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I

Es wäre eine Nacht geworden wie jede andre, wenn nicht zwei einschneidende Ereignisse ihren Gang gestört hätten.

Vier von den fünf Tischen im Großen Salon waren schon um zehn Uhr besetzt, doch auch der Blaue Salon, wo die Spitzen der Behörden, ein hoher Adel und die Charakterköpfe aus Finanz und Industrie zu verkehren pflegten, war diesmal zu früher Stunde gut frequentiert. Dieses blaue Zimmer stand unter Champagnerzwang, öffnete nur geschlossenen Gesellschaften von einer gewissen Rangs- und Steuerklasse aufwärts seine Pforten und war mit Gobelins sowie einer raffinierten Spiegelvorrichtung ausgestattet, welche, wie das Gerücht ging, der gemeinschaftlichen Durchführung vornehmerer Laster dienlich sein sollte. Die Gäste des Großen Salons allerdings kannten das blaue Zimmer meist nur vom Hörensagen, war ja doch selbst im allgemeinen Raum der Konsum einer Flasche sauren Weines mit beträchtlichen Kosten verbunden. Da aber die Verabreichung von Getränk nicht als wesentliche Bestimmung des Hauses zu gelten hatte, bekamen nähere Freunde im Großen Salon nach Maßgabe ihrer Kopfzahl bestimmte Kollektionen von Kaffee oder Schnaps serviert.

Nichts sei damit gegen den Großen Salon gesagt. Er war durchaus feudal mit seiner goldbeladenen Renaissance, den gekrönten Spiegeln, roten Samtvorhängen und dem eisglatten intarsierten Tanzparkett. Wir haben es ja hier mit einem Etablissement zu tun, das die Bezeichnung ruhig ablehnen kann, die ihm ein ungegliederter und armseliger Sprachschatz verleiht. Zumindest aber müßte man dieser Bezeichnung ein k. k., ein kaiserlich königlich voranstellen, denn Plüschmöbel, Goldschnörkel, Spiegel, Samtvorhänge, die Stiche an den Wänden, die nicht nur heiter-dezente Liebesszenen, sondern auch Pferdewettrennen darstellten, die Prachtrenaissance eines hochnäsigen, damals schon langverschollenen Jahrzehnts, das Kaiserbild in der Küche, – aus all dem staubfangenden und schon leicht räudigen Glanz schaute der verlegene Blick der alten Doppelmonarchie den Betrachter an.

In unserer Stadt hat es bis tief in den Krieg hinein drei Institutionen gegeben, die diesen hochoffiziösen Charakter rein bewahrten! Das war die Konditorei Stutzig, die Tanzschule, die Herr Pirnik in einem schönen Barockpalais nahe der berühmten Brücke etabliert hatte, ein distinguierter Ort, wo die gute Bürgerjugend neben Walzer, Sir Roger, Polka, Tyrolienne auch eine klassische Quadrille lernen durfte ..., und eben dieses Haus hier, in dem wir uns gegenwärtig befinden.

Es ist, wie ich glaube, als letztes verschwunden.

II

Die Damen, soweit sie nicht intimeren Dienst hatten, waren auf ihrem Posten. Mit wiegendem Schritt durchkreuzten sie den Raum, drehten sich, einsame Entzückung in den Mienen, vor dem Spiegel, baten sich mit höflicher Kälte Zigaretten aus und nahmen herablassend-interesselos für eine Weile an den Tischen Platz. Sie schienen von dem Gefühl einer ganz besonderen Würde durchdrungen zu sein, einer Würde, die sich jeder Pensionärin dieser altberühmten und vornehmen Stätte mitteilte. Hier aufgenommen worden zu sein, das bedeutete den Eintritt in höhere Lebenskreise. Diese Würde kam mannigfach zum Ausdruck. Im Gegensatz zu ähnlichen Lokalen gingen hier nur wenige Damen kurzgeschürzt, die meisten trugen phantastische Negligés, wallende Morgengewänder, Valeska, die pompöseste unter allen, sogar ein regelrechtes Ballkleid, das auf dem Theater- oder Juristenball eine ausgezeichnete Zensur in der Zeitung davongetragen hätte. Trotz der hinderlichen Kleidung geschah es nicht allzuoft, daß man die Beine entblößte, um aus dem Strumpf ein Zigaretten- oder Puderetui zu holen.

Nur Ludmilla ging in einem kniefreien Rock, und sie mit ihrer gebrechlichen Kinderfigur hätte sich gar nicht anders tragen können. Es war bemerkenswert, daß ihr gänzlich die äußere Unruhe abging, jene gleichgültige Unruhe, die zu den Berufseigentümlichkeiten der Damen gehörte, sie immer wieder von Sitz und Stand jagte und wie nervöse Käfigtiere sinnlos durchs Zimmer zu laufen zwang. Ludmilla hingegen saß ganz still am militärischen Tisch rechterseits und lauschte mit tiefem Ernst den Ausführungen des Leutnants Kohout, als wolle sie keine Gelegenheit vorübergehn lassen, etwas zu lernen. Niemand konnte ihr etwas anmerken.

Leutnant Kohout vom Feldkanonenregiment Nr. 23 hatte sich mit zwei Einjährig-Freiwilligen derselben Formation hier eingefunden. Zwischen ihnen herrschte die falsche und gefährdete Vertraulichkeit von Vorgesetzten und Untergebenen, die mit aufgehobener Rangordnung an einem Tische sitzen. Die Manöver standen vor der Tür und das drohende Gespenst der Reserveoffiziersprüfung mit ihnen.

Der Leutnant, die wäßrigen Augen starr auf Ludmilla richtend, tröstete die beiden Freiwilligen, die nicht ohne Angst der Zukunft entgegensahen:

»Schaut's, ihr müßt's wissen«, sagte er, des Mädchens Beifallsblick suchend, »ich hab's auch nicht leicht gehabt bei der Fähnrichsprüfung, und ihr habt's doch Schulen und seid's gebildete Leute. Schaut mich da der Herr Oberst von Wurmser scharf an: Kadettoffiziersstellvertreter Kohout! Was wissen Sie von Julius Cäsar? – Ich reiß mich zusamm' und schrei: Herr Oberst, melde gehorsamst: Nichts! ... Zweite Frage: Kadettoffiziersstellvertreter Kohout! Was wissen Sie von Karl dem Großen? – Ich reiß mich schärfer zusamm' und schrei noch lauter: Herr Oberst, melde gehorsamst: Nichts! ... Der Herr Oberst von Wurmser wartet eine Weile und dann kommt's: Kadettoffiziersstellvertreter Kohout! Was wissen Sie von Kaiser Josef? – Da hab ich aber den Herrn Obersten schön hereingelegt. Ich schlag die Hacken zusamm', daß es kracht: Herr Oberst, ich bitte gehorsamst, welcher Kaiser Josef; es gibt derer nämlich zwei!? ... Der Herr Oberst von Wurmser sagt: Schau, schau! Aber ich bin durchgekommen. Seht's ihr also, militärisch muß man sein, nicht zivilistisch, und das ist alles!«

Ludmilla sah den Leutnant teilnahmsvoll-verstehend an. Sie lachte nicht. Ihre Kinderstirn blieb streng und sachlich unter dem schweren Blond, das ihr Gott gegeben. Sie schien mit der strammen Wendung der Anekdote vollkommen einverstanden: Militärisch, nicht zivilistisch! In allem und jedem hatte die straffere Weltordnung ihre Sympathie.

Als einer der Freiwilligen unter dem Tisch ihre Wade zu streicheln begann, ließ sie es geschehn und rückte nur ein wenig zur Seite. Die Kluge wußte genau, daß der militärische Rangunterschied, die gegenseitige Geniertheit der Nicht-Gleichgestellten etwaigen Ansprüchen und Begierden einen Dämpfer aufsetzen würde. Und dies gerade war es, was sie heute brauchte.

Hier jedenfalls fühlte sie sich wohler, als sie sich am Nebentisch gefühlt hätte, wo Ilonka, ›das fette ungarische Luder‹, den beiden Alten sich ›aufdrängte‹. Und was für Leute waren das auch. Der eine kam bestimmt vom Lande, aus einer Gegend, die sie, Ludmilla, ungeschaut, haßte. Eine riesige Uhrkette lag auf seinem Bauch, und man wußte nicht, war der Bauch für die Uhrkette da oder die Uhrkette für den Bauch. Das kannte sie schon. Auch in ihrem verfluchten Heimatnest kam ein Mann erst zu Ansehn, wenn er sich den Bauch für die richtige Lage der Uhrkette angefressen hatte. Ein Baalboth war das!

Dieses dunkeltönende Fremdwort ›Baalboth‹ hatte die Jüdin Jenny eingeführt, eine mythische Vorgängerin der heutigen Damen, die nun in Wien als Besitzerin eines großen Kaffeehauses am Franz-Josefs-Quai lebte. Jenny war das sagenhafte Vorbild aller Tüchtigkeit und Karriere. Kaum ein Tag verging, ohne daß ihre verklärte Persönlichkeit als Beispiel herangezogen wurde. Was aber den Ausdruck ›Baalboth‹ anbetrifft, so hatte er hier die Bedeutung eines reichen Mannes aus der Provinz, der in der Hauptstadt nachtsüber sein Liebesleben ausführlich und gründlich absolviert, im übrigen aber keinen Heller über die Taxe zahlt.

Und an diesen Baalboth schmierte sich das Schwein von Ilonka. Für zehn Gulden war der alles recht. Aber Ludmilla gönnte ihr's, daß nicht einmal diese beiden Onkel – (schämen sollte sich so ein fettherziger Familienvater, ins Puff zu gehn!) – daß einer wie der andre nicht auf sie flog. Der Baalboth spuckte Ilonka nicht an, dagegen sah er sich nach Ludmilla die Augen aus, aber Ludmilla begegnete ihnen nicht einmal mit Verachtung. Für sie waren solche Kunden Luft. Da mocht er seine Stimme noch so sehr anstrengen, um ihr mit seinen aufgeblasenen Ansichten zu imponieren. Und wirklich, der Mißachtete hatte seine Stimme so stark erhoben, daß man sie überall im Großen Salon hören konnte:

»Organisation, Herr Kraus, Organisation«, rief die Stimme, während die dazugehörenden Bettelaugen Herrn Kraus nicht ansahen, sondern um Ludmillas Wohlwollen warben:

»Wenn Sie in den Himmel hinaufschauen, Herr Kraus, was sehen Sie dort? Organisation! Und wenn Sie einen kleinen Ameisenhaufen betrachten? Detto! Der deutsche Bruder im Reich draußen hat es heraus: Organisation in Wirtschaftsleben und Politik ... Aber wir ... in Österreich ...«

Der Baalboth seufzte auf, durch den traurigen Zustand des Vaterlands betrübt und durch die Niederlage seines Werbeblicks aufgewühlt.

Herr Kraus stimmte, völlig überführt, in den Seufzer ein:

»Ja! Gerad dasselbe hab ich heut im Tagblatt gelesen.«

Ludmilla suchte ein Ziel des Wegschauens. Da war der Tisch der Jugend, der in einem gutmütigen Verruf bei den Mädchen stand, denn die Jugend war nur selten kaufkräftig und benutzte den Großen Salon vor allem als stimmungserregenden Tanz- und Diskutierraum. Manja und Anita, die beiden Trampeln, saßen natürlich schon dort und lachten mit seinen Freunden, die eben gekommen waren. Aber Oskar blieb aus, wie er gestern und vorgestern ausgeblieben war; das erstemal ausgeblieben! Ludmilla hätte sich eher aus dem Fenster gestürzt, als daß sie zu dem Tisch gegangen wäre, nach Oskar fragen. Nicht einmal den Gruß der jungen Leute erwiderte sie. Manja lachte jetzt hellauf. Mag sie nur lachen, sie ist und bleibt die Tochter des Totengräbers von Rokycan mit ihren schmutzigen Riesenbeinen, die wohl noch im Vorjahr nackicht hinter den Gänsen des Dorfes her waren. Totengräber? Das kommt gleich hinter Henker und Schinder ...

Da sah Ludmilla lieber zu den Ganzgescheiten in der Ecke hinüber, zu den Juden, die niemals Wein oder Schnaps und immer Kaffee tranken. Dort übte die Berlinerin Grete ihre Macht, die Verrückte. Sie nickte jetzt Greten freundschaftlich zu, eine Liebenswürdigkeit, die unter den Damen nicht geringes Erstaunen hervorrief. Denn soviel Freundlichkeit war man von der Spröden nicht gewöhnt. Zudem war Grete ihrer ›Bildung‹ wegen ein Gegenstand allgemeiner Abneigung. Aber Ludmilla hatte gesehn, wie Grete ihren Doktor Schleißner umarmte und küßte. Und da spürte sie plötzlich eine Art freudigen Neides und hatte der Kollegin ein Zeichen des Einverständnisses senden wollen. Den Schleißner neidete sie ihr selbstverständlich nicht. Wie kann man einen Menschen lieben, der unausgesetzt spricht und spricht, der solch eine Riesennase im Gesicht sitzen hat und seine schwarzen, drahtigen Haare immerfort mit den Fingern dreht ... Was tut dieser Mensch, wenn er nicht spricht? Kann er überhaupt schweigen, schlafen, lieben ... Von Zärtlichkeit hat der keine Ahnung.

Aber Gretes Zimmer war ja auch vollbehängt mit Bildern von Schriftstellern. Und ihr Album mit Gedichten und Unterschriften, das die Unausstehliche den andern Damen immer unter die Nase hielt! Eine Verrückte!

Ludmilla schämte sich jetzt ihrer Freundlichkeit, denn Grete, von einem Ausspruch Schleißners hingerissen, kreischte laut auf:

»Daß so was sterben soll! Daß so'n Kopf wird unter der Erde faulen müssen!«

Es war für Ludmilla eine Erlösung, daß jetzt Fräulein Edith, die Wirtschafterin, hereintrat, den beiden Alten eine frische Flasche Wein brachte und auf den Tisch der Gescheiten das Tablett mit der kleinen Kaffeekollektion für vier Personen stellte.

Der Anblick von Fräulein Ediths warm ausstrahlender Festigkeit hatte immer wieder die Kraft, Ludmilla aufzurichten.

In jeder menschlichen Betätigung gibt es eine natürliche Rangordnung und Anciennität. Was für Leutnant Kohout die Stufe des Regimentskommandanten etwa, das bedeutete für die Damen des Hauses, für die anständigen zumindest, die Stellung der Wirtschafterin. Das Imposante in dem besonderen Fall, Edith war hübsch, nicht alt, keine dreißig, ihre muskulösen und weitläufigen Formen standen im Kurs. Dennoch war sie dienstfrei. Aufforderungen galten für sie nicht, sie konnte dem Ruf des Herzens folgen. Sie allein verwaltete die Geschäftsbücher, die Conti der Pensionärinnen, qualifizierte deren Arbeitswert und hatte zu alledem kontraktlich zwei Abonnementssitze im Neuen Deutschen Theater zugesichert.

Während die Mädchen nur alle vierzehn Tage zu gemeinschaftlichem Vergnügen in eine Sonntagnachmittags-Vorstellung geführt wurden, saß Edith zweimal wöchentlich im Parkett und es war eine eifersüchtig umworbene Ehre, von ihr auf den andern Sitz mitgenommen zu werden.

Ludmilla hatte übrigens bei dieser Gelegenheit – man gab den ›Veilchenfresser‹ – Oskar das erstemal gesehn. Kein Mensch kann behaupten, daß der magere und hohlwangige Anfänger in der kleinen Rolle eines preußischen Offiziers damals gute Figur machte. Sie aber in ihrer Hellsicht hatte sich in den unscheinbaren Jungen verliebt.

