Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf den westlichen Hängen des Bayrischen Waldes lebte viele Jahre vor dem Großen Kriege ein Mann namens Niederlechner. Er war Großknecht auf dem Berghofe, ein breiter, schwerer und stiller Mensch, nicht unfroh in seinem Wesen, aber von einer gedämpften Traurigkeit, als hätte er ein Geliebtes verloren oder nach vielem Suchen aufgegeben, einen bestimmten und schönen Weg zu finden. Er war arm an Gütern und Wünschen, und wenn der Hof mit Kindern und Gesinde zum Markt oder zur Kirchweih fuhr, blieb er gern als Einziger zurück, saß unter den Linden vor dem Tor, wo der Blick in die erschlossene Ebene niedersteigen konnte, oder am Herdfeuer in der Küche und las in der schweren Bibel, auf deren erstem Blatt die Namen seiner Vorfahren in ungelenken Buchstaben standen, oder spielte leise und langgezogen auf seiner Harmonika. Er liebte seine Pferde wie junge Brüder, hatte einen gezähmten Star in seiner Kammer und zwei Mäuse, die von seiner Hand aßen, schaffte vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne und konnte aus dem stillen Gehäuse seines Lebens nur ausbrechen, wenn ein Unrecht an Wehrlosen geschah, an einem Kind, einem Trunkenen oder einem hilflosen Tier. Er war geachtet in allen Höfen der Landschaft, und wenn sich ein vorlauter Spott an das Ungelenke seiner Gestalt oder Sprache haftete, so kam er von den jungen Knechten oder Mägden, aber auch er verstummte, sobald sie ihn an der Arbeit sahen, bei der Pflege seiner Tiere, in der Kirchenbank oder vor der Weihnachtskrippe, vor der er die Knie beugte wie ein Kind, die schweren Hände vor der Brust gefaltet und die dunklen Augen über ein Land gesenkt, das niemand sah, aber das schön sein mußte, weil es einen großen Frieden entzündete auf seiner gefurchten Stirn. So trug er zehn Jahre seines stillen Lebens auf dem Berghof dahin, auf und ab schreitend zwischen Saat und Ernte, bis zu jenem Abend, an dem die spärlichen Kirchenglocken im Bayrischen Wald den Großen Krieg einläuteten. Da ließ er den Schleifstein von der Sense sinken, mit der er den kümmerlichen Roggen auf dem Berghang geschnitten hatte, und lauschte. Die Abendsonne stand noch über der dunstigen Ebene und warf den Schatten seiner schweren Gestalt bis an den Rand der mageren Wälder hinauf. Er war der einzige Schnitter auf allen rötlich bestrahlten Hängen, und es war ihm, als stießen die Wellen aller läutenden Glocken allein gegen seine unbewehrte Brust. Er nahm den breiten Hut ab, wie es sich vor dem Glockenklang gehörte, aber er betete nicht. Er wußte, was dies bedeutete. Er sah in der Tiefe auf den Höfen die Menschen .sich zusammendrängen wie Vieh vor dem Gewitter. Er sah Radfahrer über das dünne weiße Band der Strasse jagen. Er hörte Rufe und Hundegebell. Ein warmer und blauer Himmel war darüber gespannt wie über einen vergänglichen Irrtum, aber der Knecht sah diesen Himmel nicht. Er sah nur den Himmel aus Erz, der sich aus dem Gedröhne der Glocken langsam zusammenschob, ein tieferes, düsteres Gewölbe, das die Sonne begrub, die Wärme, den Wind, den Geruch der Ähren und des Brotes. Die Hand, mit der er das Eisen der Sense hielt, begann ihn zu brennen. Er drückte den Stiel in die Erde und trat zur Seite. Nun waren sie das einzig Aufrechte in den geernteten Feldern: die Sense, deren Schneide rötlich glänzte, und die dunkle, schwere Gestalt, die nun den Hut mit beiden Händen vor die Brust hielt. Es bewegte sich nichts in seinem Gesicht. Es wurde weder erleuchtet noch verdunkelt. Es war ein Gesicht, das so still war wie unter der Predigt. Und erst als das Läuten erstarb und nur noch ein einzelner Ton nachgeklungen kam, mit einer besonderen Deutlichkeit und Mahnung, seufzte er auf, daß es fast ein Stöhnen zu nennen war, und gab nun erst den versperrten Weg zu seinem Antlitz frei, so daß es sich plötzlich verfinsterte und gleichsam mit Leid bedeckte, wie vor dem Anblick eines sterbenden Tieres. Dann zog er die Sense aus dem Feld und stieg, ohne sich umzusehen, den Weg zum Hofe hinunter.

