fürchtet oder hofft, betet an oder verflucht. Aber sie weiß nicht.«

Percy deutete mit der Hand nach rückwärts, wo der Giebel des Tropenhauses noch über den Wipfeln stand. »Dieses weiß ich«, sagte er mit trauriger Bestimmtheit.

Der Graf sah ihn von der Seite an. »Sie sprechen, wie ein Asiate lächelt, Percy. Und das ist wie ein Symbol. Wenn ich heute noch so jung wäre, zu glauben, daß man in das Schicksal eines Menschen eingreifen kann, ein Rad wenden, einen fliegenden Pfeil ergreifen, dann würde ich morgen mit Ihnen dorthin gehen, wo nicht nur die andere Seite der Erde zu finden ist. Aber ich bin schon zwischen Fünfzig und Sechzig. Ich glaube nicht mehr. Nun hören Sie zu. Der Fall Percy ist so: Sie sind ein Gefäß, in das man hineinzwingt den Wilden und den Europäer, den Knaben und den Erwachsenen, den Flötenspieler und den Gentleman und so weiter. Die Mütter des Abendlandes heißen nicht mehr Herzeloide und ihre Söhne nicht Parzival, verstehen Sie? Sie lieben Holger, aber er ist nichts als ein junger Stier. Ihre Liebe ist aus einem anderen Reich. Sie hängt wie ein Dolch über Ihnen, und einmal wird sie zustoßen, sehr bald, fürchte ich, bevor Ihre Rüstung fertig ist. Sie können Glück haben, wie der Pöbel zu sagen pflegt, Sie können auch kein Glück haben. Ich bin nicht beschränkt genug, Ihnen einen Rat zu geben, aber Sie können zu mir kommen, bevor ... Sie den Dolch wieder herausziehen. Das wollte ich Ihnen nur sagen.«

»Ich werde kommen«, erwiderte Percy mit so besonderer Betonung, daß der Graf ihn forschend ansah. Aber er setzte das Gespräch nicht fort.

Am nächsten Morgen fuhren die beiden Knaben wieder in die Stadt. Die ersten Pflüge gingen schon über die Stoppeln, und Percy fröstelte in der warmen Augustsonne. »Frierst du?« fragte Holger besorgt. Aber er schüttelte den Kopf. »Der Herbst ist da«, sagte er leise.

Als sie vor dem malaiischen Hause hielten, hing neben der Tür ein weißes Porzellanschild: »Frau Lida Winckler, Klavierlehrerin«.

»Was haben die denn inzwischen angestellt?« sagte Holger. Percy zuckte die Achseln. »Zimmer vermieten. Die letzte Stufe ...« Er erfuhr, daß sie durch die Zeitung eine Wohnung gesucht habe und aus der Hauptstadt zugezogen sei. Herr Magnus sen. hatte die beiden großen Vorratskammern im Oberstock notdürftig herrichten und einen Ofen setzen lassen. Der Wert der Mark fiel lawinengleich. Sie habe schon ein paar Schüler und sei ganz »passabel«.

»Daß du dich leise verhältst da oben!« sagte sein Vater gereizt. Percy sah ihn verständnislos an. Er empfand das Ganze als eine sehr bittere Störung seines abgeschlossenen Lebens.

Er sah sie zum erstenmal, als er in der Dämmerung aus dem Garten kam. Sie stieg die Treppe vom Oberstock herunter, und er mußte zur Seite treten, um sie vorbeizulassen. Sie war hochgewachsen, sehr schmal in ihrem schwarzen Kleid, und ihr Gesicht sah sehr bleich aus unter ihrem dunklen Haar. Es glitt Percy durch den Sinn, daß sie die Treppe heruntersteige, als träte sie aus einer Kirche, und es erfüllte ihn mit einem leisen Unbehagen, daß sie ihren Schritt nicht beeilte, als sie ihn sah. Er grüßte stumm und bemerkte, daß sie ihn mit einer Befremdung betrachtete, die sie zu verbergen bemüht war. Doch nickte sie langsam und höflich, ging aber schweigend vorüber und verließ das Haus, um in den Garten zu gehen. Er sah, daß um ihre Schultern ein Tuch geschlagen war, mit feinen Silberlinien auf dunklem Grunde.

Er blieb noch stehen, als sie schon verschwunden war, versuchte vergeblich, sich ihr Gesicht vorzustellen, und vernahm nun erst einen sehr zarten, verschwebenden Duft, der den Treppenraum erfüllte und der irgendwie fremd war in der halb dumpfen, halb nüchternen Atmosphäre dieses Hauses.