Jetzt machte sie sich vom Tisch der protestierenden Artilleristen los und trat zu Fräulein Edith. Die Wirtschafterin nahm sie zärtlich um die Hüfte:

»Der Lump ist wieder nicht gekommen?!«

Ludmilla überwand das Weinen durch ein gepfeffertes Schimpfwort, das ihr sogleich das Herz zernagte. Edith tröstete:

»Dummerl! Das wirst du dir noch abgewöhnen. Was ist ein Mann? Wann er ganz fein ist, ein Hundertkronenschein in Hosen! Und so eine wie du, Du wirst ihm doch nicht die Wurzen abgeben! Schäm dich!«

»Was soll ich aber tun, Edith, wenn einer mit mir gehn will ...«

Edith war zu allem bereit. Um Ludmillas willen wollte sie als ›Diensthabende‹ ein Aug zudrücken:

»Weißt du was, Miltschi«, flüsterte sie, »ich deck dich! Geh hinauf und sperr dich ein!«

Ludmilla aber stampfte auf:

»Jesusmaria! Ich kann nicht. Ich halt's ja nicht aus oben ...«

Edith beruhigte, aber schon mit geteilter Aufmerksamkeit:

»Kenn ich alles, hab das alles durchgemacht, Liebling ... Hat es mir geschadet? Schau mich an und spuck darauf!«

Hier unterbrach die Wirtschafterin das Gespräch. Es waren immer mehr Gäste gekommen und der Große Salon war voll. Auch aus dem blauen Zimmer schallte Klirren und Gelächter herüber. Doch etwas war nicht in Ordnung. Fräulein Edith entrüstete sich und ihre tiefe Stimme drohte: »Wo ist denn der Nejedli?«

Aber der Herr Nejedli war im selbigen Augenblick aufgetaucht und machte den versammelten Herren sein Kompliment:

»Bitte ringsumseits um Verzeihung. Aber ich war zu einem Kinderball engagiert. Hat sehr lang gedauert. Bis jetzt! ...«

Der strenge Blick der Wirtschafterin ließ sich nichts vormachen. Nejedlis Hand tastete eifrig und schuldbewußt über dem Boden:

»So kleine Kinderln, sag ich Ihnen, Fräul'n Edith, lauter herzige Kinderln ...«

Und schon eilte der alte Mann ans Klavier und begann, damit die Stimmung kühner werde, den ›Gladiatorenmarsch‹ von Fucik zu trommeln.

III

Herr Nejedli, der Klavierspieler, besaß vier bezeichnende Eigenheiten, erstens trug er ein Katerl auf dem Kopf; so nennt man nämlich eine leichte Scheitelperücke, die in diesem Falle in offenbarem Farbwiderspruch zum Randhaar ihres Besitzers stand. Das Katerl war kastanienbraun, das Randhaar aber schneeweiß. – Wer kann schließlich von einem im Nachtgeschäft tätigen Klavierspieler fordern, daß er sich für jedes Stadium des Ergrauens den entsprechenden Haarersatz anschaffe?

Die zweite Eigenheit war schon bedenklicher. Sie lag in der sehr zusammengesetzten Duftaura, welche Herrn Nejedli umgab und die aus den Gerüchen von fetter Pomade, Anisetteschnaps und Alter gemischt war.

Die dritte Eigenheit bestand in der abwechslungsreichen Darstellung von Unglücksfällen, denen Nejedlis Tochter Rosa zum Opfer gefallen sein sollte. Die Tragik dieser Unglücksfälle steigerte sich jeweils mit dem Alkoholgenuß. Niemals hatte ein bejammerungswürdigeres Geschöpf gelebt als jene Rosa, von der durchtriebene Seelenkenner behaupteten, daß sie wirklich geblüht habe und nicht nur Ausgeburt und Fabelwesen des Rausches sei ...

Ob und was sie auch immer gewesen sein mag, im Munde ihres Vaters war sie heute an der Tuberkulose elend verstorben, gestern hatte sie sich aus dem Fenster gestürzt, ein andermal mußte eine Eisenbahnkatastrophe herhalten, um ihr den Garaus zu machen. Jedesmal aber flossen die Tränen wahrhaftiger und tiefer Erregung über die Wangen des Erzählers.

Das wichtigste Charakteristikum Nejedlis jedoch lag in der Tatsache, daß er als achtjähriger Knabe an der Exhofhaltung Kaiser Ferdinands des Gütigen oben auf dem Hradschin ›k. k. Titularwunderkind‹ gewesen war, wie er den außergewöhnlichen Rang selber bezeichnete. Im Hinblick auf solch strahlende Vergangenheit wurde er oft und gerne aufgezogen.

Auch jetzt trat Doktor Schleißner, der es liebte, hier den Eingeweihten und Fremdenführer zu spielen, an das Klavier und stellte einen langen düster-würdigen Menschen vor:

»Darf ich die Herren bekannt machen? Unser großer Virtuose Nejedli, Herr Präsident Morè ...«

»Keine Namen, wenn ich bitten darf!«

Der Düstere flüsterte das mit schmerzdurchzuckter Miene, als wäre ihm einer wuchtig auf den Fuß gestiegen.

Schleißner bat um Entschuldigung:

»Vergessen Sie den Namen, Nejedli! Aber vergessen Sie nicht, daß hier der Herr Präsident der Spinoza-Gesellschaft und Ordensmeister der ›Söhne des Bundes‹ vor Ihnen steht.«

Der alte Nejedli sprang auf:

»Habe die Ehre, Herr Präsident! Kenn schon den Herrn Präsidenten ergebenst. Habe die Auszeichnung gehabt, Herrn Präsidenten gestern bei Funus des Herrn Kaiserlichen Rates Habrda ...«

Morè schnitt die Begrüßung ab. Er liebte es nicht, an Leichenbegängnisse gemahnt zu werden, die mit seinem Lebenserwerb, dessen Art er gern verbarg, in Beziehung standen. Um es rund heraus zu sagen, der Präsident der Spinoza-Gesellschaft war in die Listen der Handelswelt als ›Grabsteinagent‹ eingetragen. Er vermittelte zwischen den Trauernd Hinterbliebenen, der Denkmalsunternehmung und dem bürgerlichen Nachruhm der Verstorbenen. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß die Fülle der Ehrenämter einerseits, der geschäftliche Umgang mit dem Tode andererseits den gehaltenen Ernst und den priesterlich langen Rock des Präsidenten auf dem Gewissen hatten.

Hier an diesem Ort schien er das erstemal anwesend zu sein. Er führte langsam ein nicht entfaltetes Taschentuch an den Mund. Mit dieser ungenügenden, aber symbolischen Gebärde wollte er wohl andeuten, daß ein Mann wie er in solcher Umgebung gut daran tue, seine stadtbekannten Züge ein wenig zu verbergen.

Doktor Schleißner aber wollte dem Präsidenten etwas bieten und wandte sich an den Klavierspieler:

»Wie war das mit Kaiser Ferdinand dem Gütigen, Nejedli, und mit Ihren Konzerten?«

Der Alte duckte sich ängstlich über die Tasten:

»Mir scheint, meine Herren, Sie wollen mich mit Hochverrat und Majestätsbeleidigung hereinlegen. Lauter Balmechomes sitzen im Salon ...«

Morè sandte einen finsteren Blick aus.

Nejedli beeilte sich:

»Balmechome, Herrn Präsidenten zu dienen, nennen die Herren Israeliten alle Mannschaften und Gagisten im aktiven Militärverhältnis.«

Schleißner beruhigte:

»Erstens kann Sie niemand hören und zweitens weiß doch kein Mensch, wer Kaiser Ferdinand war.«

Nejedli erklärte eifrig:

»Aber das ist doch der gottselige Onkel von unserm Kaiser. Sie haben ihn anno 48 in Olmütz abgesetzt. Noch wie heute denk ich ihn. In der Burg oben hat er residiert und mit einem Prachtzeugel – Lipizzaner Schimmel natürlich – ist er täglich nach Baumgarten oder in den Canalischen Park spazieren gefahren.«

Die tiefe Rednerstimme des Präsidenten Morè fragte:

»Und war er wirklich gütig?«

Bei diesen Worten nahm das feierliche Gesicht den geschmeichelten Ausdruck eines dynastisch empfindenden Mannes an, dessen Gedanken mit Rührung einer allerhöchsten Person nahen.

Nejedli verdrehte geheimnisvoll die Augen:

»Gütig war er nicht, aber narrisch war er.«

Schleißner munterte auf:

»Sie haben doch als Wunderkind Konzerte in der Burg gegeben. Wie war denn das?«

Nejedlis knotenreiche Finger versuchten sich in einem perlenden Lauf:

»Sie können es mir ergebenst glauben, Herr Doktor, ich war ein gesuchtes Wunderkind. Konzertiert hab ich im spanischen Saal. Der ganze P. T. Hochadel war anwesend, Hof und Gesellschaft. Also hier ist Seine Erlaucht, der Herr Graf Kolowrat gesessen und dort Ihre Durchlaucht, die Fürstin Lobkowitz. Ich seh sie vor mir, als wär es heut. Eine Schönheit, auf mein Wort! Und dann Seine Exzellenz, der Herr Statthalter von Böhmen, und der Herr Korpskommandant Graf ... Graf ... Fixlaudon ... Wie hat er nur geheißen? ...«

Doktor Schleißner drängte neugierig vorwärts.

Nejedlis Finger perlten den Lauf zurück:

»Damals, meine Herren, hab ich ein Gedächtnis gehabt und Fingerln, das kann ich untertänigst sagen. Mein ganzes Programm hab ich auswendig herunterkonzertiert: ›Die Abendglocken‹, ›Mon souvenir‹, ›Ouverture zu Wilhelm Tell‹ und ›Arrangement aus der Oper Die Jüdin‹. Ja, ja, heut kann ich nur wenig auswendig spielen und von Noten gar nichts mehr, wegen der maroden Augen. Ausgeweint hab ich mir die Augen. Herr Doktor wissen, seitdem ich das Unglück mit der Roserl gehabt hab ...«

Doktor Schleißner brachte den Erzähler schnell und behutsam wieder auf sein Thema zurück. Nejedlis Hände zerklopften ein Musikstück, während er weiter berichtete:

»Also, meine Herren, ich hab damals wirklich gut gespielt. Hof und Gesellschaft applaudieren und verlangen da capo. Die Damen schauen mich ganz gerührt durchs Lorgnett an. Auch seine Majestät der Kaiser kommt applaudierend auf mich zu. Bravo, bravo, ruft er dabei und ich kleiner Bub will mein Buckerl machen und ihm die Hand küssen. Er fangt auch wirklich sehr lieb an, mich zu streicheln. Aber so wahr ich hier bin, auf einmal reißt es ihm in der Hand und er haut mir eine Watschen herunter ...«

In des Präsidenten Augen zuckte es dunkel. Nejedli aber fuhr milde-lächelnd fort:

»Ich will nichts gegen Seine Majestät gesagt haben. Der Kaiser hat ja nichts dafür können. Ich hab genau gespürt, wie er sich gegen die Watschen gewehrt hat, die ihm in der Hand saß. Das Watschen war halt eine Eigenartigkeit von ihm. Sein Adjutant, der Herr Feldzeugmeister Graf Kinsky, hat ihm bei der Ausfahrt immer die Händ' festgehalten, denn man konnte ja nicht wissen. Sie fahren über die Steinerne Brücke. Dort steht der goldene Herrgott, den ein Jud hat bezahlen müssen, weil er vor dem Allerheiligsten nicht den Hut gezogen hat. – Ich will damit ergebenst nichts gegen die Herren Israeliten vorbringen. – ›Laß mich aus, Exzellenz‹, sagte Seine Majestät zum Adjutanten. Der aber hält nur noch fester des Kaisers Hände zusamm'. Seine Majestät bittet immer schöner: ›Laß mich aus, Exzellenz, ich muß mich ja bekreuzigen!‹ Da kann der General vorschriftsmäßig laut Exerzierreglement nicht anders und muß die allerhöchsten Händ' loslassen. Und schon hat er eine sitzen!«

Doktor Schleißner war über diese Geschichten hochentzückt. Sein Freund hingegen, der Grabsteinagent und Präsident Morè, schien weniger erbaut. Unter der Maske harmloser Anekdoten verbarg sich insgeheim subversive Gesinnung und tschechoslawischer Hochverrat gegen das Kaiserhaus, dem er treu anhing.

Nejedli verjagte jetzt Anita und Manja vom Klavier.

»Gehts weg, Madeln! Gleich werd ich euch etwas zum Tanzen spielen.«

Dann wandte er sich an Schleißner:

»Kennen Herr Doktor die Volkshymne, die man zu Zeiten des gottseligen Kaisers Ferdinand in Wien gespielt hat?«

Und er sang ganz leise, sich nur mit dem Baß begleitend:

»In Schönbrunn
       Sagt er,
Lebt ein Aff
       Sagt er,
Hat ein G'sicht
       Sagt er,
Wiar a Pfaff
       Sagt er,
Frißt kan Zucker
       Sagt er,
Trinkt kan Wein
       Sagt er,
Welcher Aff
       Sagt er,
Kann das sein?«

Der Klavierspieler schaute dem Präsidenten Morè mit traurigem Kopfschütteln in die Augen:

»Ein freches Volk das, die Wiener! Überhaupt Kaisertreue, die findet man ergebenst nur bei uns.«

»Was singen Sie da? Lauter, bitte!« rief Leutnant Kohout Nejedli an.

Der aber nahm stramm Stellung:

»Herr Leutnant, melde gehorsamst, ein alter Schlager, der Herrn Leutnant nicht interessieren wird.«

Der Leutnant bestätigte das:

»Ich hab nur die allerneuesten Schlager gern. Also, Nejedli, spielen Sie etwas Fesches!«

Daraufhin begann Nejedli mit seinen Gichtfingern einen Walzer aufs Klavier zu dreschen, der schon mindestens zehn Jahre alt war. Die Damen tanzten, zumeist miteinander. Nur Grete hielt Doktor Schleißner, den sie hoch überragte, schwelgerisch im Arm.

Ludmilla stand in der Tür und wandte allen den Rücken zu.

IV

Mit einem Mal waren die Mädchen aus dem Großen Salon verschwunden. Man konnte Fräulein Edith eine Meisterin in solch unauffälligen Truppen-Verschiebungen nennen.

Es schienen illustre Gäste angekommen zu sein, Gäste, die in einen noch abgeschiedeneren Raum, als es der Blaue Salon war, geführt zu werden pflegten. Dieses Gesellschaftszimmer, dessen Existenz wir noch nicht verraten haben, wurde das Japanische Separee genannt und lag zwei Türen weit rechts vom Hauseingang im Flur.

Es war dafür gesorgt, daß dieser Flur des Hauses würdig sei und die Wünsche des Gastes nicht etwa erkälte, sondern steigere. Dem Eintretenden schlug auch, sowie ihm die Türhüterin geöffnet hatte, eine überhitzte Wärmewelle entgegen und ein Duft, dessen Eigenart er sein Lebtag nicht wieder vergessen sollte. Nach heißem Badewasser roch es, in das man Parfüm geschüttet hatte, nach Seifenschaum, nach Vaseline, Hautcreme, Schminke, Schweiß, Alkohol und scharfgewürzten Speisen ...

Nicht lange konnte es verborgen bleiben, daß hochgestellte Persönlichkeiten das Japanische Separee bezogen hatten. Herr Doktor Schleißner war mit scharfen Ohren begabt, denen nicht nur der Donner von Fiakern in den engen Gassen, sondern auch selbstbewußtes Sporenklirren unten im Flur aufgefallen war. Zudem sagte das Verschwinden der Mädchen alles. Schleißner kombinierte sicher: »Fürstlichkeiten von den Brandeiser Dragonern!« Morè machte ein undurchdringliches Gesicht. Er sah drein als hätte er es nicht nötig zu kombinieren, da ihm der Name jener Persönlichkeiten, die eben eingekehrt waren, längst bewußt sei; Indiskretion aber wäre seine Sache nicht.

In damaliger Zeit gab es noch nicht die riesigen Tanzpaläste, welche heute die Nacht der Großstädte beherrschen. Sehr beschränkt war die Zahl der ›Tabarin‹, ›Maxim‹ und ›Alhambra‹. Daher kam es vielleicht, daß der Besuch dieses Hauses in der Gamsgasse wenig Diffamierendes hatte. Offiziere konnten ruhig in voller Uniform erscheinen, öffentliche Funktionäre mußten, wenn sie sich zeigten, keines Tadels gewärtig sein, hohe Gäste bedeuteten keine Außergewöhnlichkeit. Historische Gemüter erklärten diesen Freimut damit, daß im Kriegsjahr 1866 die preußische Generalität im Blauen Salon einige Siegesfeiern abgehalten und damit dem ganzen Hause eine besondere Weihe gegeben hatte.