Er nahm nicht teil an der Leidenschaft, unter der das Land erbebte, weder an der Freude der beiden Söhne, die am nächsten Morgen vor dem Hoftor standen und noch einmal wie junge Sieger den Zurückbleibenden winkten, noch an den Tränen der Bäuerin oder der schweren Feierlichkeit des Bauern. Nur als die roten Plakate kamen und am Hoftor angeschlagen werden sollten, weigerte er sich, das zu tun, und erst in der Dämmerung, als das Feuer im Hause erloschen war, schlich er heimlich vor die Blätter, die wie Blut aussahen und stand lange grübelnd vor den schwarzen Buchstaben, mit denen der Landsturm aufgerufen wurde. Es war ein schweres und feierliches Wort für ihn, mit einer finsteren Drohung gefüllt wie die Drohungen des Alten Testaments, und es mochte wohl von diesen schweren Worten geschehen sein, daß das mühsam gerahmte Bild seiner Welt zerbrach und er die Arme hilflos unter die Sterne hob.

In der gleichen Nacht noch verschloß er die Bibel und seine Harmonika auf dem Boden seiner Holzkiste, und als der Tag kam, an dem er, als ein Vierzigjähriger, sich stellen sollte, war sein Lager in der Kammer unberührt und kein Zeichen da, wohin und in welcher Gesinnung er den Hof verlassen haben mochte. Die ganze Landschaft trug voller Zorn seine Schande. Selbst die Hirtenjungen, die oben auf den Bergheiden das Vieh hüteten, durchspähten Busch, Graben und Höhle, und nach acht Tagen stieg eine Landwehrpatrouille die Hänge herab, mit blitzendem Bajonett auf den altertümlichen Gewehren, und vor ihr, die Hände mit einem Koppel verschnürt, ging der Geflohene, ein gebeugter Mensch, Fichtennadeln im zerwühlten Haar, Risse in Haut und Kleidern.

Schmähung geleitete ihn von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf. Selbst die Kinder, mit Holzsäbeln und Papierhelmen, schrien ihm seinen Schimpf ins Gesicht, und obwohl die Landwehrmänner, unsicher und nicht ohne Verlegenheit bei diesem ihrem Kriegshandwerk, die Menge zurückdrängten, konnten sie doch nicht verhindern, daß eine alte Bäuerin, die fünf Söhne zu den Fahnen geschickt und auf diese Weise Ruhm in der ganzen Landschaft erworben hatte, den Gefesselten ins Gesicht schlug und voll böser Verachtung vor ihm ausspie. Da schlug der Mißhandelte zum ersten Mal die Augen auf, deren nicht zu messende Trauer nun jedermann erblickte, und sagte leise: »Schlage nicht, Bäuerin, sonst wird Gott dich schlagen, wie er mich geschlagen hat.« Von diesem Wort wurde noch lange in der Landschaft gesprochen, als in dem Haus der Bäuerin schon drei Kreuze in der Bibel standen, eines für Polen, eines für Belgien und eines für die Vogesen, und als der Landsturmmann Andreas Niederlechner nach schimpflichen Monaten schon lange in den flandrischen Gräben stand, die Augen in den brennenden Horizont gerichtet, aus dem das Mündungsfeuer der Schiffsgeschütze wie aus einem Höllenspalt brach.

Er schien ein Soldat wie alle anderen: ein Bauer, der schwer und langsam durch den Krieg wie über seinen Acker ging, der Furche auf Furche durch die Zeit pflügte, sich zur Ruhe wendete, zum Postenstehen, zur Schlacht. Nur zweierlei war anders: daß er keinen Urlaub erhielt und auch nicht beantragte, und daß er niemandes Kamerad war. Zwar wechselte er ab und zu ein Wort mit. seiner Gruppe, an der Feldküche, im nächtlichen Graben, auf dem Marsch. Aber jedes Gespräch über Krieg und Frieden, über die Heimat, über Gott oder die Frauen traf auf sein erloschenes, versteintes Gesicht, glitt ab und fiel in ein bedrücktes Schweigen. Nur im Schlafe hörte man ihn mitunter stöhnen, und manchmal sah man ihn bei der Leiche eines Gefallenen, Freund oder Feind, die Hände vor der Brust gefaltet und regungslos in das graue fremde Gesicht starrend, auf dem die Schatten des Todes bläulich lagen. Niemand bemerkte, daß die Mündung seines Gewehres immer um ein Weniges über die Stirnen der Feinde hinausgerichtet war, daß seine Handgranaten hinter den Graben fielen, daß seine Feldflasche immer leer, seine Verbandpäckchen immer verbraucht waren.