Während er langsam die Treppe hinaufstieg und der Begegnung nachdachte, kam ihm zum Bewußtsein, daß sie eine Fremde war. In einer viel größeren als der üblichen Beziehung eine Fremde. Sie war hier nicht zu Hause, auch dort wohl nicht, wo sie herkam. Sie war viel weiter zu Hause, in einer seltsamen Weite. Percy hatte in der Bibliothek der Einsiedels eine Kunstzeitschrift gefunden, der er viele Stunden geschenkt hatte. Und in einem ihrer Bände hatte ein Bild gestanden mit dem Titel »Die Fremde«. Ein schwarzgekleidetes Mädchen oder eine Frau, auf einen Tisch gelehnt und sonderbar abwesend vor sich hinblickend. Das Bild hatte ihn sehr ergriffen, ohne daß er eine Erklärung zu finden vermochte. Nun verband er es mit der Begegnung und verglich mit leiser Unruhe beides miteinander. Er stand am Fenster seines Zimmers und sah in den Garten hinunter, der von Schatten erfüllt war. – Was hat sie denn dort zu suchen? dachte er unwillig. – Es ist mein Garten ... irgendwo muß man doch allein sein können. – Aber dann stellte er sich vor, er wäre länger unten geblieben und hätte sie getroffen. Er fühlte ein ganz leises Bedauern, lächelte spöttisch, blieb aber doch zwecklos stehen, bis nichts zu erkennen war als die nächsten Baumwipfel. Dann nahm er den malaiischen Kasten heraus, hüllte aber nur die Hände in den Sarong und träumte vor sich hin.

Der Duft des Gewandes schien ihm stärker, fast schmerzhaft geworden zu sein in den vergangenen Wochen und doch das Ganze lebloser, spielerischer, seit er im Tropenhaus gestanden hatte. – Ein Spiel wie mit Puppen, dachte er gequält, kindisch und sentimental ... der Dolch, sagte er, ... was meint er ...? – Und seine Gedanken irrten zu Graf Manfred zurück. Dann tauchte die Schule auf, grau und verzerrt, aber auch dies war anders geworden, blasser, wesenloser, ein Spielzeug aus versunkenen Tagen ...

Er stand wieder auf und trat ans Fenster. Alles hat sich verändert, dachte er unruhig. – Man soll nicht auf Grafenschlösser gehen, wenn die Väter Zimmer vermieten ... aber das Haus, o Gott, das Haus! – Er legte die Hände über die Augen und sah die flammenden Kreise steigen und fallen. Als Holger kam, fand er ihn noch immer in derselben Stellung. Sie blieben im Dunklen und sprachen leise vom grauen Morgen. Das Herz war ihnen schwer, und sie verlangten beide zurück, aus Käfig und Qual zu der Erde, die sie geboren hatte.

»Hör mal, Percy«, sagte Holger beim Abschied, »willst du nicht mal zu einem Arzt gehen? Du hustest doch ein bißchen viel, finde ich. Mama hat es auch bemerkt ...« – »Ach wo«, erwiderte Percy ablehnend. »Das ist nicht so wichtig ... ein bißchen Erkältung.«

Am nächsten Abend, als Percy wieder über seinen Büchern saß, als alles wie sonst war, nur noch grämlicher und bitterer, der Großvater, die Lampe, die verschlafenen Laute der Straße, trat Frau Winckler, nachdem sie leise angeklopft hatte, ein. Sie wollte um einen Hammer und ein paar Nägel bitten.

Percy stand auf und sah auf seinen Großvater, der ihn nicht beachtete. Die Fremde reichte ihm nach kurzem Zögern die Hand. »Ich nehme an«, sagte sie, »daß Sie Herr Percy sind ... ich hoffe, daß ich Sie nicht zu sehr stören werde mit meinem Spiel. Die Wände sind wohl ein wenig dünn ...« Er verbeugte sich, ohne ein Wort zu finden. Ihre Augen verwirrten ihn.

»Ja, das ist der Kopfabschneider«, bemerkte Herr Magnus ironisch. »Ein wenig mit Vorsicht zu genießen. Durchaus exotisch, Frau Winckler.« Dann ging er, um das Gewünschte herbeizuholen.

Percy war blaß vor Zorn, aber die Fremde lächelte. Ihr Lächeln war matt, ein bloßes Spiel der Linien, mit einem schwermütigen Widerschein der unbewegten Tiefe. »Ich fürchte mich nicht«, sagte sie mit absichtlicher Sanftheit.

»Sie hätten nicht in dies Haus ziehen sollen«, sagte Percy finster.

Sie sah ihn aufmerksam an, ein wenig erschrocken, und er begriff trotz seiner Erregung den Zauber dieses Gesichtes, die unermessene Ferne ihrer inneren Welt, aus der Worte, Blick und Bewegung nur andeutend aufzusteigen schienen. Etwas Wehrloses, Mißhandeltes und doch abweisend in sich Ruhendes, Unzerstörbares lag in ihrem dunklen Bild, und das Los des Schönen schien in ihr vollendet: vom Staube gezeichnet, aber unsterblich, von Menschen begehrt und angebetet, aber nie sich vermählend, nur beglückend und dann entschwindend.