Die Damen kehrten sehr bald in den Salon zurück. Nur Anita, Valeska und der Polin Jadwiga war das Glück zuteil geworden, von den eleganten Kömmlingen ins Vertrauen gezogen zu werden. Grete schimpfte:

»Ungezogene Bengels!«

Sie warf sich wieder in die bereitwilligen Arme ihres Doktors Schleißner. Erstaunlich aber war es, daß Ludmilla zurückkehrte, sie, die Krone, die kindliche Schönheit des Hauses. Hoffentlich hatte es keine der Kolleginnen bemerkt, daß sie von Edith, die aus eigener Erfahrung ihren Roman nachfühlen konnte, an einem intimen Ort versteckt und gegen die Herren verleugnet worden war.

Ludmilla ging mit ihren stechend-entschlossenen Schritten durch den Raum und machte Miene, sich wieder an den ungefährlichen Tisch der Artilleristen zu setzen, als der Baalboth, jener dröhnende Gast mit Bauch, Uhrkette und Organisation, sich schwer erhebend, zu ihr trat und die ungeschickte Tanzkränzchenverbeugung eines angejahrten Kleinstädters vollführte:

»Mein Fräulein, darf ich mich nach dem werten Befinden erkundigen?«

Er sagte das und auf seiner Stirn stand Schweiß der Gier, der Selbstüberwindung und die säuerliche Verlegenheit eines schlechten Gewissens. Ludmilla maß ihn von oben bis unten, wie etwa eine treue Ehefrau den Mann, der sie auf der Straße anspricht, abblitzen läßt, machte ›Pah‹ und setzte sich an ihren früheren Platz. Der Gedemütigte lastete schwer und einsam auf dem spiegelnden Tanzparkett. Dann trat er mit großen Füßen, die sich ihres Knarrens schämten, zurück, aber in seinen erstarrten Augen war nicht allein Betretenheit zu lesen.

Niemand hatte diese Szene bemerkt, denn von der Tür her krähte eine hohe und schleppende Stimme:

»Ihr seid mir ein traut's Kind, ihr alle miteinander!«

Der Besitzer dieser schleppenden Stimme und eines noch weit schleppenderen Körpers wurde mit Händeklatschen und lebhaftem Zuspruch begrüßt. Es war niemand anderer als der Herr und Chef dieses Hauses, Max Stein, eine merkwürdige und beliebte Erscheinung, von allen Freunden des Ortes ›Maxl‹ genannt.

Man behauptet allgemein, daß ›Decadence‹ das Zeichen der späten Sprößlinge überzüchteter Familien und Adelsgeschlechter sei. Maxl entstammte wohl einer alten Familie, doch ein Adelsgeschlecht konnte man sie kaum nennen. Was aber die Decadence anbetrifft, darin gab er den Spätlingen fürstlicher Rassen in nichts nach.

War das Haus in der Gamsgasse auch kein Ritterschloß, so besaß es doch eine uralte Geschichte und mehr als das, eine eigene Sagenwelt.

Hieß nicht heute noch ein Gäßchen der Neustadt ›die unbefohlene Gasse‹? Karl der Vierte, ein Städtebauer höchsten Ranges, hatte im Zorn die Gasse also getauft, weil sie in seinem Stadtplan nicht vorgesehen und eingezeichnet war. Aber den Auftrag zum Bau eines Lunaparks soll er höchstselbst erteilt und den Platz eigenhändig im Entwurf vermerkt haben. Nicht genug rühmenswert ist die politische Umsicht dieses großen Herrschers, hatte er doch, um der beginnenden Ketzerei und der neuen puritanischen Bewegung einen Riegel vorzuschieben, den Buhldirnen und Nachtlokalen einen der reizvollsten Bezirke der Kleinseite eingeräumt und ihn nach der Venusstadt ›Venedig‹ genannt. Der wahre Herd der wachsenden Häresie war aber nirgend anders zu suchen als in der neugegründeten Universität, welche, die erste auf dem Boden des heilig-römisch-deutschen Reiches, weithin strahlte. Es ist kein unziemender Schluß, wenn wir annehmen, daß des Kaisers fromme Majestät den Großen Salon in nächster Nachbarschaft der Universität zu keinem andern Zwecke erdacht hatte, als um hochmütige und asketische Ketzer zu Fall und damit zur Besinnung zu bringen. – Es führten ja, wie eine Baukommission feststellen konnte, unterirdische Gänge von der Gamsgasse ins Karolin-Gebäude. Hier hatten schon Studenten in Wams und Koller gezecht. Und selbst ein Wallenstein war während seiner Hofhaltung in der Hauptstadt des öfteren im Großen Salon – man darf den Quellen trauen – zu flüchtigem Genusse eingekehrt.

Alte Unternehmungen besitzen denselben geheimnisvollen Wert wie alte Weine und alte Geigen. Da konnte die Konkurrenz ihren Firmen die schönsten Titel geben, was nützte es ihr, daß sie sich ›Napoleon‹ nannte, sie durfte doch nur Pofel und Pöbel beherbergen.

Seit langen Zeiten war dieses Haus, diese Erbschaft schon in Besitz und Verwaltung der Familie Stein. Die Großmutter, gebürtige Busch, eine ortsbekannte Wohltäterin, hatte das Etablissement als Heiratsgut in die Ehe mitgebracht; aber Maxls Urgroßvater schon hatte, von einer hohen Polizei privilegiert, den Charakter eines öffentlichen Wirtes geführt. Nun konnte Herr Maxl in der Tat als ein ›Letzter‹ gelten.

Seine Eltern waren gestorben. Seinen Bruder, den Herrn Adolf, hatte man vor ein paar Jahren hier noch wirtschaften sehn. Das aber war ein trockener, unleidlicher Patron, der, wenn es im Großen Salon lustig und resultatlos zuging, verdrossen erklärte: »Machts keine Theaters und gehts auf die Zimmer!« Ein derart nüchterner Ton konnte sich in diesen romantischen Räumen nicht halten. Adolf mußte erfreulicherweise aus äußerst zwingenden Gründen nach Amerika abwandern. Und nun hatte Maxl niemand andern als Edith. Aber Edith war eine feste Frau, hielt das Ganze prachtvoll zusammen und konnte auch, was die Ehrlichkeit anlangt, als Juwel gelten.

Maxl nahm den Applaus, der ihn empfing, gleichgültig entgegen. Sein kindisch-vergreistes Gesicht, dessen Alter niemand hätte bestimmen können, war ganz gelb. Auf einer knolligen Stupsnase saß der schiefe Zwicker, und eine willenlose Unterlippe hing wie ein Lappen übers Kinn. Der Mensch war so schwach und abgezehrt, daß ein Fremder nicht begriffen hätte, warum ihm soviel Heiterkeit und so wenig Mitleid entgegenscholl. Denn als er mit erbarmungswürdigen, knieweichen Schritten zum Klavier schob, um sich auf seinen Lieblingsplatz, die Bank neben Nejedli zu setzen, bekam er von allen Seiten die boshafte Aufforderung zu hören:

»Maxl, erzähl uns einen neuen Witz!«

Maxl wehrte sich:

»Laßts mich aus! Heut erzähl ich nichts. Ich bin so müd. Ich bin müd zum Schlafen ...«

Das wäre Künstlereitelkeit. Man ließ sie nicht gelten. Maxl wandte sich an seinen Freund, den Klavierspieler:

»Nejedli, sie sollen mich heut nicht wurzen. Ich bin wirklich müd. Falsch geschlafen hab ich ...«

Aber er fand auch an Nejedli keine Unterstützung. So begann er denn mit einer kranken und trägen Stimme:

»Zwei Juden gehen auf der Gasse. Da kommt ein fesches Weib daher. Sagt der eine, die möcht ich wieder haben. Der andre ...«

Maxl unterbrach seine Anekdote und sah angestrengt in die Luft. Dann schloß er:

»Die Pointe hab ich vergessen.«

Und er meckerte in das Gelächter der Korona hinein:

»Gut?! W-a-a-s?«

Ihm ward aber keine Ruhe gegönnt. Denn, von Doktor Schleißner aufgestachelt, stand jetzt der düstere Präsident Morè auf und begab sich mit nickenden Würdeschritten zum Klavier:

»Ich habe die Ehre, mein Herr! Wollen Sie uns nicht gütigst ein Lied zum besten geben?«

Maxl starrte entsetzt die schwarze Erscheinung an:

»Sie schauen aus, Herr Präsident, wie Melech ha mowes, der Todesengel!«

Der Todesengel ließ sich nicht abschrecken. Maxl, der eine eitle Künstlerseele sein nannte, wand sich:

»Du weißt, Nejedli, daß ich nicht bei Stimme bin. Ganz indisponiert bin ich ...«

Der Präsident ermutigte:

»Sie müssen ja nicht ›Holde Aida‹ singen!«

Der Herr des Hauses wurde schwach:

»Was also soll ich singen?«

Die Schlagernamen jener Zeit tönten durcheinander: ›Am Manzanares‹, ›Die Dessous‹, ›Sigismund‹, ›Da könnt' man weinen wie ein kleines Kind‹.

Maxl wählte gerade jenes Couplet, dessen dickflüssige Musik ein kräftiges Organ und leidenschaftlichen Vortrag beanspruchte. Er verständigte Nejedli, räusperte sich minutenlang und aus seinem faltigen Hälschen, das sich spannte, stieg eine leise und quäkende Stimme empor. In dieser Stimme schwang uraltes Mißbehagen, zur weinerlichen Gleichgültigkeit ermüdet. Und die weinerliche Gleichgültigkeit sang, sich immer wieder verhaspelnd:

»Er wühlt in der Flut ihres goldblonden Haares,
Ihm lächelt ihr Auge, ihr klares,
Komm mit mir, du Weib wunderbares
Zum Manzanares, zum Manza ...«

Da begann der große Kopf auf dem dünnen Halse plötzlich zu schwanken und von der knolligen Nase fiel der Zwicker klirrend zur Erde. Maxl kroch zum Gaudium aller wütend unters Klavier und kam erst nach langem Suchen, jammervoll echauffiert, zum Vorschein. Sein gelbes Gesicht war schweißübergossen. Er zeterte:

»Jetzt aber hab ich genug! Weil ihr stier seids, soll ich roboten. Da will ich lieber ein schlechtes Geschäft machen. Edith, eine Runde Kognak! Und du, Nejedli, spiel ...«

Nejedli erhob sich und kündigte an:

»Ich werde den Herrschaften die herrliche Arie aus der herrlichen Oper ›Die Jüdin‹ zum besten geben.«

Ludmilla, die für ›traurige Musik‹ immer zu haben war, trat ans Klavier.

Maxl, mit dieser Klientin zufrieden, lallte:

»Setz dich mir auf den Schoß, Miltschi!«

Ludmilla aber gab die solide Frage zurück:

»Warum, Herr Maxl?«

Da prüfte sie der Kenner mit Zärtlichkeit von Kopf zu Füßen und stellte den prophetischen Befund:

»Dir, Schikse, wird man auch noch einmal gnä' Frau sagen müssen!«

Nun aber donnerte Nejedli los und sang dazu:

»Großer Gott, hör mein Flehn,
Hör mein Flehn, großer Gott,
Gib mein Kind mir zurück,
Gib mir Recha, mein Kind!«

»Rosa, Rosa«, korrigierten die Eingeweihten. Nejedli aber schielte giftig über seine Brillen hinweg, ehe er auf verbotenen Umwegen zu Offenbachs Barcarole hinüber modulierte:

»Süße Nacht, du Liebesnacht,
O stille mein Verlangen!«

Maxl begann unruhig zu werden, rutschte auf seinem Sitz, hielt sich die Ohren zu und plärrte auf:

»Aufhören, Nejedli! Das kann ich nicht aushalten. Da muß ich weinen wie ein kleines Kind.«

Die nun auch von andern Spendern mehrfach wiederholte Kognakrunde hatte ihre Wirkung getan. Die stumpfe Begeisterung und rhythmische Konfusion solcher Stunden fuhr in den Salon. Die meisten Damen hatten sich der dezenten Umwürfe entledigt und tanzten im Hemd. Der Lärm steigerte sich, von einem literarischen Zwist, der plötzlich ausgebrochen war, wesentlich genährt. Zu dem Tisch der Ganzgescheiten, an dem Grete, Schleißner und Morè saßen, war ein neuer Mann gestoßen, der Statthaltereikonzipist und Dichter Eduard von Peppler. Dem Unglücklichen war das schwere Lebensschicksal zugeteilt worden, die geregelten Pflichten der neunten Rangsklasse mit den verruchten Pflichten eines satanistischen Poeten zu verbinden. Man konnte ihn am besten einen dem k. k. Statthaltereipräsidium detachierten Baudelaire nennen. Herrn von Pepplers Blut geriet durch die Anwesenheit eines jüngeren Schriftstellers am Tisch der Jugend in Siedehitze. Der strebsame Knabe nämlich hatte schon einige Erfolge zu verzeichnen. Peppler schrie, seine Generation hätte das Leben machtvoll gesucht und die Syphilis gefunden, diese neue feige Jugend suche das Leben nicht machtvoll, finde aber Verleger. Er parierte blutrot das ironische Gelächter der jungen Generation:

»Ihr seid Bürger! Ihr seid Gemüselyriker! Ihr seid Schiffbrüchige am häuslichen Herd! Pfui, Hausmannskost!« Der Wütende ergriff rechts und links Morès und Schleißners Kognakglas und trank beide leer.

Nun aber wollte Doktor Schleißner seinerseits nicht zurückbleiben. Auch er sprang auf und behauptete, daß andere Zeiten kommen müßten, daß die Menschheit zum größten Teil aus ›Verdrängern‹ bestehe und daß im Verdrängen, in der schlechten sexuellen Verdauung das Weltübel liege. Es gäbe nur ein Ziel, die erotische Befreiung!

Um gleichsam mit dieser Befreiung den Anfang zu machen, begann er, ungeachtet der Entsetzensblicke des Präsidenten, jenes Lied anzustimmen, das er die ›Bundeshymne‹ nannte und das leider mehr obszön als witzig war:

»Solang der Arsch in die Hosen paßt,
Wird keine Arbeit angefaßt ...«

Es muß gesagt werden, daß diese Behauptung im Munde des Sängers Lüge und blanke Renommage bedeutete. Denn der Teilhaber einer stadtbekannten Anwaltskanzlei, Doktor Julius Schleißner, war ein pünktlicher und fleißiger Arbeiter, der außer seinem juristischen auch noch politischen und schöngeistigen Ehrgeiz nährte. Während des laufenden Jahres hielt er sogar in den Ausstellungsräumen des Klubs freier Künstlerinnen einen Vortragszyklus unter dem anregenden Titel: ›Der französische Immoralismus von Stendhal bis Andre Gide‹. Nach den Vorträgen pflegte in denselben Räumlichkeiten stets ein Tango-Kursus stattzufinden, und der Künder des Immoralismus beteiligte sich mit feierlichem Ernste an den schmachtenden Verrenkungen dieses Tanzes. Präsident Morè hingegen war weder ein Freund des Tango, noch auch des französischen Immoralismus, und am allerwenigsten ein Freund von nackten Zoten. Er war ein bewährter Goetheaner. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, in den verschiedensten Ausgaben von Faust I und II Druckfehler, Stilvergehungen, Versschlampereien und Gedankenwidersprüche zu erbeuten. – Jetzt aber, durch das schamlose Lied Schleißners verletzt, hielt er verlegen den Kopf gesenkt.

Während alles schwankte und lärmte, saß Herr Maxl still und verfallen neben Nejedli, dessen gelenkstarre Finger bewußtlos und ohne Erbarmen die Tänze zerhackten. Der Klavierspieler lauschte während seiner Arbeit der knautschenden Rede des Brotherrn.

»Du, Nejedli, du mußt wissen, ich schlaf nämlich sehr schnell ...«

Nejedli nickte, daß er begriffen habe.