Niemand bemerkte auch, daß er in einem Häuserkampf am Rand eines Dorfes über eine Stacheldrahtrolle stolperte und der Schuß seines Gewehres, vorzeitig gelöst, die Stirn eines jungen Franzosen traf, der seinen Stahlhelm verloren hatte und dessen Haar die Farbe reifenden Weizens trug. Die brüllende Woge wälzte sich über den Toten hinweg und ließ ihn auf den Steinen zurück, zwischen deren Fugen Gras wuchs, das sich an seine Wange schmiegte und sich leise zu röten begann. Aus dem vielfach zerklüfteten Herbsthimmel fiel eine gelbe Dämmerung in das Gesicht des Toten, häufte ein blasses Gold auf sein Haar und ließ ihn wie einen schlafenden Knaben erscheinen, am Ufer eines Baches etwa oder am Rande eines Ackers, über den die hohen Abendwolken gehen und der blaue Rauch der Hirtenfeuer.

Bis zur Dunkelheit kniete Andreas auf den Steinen und starrte auf die kleine graue Höhlung in der Stirn des Toten. »Stehe auf und wandle!« betete er. Aber nur der Wind spielte mit den Schläfenhaaren, und unter den Augen dunkelten die Scharten immer tiefer. Da öffnete er den blauen Waffenrock, nahm die Erkennungsmarke und ein silbernes Kreuz vom Hals des Toten, umfing ihn dann mit seinen Armen und trug ihn vom Dorfrand hinweg bis zum Rande eines zerwühlten Gehölzes. Dort, unter einer zersplitterten Eiche, grub er mit seinem kleinen Spaten ein schmales Grab, wickelte den Toten in eine Zeltbahn und bettete ihn wie ein Kind in der finsteren Kühle der Erde. Bevor er das Grab verließ, stand er lange und sah sich um. unter den Sternen des Himmels wie unter den Umrißlinien der Landschaft, bis er alles eingegraben hatte in den Grund seiner Seele.

In dieser Nacht verließ Andreas Niederlechner den Krieg. Auf Fragen und Drohungen, im Lazarett, vor dem Kriegsgericht, im Gefängnis hatte er keine andere Antwort als das leise: »Gott will es nicht mehr ...« Erblieb ein demütiger, gehorsamer Mensch, und selbst die Seelen derer, die vom Kriege besessen waren, mußten sehen, daß hier anderes geschah als das Übliche der Feigheit, der Auflehnung, der Verstocktheit.

Das Leben des Knechtes aber, soweit es nach innen in das Unsichtbare ging, veränderte sich seit der Stunde unter dem Abendhimmel. Immer ging einer neben ihm her in der Härte der Tage, saß bei ihm in den grauen Abenddämmerungen, lag neben ihm auf der harten Pritsche, sorglich zugedeckt mit der dünnen Wolldecke: ein blonder Knabe, ein brüderlich ihm zugewendetes Gesicht, ein kindliches Lächeln, eine schamhafte Scheu. »Nun werden sie pflügen, Jan », sagte der Knecht und lauschte auf den Frühlingswind, der an die Gitter stieß. »Nun holen sie die Tanne aus dem kleinen Wald, Jan, und bleiben stehen und sehen sich um, ob wir bald kommen.« »Nun bereden sie, wer die Glocken läuten wird, Jan, wenn der Frieden kommt.« Er sah das Antlitz neben sich lächeln oder nicken oder mit ihm hinauslauschen in die Nacht, über der die Sterne kreisten und durch die der Schritt der Posten eintönig ging. Und bevor er einschlief, schloß er die Hand um das silberne Kreuz und empfing die Kühle eines fremden Lebens, das den Schlaf eratmete an seiner Brust.

Er fuhr heim, als der Krieg erlosch. Es war nun alles anders als bei seinem Auszug, und die jungen Burschen empfingen ihn wie einen Helden, der vor Jahren das Ende schon vorausgesehen und einem rasenden Gespann in die Zügel gefallen war. Doch kehrte er wortlos zu seinem Hofe zurück, wo die beiden Söhne gefallen waren und man ihn mit verlegenem Dank empfing. Zu seinen Pferden und seiner Holzkiste, seinem Acker, den der Schnee begrub, seiner Weihnachtskrippe, vor der er tiefer die Knie beugte als je zuvor. Im Frühjahr heiratete er eine junge Magd, deren Sinn dumpf und zu Zeiten leise verwirrt war, erwarb eine Hütte mit ärmlichem Feld, auf der Höhe der Berge abseits gelegen, und kniete vor der nächsten Weihnachtskrippe mit seinem ersten Sohn, in dessen blonden Schläfenflaum der Kerzenschimmer sich fing und den er gegen allen Einspruch des alten Pfarrers Jan-Isaak taufen ließ.