Was Percy ergriff, waren nicht diese Erkenntnisse, nicht einmal ein einzelnes Sichtbares. Auch die Gräfin war schön, aber es war eine Schönheit der umgebenden Welt, eine Steigerung gewöhnlicher Ausdrucksform. Dies aber war gleich der Schönheit einer Blume oder eines Tieres, außerhalb dieser Welt des Abendlandes, von einem anderen Blute durchatmet. Er fühlte mit der empfindlichen Seele des Entwurzelten, daß diese Frau nicht in diese Stadt gehöre, daß sie auf der Flucht sei, in einem Heimweh, am Rande eines Todes, und alles das ließ ihn sie zu sich gehörig betrachten, als seinesgleichen, seines Blutes. Es war eine Wiederholung des Tropenhauses, ein flammender Schein, und er empfand es mit der Leidenschaft des Mannes, weil er lange aufgehört hatte, ein Kind zu sein.

Er hatte keine Qual vom Weibe empfangen. Er war mit Amaga in den Dörfern gewesen, und die Schönheit war ohne Verhüllung an ihm vorübergegangen. Sie entbehrte, Natur seiend, der Bewußtheit des Geheimnisvollen, des künstlichen Reizes der Verschleierung. Sie war nackt gleich allem Gottgeschaffenen. Sie quälte nicht, wie die Blume und die Frucht nicht quält. Die Gier des Abendlandes war Percy fremd. Er würde lieben, wenn seine Stunde gekommen war. Er war nicht bereit zu einer Liebe jeder Stunde und jeder Möglichkeit. Der Pflanze und dem Tiere auf vielen Wegen näher als dem Menschen seiner Rasse, hatte er zu warten, bis der Sturm ihn traf. Er war nicht verdorben, aber er stand auch nicht unter dem Gesetze einer Moral. Er war viel reiner als seine Gefährten, aber in seiner Stunde würde er offenbaren, daß keine menschliche Gemeinschaft seine Liebe mit ihrer Liebe verband.

»Man wird Sie hassen und verfolgen«, fügte er hinzu, sie mit Leidenschaft betrachtend.

»Es wird mir nicht neu sein«, sagte sie ohne Bitterkeit, »aber ich freue mich, daß Sie so sind ... man hat anders von Ihnen gesprochen.«

Dann kam Herr Schurmann mit Hammer und Nägeln.

Als sie das Zimmer verließ, betrat Percys Vater das Haus. Man hörte ihn eindringlich sprechen, ihre ablehnende Erwiderung, aber dann ging er doch mit ihr die Treppe hinauf, und man hörte die Schläge des Hammers durch die Decke.

Als er herunterkam, aufgeräumt und ein wenig redselig, lächelte Herr Magnus sen. auf eine beängstigende Weise. »Hast du dich nicht auf die Finger geschlagen, Magnus?« fragte er freundlich. »Du scheinst in Batavia sogar Interesse für Dekorationsarbeiten gewonnen zu haben?« Percy sah, daß der Blick seines Vaters voller Haß war. »Man läßt eine Dame sich nicht mit solchen Dingen quälen«, sagte er scharf.

»Püh!« machte der Großvater.

»Schäme dich!« schrie Herr Magnus.

»Ich! Was du nicht sagst!«

Percy stand auf, mit weitgeöffneten Augen, von einer furchtbaren Angst erfüllt.

»Geh nach oben!« schrie sein Vater. »Was hast du hier zu lauschen?«

Auf der obersten Treppe blieb Percy stehen und sah zurück. Das Band der Treppe lief, sich mählich erhellend, vor ihm herunter. Er legte die Hände auf beide Geländer und stand so, ein wenig vorgebeugt, wie ein Kranker, der darauf wartet, daß ein jäher Schmerz oder ein Schwindel vorübergehe. Er hatte alles erkannt. Das Grauen war vor ihm aufgerissen. Nun würde er hier zu stehen und zu wachen haben gegen sein eigenes Blut. Ja, in einem furchtbaren Sinne dieses Wortes gegen sein eigenes Blut.

Tage und Nächte verglitten in einem seltsamen Nebel. Da war die Schule, aber sie war unwirklich, ein lauter Traum, mit merkwürdigen Gesichtern und Gesprächen, durch einen losen Sinn zusammengehalten, immer hart an der Grenze des Erwachens. Da war Holger, ein kühner, sicherer junger Mensch, der Pläne hatte und Heimweh, Spott und Fürsorglichkeit. Aber seine Stimme war ein wenig rauh und seine Bewegungen ein wenig förmlich und seine Augen mit einer spähenden Sorge erfüllt, und wenn er gegangen war, dann war es, als hätte der Nebel ihn verschluckt und er würde nie mehr wiederkommen. Und da war die Stadt und der malaiische Kasten, der Fluß und unten die Stube des Großvaters ... aber war das alles? Und wozu war es? War nicht die »Fremde« da, und hatte die Welt mehr als ein lächerliches, ja als ein widerliches Anrecht, ihr entseeltes Antlitz zu erheben bis an ihren magischen Kreis?