Maxls Miene aber zeigte den leisen Schmerz eines Mannes, der eine besondere Feinheit nicht deutlich zu machen vermag:

»Das mußt du richtig verstehn, Nejedli. Man kann langsam schlafen, man kann gewöhnlich schlafen, man kann schnell schlafen und man kann sehr schnell schlafen. Weißt du, mein Lieber, was man in einer Viertelstunde alles zusammenschlafen kann ...«

Nejedli grunzte zustimmend, aber der Ausdruck seines Verständnisses war nicht überzeugend. Da ging über Maxls Erscheinung ein Schauder hin, ein Fieberschleier, wie eine kaum merkliche Bewegung über trübe Wasserspiegel geht. Seine Augen stierten:

»Du wirst es mir nicht glauben, Nejedli. Aber so wahr ich lebe, vorhin hab ich in einer Stunde zehn Jahre zusammengeschlafen, und davon bin ich so müd ...«

In diesem Augenblick verließ der Baalboth mit knarrenden Stiefeln den Raum. Die Stimmung behauptete noch immer rauschend ihre Höhe. Eine Minute später trat Fräulein Edith in den Salon und begann eifrig mit Ludmilla zu verhandeln.

V

Es gehörte im Gegensatz zu einem vulgären Etablissement wie Napoleon zu den guten Gepflogenheiten des Hauses, daß die Liebesverabredungen nicht schamlos vor allen Augen erfolgten. Die Herren empfahlen sich zum Schein von ihrer Gesellschaft, gaben unbemerkterweise Edith die Dame ihrer Wahl kund, und die Wirtschafterin vermittelte unauffällig die Schäferstunde, nicht ohne vorher bei zweifelhaften oder unbekannten Gästen die übliche Geldsumme einverlangt zu haben. Doch muß sogleich gesagt werden, daß letzteres nur höchst selten vorkam, denn hier verkehrte ja ausschließlich erste Gesellschaft. Fremde tauchten fast niemals auf, und vor allem war Fräulein Edith Menschenkennerin, die sich auf ihren sicheren Blick verlassen konnte. Ebenso selten – auch diese Tatsache steht im lebhaften Gegensatz zur niedrigeren Klasse ›Napoleon‹ –, ebenso selten gab es Skandal. Natürlich herrschte unter den Pensionärinnen Parteiung, Zwistigkeit, Haß, aber ein ungeschriebenes Gesetz forderte, daß zumindest während der nächtlichen Amtsstunden Freundschaft und Frieden gehalten werden müsse.

Um so unerhörter war's, was sich jetzt ereignete. Vor der offenen Tür des Großen Salons erhob sich mit einem Mal ein widerwärtiger Lärm. Die hohle Bierstimme des schwerfälligen Kleinstädters dröhnte, und immer ungemäßer, immer lauter wurde sie für das alte und schon gebrechliche Haus. Zuerst blieb ihr aufbegehrender Schall allein; aber die guten Manieren der Mädchen durften nicht endlos ermüdet werden, denn schon nach kurzer Weile peitschten kreischende Weiberstimmen in den schimpfenden Baß hinein.

Wer den sensationslüsternen Auflauf gesehen hat, der sich auf der Straße zusammenrottet, wenn ein altes, todmüdes Pferd niederstürzt, wird ermessen, mit welch süchtiger Neugier hier, an solchem Ort, zu solcher Stunde, alles zusammenlief, um einen schamlosen Krach zu genießen. Selbst die Insassen des Blauen Salons steckten schadenfroh erregte Grimassen durch die Portiere.

Die Sache war die: Der alte Agrarier mit der Riesenuhrkette hatte nach Brauch und Fug Ludmilla bei Fräulein Edith zum Dienst bestellt. Vergebens gebrauchte Edith die besten Ausreden, machte die schönsten Gründe geltend, ihre junge Freundin vor der unerwünschten, ja verhaßten Episode zu bewahren. Im stillen verwünschte die Wirtschafterin Oskars Untreue. Unglückliche Liebe allein brachte die Damen auf Abwege, war der Anlaß aller Disziplinlosigkeit und Pflichtversäumnis. All ihr Scharfsinn aber half nichts. Der Baalboth war nicht nur gerieben, sondern höchst verstockt und boshaft. Trotz des Beleidigten regierte ihn. Edith sah keinen Ausweg mehr und mußte Ludmilla stellig machen. Die aber sagte dem Baalboth mit ihrer kältesten Gleichgültigkeit rundheraus ins Gesicht, daß es ihr nicht einfallen werde, seinen Wünschen Folge zu leisten. Damit war der Skandal ausgebrochen.

Der wütende Kleinstädter hatte sich bis zum Treppenabsatz zurückgezogen und hielt sich mit der rechten Hand an der goldbronzierten Venus fest, die als Wahrzeichen des Hauses dort postiert war. (Eine halbe Treppe tiefer stand, nicht minder vergoldet, der Trompeter von Säckingen, hatte aber nicht als Wahrzeichen zu gelten.) Die Mädchen keiften durcheinander, die Gäste lachten und die Stimme des Erniedrigten rief unausgesetzt, durch keine Vorhaltung Ediths zu beschwichtigen, nach dem Besitzer.

Endlich schleppte sich, von Nejedli gefolgt, Herr Maxl herbei; und es muß gesagt werden, daß er trotz Totenblässe, Körperschwäche und Zungenschlags sich nicht allein geistesgegenwärtig, sondern als ein ritterlicher Vorstand seiner Damen benahm.

Der Baalboth schrie ihm entgegen:

»Herr Besitzer! In was für einem Haus bin ich hier?«

Maxl lallte:

»Edith, geh hinunter und bring die Hausnummer mit!«

Damit ließ der Wütende sich nicht irre machen:

»Wenn ich in einen Bäckerladen gehe und eine Semmel kaufen will ...«

Maxls mattes Quäken unterbrach ihn:

»Gehen Sie in einen Bäckerladen und kaufen Sie eine Semmel!«

»Wie meinen Sie?«

»Wie soll ich meinen?«

Der Baalboth zwang jetzt seinem bellenden Baß die milde Ruhe überlegener Dialektik ab:

»Herr Besitzer! Nehmen wir an, ein Käufer geht in ein Kaufhaus, und man bedient ihn nicht mit einer Ware, die auf Lager liegt ...«

Maxl sah den Querulanten schwermütig an und wiederholte seufzend:

»Auf Lager ...«

Die Geduld war verbraucht. Ein Gebrüll erhob sich jetzt:

»Himmelherrgott, länger laß ich mich nicht zum Narren halten! So behandelt man keine anständige Kundschaft. Glauben Sie, es gibt keine andern renommierten Häuser? Es gibt bessere Häuser. Die Tante Pohl in Aussig ist auch nicht ohne. Dort gibt's noch Organisation. Ich mache Sie zum letztenmal darauf aufmerksam: Mein Zug geht um 7 Uhr 35 in der Früh. Ich habe die Absicht, hier in diesem Hause den Rest der Nacht zu verbringen, und zwar mit dem Mädel, das ich bestimme und bezahle!«

Maxl wurde auf das Geschrei hin ganz demütig:

»Pardon ... Herr ... Herr ... Forstrat ... lassen Sie sich dienen! Sind Sie ein Mensch? Natürlich sind Sie ein Mensch. Und ist die Ludmilla ein Mensch? Ein Mensch ist sie! Pardon ... Herr ... Herr ... Weginspektor ... ein Mensch muß doch begreifen, daß ein Mensch nicht mit ihm gehn will ...«

Großes Gelächter. Triumphierend wandte sich Maxl zu den Lachenden um:

»Gut!? W-a-a-s?«

Ludmilla stand die ganze Zeit über da, als ginge sie die Sache nichts an. Aber jetzt begann die Stimmung umzuschlagen. Die Mädchen erregten sich immer bissiger: Zu viel nahm sich diese Hochmütige heraus. Edith sah ängstlich umher und überlegte, wie dem drohenden Sturme zu begegnen sei. Die Parteien begannen sich zu trennen, Haß und Neid waren nicht länger zu bändigen, alle Selbstbeherrschung schien abgekämpft.

Plötzlich pflanzte sich Ilonka, die dicke Ungarin, breit vor Ludmilla hin:

»Sag, wozu bist du eigentlich eine Hur?«

Grete fuhr ekstatisch dazwischen:

»Laß sie! Haben wir nicht auch Menschenrechte?«

»Menschenrechte«, replizierte eine Stimme.

Ilonka wurde immer gehässiger:

»Wenn das jede täte!? Ein Geschäft wär das! Noch besser! Sich die Gäst aussuchen! Für mich ist es auch nicht immer ein Vergnügen!«

Ludmilla sagte still:

»Für dich ist es immer ein Vergnügen.«

Grete, mit ihren überspannten Ideen, verschlimmerte zum Entsetzen Ediths die Situation:

»Schämt ihr euch nicht!? Ludmilla hat recht. Wir müssen uns die Freiheit erobern ...«

Dieser hochtrabende Satz, mehr als die Widerspenstigkeit Ludmillas, erbitterte die Damen aufs höchste. Sie haßten in der Berlinerin die hochfahrendste aller Überheblichkeiten, die der Bildung.

Ilonka schrie:

»Auf dich haben wir gewartet, du Meschuggene!«

Grete machte ihr zimperlichstes Gesicht:

»Ich kann nichts dafür, daß ich lesen gelernt habe. Jeder kann nicht im Schweinestall aufgewachsen sein.«

Und nun geschah das Unglück. Denn Ilonka stürzte sich auf Grete und schlug mit ihrer kleinen, fetten Faust der Langen ins Gesicht. Sogleich war die Schlacht im Gange. Schon wälzten sich einige Ringerinnen auf der Erde. Die seidenen Hemden rissen an vielen Stellen und das pralle Fleisch fürwitziger Weiblichkeiten wölbte sich vor. Manja, das plumpe Mädchen aus Rokycan streifte kurzerhand das Hemd vom Leibe, ehe sie sich mit freudigem Aufschrei unter die Raufenden warf. Auch im Zorne blieb sie eine gute Wirtin. Dann erst schlug sie wie eine Furie nach allen Seiten, gleichviel wen sie traf. Die Rache der Totengräberstochter galt der ganzen Bande.

Gewissenlos schürten ein paar rohe Wüstlinge um dieses Anblicks willen das Feuer des Kampfes. Der Urheber des Streites aber, der Baalboth, suchte keuchend in Ludmillas Nähe zu gelangen, um sie mit Gewalt sich zu unterwerfen. Der Geschickten jedoch war es gelungen, unversehens zu entwischen.

Das unbezahlbare Schauspiel, das auf dem Treppengang zwischen dem Großen und Blauen Salon hin und her wogte, regte die Herren äußerst an. Doktor Schleißner wieherte beseligt. Der Statthaltereibeamte und Satanist Peppler trug Weltuntergangsentzücken in den aufgerissenen Augen und hußte derangierte Kämpferinnen zu neuen Taten auf. Einzig der Leutnant Kohout und Präsident Morè verließen die Walstatt. Der Leutnant gedachte der Vorschrift, die Offizieren befahl, ihre Person ehrlosen Vorgängen tunlichst zu entziehn, und auch Morè hatte eine Berufsehre zu wahren. Beide Herren zogen sich stumm zum Klavier zurück.

Nejedli hingegen war einer der wenigen, die sich bemühten, die ineinander verbissenen Weiber zu trennen. Er keuchte vor Anstrengung, sein Katerl hatte sich verschoben und die genähte Krawatte hing zur Seite. Edith starrte verzweifelt, Maxl angedonnert auf den Kampf. Etwas Ähnliches hatte sich hierorts noch niemals begeben. Bisher waren sich die Damen trotz aller Zwischenfälle und Zwiste des erstklassigen Etablissements immer bewußt geblieben.

Wer weiß, welches Ende der Aufruhr genommen, wenn nicht in derselben Minute der Blitz eines gewaltigen Ereignisses auch in dieses Haus geschlagen hätte.

Plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, stand der Bote da, eine Ordonnanz des sechsten Dragonerregiments. Wenn sonst aus irgend einem Grund ein Abgesandter der Staatsmacht hier erschien, ein Herr von der Sanitätsbehörde etwa oder ein Polizeibeamter, wußte er seine Anwesenheit diskret zu verbergen. Dieser Soldat aber, ein blonder tschechischer Bauernjunge, trat groß und unvermittelt auf die wüste Szene. Mitten im Hexentanz stand er da und riß in die schweißgeschwängerte, rauchdicke Atmosphäre einen Wirbel von rotbäckig-frischer Luft. Wahrhaft feldmäßig wirkte der Soldat in Dienstmontur, mit Helm, Patrontasche, Pallasch und großen Sporenrädern ...

Im Nu brach die Rauferei ab. Die Damen brachten sich eilig in Ordnung, als wäre nichts geschehn. Tiefe Stille klaffte plötzlich. Jeder fühlte Schicksal. Selbst in Maxls windverwehte Gestalt kam regeres Leben. Er führte persönlich den Boten, wohin er geführt zu werden forderte.

Zwei Minuten später klirrten hastige Kavalleristenschritte über den unteren Flur und die Haustür schlug zu. Langsam, stier und ohne Atem klomm Maxl die Treppe hinan. Er greinte unverständliche Klagen.

Nach und nach erst brachte man die Schreckensbotschaft aus ihm heraus: Der Thronfolger war in Sarajewo ermordet worden.

Niemals noch hatte sich das angesehene Haus in der Gamsgasse schneller geleert als zu dieser Nachtstunde. Es zeigte sich, daß der dionysische Überschwang, der leichtsinnige Rausch des Großen Salons zu beträchtlichem Teil erlogen war, so schnell fanden die Herren in ihre Haut zurück. Herr Doktor Schleißner, der geistreiche Nachtkorsar, verwandelte sich in einen ernsthaften Menschen, der voll Besorgnis – er war Reserveoffizier – der Zukunft entgegensah. Herr Präsident Morè streifte die leichte Nachlässigkeit ab, die er in den letzten Stunden wie ein Stäubchen auf seinem Rock geduldet hatte. Vorwurfsvoll murmelte er: »Das kommt davon, wenn man abends ausgeht.« Wie er das meinte, in welchen bitteren Zusammenhang er die Katastrophe mit dem leichtfertig verlebten Abend brachte, das blieb dunkel.

Der Baalboth war es seinem Stolz nicht mehr schuldig, auf Ludmillas Diensten zu bestehn.

Leutnant Kohout und die beiden Freiwilligen machten entschlossene Gesichter, als wäre es ihre Aufgabe, einem Kriegsgericht vorzusitzen. Herr von Peppler hüllte sich romantisch in seinen Regenmantel und schloß, eifrig kommende Dinge kündend, Frieden mit der jungen Generation. Alles drängte die Treppe hinab. Man wollte die Zeitungsredaktionen aufsuchen, um den wahren Hergang der Tragödie zu erfahren. Dem Hauptschwall der Gäste huschten, schattensuchend, noch einige verlegene Gestalten nach, die entweder eine zartere Reputation oder ein ausgesprochenes Eheglück zu verlieren hatten.

Im verlassenen Salon saß der Chef des Hauses allein neben Nejedli. Ganz zusammengefallen hockte er auf der Klavierbank. Das Furchtbare schien er wieder vergessen zu haben, denn er lallte:

»Soll ich schlafen gehn, Nejedli?«

Der Klavierspieler gähnte:

»Gehn Sie nur schlafen, Herr Maxl, heut kommt eh' keiner mehr.«

Ein entsetzter Blick traf den Alten:

»Aber ich schlaf zu schnell, Nejedli, vorhin hab ich zehn Jahre zusammengeschlafen ... Ich hab Angst vor dem Schlafen, Nejedli ...«

Nejedli gab keine Antwort mehr, denn er war damit beschäftigt, alle Kognakreste in ein Wasserglas zu schenken, das er mit sinnigem Bedacht leerte. Als er aber nichts Trinkbares mehr vorfand und den Chef mit geschlossenen Augen sitzen sah, strich er das Musikgeld vom Teller und schlich auf Zehenspitzen, stöhnend, davon.

Er hörte nicht mehr die ängstliche Frage, die ihm nachhallte:

»Soll ich schlafen gehn ... Nejedli ...?« Der Große Salon war voller Umsturz. Zerbrochene Gläser bedeckten den Boden, umgefallene Stühle versperrten den Weg, überall dunstete vergossener Wein, Kaffee, Schnaps. Schmutziges Gewölk stand in der Luft. Maxl blinzelte in die Verwüstung. Er holte tief Atem, als wollte er Edith rufen und befehlen, daß die Ordnung wieder hergestellt werde. Ohnmächtige Zornfalten zerschnitten plötzlich seine Stirn. Aber er schnappte nur nach Luft und kein Ruf kam über seine schlaffen Lippen. Endlich stand er auf und schwankte aus dem Zimmer. Lange noch war sein tappender und scharrender Schritt zu hören, ehe er oben in der Mansarde verschwand.