Das Haar an den Schläfen des Knechtes war schon grau, als er seinen Sohn über die Taufe hielt, aber trotzdem verflocht sich von diesem Tage ab sein Lebensbaum auf eine seltsam innige Weise mit dem jungen Reis seines Kindes. Es war ein stilles, gedankenvolles Kind, das unter dem weiten Himmel wie eine verlorene Blume aufwuchs, zu der die Tiere des Waldes kommen, der Tau und der Wind. Es trug die Dumpfheit aus dem Blute seiner Mutter und den schweren Ernst aus dem väterlichen Teil, aber beides war zu einer sanften Güte verwoben, die sich mitunter in einem Lächeln erschloß, auf das der Knecht mit scheuer Verwunderung blickte. »Friedensfürst ...«, sagte er einmal, als das Kind über den gepflügten Acker zu ihm heraufgestiegen kam, ein Brot in der einen Hand und eine weiße Aster in der ändern, beides vor sich hertragend wie einen heiligen Schrein. »Friedensfürst müßtest du heißen, Jan ...« »Ja«, antwortete das Kind und sah ihn ohne Verwunderung an, wie ihm alles unantastbar war, was der Vater sagte oder tat. Auch wenn der Knecht seine seltsame Zeit hatte, wunderte das Kind sich nicht. Am Weihnachtsabend, wenn die wenigen Lichter an der kleinen Tanne erloschen waren, ging Andreas in seine Kammer, legte Waffenrock und Stahlhelm an, Koppel und Schanzzeug, schulterte das Gewehr, das er auf dem Heuboden verborgen hielt, und ging von Mitternacht bis zum ersten Hahnenruf vor seinem Hause auf und ab, den Blick in die Ebene gewendet, über der die hohen Sterne langsam stiegen und fielen. Wenn es zu Ende war, seufzte er tief aus seiner Brust, legte sein Kriegsgewand ab und streckte sich leise neben seinem Kinde aus, mit dem er das Lager teilte. »Wartest du, Vater?« fragte das Kind, als es zehn Jahre alt war. Andreas erschrak. »Ja«, erwiderte er dann, »Friedensfürst soll kommen.« »Er kommt«, sagte das Kind nach einer Weile und legte die Wange an des Vaters erstarrte Hand.

Die Zeit ging mit Samen und Ernte. Die Bäume, die Andreas gepflanzt hatte, gaben Schatten. Sein Haar wurde grau bis über den Scheitel. Seine Schultern beugten sich, und wenn er im Herbst die Kartoffelsäcke in den Keller trug, stand Jan in einem Winkel des Hofes, den blonden Kopf an die Stallmauer gelehnt, und sah mit einer traurigen Liebe in den Augen zu, wie der schwere Schritt unter der Last sich beugte. »Du mußt einen Knecht nehmen, Vater«, sagte er am Abend. »Solange bis ich groß bin.« Sie standen im Garten, als er das sagte, und Andreas hatte den Arm um den Apfelbaum gelegt, der eine einzige Frucht in diesem Jahre trug. Andreas sah seinen Sohn lange an. Dann hob er die Hand in die Zweige und brach den roten Apfel vom Stiel. »Nimm«, sagte er. »Iß ihn zu meinem Gedächtnis, Jan ...«

An diesem Abend stieg er den Berg hinunter, zu dem alten Pfarrer, der Jan eingesegnet hatte. Lange saß er in dem hohen und feierlichen Raum, denn die Worte kamen ihm langsam von den Lippen. Das Licht der Studierlampe fiel auf das silberne Kreuz und die Erkennungsmarke, die dunkel geworden war von dem Schweiß der Arbeit, in dem er sie auf seiner Brust getragen hatte, fast zwei Jahrzehnte lang. Aber die Schrift war deutlich zu lesen, hell auf dem dunklen Metall, und noch einmal dunkel auf dem weißen Blatt, auf das der Pfarrer sie übertrug. Ja, der Pfarrer wollte schreiben, und der Bauer sollte nun seinen Frieden finden. Nicht viele mühten sich so um die Sühne menschlichen Leides. Andreas nickte nur, bedankte sich und ging. Bis an das Hoftor geleitete ihn der alte Mann. Vor der Adventszeit kam die Antwort, und Andreas Hess sich auf der Landkarte den Ort zeigen. Es war das westliche Belgien und nicht mehr als eine Tagesreise von dem Dorf entfernt, wo das Grab unter der Eiche lag.