Wenn Percy ohne jeden Übergang an die Stätte seiner Geburt hätte zurückkehren können, so würde er ohne Zweifel genauso auf die verflossene Welt des Abendlandes geblickt haben, wie er es nun tat. Denn in Wahrheit war nicht irgendein namenloser oder benannter Mensch in den dunklen Kreis seines Lebens getreten, wie erregend die Erscheinung auch sein mochte, sondern die Insel war aus einem blauen Meere aufgestiegen, ohne eine andere Vorbereitung als die des Tropenhauses, aber mit einer glühenden Wirklichkeit und Nähe. Dort, hinter der häßlich gestrichenen Wand, im Bereich des Atems und des Herzschlages, lag sie schweigend, ohne Ruf und Forderung, seiner wohl gar nicht bewußt, aber als eine unerhörte Spannung des Lebens wie des Blutes. Ihr Duft erfüllte das Treppenhaus, ihr Bild umwandelte alle Horizonte. Es war kein Antlitz der Städte oder der Länder, es war der Inbegriff jener einst getrunkenen Weiten, die Inkarnation jener verlorenen Erde, aus der sie ihn gerissen hatten, als seine brechenden Augen den Lotos erblickten und jene ferne Stimme über die stürzenden Wasser rief.

Er wollte nichts wissen von ihr, von ihrer Herkunft, ihrem Schicksal, ihren Meinungen oder Plänen. Sie war aus einem Meere aufgestiegen, und das dunkle Wasser hatte von ihr gespült, was ihr angehaftet hatte an Verbundenheit mit irdischem Grunde. Oder sie stand im dunklen Raum wie ein Stern, ganz für sich und keiner Schwerkraft unterworfen. Ein einmaliges Wunder des strahlenden Lichtes, die Nacht durchglänzend, nur dem Wachenden erkennbar, und auslöschend, sobald am Rand des Tages die trüben Blicke der Menschen sich zu ihr hoben.

Es begann damit, daß sie sein Spiel hörte und in ganz reiner Begeisterung durchsetzte, daß er Stunden bei ihr nehmen durfte. Der Vater, von kalter Wachsamkeit sich beobachtet fühlend, ergriff das willkommene Band, ohne den Knaben zu befragen, ohne seiner auch nur mit einem anderen Gedanken als dem eines verächtlichen Neides zu denken.

Es kam Percy nicht in den Sinn, sich zu wehren. Er setzte Fuß vor Fuß auf den Weg seines Lebens, und das Grauen des Abgrundes erfüllte ihn mit einem Schwindel der Süße und Verzweiflung. Als er zum erstenmal die Hände auf die Tasten ihres Flügels legte und das Drohen des ersten Akkordes sich groß im Schweigen des Raumes erhob, stürzten Tränen aus seinen Augen, und er fühlte das Ende seines Lebens unerbittlich aus den schwingenden Klängen sich klären. Doch verbarg er seine Erschütterung und war ein gehorsamer, wiewohl abwesender Schüler. Die Musik des Abendlandes, die er als Kind schon einmal erlernt und dann von sich geworfen hatte als ein fremdes Kleid, erschien ihm nun in einem neuen Licht. Aber sie war von einer fremden Leidenschaft und kündete von einem fremden Leben, einem Menschen gleich, dessen Sprache er nicht verstand und aus dessen Gebärden er mühsam erriet, daß von der Freude gehandelt wurde oder vom Schmerz.

Als er sich später erhob, um zu gehen, hielt sie, da seine Erschütterung ihr nicht entgangen war, ihn mit einem gütigen Blick zurück und fragte, ein wenig befangen von der Fremdartigkeit seines Gesichtes, ob er lieber keine Stunden haben möchte. Sie sei vielleicht etwas rasch gewesen mit ihrer Bitte. Nun bot sie mit ihrer dunklen Gestalt und ihren sanften Augen im Dämmer des Raumes ein Bild so junger und reiner Mütterlichkeit, wie sie schonend und verstehend sich zu ihm neigte mit der Güte tiefen Leides, und wiederum war Percy, seit er sich aus Sawahs Armen gerissen hatte, die Güte eines Menschen, geschweige eines Weibes, so sehr ein Unerkanntes, nie Besessenes geworden, daß er dem Wunder ihrer Stimme lauschte, als sei ein Totes aufgestanden, leise rufend mit vergessenem Wort, wobei sein entkörperter Blick ihr Antlitz in sich trank, als suche er auch dort die letzte Spur eines entgleitenden Lebens.

Und als sie, nicht ohne Angst, seinen Namen rief, schrak er, erwachend, zusammen, und ohne ihre Fragen zu beachten, sprach er leise, wobei der Schmerz des Bewußtseins in seine Augen zurückzustürzen schien, das Wort des Zaubers und der Vergessenheit: »Herzeloide«.

Sie stand in tiefer Verwirrung, dunkel begreifend mit der Reife ihres Lebens, zurückbebend vor neuen Schmerzen nach mühsam gewonnenem Frieden, und doch außerstande, mit nichtachtender Hand das glühende Opfer zurückzuweisen, das über die Schwelle der Scham und des Stolzes ihr gereicht wurde mit dem Klang eines heiligen Namens.