Als der Lärm der letzten Gäste draußen in der schmalen Gasse verhallt war, konnte sich Ludmilla nicht länger bezwingen und öffnete, was den Damen streng verboten war, die Tür in die Nacht.

Oskar stand vor ihr.

Sie hätte es gerne zurückgewürgt, aber über den Schreikrampf, der sie erfaßte, hatte sie keine Macht mehr.

VI

Nun saß Ludmilla neben Oskar in der Küche, wo die Tische gedeckt waren.

Die Küche bedeutete das wahre Heiligtum dieses Hauses und sie war auch wirklich ein Prachtraum mit ihrem Kachelherd und den vier weißen wachstuchbespannten Tischen. Wer hierher eindringen durfte, der spielte nicht mehr die Rolle des Gastes, des Fremden, der Wurzen, der blieb in jeder Beziehung taxfrei, der gehörte zur Sippschaft, der teilte die Geheimnisse des weitverbreiteten Standes.

Die dämmrige Vier-Uhr-Stunde des Sommers war indessen angebrochen und die Zeit des großen Mahles gekommen. An Wichtigkeit wurde diese Vier-Uhr-Morgenstunde nur noch von der Sechs-Uhr-Abendstunde übertroffen, wenn die Damen darangingen, sich für das Geschäft zurechtzumachen, und der Figaro mit seiner Brennschere von einer zur andern eilte. Gemütlicher aber war's am Morgen, wenn man mit heißer Suppe allen Fusel und Nikotindunst hinunterspülte, sich dem Schlaf entgegenfreuend.

Vor jedem Platz standen zwei Teller übereinander auf dem Tisch, eine Serviette ruhte in ihrem Ring, und was es in den vornehmsten Etablissements nicht gab, silbernes Besteck strahlte neben dem Geschirr. Dieses silberne Besteck verpflichtete. Wer auch nur eine kurze Zeit damit gelöffelt und gegabelt hatte, war für alle Zukunft geadelt. Er konnte schwerlich mehr auf das Niveau von Napoleon zurücksinken. Viel häufiger führte der Weg empor.

Ludmilla hatte Oskar verziehn. Verziehn? ... was für ein großartiges Wort! Was hätte sie denn tun sollen, was blieb ihr übrig? Schmollen vielleicht, ihn sekkieren, sich die kurze Zeit verderben, die er bei ihr sein konnte?! Wenn er hinaus durchs Tor trat und mit zehn Schritten in der Eisengasse stand, war sie Luft für ihn, ärmer als die Ärmste, konnte ihm nicht drohen wie jedes andere Weib, ihn nicht beschenken, ihn nicht in Angst versetzen, hatte im Guten und Bösen nicht die leiseste Macht. Mußte er es nicht ablehnen – und mit voller Berechtigung –, wenn sie Ausgang hatte, gemeinsam mit ihr den Nachmittag zu verbringen? Sie sah das vollkommen ein. Durfte sie sich denn an seiner Seite zeigen, ohne den aufstrebenden Künstler zu kompromittieren? Sie wollte auch gar nicht mit ihm zusammen sein dort draußen, auf der Straße, in fremden Zimmern. Dies war der Grund, warum sie ihre Ausgangsrechte jetzt immer andern Mädchen abtrat.

Hier allein, hier in diesem Haus, in dieser Küche konnte er sie finden. Sie aber konnte ihn nirgends finden. War es nicht schon viel, daß er gekommen war? Wer zwang ihn denn überhaupt zu kommen? (Wenn er heiratet, die Seinige, die wird ihn schon zwingen!) Sie wußte nicht einmal seine Adresse, um ihm einen Brief zu schreiben. Nein, sie hat ihn niemals um die Adresse gebeten! Aber so ein Schweinehund, so ein Mann, bemerkt das gar nicht.

Jetzt war er da! Dankbar mußte sie sein, nichts als dankbar. Heiße Freude belebte sie, daß sie zwei Tage lang nicht unterlegen war, daß sie zwei Tage lang, hier in diesem Hause, allen Feinden trotzend, sich ihre Kraft und ihren Willen hatte beweisen können. Sie verschwieg ihren Kampf, denn Oskar hätte auch für diese Tapferkeit kein besonderes Interesse gezeigt.

Nun aber saß er neben ihr, nun galt ihr alles gleich und sie war selig, daß sie den Hungrigen füttern und ihm ihre Suppe hingeben durfte. Während Oskar, ohne den Blick zu erheben, schlürfte und schluckte, sammelte Ludmilla rasch wie ein Räuber die Züge ihres Geliebten und raffte sie in sich hinein, damit ihr viel von ihm bliebe ...

Inzwischen waren die andern Damen zum Mahl erschienen. Der wüste Zwist, die Rauferei hatte keine Spuren zurückgelassen. Ein paar kleine Flecke und Kratzer waren nicht der Rede wert. Merkwürdig, die Explosion schien alle Gehässigkeiten bereinigt zu haben und die Scham über den widerlichen Vorfall band selbst Feindinnen aneinander. Es herrschte zuvorkommende Kameradschaft. Herzlichkeit, die ein wenig übertrieben und lauernd war. Selbst Manja, die Mürrische, bezeugte durch die langhinklagenden Töne eines slawischen Volksliedes, daß sie nunmehr zu heiterer Versöhnlichkeit entschlossen sei.

Die Mädchen hatten die lockende Kostümierung des Abends abgelegt und trugen unsaubere Schlafröcke, Nachtjacken, ja selbst an den Füßen statt der silbernen oder goldenen Tanzschuhe vertretene Schlappen und Pantoffeln. Auch war ihr Haar zerzaust und die Strümpfe hingen schlecht gespannt an den Beinen.

Ein träges Löffeln und Schmatzen erhob sich ringsum. Oskar, der neben Ludmilla am Mahl der Damen teilnahm, erklärte ihr leise die Gründe seiner langen Abwesenheit. Die Direktion des Theaters hatte ihn aufgefordert, die Rolle eines erkrankten Kollegen im letzten Augenblick zu übernehmen. Es war eine gute Rolle, eine klassische Rolle, die hier Kainz zuletzt gespielt hatte, und vor allem Oskars erste große Rolle. Da durfte er sich doch nicht besinnen, die beiden letzten Nächte dem Studium zu opfern.

Ludmilla, die sonst so Mißtrauische, sah ihn mit berückten Augen an. Ihm glaubte sie leidenschaftlich. Seine Gründe waren ja so einleuchtend. Wort für Wort wiederholte sie Oskars Rechtfertigung laut, um sich vor ihren Kolleginnen ihrer Liebe nicht schämen zu müssen.

Grete fragte nach dem Titel des Dramas und vergaß nicht, zu prahlen:

»Mein Papa hat mich zu allen Stücken ins Theater mitgenommen. Kannten sie Christians, Herr Oskar?«

Oskar kam einen Augenblick in Verlegenheit, ehe er antwortete. Ludmilla hatte ihn nicht nach dem Namen seiner Rolle gefragt. Er verplapperte sich und nannte ein Drama, das zur Zeit gar nicht gespielt wurde. Schnell blickte er zu Ludmilla hin. Aber sie war ganz Glaube. Eine weit plumpere Lüge noch hätte sie ihm nicht angesehn.

Da geschah es, daß Oskar von dieses Mädchens Liebe und von ihrer jetzt verklärten Anmut mitgerissen wurde und gegen seine träge Gewohnheit des Geliebtwerdens selber Zärtlichkeiten erfand und der Lauschenden schöne Dinge vorträumte.

Ilonka mußte von dem Geflüster etwas erhascht haben, denn sie lachte auf:

»Hört ihr!? Aushalten will er sie.«

Und zu Ludmilla gewandt:

»Ja, aushalten wird er dich, aushalten, mit dem Hintern zum Fenster hinaus ...«

Ludmilla dachte lange mit beschatteter Stirn und gesenkten Augen scharf nach, ehe sie plötzlich mit fremder und tiefer Stimme fragte:

»Weißt du, Oskar, was deine allergrößte Gemeinheit war?«

Und sie gab mit langsamen Silben selber die Antwort:

»Daß du heute wiedergekommen bist, das ist deine größte Gemeinheit!«

Aber ehe Oskar und die andern diese neue Wendung noch begreifen konnten, war Edith, die Wirtschafterin, eingetreten, und ihre Worte konnten ein ahnungsvolles Entsetzen nur schlecht verhehlen:

»Kinder, ich weiß nicht, was los ist, aber im Zimmer von Herrn Maxl stöhnt es so merkwürdig. Ich hab mich gar nicht getraut, anzuklopfen, so viel Angst hab ich ...«

Da sahen sich alle an und vor jedem Blick tauchte das gelbe, erbärmliche Bild des Herrn Chef auf. Und alle wußten mit einem Mal und hatten es immer gewußt, daß Maxl ein schwerkranker Mann war. Doch hatte man sich niemals Gedanken darüber gemacht, denn selbst die rangälteste Dame erinnerte sich nicht, je einen Herrn Maxl gekannt zu haben, der nicht gelbsüchtig, kurzatmig, todmüde und komisch gewesen wäre. Das gehörte ja zu ihm. Auch wollte niemand jemals aus seinem Mund eine Klage vernommen haben. Und ein altes Bauern-Sprichwort lautet: Zu einem Gaul, der frißt, holt man keinen Tierarzt.

Jetzt aber war es klar, daß man den Schweinsbraten mit Kraut und Knödel müsse kalt werden lassen. Ein Ausbruch von angstvoller, ja mütterlicher Zärtlichkeit antwortete der Botschaft Fräulein Ediths.

Die ganze Schar erhob sich, selbst Ludmilla ließ Oskar stehn. Und über die Treppen, die von Venus und dem Trompeter von Säckingen bewacht wurden, bewegte sich ein Zug von schlampig gewandeten jungen Weibern, die sich nicht mehr in Knien und Hüften wiegten und die der lockenden Drehung ihrer runden Rückenformen nicht mehr selbst bewußt waren. Dieser Zug glich eher dem Gedränge von Dienstmägden und vernachlässigten Ladenmädchen, die zu einem Stellenvermittlungsbüro die Treppe emporklimmen.

Je höher aber die Schar kam, je mehr sie sich dem Zimmerchen des Chefs näherte, um so dumpfer und unerklärlicher wurde die Furcht, die sich plötzlich um alle Nacken schlang wie ein nasses Tuch. Die Mädchen hielten sich zitternd dicht aneinander, als Edith vergeblich drei-, vier-, fünfmal an die Tür klopfte. Endlich – kein Stöhnen mehr war zu hören – öffnete sie vorsichtig die Tür, und ehe ihre Hand noch den Schalter des Lichts gefunden hatte, drängten ihr die Verwegensten in die Finsternis nach.

Keine hatte je dieses Zimmer betreten dürfen. Das verbot ein strenger Paragraph des Hausgesetzes.

Das Licht offenbarte seltsamerweise vor allem eine Unmenge von Madonnen- und Heiligenbildern, welche die Wände zierten. Dann erst offenbarte das Licht den Herrn Chef, der mit halbem Körper leblos aus dem Bette hing.

War er ohnmächtig geworden, war er tot?

Edith und Valeska hoben den Leib aufs Bett. Die andern liefen durcheinander und holten jammernd aus ihren Zimmern Eau de Cologne, Parfum-, sinnlose Arzneiflaschen, deren Essenz sie in verschwenderischen Mengen über Maxls tiefgelbe Stirn und offene Lippen gossen.

Grete schrie immerfort, daß sie diesen Anblick nicht ertragen könne. Ilonka hingegen plapperte erregt und ganz in ihrem Element, daß es in solchen Fällen nur ein Mittel gäbe, gehackte Zwiebel mit Speichel verreiben und dem Bewußtlosen in die Nasenlöcher und auf die Augenlider streichen. Sie wüßte dieses Mittel noch von ihrer Großmutter, und wer hätte sich in solchen Dingen besser ausgekannt als diese Großmutter. Edith erinnerte sich des gerahmten Anschlags, der in der Küche hing: »Erste Hilfe bei Unglücksfällen.« Aber sie fand nicht den Mut, den entfremdeten Körper noch einmal zu berühren.

Nur Manja, die Tochter des Totengräbers von Rokycan, lachte verächtlich, trat zum Bette, drängte mit sachlichen Armen die andern als Unbefugte zurück und lüpfte die Augenlider des Daliegenden. Dann wandte sie sich um und sagte mit überzeugter Amtsmiene:

»Er ist tot!«

Und der Arzt, den Edith sogleich holen ließ, konnte nichts anderes tun, als Manjas Wort bestätigen.

VII

Schwierigkeiten aller Art häuften sich. Das erstemal, wenn man von den sagenhaften Messerstechereien ältester Zeit absieht, lag hier ein Toter im Hause. Und ein Toter, welcher nicht als Gast von einem regellosen oder gewaltsamen Ende erreicht worden, sondern hauszuständig, nach amtsärztlicher Auffassung eines durchaus ordnungsgemäßen Todes verstorben war.

Letztwillige Verfügungen lagen nicht vor, worüber sich niemand wundern wird, der Herrn Maxl nur ein einziges Mal gesehen hat. Dem Verblichenen hatte ja oft die Kraft gefehlt, sein Mittagessen einzunehmen, wo sollte er da die Energie hernehmen, sich mit der Welt nach seinem Tode und ihren Interessen zu beschäftigen.

Den Anteil am anderweitigen Hausbesitz seiner Eltern hatte er vor Jahren schon um ein Linsengericht an Bruder Adolf verkauft, der allerdings seinerseits diese Reichtümer sehr bald dunklen Gläubigern abtreten mußte. Herrn Maxl war nichts anderes übrig geblieben, als in die Gamsgasse zu ziehen, wo er dann in einer Kammer zu Häupten seiner Pensionärinnen wohnte.

Unklar blieben vorläufig die Verhältnisse von Herr und Haus. Die gesetzlichen Erben, entfernte Verwandte, meldeten sich erst – sie werden gewußt haben warum – am vierten Tag nach dem Todesfall. So lag alles auf Fräulein Ediths Schultern. Aber diese Schultern waren überaus tragfähig.

Zwar richtete sich das Interesse der Polizei- und Verlassenschaftsbehörde mit besonderem Nachdruck auf derartige, so plötzlich verwaiste Unternehmungen. Aber die Beziehungen, die Edith nicht nur bei der Polizei, sondern bei sämtlichen Landes- und Staatsämtern unterhielt, waren hochmögend, vertrauensvoll und dauerhaft. Nach flüchtig vorgenommener Prüfung der Lage ließ man ihr freie Hand, und sie war weitblickend genug, die Dinge zu ihrem eigenen Nutzen, zum angemessenen Wohl des Personals und zur pietätvollen Ehrung der Leiche zu regeln.

Nicht genug hoch kann es ihr angerechnet werden, daß sie die große Summe, die sie gestern noch vom Chef empfangen hatte – mit nachlässiger Freigebigkeit pflegte er das Betriebsgeld der Wirtschafterin einzuhändigen –, daß sie diese noch ungebuchte Summe treulich zur Seite legte. Sie schloß sie sogar in einen Briefumschlag ein, auf den sie mit zärtlichen Buchstaben »Herr Maxl« schrieb, andächtig hinter den Namen ein Kreuz malend. Sie war so uneigennützig, dieses Geld für ein Begräbnis würdigen Ranges zu bestimmen. Aber gerade in der Tatsache dieses Begräbnisses lag die Hauptfülle der Schwierigkeiten.

Die religiöse Frage zuvörderst!

