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I

Die Wohnung besteht aus Zimmer, Küche, Kabinett im vierten Stock eines Hauses der Josefstädterstraße, dicht am Gürtel. Das Ehepaar Fiala schläft im Kabinett, Klara, Frau Fialas Schwester, hat einen Strohsack in der Küche, in der allerdings kein Raum mehr für ein zweites Lager wäre, und Franzl darf sich im Zimmer auf dem Wachstuchsofa betten. Dieses Zimmer geht nicht auf die Straße hinaus, sondern auf einen größeren Lichthof. Aber wenn der lichtspendende Hof seinem Namen auch keine Ehre macht, so behaupten geduldige Anwohner doch, daß in seiner sagenhaften Tiefe ein Akazienbaum sein Fortkommen finde und die Wohnräume zwar finster, aber dafür ruhig seien. Heute übrigens, da frischer Winter die Straßen füllt, hat die Sonne hierher einen Vorstoß unternommen und ein paar fiebrische Flecken Lichts an die Wand des Zimmers geworfen im Augenblick, da es Herr Fiala betritt.

Der Mieter mustert seinen Raum nicht unbefriedigt. Andern geht es schlechter. Wie viele liegen auf der Straße! Und Herrschaften, die unendlich höher gestanden haben als er: Offiziale und Majore! Was da geschehen ist in diesen Jahren, wer kann das verstehen?! Stillhalten muß man, das ist das Einzige. Und ein Glück ist es, wenn einer mit Vierundsechzig noch einen Posten hat. Es ist zwar nur eine Halbtagsarbeit, aber die Firma baut täglich ihre Angestellten ab. – Gott ist gnädig und der Lohn eines Magazinaufsehers zu klein zum Abbauen! – Alles geht ja ganz gut. Ein Vierundsechziger und eine Zweiundsechzigjährige haben nicht viel Hunger. Die Klara, das Luder, verköstigt sich in den Häusern, wo sie bedient. Bleibt nur das Unglück mit dem Franzl.

Der Gedankenablauf Herrn Fialas, täglich und nächtlich der gleiche, ist an sein Ende gekommen. Und nun schickt er sich an zu tun, was er immer tut, wenn er nach Hause und in das Zimmer tritt. Zuerst geht er zu dem Ständer mit den Pfeifen. Er fährt mit der Hand über die Porzellanköpfe. Niemals hat er Pfeife oder etwas anderes geraucht. Der Ständer ist das Geschenk eines früheren Vorgesetzten, der auf diese Weise seine Wohnung von der ominösen Rauch- und Schmuckgarnitur befreien wollte. Herrn Fiala freuts, die Glasur der Pfeifen zu berühren. Es fühlt sich kostbar und gemütlich an. Man greift bessere und langvergessene Zeiten mit der streichelnden Hand. Von den Ständern weg wendet sich nun der Alte und tritt zum Tischchen, das vor dem Fenster steht. Es ist dem Anschein nach ein Nähtisch, dessen Zweckmäßigkeit durch allerlei kühne Architekturen getrübt ist. So laufen die vier Kanten der Platte in vier Fabeltiere aus, Seepferdchen oder gotischen Wasserspeiern ähnlich. Auf dem Tische liegt aber kein Nähzeug, sondern eine Schreibmappe und daneben eine Löschpapierwiege. Auf diese Wiege stützt sich Herr Fiala ein wenig, als ginge von dem gebildeten Gegenstand ein leises Wohlbehagen aus, das ihn stets erquicken möchte. Die zwei Armsessel hingegen am Nähtisch beachtet er nicht. Denn er steht jetzt stolz vor seiner Kredenz. Sie hat er nicht hergegeben beim Verkauf der anderen Möbel. (Ehedem hatten Fialas vier eingerichtete Zimmer besessen, von denen sie zwei vermieteten.) Die Kredenz kann sich sehen lassen. Mit Säulen, Köpfen, Türmen steht sie da wie eine Festung. Sie stammt noch aus dem reichen Zuckerbäckerhause in Kralowitz, wo er seine Frau hergeholt hat. Wer diese Kredenz sein nennt, ist nicht verloren. Wenn er sie verkauft hätte, wären wohl zwei Millionen Kronen zu dem übrigen Erlös hinzugekommen. Aber man will doch ein Mensch bleiben. Ein schönes Geld hat ja der Verkauf seiner alten Wohnung getragen, Gott sei Dank! Aber wer kann in diesen Zeiten dem Gelde trauen? So dumm war er nicht, wie seine dumme Frau meint, es auf ein Sparkassenbuch zu legen. Was seine zwei Sparkassabücheln wert waren, das hatte er erleben müssen! Wenn das Letzte verlorenging, was würde dann die Zukunft sein, was würde aus der Frau werden, was aus dem Franzl!? Für Marie das Versorgungshaus in Lainz, für den Buben die Anstalt am Steinhof! Was das heißt, weiß Herr Fiala sehr wohl. Haben die älteren Leute nicht immer von den Leiden der Versorgung gemunkelt? So schrecklich soll das Leben draußen sein, daß die alten Menschen aus dem Fenster springen, nur um ein Ende zu machen! ›Tag und Nacht fahren die Leichenwagen hin und her.‹ Wenn das auch nur dumme Geschichten sein mögen, so ist und bleibt das Versorgungshaus Schande. Seinen Eltern, die anständige Leute waren und etwas gehabt haben, will er diese Schande nicht antun. Er war niemals ein Bettler und hatte immer zu essen. Seine Familie soll nicht in Lainz enden!