An den Flügel gelehnt, während sie am Fenster saß und das Licht sich verdunkelte, erzählte Percy die Geschichte seine Lebens. Er erzählte sie nicht wie im Schlosse der Einsiedels, mit bewußter, ein wenig schmerzlicher Enthüllung, die unter den Augen der Männer auch das Zarteste männlich zu sagen versucht; sondern sie stieg, seiner Führung sich entäußernd, wie ein scheinbar Fremdes aus ihm empor, das er nicht leitete oder mit Farbe und Melodie versah, sondern das seinen eigenen Weg sich brach, zögernd zunächst und unsicher im Ziel, bis es in überstürzender Wildheit die letzten Gründe entblößte und im Schrei einer Beichte die letzten Hüllen zerriß.

Noch fiel kein Wort über die Zuhörerin selbst, und erst als sie ihn leise zu sich rief und seine Hand in der ihren hielt, erschüttert von der Verzweiflung seines Heimwehs und der Zerrissenheit seines jungen Lebens, sank er an ihr nieder und umschlang ihre Knie, verströmend im Rausch des Bekennens und der Glut erster beseligender Hingabe. Aber erst zu ihren Füßen, im Duft ihres Gewandes, in der Nähe ihres Körpers überschritt die Seele des Knaben zum ersten Male den Kreis einer anderen Menschlichkeit, trat sie unter den Baum der Erkenntnis und fühlte mit einem dunklen Grauen, daß es nicht die Hand einer Mutter war, die leise über sein Haar glitt. Und mit der jähen Erkenntnis des Erstmaligen sah er sich am Rande des Abgrundes knien und wußte, daß seine Stunde gekommen war.

»Stehen Sie auf, Percy«, bat sie. Und als er sich erhoben hatte: »Wir wollen gute Freundschaft halten, hier oben in unserer Fremde ...«

Aber er lächelte bitter und verließ schweigend das Zimmer.

Sie blieb auf ihrem Platz, den Kopf in eine Hand gestützt, den Blick in den leeren Raum gerichtet. Sie hatte es hinter sich gelassen, alles dieses, wie ein krankes Haus, und nun rief es noch einmal hinter ihr her, ein weinendes Kind, ganz einsam. Es rief ihren Namen, Mutter, Schwester und Weib mit der Wildheit der Jugend vereinend, aber sie hielt sich die Hände vor die Ohren und floh, so weit ihre wunden Füße sie trugen.

Von Percys Leben konnte man sagen, daß es gefror. Nicht daß seine Träume aufhörten oder seine Sehnsucht sich ergab, aber es zog sich zusammen zu einer wilden Wachsamkeit. Er glaubte, nicht erhört worden zu sein, aber niemand sollte erhört werden. Sein Blut, reif für seine Stunde, vergiftete sich, als man es verschmähte. Er spielte noch einmal mit seinem Leben, die Maske des schweigenden Hohnes vor dem Gesicht, aber er war seiner satt, ja, er haßte es, und er trug es wie den Mantel eines Aussätzigen. Er verschoß seine letzten Pfeile mit der Gebärde eines Unüberwindlichen, ja eines frechen Triumphators, gegen Lehrer und Mitschüler und unten in des Großvaters Stube. Aber in den Nächten saß er lauschend an der grauen Wand, um einen Ton ihres Lebens zu trinken, Stunde für Stunde, von Frostschauern durchbebt. Und dann preßte er das Kissen gegen seinen Mund, daß sie sein wildes Weinen nicht höre.

Ihm entging so wenig die Sorgfalt, die sein Vater plötzlich auf seine Kleider zu wenden begann, als der gespannte Blick seiner Augen, wenn der fremde Schritt die Treppe herunterkam, noch irgendeine Spur, die die weiche Erde des Gartens für ihn bewahrte. Er fühlte das Unwürdige dieses Wachseins bis zum Ekel, aber seine Haltung war hart, herausfordernd, selbst drohend.

Er hielt die Stunden ein wie verabredet. Er ertrug die Qual jeder neuen Begegnung, die Fieber, mit denen allein der Anblick und die Gegenwart ihres Zimmers ihn erschütterten, und er genoß Tropfen für Tropfen die Qual, die er ihr bereitete. Er sah, daß sie litt unter der eisigen Zugeschlossenheit seines Daseins, und schrieb es ihrem Mitleid zu. Aber ihr Leid war der Rausch seiner erstickten Seligkeit, und so hart an der Grenze zwischen Haß und Tränen lag die Spannung dieser Stunden, daß ein Hauch genügte, um das wilde Schauspiel zu zerstören, das er in tragischer Maske vor ihr spielte.