Herr Maxl war jüdischer Abkunft. Sie, Edith, hatte die Erziehung der Ursulinerinnen genossen und immer wieder bekannte sie, daß ohne jene strenge Erziehung, ohne das Glück innigen Kirchenglaubens sie es niemals in jungen Jahren so weit gebracht hätte, zur Wirtschafterin eines der vornehmsten Häuser Europas nämlich. Hielt man ihr vor, daß der Beruf, dem sie diente, nicht im Sinne der Religion gelegen sein könne, pflegte sie die Geschichte einer Beichte zu erzählen. Der junge Heilige im Beichtstuhl hätte sie mit folgender Tröstung entlassen:

»Mein Kind«, dies waren seine Worte, »Ihr Leben ist gewiß sehr sündig. Gott aber hat die Eigenschaften und Berufe über die Menschen verteilt nach seinem Willen. Und auch Ihren Beruf hat er – so unbegreiflich es ist – immer geduldet. Es wäre besser, Sie fänden einen andern Beruf. Vermögen Sie das aber nicht, so müssen Sie doch stets eingedenk bleiben, daß Sie ein Kind der Kirche sind. Dann werden Sie nicht verzweifeln. Und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die gemeinsten Unanständigkeiten der Menschen immer nur aus der Verzweiflung kommen.«

Fräulein Edith wechselte den Beruf nicht und sündigte weiter, aber mit Fanatismus hing sie fürderhin der Kirche an.

Aus diesem Fanatismus erklärt sich auch ihre Neigung zur Seelenfängerei. Wer anders nun wäre ein näherer Gegenstand ihres Bekehrungseifers gewesen als Herr Maxl? Und tatsächlich, als der Chef an Ediths Seite zum erstenmal das Schauspiel der Messe in der Kirche des heiligen Gallus erlebte, war er wie verwandelt.

Seitdem besuchte er an jedem Sonntag mit Edith die Vormittagsmesse, was keine geringe Selbst-Überwindung bedeutete, wenn man erwägt, wie ausgedehnt und trubelnd gerade das Nachtgeschäft des Samstags zu sein pflegt. Aber Edith vermochte noch mehr, sie brachte ihn dahin, das Wesen der Himmelskönigin zu erfassen und sein Zimmer mit Heiligenbildern zu schmücken. Nur in einem, im entscheidenden Punkt, in dem der Taufe, leistete er Widerstand. Täglich kam Edith auf diese letzte Notwendigkeit zu sprechen, ohne die es keine Seelenrettung gäbe. Aber Herr Maxl begegnete der ergreifendsten Vorhaltung immer mit den gleichen Sentenzen:

»Ein traut's Kind wär ich!«

Wenn Edith sich aufs Bitten verlegte, quäkte seiner Stimme weinerliche Gleichgültigkeit:

»Was sollen Sie nebbich mit mir anfangen?«

Und wenn dann die Eifernde alle widerwärtigen metaphysischen Folgen der Ungetauftheit mit feuerroten Farben malte, schloß Maxl das Gespräch stets mit dem Bekenntnis ab:

»Laß dir dienen, Edith! Ein Jud bleibt ein Jud.«

Dennoch kann es nicht verschwiegen werden, daß Herr Maxl lange vor Ediths Zeit schon, aus nicht mehr erklärbaren Gründen, jenes gestempelte Dokument eingebracht hatte, das man ›Konfessionslosigkeitserklärung‹ nennt und das den Staatsbürger seiner religiösen Pflichten und Leistungen enthebt.

Ediths Herzenswunsch wäre es gewesen, wenn der Herr des Hauses ein christliches Begräbnis mit allen vorschriftsmäßigen Gebräuchen erlangt hätte. Sie lief deshalb zum Hauptpfarrer des Kirchsprengels von Sankt Gallus. Aber wie sehr auch der geistliche Herr guten Willens war, er hatte gebundene Hände, und ohne Taufschein gab es keine kirchliche Bestattung. Hingegen machte er darauf aufmerksam, daß die Einrichtung der heiligen Seelenmessen an keinerlei Bedingung gebunden sei, und Edith erwarb auch sogleich drei dieser Seelenmessen. Beim Abschied gab Hochwürden der Wirtschafterin auf lächelnde und joviale Art noch zu verstehen, daß die Erscheinung eines amtierenden Priesters an solchem Ort und in unserer niederträchtigen Zeit nur Ärgernis und das Hohngelächter der Freidenker erregen würde.

Wohl oder übel sah sich Edith nun gezwungen, die israelitische Kultusgemeinde aufzusuchen, in deren Matrikeln der Name des Verewigten eingeschrieben war. Dort sagte man ihr, daß sie auf der mosaischen Abteilung des Olschaner Friedhofs eine Grabstätte für den Toten käuflich erwerben müsse. Hingegen könne an einen zeremoniellen Kondukt nicht gedacht werden. Herr Stein wäre ein Abtrünniger, er hätte dem väterlichen Glauben die Treue gebrochen und sei auch sonst keine Persönlichkeit gewesen, die einer Glaubens- oder Volksgemeinde zur Zierde gereiche. Wolle man das Begräbnis von der Leichenhalle des Zentralfriedhofs ausgehn lassen, so könnte vielleicht, wenn man gnädig beide Augen schlösse, dies oder jenes geschehn. Die Partei aber werde doch im Ernst nicht glauben, daß ein Seelsorger das Lokal in der Gamsgasse betreten könne.

Als Edith die Anweisung für das Grab in Empfang genommen hatte, fragte sie der Beamte noch, ob Herr Stein Söhne hinterlassen habe, denn es müsse doch ›Kaddisch‹, das Seelengedächtnisgebet, für ihn gesagt werden. Er bekam die Aufklärung, daß an diesem Grabe niemand anderer trauern werde als ein paar weibliche Wesen. Da schaute der alte Mann die Wirtschafterin mißbilligend über seine Brillen an und nickte ironisch, als wollte er sagen: ›Keine Söhne! Das sieht dem Herrn Stein ähnlich ...‹

Ohne von der Kundschaft die Erfüllung irgendwelcher Bedingungen zu fordern, erbot sich am frühen Nachmittag schon die Firma François Blum durch persönliches Offert, die Beerdigung billigst und bestens durchzuführen.

Jedermann, der in der hier geschilderten Stadt herangewachsen ist, wird sich der großen Firmatafeln entsinnen: ›François Blum. Entreprise des pompes funèbres.‹ Und mehr noch, er wird sich der Auslagen in Schwarz und Silber erinnern, welche die genannte Firma an einigen belebten Punkten der Stadt eingerichtet hatte. In diesen Auslagen reihten sich, meist zu beiden Seiten eines Prachtsarges – bestimmt, einem Vorweltriesen im Todesschlafe zu dienen – der Größe nach andre Särge bis zu den armen Schatullen der kleinen Kinder. Den ganzen glänzenden Schauder umwand schwarzes Tuch in effektvoller Faltung und Palmenzweige, die staubigen Requisiten himmlischen Friedens, bedeckten ihn.

Die Vorsehung hatte in der Firma François Blum ein wohlassortiertes Mementomori der hastenden Stadt einverleibt, denn wenn das genußfreudige Auge sich eben noch an einer Auslage voll Hummern, Wildbret, Ananas und Kaviar ergötzt oder eine Anordnung von Frauenwäsche, von Juwelen, Blumen, ein geist-verlockendes Angebot von Büchern und Musikalien bewundert hatte, plötzlich schreckte es zurück, denn schwarz und silbern, mit vertrockneten Palmzweigen prahlend, starrte es der Tod aus seinen Spiegelscheiben an. Ach, es war nicht Thanatos, der Knabe mit der gesenkten Fackel, nicht der Mäher mit der Hippe, nein, es war der kleinbürgerliche Tod, der großstädtische Tod, der moderne Tod, der Tod ohne Sinn und Bildnis, ein lächerliches Ding, aus Silberfarbe, papiernen Palmen, schwarzem Tuch, Kalk und Verwesung gemengselt.

Immerhin blieb dieser Tod eine der wenigen Festlichkeiten, die das Leben der Menschen kannte. Niemand war sich dessen stärker bewußt als die Damen des Etablissements in der Gamsgasse, und so mußte Fräulein Edith trotz beträchtlicher Mehrkosten sich entschließen, bei der Firma Blum eine ›Aufbahrung‹ zu bestellen.

Nach der ersten Nacht voll Angst und Schauder, eine Leiche im Hause, in ihrem Hause zu wissen, hatten sich die Mädchen schon am nächsten Tage in den traurigen Umstand gefunden.

Das Lokal mußte selbstverständlich bis zum Abend nach der Beerdigung geschlossen bleiben. Schon diese unerwarteten Ferien, die mit allerlei Besorgungen, Ausgängen verbunden waren, welche den gewohnten Stundenplan umstürzten, erfreuten als etwas Neues, Abwechslungsreiches. Dazu kam der erregte Eifer, sich in aller Eile, wenn auch nur mit dürftigen Mitteln die notwendigen Trauersachen zurechtschneidern zu müssen. Die Küche war in eine Flickwerkstätte verwandelt, Nähmaschinen rasselten, den Boden bedeckten Stoffreste, Herd und Geschirr duckten sich schüchtern. Arbeit gab es in Hülle und Fülle. Da es den Damen unheimlich war, die oberen Stockwerke zu betreten, lärmte alles Leben im Erdgeschoß.

Die Nacht fiel von den Geschöpfen dieser Stätte ab, wie eine Krankheit. All diese Kinder von Frühaufstehern, Töchter von Bauern, Arbeitern, kleinen Geschäftsleuten, Amtsdienern, Schaffnern, Aufwärterinnen genossen mit wahrer Gier das ihnen Verbotene, das Tagesleben. Durch einen Todesfall beurlaubt, trieben sie sich selig in den Straßen herum und fuhren, bewegungstoll, mit der elektrischen Bahn sinnlos von einem Ende der Stadt zum andern.

Selbst Ludmilla wurde, trotz ihres Schauspielers, von dem allgemeinen Eifer mitgerissen. Sie nähte, änderte, gustierte wie alle andern. Und daß sie im schlanken Schwarz trauernder Bürgermädchen die Hübscheste sein würde, das bezweifelte nicht einmal Ilonka in ihrem Herzen.

Für die Aufbahrung war der Große Salon bestimmt. Wenn man auch keine Gäste erwarten durfte, so gehörte es sich doch, daß irgendwo für alle Fälle ein kleiner Imbiß und Getränk bereit stand. Dieser Zweck wurde dem Blauen Salon zugedacht.

Am nächsten Tag donnerten die Arbeiter mit ihren mächtigen Stiefeln über die schwächlichen Treppen, und im Salon begann ein wildes Geschrei und Gehämmer. Dieser Raum hatte Tageslicht nie gesehn, er zwinkerte unbehaglich wie ein halbblindes Nachttier, das man in seiner Höhle aufgestört hat. Ach wie klein, wie nichtig zeigte sich im nüchternen Scheine dieses Tier, das sich zu seiner Stunde so phantastisch zu dehnen wußte.

Die Geister aller Tänze, Lieder, Couplets, Witze und Zoten, die hier je erklungen waren, sträubten sich und jagten die Wände entlang. Es half ihnen nichts. Die Wände wurden schwarz ausgeschlagen, der Katafalk erhob sich langsam vom Boden, ein strapazierter Palmen- und Lorbeerhain wurde mit Hüh und Hott durch die Tür spediert. Ja selbst ein großes Kreuz hatte Edith, unbefugterweise, zu Häupten des Katafalks aufstellen lassen.

Die Entreprise des pompes funebres machte ihrem guten Ruf alle Ehre. Doch steht es dahin, ob sie es war, welche jene Notiz in der Zeitung einrücken ließ, die einigen Lesern wegen der in ihr enthaltenen schicksalshaften Paradoxie aufgefallen ist:

»Gestern starb hier Herr Max Stein im achtundvierzigsten Lebensjahre.
Das Leichenbegräbnis findet vom Trauerhause Gamsgasse 5 aus statt.«

Alles ging in bester Ordnung seines Weges. Ein einziger Umstand nur machte sich störend bemerkbar: Der charakteristische Geruch im Hausflur, jener Geruch von heißem Badewasser, in das man Parfüm geschüttet hat, von Seifenschaum, Vaseline, Hautcreme, Schminke, Schweiß, Alkohol und scharfgewürzten Speisen war durch kein Mittel zu vertreiben. Die Damen verbrannten stundenlang Weihrauch im Flur, aber der Geruch wurde dadurch – man kann es gar nicht anders bezeichnen – nur noch unanständiger.

VIII

Es gehört zu den Unwahrscheinlichkeiten, die man dem Leben gern, den Autoren ungern verzeiht, daß Herr Präsident Morè, gewiß der genaueste Zeitungsleser der Stadt, jene paradoxe Todesfallsnotiz übersehn hatte. Eine gewisse Erklärung für die Unwahrscheinlichkeit liegt freilich in dem Umstand, daß in jenen Tagen des Hangens und Bangens alle Blätter voll der entscheidensten Nachrichten waren und daß in jeder Zeile Krieg und Frieden, das Schicksal der Welt auf dem Spiele stand.

Herr Morè hatte in tiefen Gedanken sein Kaffeehaus verlassen. Patriotische Wallungen bewegten sein Gemüt und vor seinem geistigen Auge wogte Krieg. Morès Krieg war ein sehr zurückgebliebener Krieg. Er zeigte nicht die ›moderne Leere des Schlachtfeldes‹, keine betonierten Schützengräben, Fliegergeschwader und Gasangriffe, er war ein stürmisches Gemälde voll Lustigkeit und Kavallerie. Herrliche Denkmalspferde bäumten sich zum Himmel, Granaten platzten rot, grün, gelb und blau, gleich kostbaren Feuerwerkskörpern, Verwundete griffen sich ans Herz wie Sänger bei hohen Tönen.

Die Weltkatastrophe so farbenbunt vorträumend, überquerte der Präsident den Obstmarkt und schritt an der Front der Universität entlang die Eisengasse hinab, als er rechterhand auf dem Kleinen Platz einen zweispännigen Fourgon dritter Klasse und drei Trauerlandauer warten sah. Er überlegte sogleich, wer hier gestorben sein könnte – dies zu wissen gehörte ja zu seinem Beruf – und ging mit Eifer die bekannteren Firmen und Familien durch, die in der Gegend ihren Wohnsitz hatten. Er verwunderte sich selber, daß ihm ein Todesfall entgangen sein konnte. Zugleich aber – da er wußte, wo er sich befand – wandelte ihn eine Lust an, der er in früheren Jahren manchmal nachgegeben hatte.

Herr Doktor Schleißner mochte sich immerhin einbilden, daß er es sei, dem der Präsident die Kenntnis ›dieser heiligen Hallen‹ zu verdanken habe. Morès Art war es nicht, die Nacht zum Tage zu machen und sich vor allen Leuten bloßzustellen. Gott, ein einziges Mal mochte es hingehn!

Er aber kannte das Haus in der Gamsgasse längst und zu besseren Stunden als in denen des Pöbels. Als jüngerer Mensch war er hier öfter insgeheim um die Nachmittagszeit eingekehrt und hatte immer ein befriedigendes Vergnügen gefunden. Seine Handlungsweise erschien ihm nicht nur diskreter, sondern auch sittlicher und vor allem hygienischer, als die der Allgemeinheit.

Der Präsident blieb stehn. Erschüttert fühlte er in diesem Augenblick den Anbruch eines neuen Zeitalters. Doppelten Wesens war es. Ernst auf der einen Seite wie eine leichenbitterische Suite bärtiger Herren mit Zylinder und Kaiserrock, schneidig auf der andern Seite und frisch-fröhlich landsknechthaft. Morès Phantasie stellte in der Tat Landsknechte hin und beschwor Vorstellungen aus der einschlägigen Literatur wie: Troßweibel, Würfelspiel und Lagerdirnen.

Morè sah den Leichenwagen an, dachte der schweren Zeit einerseits und der Sittenlockerung andererseits, die in der Luft lag und beschloß, da er für die nächsten Stunden nichts vorhatte, seinen Wünschen heute nicht im Wege zu stehn. An dem wartenden Fourgon vorbei, dessen Rappen schwarz-nickende Federn auf dem Kopfe trugen, trat er, selber nickenden Schrittes, in die schmale Gasse.

Er fand die sonst so streng verschlossene und dichtverhängte Tür weit geöffnet ...

Indessen war im Hause alles zur Abschiedsfeier bereit. Der Sarg stand auf dem Katafalk, von ein paar losen Blumen und einem dürftigen Kranz bedeckt, denn zu reicherem Schmuck reichte die von Edith so edelmütig auf die Seite gebrachte Summe nicht mehr hin.