Als sie die Pässe hatten, schlugen die Bergleute schon Holz im Bergwald. »Gehen wir fort, Vater?« fragte Jan ohne Verwunderung.

»Ja, nach Frankreich, wo der Krieg gewesen ist ... da ist ein Grab, zu dem ich muß.« Die Mutter verstand nur, daß sie fortgingen. Sie wußte nicht, was Frankreich war, legte Wäsche und Essen zurecht und schlug das Kreuz über sie, als sie über die Schwelle gingen. »Kehre noch einmal um, Jan«, sagte Andreas, bevor er das Tor öffnete, »und küsse sie noch einmal ... sie war niemals allein in ihrem Leben.«

Jan gehorchte ohne Zögern. »Nun wollen wir nach Frankreich gehen«, sagte er, als er wiederkam.

Es wäre eine schwere Fahrt gewesen ohne des Vaters Augen. Aber zwischen allem Dunklen, Dumpfen und wirr Vorübertreibenden stand unbeweglich der stille Schein in ihrem vorwärtsgerichteten Blick, ein von innen aufsteigendes Leuchten, über das die Leute sich verwunderten und zu dem das Kind zurückkehren konnte aus jeder Fremdheit der Landschaft, der Gespräche, der Menschendinge und -meinungen. »Etwas Schönes ist es, Vater, ja?« fragte es, als schon die fremde Sprache sie umgab und sie sich enger zusammendrängten wie vertriebenes Getier in einem fremden Stall. »Gutzumachen ist etwas«, erwiderte Andreas und legte den Arm um des Knaben Schulter, »und helfen mußt du, wie du wolltest, als ich die Säcke trug ... Friedensfürst soll nun kommen ...«

Das Kind nickte, als verstehe es auch dieses, und wie in den Weihnachtsnächten legte es die Wange an des Vaters harte Hand.

Es dämmerte, als sie in dem fremden Dorf ausstiegen. Schnee lag auch hier, und durch die Lücken der Häuser sahen sie die bläuliche Ebene, auf der die schweren Höfe lagen, tiefe Dächer unter entlaubten Pappeln, und das Geflecht niedriger Hecken, zwischen denen die schmalen Wege von Hof zu Hof führten.

»Streuvels«, sagte Andreas und hob die Pelzmütze vor einem der Männer, die vor einer Schenke standen. »Pieter Streuvels ... ein Bauer ... wo ist es? »

Sie traten näher, erstaunt, und begannen in einer fremden Sprache zu fragen. »Streuvels«, wiederholte Andreas nur, mit Sorge in seinem schweren Gesicht, »Pieter Streuvels ...« Sie holten einen jungen Menschen aus der Schenke, der in einem umständlichen Deutsch nach ihren Wünschen fragte. »Streuvels? Ja, natürlich«, sagte er fröhlich, faßte Andreas beim Arm und zeigte zwischen den Häusern auf einen der Höfe, der dunkel und schwer unter dem hellen Abendhimmel lag. Pieter Streuvels, ein großer Mann, ja, aber mit viel Kummer, seit sein einziger Sohn verschollen sei im Kriege. Ob er sie hinführen solle? Andreas dankte. Das sei nicht nötig. Nur mit der Sprache, das habe er nicht bedacht. Zum Advent, habe er gedacht, da gäbe es keine Fremdheit der Sprachen. Da lächelte der Fremde, wie er die ganze Zeit mit fröhlichen Augen um die fremden Gesichter gegangen war und meinte, das s es da keine Sorge gebe, denn Pieter Streuvels sei drei Jahre ein Kriegsgefangener bei einem deutschen Bauern gewesen, aber wenn er trotzdem mitkommen solle ... er hätte nur gedacht, es seien Verwandte, vom Rhein vielleicht, wo auch Streuvels säßen ... »Ja«, sagte Andreas und gab ihm die Hand, »richtig hast du es gesagt ... Verwandte, so ist es auch. Und nun danken wir dir schön für deine Hilfe.« Zwischen den niedrigen Hecken gingen sie dem Hofe zu. Dem Knaben war es feierlich zu Mute, weil der Vater seine Hand hielt und er sich nicht erinnern konnte, daß es daheim jemals so gewesen wäre. Vor seine Augen schoben sich die dunklen Linien der heimatlichen Berge, und es war ihm aufgelöst und seltsam in diesem Lande zumute, wo alles weit und verloren dalag, eine losgebundene Erde, wo die Wege kein Ende hatten und die Bäume steil und schlank in die Höhe stiegen, bis unter die ersten sich entzündenden Sterne. Auch blieb der Vater mitunter stehen, mit versagendem Atem, als leide er Schmerzen, und blickte zu dem hohen Himmel auf, über den gelbe Farbbänder gespannt waren, zwischen denen es wie dunkle Schluchten lag, und Kälte und Weglosigkeit drang aus ihnen und das eisige Flimmern der ersten Sterne. Und vor dem Hoftor nahm er die Mütze ab und hielt sie mit beiden Händen vor die Brust, wie er in der Kirche daheim zu tun pflegte, wenn der Pfarrer das Vaterunser sprach. Es war nichts zu sehen als ein gelber Lichtschein hinter niedrigen Fenstern, und sie klopften vergeblich an verschlossenen Türen, bis eine dunkle Stimme von innen etwas Fremdes rief. Da traten sie ein, wobei Andreas den Knaben an der Schulter sanft vor sich hin über die Schwelle schob.