Frau Lida blieb schweigend. Aus ihrem Antlitz war nicht zu lesen, ob sie die Launen des Knaben aus Güte ertrug oder ob sie danach verlangte, ihn in ihre Arme zu nehmen und ein müdes oder leidenschaftliches Spiel mit ihm zu spielen. Nur einmal, als er bei der Durchnahme einer Sonate bei einem quälenden Akkord verharrte und ihn mit fast mechanischer Sinnlosigkeit eine unendliche Reihe von Malen wiederholte, trat sie neben ihn, legte die Hand verdeckend über das Blatt und sagte: »Weshalb quälen Sie mich so, Percy?«

Er ließ die Finger auf den Tasten liegen und sammelte seinen Blick mit wachsender Starrheit auf dem blassen Gebilde ihrer Hand. So nahe vor seinen Augen, in ihrer verhüllenden und schonenden Gebärde, in der Zartheit ihrer Glieder und dem durchscheinenden Schimmer des fremden Blutes, erschien sie ihm plötzlich als der hilflose und unsäglich rührende Inbegriff der fremden Welt, an deren Riegeln seine Hände blutend tasteten. Alles, was brennend in seiner Liebe war, Flamme und Begierde, schmolz dahin vor diesem Anblick, als sei er ein schamvolles Opfer, ihm schweigend dargereicht, und aus Hohn und Vergiftung, aus glühenden Wünschen und Zerrüttungen stürzte er in die Auflösung des Dankes und der Anbetung, als habe er in dieser Hand das Geheimnis des Weibes erkannt und erlitten.

Er legte seine Wange an ihren unbekleideten Arm, empfand das wunderbare Geheimnis seiner Kühle gleichsam als eine Verkündung und blieb so regungslos, während die Tränen unaufhaltsam aus seinen Augen niederströmten.

In dieser Stunde zerbrach die künstliche Rüstung seines Lebens, und er trat aus ihren Stücken als ein Verwandelter hervor. Die Schwermut, die Wort und Gebärde nun verhüllte, hob sich aus solcher Tiefe, daß aller Krampf sich lautlos fortspülte und seine Gestalt etwas Ergreifendes hatte, weil sie gleich dem Ton einer einzigen Saite war, schwingend und von Obertönen nur bereichernd umspielt. Alles Zwiespältige seines Alters, Schauspiel und Ekstase, Hochmut und Opfer, war erloschen und zur reinen Form gewandelt, einer Apotheose gleich, die in die Verklärung stieg.

Er erfuhr oder erriet aus einer Untersuchung durch den Schularzt, daß sein Leben gefährdet war. Es erschreckte ihn nicht, weil er zu Tale schritt. Ob die Tropen ihm »Heilung oder Besserung« bringen würden? Der Arzt sah ihn fassungslos an. »Die Tropen? Mann Gottes, die Tropen sind der Tod!«

Er verbarg es vor jedermann, am meisten vor ihr. Nur für Holger kam ein schöner Herbst ihrer Freundschaft. Er war schweigend in die Schatten getreten, solange Percy die fremde Zeit erlitt. Er war wissender als alle anderen, und eines Abends war er Frau Lida in den Weg getreten, als sie durch eine leere Straße von einer Stunde heimging. Er hatte hart zu ihr gesprochen und fast ein wenig roh, weil es um das Beste seines Herzens ging. Aber unter einer Laterne war sie stehengeblieben und hatte ihn sehr ernst angesehen. »Ich weiß, Graf Holger«, hatte sie gesagt, »weshalb Sie mir solche Worte sagen. Aber ich weiß auch, daß ich mehr leide als Sie. Wenn ich ihn liebte wie Sie, würde ich trachten, ihn zu behalten, aber weil ich ihn mehr liebe als Sie, trachte ich, ihn zu verlieren. Und dann werden Sie ihn wiederhaben oder es glauben ... nur ich weiß, daß keiner von uns ihn jemals haben wird.« Er war beschämt und zornig zurückgeblieben und hatte gewartet wie auf einen Bruder in der Schlacht. Nun, als der andere Percy neben ihm saß, einem Todwunden gleich, hatte er nichts zu tun gehabt, als den Schild über sein Blut zu halten.

An einem der letzten Oktobertage, als eine blasse Sonne durch sich teilendes Gewölk in ihre Schulklasse fiel, wandten sie beide die Gesichter nach dem unvermuteten Schein. Da legte Percy die Hand um Holgers Arm und sagte laut, aller Umgebung entrückt: »Du warst doch der Treueste, Holger ...«

Die Worte waren deutlich vernehmbar in einem zufälligen Schweigen, und der Lehrer verlangte mit gerunzelter Stirn eine Aufklärung. Als Percy in völliger Teilnahmslosigkeit schwieg und eine Katastrophe hereinzubrechen schien, stand Holger auf, was für ihn etwas Unerhörtes bedeutete, und sagte, sehr blaß geworden: »Ich bitte Sie, Herr Professor, das jetzt auf sich beruhen zu lassen. Ich will es Ihnen nach der Stunde erklären.« Und als der Lehrer, Unziemliches mißtrauisch vermutend, auf seiner Forderung bestand, schlug Holger mit der Faust auf die Bank und schrie: »Sie sollen schweigen! Hören Sie nicht?«

Die Stunde wurde abgebrochen und Graf Einsiedel zum Direktor befohlen, aber dann ging der Unterricht weiter, und es verlautete nichts an diesem Tage.