Wegen des Sarges hatte es übrigens zwischen der Entreprise des pompes funèbres und Fräulein Edith eine Unstimmigkeit gegeben. Er war nichts als eine einfach rohe Holzkiste, wie sie die jüdische Satzung den Toten vorschreibt. Gott selber spricht ja durch die Schrift: ›Staub bist du und Staub sollst du werden!‹ Jeder Schmuck, jede Verschönerung dieses gottgewollten Prozesses ist daher unfromm und blasphemisch. Die Wirtschafterin jedoch war durchaus anderer Ansicht. Ein Sarg muß schön und großartig sein, mit Silber beschlagen, mit Emblemen geziert, und auch ein weißer Spitzenvorstoß darf nicht fehlen. Schweres Geld hatte sie bezahlen müssen, damit solch eine Holzkiste geliefert werde. »Echt jüdisch«, rief sie, wäre das. Selbst die Religion diene dazu, einen ›Rebbach‹ zu machen und die Kunden übers Ohr zu haun. Es hielt sehr schwer, die Erregte davon zu überzeugen, daß die Erde des israelitischen Friedhofs nur einen vorschriftsmäßigen Sarg in sich aufnehmen dürfe.

Die Damen in ihrer ärmlich improvisierten und zugleich aufgedonnerten Trauer hatten sich versammelt. Einige kleine Leute aus der Nachbarschaft waren auch gekommen, sogleich aber auf betrübten Zehenspitzen in den Blauen Salon geschlichen, wo man sich gratis mit Likör und Topfenkuchen bedienen konnte. Dort machte Herr Nejedli die Honneurs und mußte die Nachbarn, die Angestellten der Entreprise des pompes funèbres, sowie sich selbst nicht viel zum Essen und Trinken nötigen.

Leider war kein Gast, kein Sechser-Dragoner, kein Artillerist, Intellektueller, Nachtvogel, kein Schleißner, kein Peppler, kein Oskar, mit einem Wort kein staunendes Auge da, um den berühmten Großen Salon nicht wiederzuerkennen. Das Tanzparkett war zum größten Teil vom Katafalk in Anspruch genommen, die Glühbirnen glosten finster verhüllt, die Amoretten über den Spiegeln hatten schwarze Negligés angetan, ein Kreuz erhob sich zu Häupten des jüdischen Sarges, große Kirchenkerzen brannten, und eine besonders zahlreiche Familie stark gepuderter Kleinbürgerstöchter in Trauer weinte, weil es sich so gehörte, weil man den Verstorbenen gekannt hatte, weil das Leben traurig, weil der Tod erschütternd und seine seltene Festlichkeit freudebringend ist.

Während rote Nasen sich schneuzten und es ringsum schluchzte, hatte der Große Salon, dieser todesschwarze Raum, keine Vergangenheit. Und wiederum ging unbemerkt ein Augenblick vorüber, der gesättigt war von den erhabenen, den shakespeareschen Widersprüchen des Lebens.

Aber ewig konnte man nicht schluchzen, sich schneuzen und den Sarg bestarren. Etwas mußte jetzt geschehn, jemand mußte ein Wort sagen, dem Toten einen Abschiedsspruch zurufen. Edith wurde immer verlegener, schmerzlich machte sich das Fehlen des Priesters fühlbar, der große Mangel ihrer Veranstaltung, der sie doch so entsagungsvoll eine runde Summe geopfert hatte. Sie war außer sich, denn wie sollte ohne Gott und heilige Handlung die Feier ihren Fortgang nehmen? Alles war prächtig hergerichtet, jede Seele des erschütternden Abschieds gewärtig, und dennoch stand man schon zu lange umher, peinliche Fragen schienen die Luft zu verdicken; es war ein stiller Skandal. Edith zerbiß sich die Lippen, nichts Rettendes fiel ihr ein. Sie sandte verzweifelte Blicke umher ...

Und, siehe, plötzlich fielen diese verzweifelten Blicke auf den Präsidenten Morè, der lang und schwarz in der Tür stand. Keiner der ›Gäste‹ hatte sich eingefunden. Ihn aber führte sein warmes Herz und eine edle Denkungsart hierher. Edith pries die Weisheit des Schicksals und die Seele Morès.

Seine Erscheinung ragte wie erschaffen für den Trauerpomp; jetzt konnte nichts mehr geschehn, da dieser unvergleichliche Funktionär des Todes, dessen Name selbst an Mors erinnerte, aufgetreten war. Die Wirtschafterin fiel flüsternd über ihn her und binnen zehn Sekunden war die Situation gerettet.

Daß der Präsident der Spinoza-Gesellschaft, der Ordensmeister der ›Söhne des Bundes‹ eine bedeutende Rednergabe besaß, und daß ein Grabsteinagent die Oratorik der Friedhöfe beherrschte, war selbstverständlich. Zu dieser Gabe trat (eine übliche Folge des Talents) die unbändige Sucht hinzu, bei allen Gelegenheiten, bei Eröffnung und Schließung von Sitzungen, Versammlungen, Kongressen, bei feierlichen und unfeierlichen Anlässen, bei Hochzeiten, Jubiläen, Trauerkommersen und harmlosen Gastereien, überall, wo es anging und nicht anging – die unbändige Sucht, auch Reden halten zu wollen! So war Edith jetzt nicht minder erfreut über die Zusage des Präsidenten, als er über ihre Bitte.

Mit einem rasch-mißtrauischen Umblick erkundigte er sich darnach, ob nicht etwa ein Unbefugter, ein Journalist gar, hier Zutritt gefunden habe. Dann erst stellte sich Morè an den Katafalk, hob den Kopf, um der Inspiration zu lauschen und schloß die schmerzensvollen Augen.

Nun begann er seine Rede zu halten, die ebensosehr und ebensowenig für den Toten hier unterm Bahrtuch als für irgend einen andern Verstorbenen Geltung haben konnte. Es war aber, und einzig darauf kommt es an, eine sehr schöne Rede.

Der Präsident zitierte gleich eingangs Goethe und dessen Feststellung, daß der strebend bemühte Mensch erlöst werden könne. Der naheliegenden Gefahr, angesichts so vieler Bajaderen die ›feurigen Arme der Unsterblichen‹ zu zitieren, welche ›verlorene Kinder zum Himmel emporheben‹, entging Morè im letzten Augenblick und rettete sich in jene unbedenklichere Strophe, in welcher der Neuling die Huri am Paradiesestor auffordert, ›ihn immer nur ohne Federlesen hereinzulassen, weil er ein Mensch gewesen sei‹. Die Zuhörer, vom unverstandenen Dichterwort angeschauert, erstaunten nicht über des Präsidenten Zumutung, sich Herrn Maxl als strebendbemühten und schwertumgürteten Kämpfer vor der Paradiesespforte vorzustellen.

Vielleicht hat Herr Maxl allein sich über diese Vorstellung verwundert, wenn die Annahme einiger Geheimlehrer, daß die ›Intelligenzen‹ der Toten ihre eigene Leichenfeier beobachten, zutreffend ist.

Aber nicht allein bei Goethe blieb es. Der Redner berief auch noch Spinoza, Lessing, Jesaja, Haeckel und führte so bei einem traurigen Anlaß die geistvollsten Männer der Welt in den Großen Salon der Gamsgasse ein.

Die Rede erreichte ihren Höhepunkt, als der Präsident sich mit männlich-herbem ›Du‹ unmittelbar an den Toten wandte, den gewitterschwülen Ernst der Zukunft prophezeite und in dem Abgeschiedenen das Sinnbild einer genußfrohen, heiteren und unbeschwerten Zeit pries, die nun auf der Bahre liege, um dahinzufahren für immer. Es sei bestimmt in Gottes Rat, daß man jetzt Abschied nehmen müsse von einem liebenswürdigen Menschen, und vielleicht, wer weiß, Abschied auch von der eigenen leichtbeschwingten Jugend ...

Bei dieser Stelle schlug das schwelende Schluchzen zur Flamme eines lauten Geheuls hoch. Ludmilla, von hoffnungsloser Liebe gepackt, schrie in ihr Taschentuch. Auch Oskar lag ja dort und wartete, noch heute begraben zu werden.

Ilonka zerschlug sich in plötzlicher und düsterer Raserei die Brust. Manja, die harte Totengräberstochter, wand sich vor Schmerz. Edith kniete in fassungsloser Tränenzerknirschung vor dem Katafalk. Nur Grete hing mit trockenen, aber brennenden Augen an dem wortgewaltigen Munde des Sprechers.

Mit einem tröstlichen und weihevollen Ausklang schloß nun die Rede.

Die aus dem Schmerzenstraum erwachten Damen benahmen sich linkisch wie Schulkinder oder Dienstmägde, als einer jeden von ihnen der Herr Präsident mit strenger Beileidsmiene die Hand drückte.

Am schnellsten erholte sich Edith von ihrer Erschütterung. Sie genoß dankbar das Glück, diese Feier, die ja ihr Werk und Verdienst war, einen erhebenden Verlauf nehmen zu sehn. Nach solch einer aufwühlenden Ansprache aber war es die Musik allein, die noch etwas zu sagen hatte. Die Wirtschafterin drängte deshalb Herrn Nejedli energisch zum Klavier.

Es erwies sich aber, daß im Laufe der langen Jahre das Repertoire des ehemaligen ›k. k. Titularwunderkindes Kaiser Ferdinands des Gütigen‹ bedenklich zusammengeschmolzen war. Tänze, Märsche, Schlager, ja, die saßen noch gut in den Fingern, aber man konnte doch unmöglich den Auszug eines Toten mit dem elektrisierenden ›Einzug der Gladiatoren‹ feiern.

Sehr schlimm stand es um die ernste Musik. Herrn Nejedlis Hände waren weder eines populären Chorals noch auch Chopins Trauermarsches mächtig. Alles in allem beschränkte sich sein gemütvolles Programm auf drei Nummern: ›Lohengrins Brautzug‹, Arie aus: ›Die Jüdin‹ und ›Barcarole‹ aus ›Hoffmanns Erzählungen‹.

Der Alte verwarf Lohengrin, ohne zu zaudern und entschloß sich zur Jüdin:

»Großer Gott, hör mein Flehn!
Hör mein Flehn, großer Gott!«

Niemand nahm Anstoß an der bewegten, fast lustigen Leidenschaftlichkeit dieses Allegros, und als Nejedli gar auf verbotenen Umwegen zur ›Barcarole‹ hinüber modulierte, da sahen sich alle an, denn die Barcarole war ja Maxls Herzensmusik gewesen, bei der er immer ›weinen mußte wie ein kleines Kind‹. – Sinniger, verklärter konnte die Totenfeier nicht enden, als mit diesen ewigen Klängen, die auf lichtbekränzten Barken über finstere Wasser gleiten:

»Süße Nacht, du Liebesnacht,
O stille mein Verlangen ...«

Die Träger mit dem Sarg ächzten und polterten an der goldbronzierten Venus und am Trompeter von Säckingen vorbei über die kranke, hustende Treppe. Die Damen folgten. Aber nicht mehr Trauertöne, sondern Geflüster und leises Gelächter war zu vernehmen. Vorhin, ja, da hatten sie sich ausgeweint bis zur Tränenneige. Tränen, sie löschen den göttlichen Durst unserer Seele, und deshalb sind wir glücklich und satt, wenn wir geweint haben.

Die Damen waren glücklich und satt. Mehr noch, der freudige Stolz erfüllte sie, der aus allem Gelingen emporwächst.

IX

Die Firma Blum lieferte nicht nur im Aufbau des Pomps wahre Expreßarbeit, vielmehr noch bewährte sie sich in der Abrüstung ihrer Schleier, Bespannungen, Draperien und Podeste. Rasch besorgte sie den Szenenwechsel zwischen Tod und Leben, wie ein guter Bühnenmeister seine Verwandlungen.

In diesem Fall besonders war Eile dringende Forderung, denn am Abend schon sollte das Haus dem Vergnügen wieder offen stehn und kein Rest des Todes durfte sich drückend auf die Seele der Gäste senken.

Hier war Schnelligkeit wirklich Hexerei. Kaum hatte der Kondukt sich in Bewegung gesetzt, flogen alle Fenster auf, Geschrei und Hammerschlag erscholl von neuem, und der Große Salon, von seinen unnatürlichen Fesseln befreit, fand zu sich selber zurück. Auch der durch Weihrauch, Kerzenqualm und unnatürliche Ausdünstungen getrübte Hausgeruch dehnte sich, nun wieder er selbst geworden, im Flur. Als nach zwei Stunden die Trauernden in ihren Landauern vom Friedhof heimkehrten, lag kein sichtbarer Schatten mehr über den Räumen und sie waren die alten.

Mit einem leichten Fremdheitsgefühl durchschritten die Damen die altneuen Gemächer, denn jede Wohnstätte hat ihre Epochen und die Insassen fühlen es. Zwischen heute und heute lag ein Abgrund, klaffte das Grab, darein man vor einer Stunde die nackte, ungehobelte Holzkiste versenkt hatte.

Präsident Morè war mit der Gesellschaft von der Beerdigung zurückgekehrt. Dort draußen in Olschan, wo er eine bekannte Persönlichkeit war, hatte er sich um seines Rufes willen ein wenig abseits gehalten, aber man konnte diese Zurückhaltung wohl als stille Bescheidenheit deuten.

Der Präsident genoß wegen seiner erschütternden Trauerrede unbegrenzte Hochachtung. Mit scheuer Verlegenheit sahen die Mädchen zu ihm empor. Und dann, er war der einzige von allen ›Gästen‹, der ein menschliches Verhältnis zu ihnen und ihrem Leben gefunden hatte. Mit keiner anderen Absicht war er ja heute hierhergekommen, als dem Toten die Reverenz abzustatten und den Trauernden sein Beileid auszusprechen. Fräulein Edith wußte die erwiesene Ehre vollauf zu würdigen. Wahrhaftige Dankbarkeit in den Augen trat sie an Morè heran, hielt seine Hand zärtlich in der ihren und erklärte, daß sie nun wisse, wer von den Freunden des Hauses ein wirklicher Mensch und Mann von Herz sei.

Der Präsident zuckte trauervoll die Achseln und meinte, er kenne das Leben und wäre sich über den Lauf der Welt im klaren. Daß aber, wenn schon kein andrer, auch der Doktor Schleißner heute den Weg hierher nicht gefunden habe, das setze ihn doch in Erstaunen. Edith gab zu verstehn, daß ein Mann ein Mann bleibe und keinen andern Zweck verfolge als echt männliche Schweinerei. Der Präsident sei eine Ausnahme. Das hätte sie ihm gleich angespürt. Ihr könne man keinen Schwindel vormachen; sie habe nichts, aber die Menschenkenntnis sei auch kein schlechtes Kapital.

Da traten dem ernsten Biedermann Tränen in die Augen, weil das Schicksal ihm Gelegenheit gegeben hatte, sich tugendhafter zu bewähren, als diese Menschenkennerin es von der Mannheit im allgemeinen erwartete. Der wahre Grund seines Kommens war vergessen. Er begann zu glauben, daß die Humanität selbst, deren klassischen Meistern und Meisterwerken er rastlos diente, ihn heute hierhergeführt hatte.

Die Damen umstanden die düster-würdige Gestalt im Kreis wie einen Lehrer, lauschten ihren Worten, und die ortsgemäßen Phrasen und Bemerkungen, die tagelang schon geschwiegen hatten, auch jetzt noch wagten sie sich nicht hervor, obgleich Ilonka eine schier unüberwindliche Verlockung empfand, ein paar saftige Kernworte ihres Berufsjargons in die Unterhaltung zu werfen.

Der Große Salon, dessen Läden, wie es sich gehörte, geschlossen waren, lag wieder in seiner ihm eigentümlichen Beleuchtung und harrte mit rotem Plüsch, Marmortischen, Renaissancespiegeln und frisch gebohntem Tanzparkett dem Lärm der Nacht entgegen. Nach und nach begannen die Mädchen trotz ihrer Trauerkleider den wiegenden Schritt des Abends zu proben, den sie drei Tage lang vermieden hatten.

Nur Ludmilla fehlte, die in einer Vorstadt zurückgeblieben war, um bei Verwandten Besuch zu machen.