Es war nun schon eher wie auf den großen Höfen in der Heimat: dunkles Holz an den Wänden und ein Herdfeuer in der Ecke, Bänke und ein schwerer Tisch, Teller auf Wandregalen, eine Lampe auf einem zweiten runden Tisch, Knechte und Mägde, Schnitzwerk und eine Alte über einem Spinn rad, und über allem als ein leuchtendes Wunder ein rötlicher Stern, vielfach gezackt, von einem unsichtbaren Licht erhellt, der unter der Balkendecke unbegreiflich schwebte, als sei ein Himmel über die Stube gespannt, wie über eine heilige Familie, die hier Rast gemacht habe inmitten einer lauten Welt, bevor sie sich wieder aufmachte zu ihrer Flucht nach Ägyptenland.

Es war das erste, worauf sie schweigend starrten, das Kind mit geöffneten Lippen, blond und schmal vor der schweren Gestalt des Vaters, an dessen Brust es seinen Scheitel vergessen lehnte, und dieser selbst die erhobenen Hände um das Fell seiner Mütze gefaltet, erblaßt bis in die Lippen und bis in die tiefen Furchen des Gesichtes rötlich beglänzt von dem Schein des Sternes.

Niemand sprach. Für lange Zeit. Das leise Rauschen des Spinnrades war verstummt, der Gang des Schnitzmessers durch das Holz. Nur die Funken knisterten im Herd, und im Luftzug der geöffneten und wieder geschlossenen Tür drehte der Stern sich langsam um sich selbst, Schatten und Licht nacheinander über die Gesichter legend wie Sonne und Wolken über ein stilles Feld.

Es wäre nun Zeit gewesen für Andreas, etwas zu sagen, aber bevor er die Lippen öffnen konnte, schob die alte Frau das Spinnrad zur Seite und stand auf. So sehr hatte das Alter sie gekrümmt, daß sie nicht größer erschien als beim Kauern über ihrer Spindel. Ihre licht losen Augen starrten wie in einen Nebel, der Stock schwankte in ihrer Hand, aber Schritt für Schritt zog das schmale, blonde Gesicht sie zu sich heran. »Jan?« flüsterte sie. »Is tis Jan?«

Ihre welken Hände tasteten über seinen Scheitel, seine Stirn, seine Wangen. »Is tis Jan?« »Ja«, sagte der Knabe laut, »ich bin Jan. Die Bäuerin am Herde begann zu weinen, die Hände vor die Augen geschlagen, als wollte sie das nicht sehen, und der Bauer stand nun auf und kam um den Tisch herum. Auch sein Haar war grau bis an den Scheitel, und auch seine Augen gingen von dem Knaben fort, als wollte er nicht sehen. »Wat is er gebeurd ?« fragte er streng. Da legte Andreas auf den dunklen Eichentisch, was er bei sich führte. Er nahm es aus einem schwarzen Seidentuch, das er zur Konfirmation bekommen hatte und das nun in seinen brüchigen Falten leise rauschte. Zuerst die Erkennungsmarke und dann, nach einem kleinen Zögern, das silberne Kreuz. Er legte sie nebeneinander auf das spiegelnde Holz, und die feine Kette gab einen dünnen, gleichsam verschollenen Klang, bis ihre zarten Glieder sich aneinander legten. Sie standen nun so, daß nur der runde Tisch sie trennte, beide mit grauem Haar, mit gebeugten Schultern, die Hände auf das Holz gestützt, über die die Adern der Arbeit dunkel liefen. Beide starrten sie auf das herunter, was von eines Menschenleben übrig geblieben war, blindes Metall, das klein und verloren vor ihnen lag. »Bauer Pieter Streuvels«, sagte Andreas, und seine Stimme schien hinter vielen Türen hervorzukommen, »ein Bauer bin ich aus dem bayerischen Wald ... und ich ... ja, ich habe ihn getötet ...«