Nachmittags lagen sie beide auf einer Uferhöhe des Flusses, weitab von der Stadt. Wolken standen gleich Gebirgen hinter der Ebene, und Kraniche zogen über das leere Feld. Die Luft war grau und sehr still, und im fernen Walde hörte man den Schlag einer Axt.

»Sie nageln den Sarg des Jahres zu«, sagte Percy ruhig. »Auch dieses Land kann schön sein ... ich sehe es nun zum ersten Male.« Holger schwieg bedrückt und starrte hinaus, über den Fluß, der leise an ihnen vorübersprach.

»Ich bin sehr glücklich«, fuhr Percy fort. »Oder vielleicht ist das auch nur ein Irrtum. Graf Manfred sagt, wir wüßten nichts, wir ahnten nur ... Ich hätte gern gewußt, so gern ...«

»Percy!« bat Holger.

»Laß doch!« Er lächelte über die stille Erde hin. »Es tut nicht mehr weh, nichts tut mehr weh. So hat sie auf der Terrasse gesessen und über Batavia gesehen ... Alang-Alang ... wie das hier klingt ...« »Percy!«

»Still ... er hat mir gesagt, daß ich sterben werde. Er hat es nicht gesagt, aber er hat es gedacht ... du sollst es wissen, du ganz allein.«

»Percy! Wer? Der Arzt? Er ist verrückt! Ich schlage sie tot, alle zusammen!«

Percy lächelte. »Es hat Zeit, Holger, viele Jahre vielleicht ... aber was wissen wir von der Zeit ... laß uns hinaussehen ... horch, wie die Axt noch immer schlägt.«

Dann fielen nur die Blätter von den Birken, und die Stunden rollten langsam zu Tal.

Am Abend saß Percy allein in des Großvaters Stube. Die beiden waren fort, zu einem Wohltätigkeitsfest der Kaufmannschaft. Er arbeitete nicht und hörte nur dem Singen der Lampe zu.

Dann blieb er in seinem Zimmer im Dunklen. Hinter der Wand hörte er den Schritt der Frau, wie sie auf und ab ging, als sei etwas zu ordnen oder zu räumen. Er hatte die Hände in den Falten des Sarongs und lauschte dem einzig lebendigen Klang des Hauses. Er sah sie so deutlich, als sei die Wand nicht da und ein helles Licht wie von vielen Lampen falle von allen Seiten auf ihre Gestalt. Er sah das Gesicht der Herzeloide und ihre traurigen, fast wunden Augen, ihre matten Hände und den kühlen Schimmer ihrer Arme. Und dann sah er darüber hinaus, über die Dächer der dunklen Stadt und das nun formlose Land, weiter und weiter, bis in die letzte Weite.

Und dann trat sie bei ihm ein. Ganz leise ging die Türe, und er hörte das Rauschen ihres Kleides sich ihm nähern. Sie sah ihn gegen das Fenster und blieb vor ihm stehen, als ihr Arm ihn berührte. »Percy«, sagte sie leise, »ich muß mit Ihnen sprechen.«

Sie setzte sich auf die Lehne des alten Stuhles, den einen Arm im Schoß, den anderen um seine Schultern gelegt. Er saß wie ein Toter, aber seine Glieder bebten im Fieber. Der Duft ihrer Welt umfloß ihn, und der Hauch ihres Atems glitt über seine kalte Stirn. »Ich muß Ihnen etwas sagen, Percy«, fuhr sie ebenso leise fort. »Ihr Vater hat heute um mich angehalten.«

Er sank zusammen, als habe sie ihn in den Nacken getroffen.

»Ich habe seinen Antrag nicht angenommen, Percy ... Ich werde niemandes Antrag mehr annehmen, niemandes mehr, verstehen Sie?«

»Weshalb?« fragte er. Seine Stimme ist eine fremde Stimme.

»Weil ich durch zwei Ehen gegangen bin, und man hat mich zerrüttet in diesen Ehen. Geschändet und zerbrochen. Meine Seele und meinen Leib. Verstehen Sie? Meinen Leib hat man vergiftet, hören Sie?«

Er nickt. »Und deshalb?«

Er fühlt den schweren Atem ihrer Brust.

»Nein.«

»Weshalb denn?«

»Weil ich dich liebe, Percy.«

Nun ist es ganz still. Nur der Wind geht durch den Garten, und sie hören, wie die Blätter fallen.

Er richtet sich auf und legt seine Wange an ihre Brust, mit der sein Antlitz sich hebt und senkt. Er weiß nicht, ob er versteht, was sie bekennt. Ob es Worte sind, Gefühle oder furchtbare Ereignisse. Er weiß nur, obwohl sie es nicht ausgesprochen, was sie für ihn bedeuten, was sie nach ihrem Willen bedeuten sollen. Sie liebt ihn, sie wird sich eher töten, als daß sie ihn liebt. Er weiß es mit einer entsetzlichen Gewißheit. Auch sein Sterben entscheidet nichts, gar nichts. Aber dies wenigstens ist gekommen und bleibt, ist nie mehr zu verlieren.