Der Präsident, mit sich selber höchlich zufrieden, überlegte lange, ob er als solider Kaufmann in diesem Hause nicht auch seine Kundschaft sehen müsse. Er kam trotz gewisser moralischer Einwendungen zu dem Schluß, daß es als Zeichen beginnender Untüchtigkeit und geschäftlicher Schlaffheit zu deuten wäre, wenn er sich bei so günstigen Umständen einen Kunden entschlüpfen ließe. So gab er sich denn einen Ruck und begann, diesmal ohne jedes Pathos, aber dafür mit klingendem Herzton abermals zu sprechen.

»Kinder« – so etwa lautete seine Ansprache, wobei er Grete und Anita neben sich Platz nehmen ließ und einen Seufzer vorbrachte – »der Mensch stirbt und wir alle werden sterben. Wie dieses Sterben tut, das weiß keiner, und wer es weiß, Kinder, der weiß es auch nicht mehr. Gut! Damit muß man sich abfinden. Aber die Geschichte hat noch einen anderen Haken ...«

Seine Stimme klang nun wissensschwer und resigniert:

»So ein Grab, wenn es nicht gepflegt wird, verfällt, und ich gebe mein Wort darauf, innerhalb weniger Monate ist es ein Misthaufen. Ich spreche aus Erfahrung.«

Manja bestätigte das und Morè fuhr fort:

»Die Pflege eines Grabes aber, meine Damen, kostet Geld, so häßlich es ist, die Erinnerung kostet Geld. Wer gibt dieses Geld? Anständige und korrekte Hinterbliebene! Wenn aber ein Mensch niemanden hat, was dann?!«

Der Präsident schaute vielsagend von einer zur andern, ehe er sich anschickte, die Herzen zu treffen:

»Was dann?! Fragt euch selbst, ob ihr dereinst jemanden haben werdet!«

Das Argument saß. Wen würden sie dereinst haben?! Spital, Versorgungshaus, Anatomie und bestenfalls ein hartes Brot, so lautete des Märchens Ende, das man ihnen so oft erzählte. Der Präsident lächelte väterlich:

»Nun, Herr Max Stein hat wenigstens so herzensgute Mädchen, wie ihr es seid, zu Hinterbliebenen. Aber wohin werdet ihr im kommenden Jahr verschlagen sein? Ihr könnt es nicht wissen!«

Auch dieses Argument saß. Heute war man in der erstklassigen Gamsgasse beschäftigt und speiste mit silbernem Besteck. Aber die Jahre vergehn, und nicht jede kann zur Wirtschafterin avancieren, Haupttreffer in der Lotterie und im Leben sind selten. Es hatte dutzendweise Manjas, Anitas, Ilonkas gegeben, die zu ›Napoleon‹ zurücksanken und dann immer tiefer und tiefer in der Provinz verkamen.

Der Präsident wollte niemanden betrüben, plötzliche Erleuchtung zeigten jetzt seine Züge:

»Mir kommt eben ein guter Gedanke! Wie wäre es, wenn ihr unter euch eine kleine Sammlung veranstalten wolltet, um dem Toten ein Steinchen mit seinem Namen aufs Grab zu setzen. Ich spreche aus Erfahrung! So ein Marmor (es muß natürlich nicht gerade Marmor sein, auch Sandstein zum Beispiel macht sich recht gut), aber Marmor vor allem erhält ein Grab in alle Ewigkeit jung. Selbstverständlich geschmackvollste Ausführung, keine Bildhauerarbeit, einfache goldene Schrift! Wer dann in vielen Jahren vorübergeht, liest: ›Max Stein‹, sagt Aha und erinnert sich. – Was meint ihr? Wollen wir nicht eine kleine Kollekte eröffnen? Das heißt, nur wenn es euch wirklich einleuchtet. Denn mir selbst kann es ja gleich sein. Ich denke aber an alles und habe zufällig einen Preiskurant mitgebracht. Von dreihundert Kronen aufwärts erhält man schon ganz passable Denkmäler ...«

Vom Herzen der Damen war der Druck dieser letzten Tage noch nicht gewichen. Noch fühlten sie sich auf dem Parkett des Großen Salons nicht zu Hause. Das Bild des Friedhofes stand vor ihren Augen. Die Frage: »Wen werdet ihr haben?« wohnte noch in ihrem Ohr. Gern hätten sie sich von dem Gedanken an das Schicksal losgekauft, das ihnen doch angstvoller drohte als andern Menschen. Und ist der Tod nicht jene Naturerscheinung, die in allen einfachen Völkern und Personen den Trieb anregt, Opfer darzubringen?

So waren die Worte Morès auf fruchtbaren Boden gefallen. Mehr oder weniger eifrig begab sich alles auf die Zimmer. Die Barschaften und Ersparnisse wurden gezählt und wieder gezählt. Je nach dem Maß von Großherzigkeit, Glauben, Geiz und Geberlaune fiel das dargebrachte Opfer aus.

Valeska, das eitelste und gutmütigste Herz von allen, kam, weil sie von der Kollekte schon beim Umkleiden betroffen worden war, oder nur weil sie das Bedürfnis hatte, sich in ihrer Pracht zu zeigen, kurz, sie kam splitternackt herunter, um die fünfundzwanzig Kronen ihres Tributes an den Tod dem Geschäftsvertreter des Todes persönlich einzuhändigen. Und wunderbar! Als in dem noch immer verstimmten Düster des Großen Salons plötzlich die freudige Fleischfarbe dieses Frauenleibes aufblühte, schien er das erstemal nach Maxls Tod wirklich zu sich kommen zu wollen. Der erschöpfte Raum lächelte matt und holte zögernd Atem wie ein Kranker, dessen Zustand sich dem Leben zuwendet. Valeska aber drehte sich berauscht um ihre eigene ansehnliche Achse. Es war ein traulicher, ja anheimelnder Augenblick.

In der nächsten Viertelstunde hatte Präsident Morè die meisten Mädchen mit ihren bürgerlichen Namen und mit angemessenen Beträgen in eine Spendenliste eingetragen. Nur Fräulein Edith, die das Ihre getan, und Manja, die Eingeweihte, die den Schwindel kannte, versagten ihre Teilnahme.

Der Grabsteinagent konnte die schöne Ordre in sein Taschenbuch eintragen und auch er tat – gerührt über sich selbst – ein Übriges, indem er seine Provision von den üblichen fünfzehn auf sieben und ein halbes Prozent herabminderte.

Die Ankleidezeit und mit ihr der Figaro waren gekommen. Die gewohnte Erregung fuhr in die Damen. Man drängte schreiend über die Stiegen ins Stockwerk der Garderoben. Mächtig erklang Ilonkas Lieblings-Kraftwort, das sie nun aus befreiter Brust hervorjubelte.

Grete allein blieb neben dem Präsidenten im Salon sitzen. Sie griff nach seiner Hand.

»Also! Ein großes Loch! Da wird man hineingeschüttet! Dreck und fertig!«

Der Vorsitzende der Spinoza-Gesellschaft wehrte, ohne seine Weltanschauung deutlicher preiszugeben, kurz ab:

»Das ist nicht das Wesentliche!«

Grete erstaunte:

»Sag' mal, Präses, du glaubst doch nicht an den Himmel wie Edith?«

Der Präsident begnügte sich, mit Doktor Faust zu bemerken:

»Und sehe, daß wir nichts wissen können.«

Grete aber war noch nicht am Ende ihrer Metaphysik angelangt. Sie sah Morè scharf an und betonte jedes Wort:

»Wenn es möglich ist, daß wir in den Himmel kommen, warum regnet's dann immer, wenn einer begraben wird?«

Sie triumphierte. Aber der Präsident entkräftete ihren feinen Syllogismus durch trockene Berufserfahrung:

»Ich habe in meiner Praxis auch schöne Begräbnistage erlebt.«

Grete fragte plötzlich:

»Du Präses! Was hat Spinoza gesagt?«

»Der hat vieles gesagt, mein Kind!«

»Hat das Spinoza geschrieben: Sör, geben Sie Gedankenfreiheit!?«

»Nein, das ist von Schiller. Aber Spinoza hat genauso gedacht. Er sagt zum Beispiel: Glückseligkeit ist Tugend, nicht ihr Lohn!«

»Glückseligkeit ist nicht ihr Lohn! Meiner auch nicht! Das ist gottvoll, Präses ...«

Grete gluckste vor Erschütterung über Morès Zitatenschatz.

Sie bekam eine sehr innige Stimme:

»Spinoza, das ist ein Spanier, was? Ich hab auch einmal einen Spanier gehabt ... Nein, zwei!«

Der Präsident belehrte:

»Spinoza war ein Holländer.«

Grete machte ein angeekeltes Gesicht:

»Holländer! Pfui Teufel! Ich kann die Holländer nicht ausstehn. In Hamburg, weißt du, da waren damals viele Holländer ...«

Der Präsident, dessen Gedanken sorgenvoll bei der Politik weilten, schnitt dieses Bekenntnis kurz ab:

»Sie werden voraussichtlich neutral bleiben.«

Jetzt drückte sich Grete dicht an den Mann:

»Du Präses! Weißt du eigentlich, daß ich auf dich fliege? Ich fliege viel mehr auf dich als auf den Schleißner! Wie kann man Schleißner heißen? Der hat wohl viel Geld für das ›L‹ in seinem Namen zahlen müssen? Was? Das war großartig fein von dir, daß du heut gekommen bist, Präses!«

Der Präsident lächelte herablassend und fuhr bedächtig mit seiner großen behaarten Hand Gretes lange Beine hin. Sie seufzte an seiner Brust:

»Du sollst mein Geliebter sein und darfst mir kein Geld geben.«

Da aber kannte sie den Präsidenten schlecht.

Er erhob sich zu seiner vollen Höhe und erklärte, er sei ein Gast wie jeder andere und verzichte darauf, eine Ausnahme zu machen. Gern wollte er sich jetzt mit ihr aufs Zimmer begeben. Geschenke aber nehme er nicht an. Wie käme sie dazu und wie käme er dazu. Ordnung müsse sein!

Das Paar verschwand.

*

Zu gleicher Zeit erhielt Edith von Ludmilla die Botschaft, daß sie nicht mehr in die Gamsgasse zurückkehren werde.

X

Hier müssen diese kurzen und flüchtigen Aufzeichnungen notgedrungen enden, denn die Geschichte des altehrwürdigen Hauses in der Gamsgasse endet hier. Eine unbeträchtliche Chronik ›letzter Tage‹ umschließen unsere Blätter, wenn man, ohne jede geschichtliche Schwärmerei, nüchternen Sinnes annimmt, daß dieses berühmte Haus nach der Schlacht auf dem Weißen Berge etwa gegründet worden ist. Die glanzvolle Vermutung, daß schon dreihundert Jahre früher Kaiser Karl der Vierte von Luxemburg sein Schöpfer gewesen sei, gehört wohl nur in das Reich der Sage. Aber dies ist ja das Wesen des Ruhmes; auch die Taten und Leistungen unbekannter Männer schreibt er dem strahlenden Namen zu. Warum soll Karl, der große Städtebauer, dem wir die Neustadt, die Universität und alte Brücke verdanken, nicht auch den Grundstein zum Großen Salon der Gamsgasse gelegt haben?

Gewaltige Epochen jedenfalls und ein riesiges Lebensalter waren ihm beschieden zwischen dem Dreißigjährigen und dem Weltkrieg. Diese großartige Lebensdauer hätte ein romantischeres Ende verdient, als in der Person eines dekadenten, halbschwachsinnigen ›Letzten‹ auszulöschen. Aber gehen die mächtigen Reiche der Welt denn effektvoller unter? Sie glauben zu bestehen, sie führen Krieg, und eh sie noch wissen wie, sind sie aufgelöst und als Beute verteilt.

In dem paradoxen Augenblick, wo Herr Maxl im Großen Salon auf der Bahre lag, hatte sich das Schicksal des Etablissements erfüllt, mochte es sich auch bis zum Umsturz noch hinschleppen. Die Erben taugten nichts. Das beweist zur Genüge der Umstand, daß Fräulein Edith, die frömmste und umsichtigste aller Wirtschafterinnen, schon in den ersten Tagen des neuen Regimes ihre Kündigung einbrachte. Diese Kündigung und die Sittenstrenge der neuen Staatsmänner gaben der Unternehmung den Rest.

Das Haus steht noch. Aber der Lederhandel der Umgebung hat es erobert und selbst der eigenartige, einst unüberwindliche Duft des Vorraums soll, sicherem Vernehmen nach, vom Juchtengeruch völlig vertilgt worden sein.

Im übrigen ist jeder Tod ein höherer Wahrspruch, und nichts stirbt, dessen Zeit nicht gekommen ist. Wenn man heute, nächtlicherweile, durch die von Lichtreklamen durchgellten Straßen geht, liest man an jeder Ecke die Aufschriften von Lokalen, welche der Freude nicht, aber dem Tanze geweiht sind. Das Saxophon des Negers quäkt. Durch die grellen Portale gehn wirkliche Damen aus und ein, und ihre herrlichen und freien Beine locken deutlicher als es einst selbst in der Gamsgasse die Regel war.

Vergrämt, durch eine ungebuchte und schier unendliche Neben-Buhlschaft ums Brot gebracht, zieht müde die Straßendirne über den verlassenen Strich. Wer weiß, ob es überhaupt noch öffentliche Häuser gibt? So kann vielleicht unserer Schilderung, wenn kein anderer, doch ein historischer Wert zugesprochen werden.

Nach den unwichtigen Schicksalen höchst unwichtiger Personen wird sich niemand erkundigen. Sie hatten ja auf diesem Bilde nur die Rolle der Staffage inne. Auch würde die Erkundigung den Gefragten in Verlegenheit setzen. Natürlich wird er sofort herausplatzen:

»Wissen Sie, daß Oskar ein ganz Prominenter geworden ist und das schönste Landhaus in einer amerikanischen Filmstadt besitzt?«

Diese Frage aber geht verloren, da doch jeder Zuluneger Oskar von der Leinwand her kennt.

Hingegen sieht man Ludmilla mehrmals in der Woche an allen wichtigen Abenden in den Theatern der Stadt.

Sie ist nicht eigentlich dicker geworden, nur im Kampfe mit dem Doppelkinn scheint das Doppelkinn Sieger bleiben zu wollen. Man kann sie noch immer hübsch nennen. Ihre schlanken, klassischen Beine feiern, von der Mode begünstigt, auf der Straße alltäglich Triumphe.

Ihre alten Bekannten haben längst das Wagnis aufgegeben, sie zu grüßen. Sie dankt nur jenen Herren, die sie erkennt, und gerade ihre alten Bekannten erkennt sie nicht. Sie blickt ihnen mit angestrengten Kinderaugen in die Gesichter, an die sie sich – sie mögen noch so wissend lächeln oder schmeicheln – beim besten Willen nicht erinnern kann.

Auch Oskar, der sich auf einer europäischen Triumphreise befindet, erging es jüngst nicht anders. Die angestrengten Kinderaugen erkannten ihn nicht, und nichts anderes bekam er in diesen Augen zu lesen als die gelangweilte Verwunderung einer Weltdame über zudringliche Blicke. Er aber blieb eine ganze Weile verstört und sprach nichts, was wieder einmal beweist, daß der Mann eitler ist als das Weib.

Wer wollte Ludmilla ihr schlechtes Gedächtnis vorwerfen? Mit Blut hat der Krieg noch ganz andere Erinnerungen weggeschwemmt. Auch ist sie längst schon die Frau eines einflußreichen Abgeordneten der Republik. Der Zufall wollte es, daß er in den enthusiastischen Tagen des Umsturzes ein Glied jener parlamentarischen Kommission war, die unter dem Vorsitz einer bekannten Frauenrechtlerin die ›kasernierte Prostitution‹ zu Falle brachte und mithin auch das Schicksal des Großen Salons entschied. Frau Ludmillas Gatte gilt als Idealist, er war bisher in keinen der zahlreichen Korruptions-Skandale verwickelt, und ist, wie man hört, eine große politische Hoffnung. Nun, ihr und dem Staate wäre es aufrichtig zu wünschen, daß er bei Bildung des nächsten Kabinetts Minister würde.


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