In dem langen Schweigen war nichts zu hören als das Schluchzen der Bäuerin, die mit der Stirn auf dem toten Leben lag, das Andreas aus dem dunklen Tuch genommen hatte, und deren Schultern und blonder Scheitel er nun zittern sah, in der Mitte zwischen sich und dem ändern.

»Ich war es«, fuhr Andreas fort, »ohne Absicht, Gott helfe mir ... ich wollte nicht Blut vergießen, auch im Kriege nicht ... im Gefängnis saß ich, weil ich nicht wollte ... so jung war er, unter dem großen Himmel ... Gras war an seiner Wange, als er starb ... ich begrub ihn, ich allein, unter einer Eiche an einem Wald, eine Tagereise von hier ... gebüßt habe ich. zwanzig Jahre ... vergib mir nun, Bruder, um Christi willen.«

Das Feuer knistert durch das schwere Schweigen, und Licht und Schatten des Sternes gehen über den Scheitel der Frau wie über ein Weizenfeld. Sie sind alle aufgestanden und haben sich zusammengedrängt. Sie verstehen nicht viel, aber sie kennen das Kreuz, und sie wissen alle, was das andere Metall bedeutet. Der Bauer spricht nur ein paar Worte, und einmal geht seine Hand ungeschickt über die Schultern der Frau. Nun richtet sie sich auf und sieht Andreas an. Sie öffnet die Lippen, und obwohl sie kein Wort formen, weiß Andreas, was sie sagt, Da greift er noch einmal nach dem schweren Tuch, in dem noch etwas verborgen ist und schlägt es auseinander. Es ist seine alte Bibel, und auch hier ist ein silbernes Kreuz in den Deckel gepreßt. Er schlägt das Buch an einem Zeichen auf und legt die schwere Hand auf die Mitte der Seite. »Das 22. Kapitel« steht da. Die Buchstaben sind so groß, daß die beiden es von der anderen Seite des Tisches lesen können.

»Nun laß mich noch etwas lesen aus dem heiligen Buch«, sagt Andreas und blickt einmal über die Schulter nach dem Knaben, der neben der Großmutter steht. Seine Augen sind groß und wie bei einem, der Gesicht hat, aber sein Blick drängt sich ohne Bedingung in den seines Vaters. »Ja«, scheint er zu sagen, »Friedensfürst kommt ...«

»Und er sprach«, beginnt Andreas. »Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin in das Land Morija, und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.

Da stund Abraham des Morgens frühe auf, und gürtete seinen Esel, und nahm mit sich zwei Knaben und seinen Sohn Isaak; und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging an den Ort, davon ihm Gott gesagt hatte. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?

Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander ...« »Mann«, sagte Pieter Streuvels heiser, »was liest du da?«

Aber Andreas sieht nicht auf von seiner schweren Hand, die auf den Buchstaben liegt. »Und als sie kamen an die Stätte,« fährt, er fort,« die ihm Gott sagte, baute Abraham daselbst, einen Altar, und legte das Holz darauf, und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz. Und reckte seine Hand aus, und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete ...« Andreas schweigt, Er hebt die Augen von dem Buch und sieht die beiden an, die auf der anderen Seite des Tisches stehen.

»Weiter, Mann«, sagte Streuvels heiser, »lies du nun weiter!« »Da ist nichts weiter«, erwidert Andreas. Für uns geht es nicht weiter.« Und er stützt sich mit beiden Fausten auf den Tisch und dreht sich langsam nach dem Knaben um. Dessen Gesicht ist weiß geworden bis unter seine Schläfenhaare. Aber sein Blick ist derselbe geblieben, der Blick eines Gläubigen, den sie unter das Kreuz führen ... »Ja, Vater«, sagt er mit seiner hellen, gleichsam besinnungslosen Stimme, »du kannst es nun tun, Vater.« Und er bückt sich und zieht aus dem Stiefelschaft sein Messer mit der festen Klinge, und steht schon am Tisch und will es in Andreas' geschlossene Hand drängen.