»Sag es noch einmal«, flüsterte er. »Ich liebe dich, Percy.«

Er drückt seinen Mund auf ihre Brust, und sie nimmt sein Haupt in beide Hände und preßt es an ihr Herz.

Dann flüstert sie ein ersticktes Wort und geht. Er hört, wie sie den Riegel vor ihre Türe schiebt.

Am Morgen erwacht Percy in demselben Stuhl, todmatt, mit dem dumpfen Gefühl, als liefe ein feiner Sprung, tausendfältig gezackt, durch seinen schmerzenden Körper. Es ist schon hell, und auf den grauen Dielen, dicht vor seiner Tür, liegt ein Brief. Er ist unten durch den Spalt geschoben worden, und er wischt den Staub ab, bevor er ihn öffnet. Es ist nur ein einziges Blatt, und die wenigen Worte stehen fremd und groß in dem weißen Schweigen. »Leb wohl, Percy ... Mein lieber Percy.«

Ihre Zimmer sind unverschlossen, leer. Auf dem Tisch liegt ein Blatt an seinen Vater, daß sie verreise, für immer. Die Adresse für die Nachsendung ihrer Sachen werde sie angeben.

Als Herr Magnus nach seinem Sohn sehen kommt, findet er ihn zu Bett liegend. Es sei ihm nicht gut, und er möchte sich gesund schlafen. Percy hört ihn nebenan klopfen, eintreten und nach einer Weile mit schweren Tritten die Treppe hinuntergehen. Er wendet das Gesicht zur Wand und drückt das leise knitternde Papier an sein Herz.

Holger kommt atemlos in der ersten Pause und sitzt dann nachmittags vor seinem Bett. Er erzählt mit etwas schwerer Lustigkeit von der Schule und ihrer Banalität. Percy liegt schweigend, und seine dunklen Augen gleiten liebevoll über Holgers Gesicht. Dann bittet er ihn zu gehen, er möchte einen langen Schlaf tun. Als Holger an der Tür ist, winkt er ihm noch einmal.

»Auf Wiedersehen, Holger ... in den Tropen.«

Lächelnd macht Holger die Türe zu.

Es dämmerte erst, als Holger in der Frühe mit der Faust an die Tür des malaiischen Hauses schlug. Herr Magnus sen., der schon den Ofen heizte, öffnete erstaunt. Er wurde zur Seite geschoben, und Holger sprang die Treppe hinauf. »Percy!« Das Zimmer war leer, das Bett gemacht, die Bücher eingeräumt. Auf dem Tisch stand der kleine Buddha, die Hände segnend erhoben.

»Percy!« Der Schrei klang furchtbar durch das leere Haus. Die Gartentür war verschlossen. Er war nirgends zu finden.

Holger gab keine Antwort. Er starrte wild in die leeren Gesichter der beiden und stürzte aus dem Hause. Fünf Minuten später raste er auf einem Motorrad die Straße nach dem Schloß entlang. Die Leute, die zum Frühzuge nach dem Bahnhof gingen, schüttelten die Faust hinter ihm her, aber nur eine Wolke von Staub und blauem Dampf bezeichnete seinen Weg.

Er fand Percy im Tropenhaus. Die Tür war verschlossen, aber ein Fenster war ausgehoben und von innen lose angelehnt. Er lag im Dschungel, die Füße noch auf dem Gang, einen Orchideenzweig in der Hand. Sie war ein wenig bläulich gefärbt, und an ihrer Seite zeigten sich zwei entzündete Punkte, fein wie Nadelstiche: der Biß einer Schlange. Seine Augen, schon gebrochen, waren in die dunkle Wirrnis der Palmen gerichtet. Holger schrie wie ein Tier, klagend und unaufhörlich. Sie öffneten das Haus von außen und rissen ihn mit Gewalt von der Leiche. Graf Manfred lief zu dem Glaskäfig, in dem die Schlangen lagen, beugte sich nahe an die Scheiben und schloß dann den Deckel, der nicht ganz fest an den Wänden lag. »Er hat die Hand hineingelegt«, sagte er heiser.

Sie bahrten ihn im Saal auf, verstört, mit sinnlosen Bewegungen. Vor der Tür weinten die Mädchen laut. Sein Antlitz zeigte weder Kampf noch Qual. Dann holte Graf Manfred die Blüten der fremden Erde und legte sie über die weiße Decke. Er war allein in dem großen und feierlichen Raum und stand lange vor der Blässe des jungen Hauptes. Als er den feinen Spalt der Augen noch einmal schloß, zitterte seine kühle Hand mit den blauen Adern ein wenig, und seine harten, hellen Augen zuckten unter ihren Lidern.

Sie begruben ihn an der Stelle, wo er gestorben war.

Eine weiße Steinplatte liegt im Schatten der Farne, und ihre roten Buchstaben sagen:

Parzival ... Weltevreden


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