Hier ist Fiala, während die knorpeligen Hände über den Bord der Kredenz wischen, bei seinem Geheimnis angelangt. Herr Schlesinger hat ihm den Weg gewiesen, Herr Schlesinger, Versicherungsagent bei der ›Tutelia‹, ehemaliger Landsmann und seit Jahren Wohnungsnachbar. Die zufriedene Stimmung Fialas hängt an dem Geheimnis, das er mit Schlesinger teilt. Ein Rest von Unruhe ist wohl der Zufriedenheit beigemischt. Aber sein Kopf ist müd und mürbe, das Mundwerk Schlesingers hingegen rasch und geübt. Und dann, Geheimnisse vor Weibern bewahren, ist das denn eine leichte Sache? Schlesinger hat recht gehabt: Nur sich nichts dreinreden lassen! Das Dümmste an den Weibern ist ihr Mißtrauen.

Herr Fiala reißt sich von der Kredenz los, um seinen gewohnten Zimmerrundgang dort zu beschließen, wo sein Herz sich am wohlsten fühlt, wenn es allein ist.

Ziemlich niedrig hängt die Gruppenphotographie, von uralten Zweigen umkränzt, deren braun-gläsernes Laub den Flügeln riesiger Insekten gleicht. In goldenen Lettern trägt sie den Aufdruck: ›Herrn Karl Fiala, die Beamten der Finanzlandesprokuratur, Wien 1910.‹ Diese Gabe ist keine Gewöhnlichkeit, denn in der Regel lag es nicht, daß die vorgesetzten Herren ihr Bild einem Subalternen zum Geschenke machten. Wie oft dürfte es vorgekommen sein, daß die beiden mißgelaunten Hofräte selbst, mit geduldig-lächelnder Nachsicht zu einem ähnlichen Zweck ihr Antlitz dem Photographen überlassen haben? Aber an der Auszeichnung berauscht sich Herr Fiala jetzt nicht. Auch der Rechtfertigung, die ihm durch diese Photographie zuteil geworden ist, weiht er nur einen flüchtigeren Gedanken als sonst. Schuld an der vorzeitigen Pensionierung ist gewiß der Personaldirektor und Oberoffizial Pech gewesen. Wer weiß, wenn der Herr Oberoffizial damals sein Protektionskind nicht hätte unterbringen wollen!? Mit fünfzig Jahren geht man doch nur gezwungenermaßen in Pension. Und wäre er damals wirklich so krank gewesen, würde er dann heute noch leben? Hätte der Arzt, dem er auf Schlesingers Geheiß sich gestern vorstellen mußte, trotz findigster Auskultation ihn sonst für gesund erklärt? Nun, Gott weiß, ob Herr Pech, der böse Mensch, samt seinem Protektionskind nicht tiefer gestürzt ist als er!