Da schreit die Bäuerin auf, so, als müsse sie den toten Sohn noch einmal gebären. Es ist nicht der Schrei eines Menschen, sondern nur der einer Mutter. Sie umschlingt den Knaben. Sie reißt ihn gleichsam aus dem Dasein der anderen heraus und in sich hinein. Sie küßt sein blondes Haar, sie breitet die Hände um seinen Jungen Scheitel, nicht als schütze sie ihn gegen Andreas, sondern gegen jeden Mann der Welt, zurück bis zu dem gläubigen Mörder Abraham. Andreas braucht nun gar nicht zu sagen, daß er das gar nicht gewollt habe. Daß es ein Gleichnis gewesen sei, das seit zwanzig Jahren seine Brust zersprengt habe. Daß er nichts wolle als ihnen seinen Sohn schenken, Jan-Isaak, wie er getauft sei vor fünfzehn Jahren als ein Beweis seiner Busse vor Gott und den Menschen. Nicht verschenken könne man Menschen wie ein Tuch oder ein Glas, sagte Streuvels, aber wenn das Kind ein wenig bleiben wolle, in jedem Jahr vielleicht für eine Zeit, das könne man bedenken. Und zum Schluß sagt er »Bruder« zu Andreas und rückt dem Müden einen Sitz vor das Feuer. Sie graben den Toten aus. Die Sterne stehen noch am Himmel wie in jener Herbstnacht, das ewig Bleibende über dem Veränderlichen der Landschaft. Die Eiche ist nicht mehr da und der Wald ist über seinen alten Rand gewachsen. Aber Grab und Sterne sind nicht gewandert, und auch Andreas, der dort im fremden Lande steht, unter dem riesigen Gewölbe des fremden Himmels, ist es, als sei er nicht fortgewesen. Als hätten sie hier gewartet, zwanzig Jahre lang, in der Achse der flimmernden Sternenbahnen, das Grab und er, bis das Recht gesprochen würde über Leben und Tod.

Sie haben es so beredet, daß das Kind dableibe für ein halbes Jahr und alljährlich wiederkehre zu ihnen für eine bestimmte Zeit. In der letzten Nacht liegen sie noch wach auf dem Lager das sie teilen. »Ist es dir schwer, Jan?« fragt Andreas leise. Das Kind schüttelt den Kopf an seiner Schulter. »Leichter wirst du nun gehen, Vater, ja?« »Zwanzig Jahre sind abgefallen, Jan ... die Fichten im Wald bei uns, weißt du noch? Wenn der Schnee taut und der Stamm wieder gerade wird? So werde ich gehen ...« »War es das, Vater?« fragt das Kind nach einer Weile. »Friedensfürst kommt?« »Ja«, sagte Andreas leise.

Andreas will nicht im Käfig der Züge heimfahren. Er braucht, einen stillen Weg. Ganz für sich muß er sein. Noch einmal kommt er aus dem Kriege heim, der letzte Soldat, und der Soldat gehört auf die Strassen. So schreitet er quer durch die Eitel über Tag und Nacht auf den Rhein zu. Frost und Nebel liegen über den Bergen, aber in den Nächten ziehen die hohen Sterne auf. Meisen rufen an seinem Weg, die Nadeln knistern im Fichtenwald, mitunter kommt ein Wind hinter ihm her und braust im Gewölbe der Wipfel. Meile auf Meile bleibt hinter seinem Fuß. In seiner Seele ist Frieden. Wie eine Glocke trägt er sein ruhiges Herz über die Berge und durch die Täler. Mitunter rührt etwas an ihrem schwebenden Rand, ein abendliches Licht aus einsamem Gehöft, ein Wind, der die Wipfel streift, ein Wort, das er mitnahm aus dem fremden Haus. Dann schwängt ein Ton in ihm auf, breitet sich aus und erstirbt. Kein Schmerz ist da, keine Wehmut, kein Bedauern, kein Stolz.

Ein Mann der heimgeht von einem Gericht, wo er gegeben und empfangen hat. Der eine Waage vor sich herträgt, deren Schalen steigen und sinken.

Aber einmal wird er zu Hause sein und die Waage auf den Tisch seines Hauses stellen. Und dann wird Ruhe zwischen den Schalen sein, ein ausgewogenes Recht, und der tiefe Schlaf vor einem neuen Werk.

 


 << zurück