Diese Dinge aber beschweren im Augenblick den Betrachter der photographischen Abschiedsgabe wenig. Er ist leidenschaftlich ins Anschauen der Person vertieft, die zwischen den beiden mageren Hofräten dasitzt, üppig und pomphaft. Diese Person hat als einzige auf dem ganzen Bilde den Kopf bedeckt, und zwar mit einem großen, silberbetreßten Dreispitz. Die Person trägt ferner einen dicken und verschnürten Pelz am Leib, der ihr Ansehen verdoppelt und verdreifacht. Die Manschetten des Pelzes sind goldgebortet wie bei einem General. Zu alledem halten die dickbeschuhten Hände der Person einen langen schwarzen Stab, der mit einer Silberkugel gekrönt ist. Im ganzen wirkt die Person wie ein stattlicheres Ebenbild einer anderen und allerhöchsten Person, die in jenen streng geregelten Zeiten das Reich regiert hatte. Und dieser Mann sollte damals ein Kranker gewesen sein? Er, der ruhig und gemessen aus seiner Portierloge trat, um wachsam fast das ganze Torbild des Amtsgebäudes zu füllen? Er, zu dessen einsamer Höhe die vorbeiwandelnden Schulkinder nur scheu emporblickten, er, der sich schon in seiner Kraft und Herrlichkeit leicht verletzt fühlte, wenn er in Ausübung seines Dienstes von den Parteien nach Stiege und Stockwerk und Büro gefragt wurde? Er, der seine Auskünfte nur mit eisig gedämpfter Stimme gab, nachdem er vorher dem Frager ein schmerzlich-nachsichtiges Ohr geneigt hatte?

Herr Fiala saugt den Nachhall dieser Majestät ein. Er denkt nicht daran, den alten abgeschabten Menschen, der vor dem Bilde steht, in Beziehung zu setzen zur breiten Prachtgestalt von einst. Die Prachtgestalt und der Magazinaufseher heute, der im geflickten Kittel von Anno dazumal schlottert, das ist zweierlei Menschheit. Nur daß diese beiden Wesen dieselbe Barttracht noch tragen! Aber wer dürfte den weitausgezogenen, selbstbewußten Kaiserbart des Uniformierten vergleichen mit den demütigen Bürstenbüscheln rechts und links, die heute dünn und grau von den Backen hängen?

Fiala selbst tut es am allerwenigsten. Er schaut nur und schaut. Das Bild ist ein Altar. Kraft und Freude strömt es aus. Darum auch schämt er sich und hat immer Angst, in seiner Versunkenheit betreten zu werden. Auch heute und jetzt dreht er sich furchtsam um, ob die Tür zur Küche nicht plötzlich aufgehe.

Und nun erst gewahrt er, daß eine festliche Veränderung in seinem Zimmer vorgegangen ist. Denn der Tisch vor dem Wachstuchsofa ist gedeckt. Mit einem feinen roten Kaffeetuch gedeckt. Servietten liegen sogar auf und die schönen Tassen sind hervorgeholt, die der Schwiegermutter gehört haben, der Zuckerbäckerin in Kralowitz.

»Wo die Weiber das Zeug nur immer versteckt haben?«

Solch eine Frage etwa will in Fiala entstehen. Aber es kommt nicht dazu. Sondern eine Wolke angenehmen Gefühls, rötlich fast wie das Kaffeetuch, umnebelt ihn. So war es ja immer gewesen, sonntags, ehe der Krieg kam. Was ist denn geschehen? Diese Tassen, diese Servietten, dieses Tischtuch, das ist ja die Auferstehung des Mannes auf der Gruppenphotographie in all seiner pelzverbrämten Kraft. Herr Fiala, noch immer fassungslos und rosig umwölkt, gibt sich ungläubig dem Traum hin. Das Geheimnis, der Pakt, durch Schlesinger getätigt, durch ärztlichen Machtspruch besiegelt, steigert die Freundlichkeit des Augenblicks. So kann man doch noch auf ein anständiges Ende hoffen. Dies und Jenes ist da. Feine Tischwäsche darunter. In ihrer sauberen Faltung ruht aufbewahrt die alte Zeit, da man groß und gesund in einem Tor stand, da alles umsonst war und kein Mensch Entbehrungen kannte. Mit Gottes Hilfe wird alles wieder so werden, wie es gewesen ist. Das Versorgungshaus wirft keinen Schatten mehr über den Weg, und auch der Franzl wird immer soviel besitzen, daß er nicht in eine Anstalt muß.

II

In seiner wohligen Geistesabwesenheit steht Herr Fiala noch immer da, als seine Frau mit dem Kaffeebrett sich durch die Tür müht. Er staunt dieses Brett an, denn es trägt nicht nur zwei niemals in Gebrauch befindliche Kannen für Kaffee und Milch, sondern auch einen Aufsatz mit künstlichen Bäckereien, Spanischem Wind, Nußkipferln, Kollatschen und Schnitten. Hierin ist Frau Fiala, die Zuckerbäckerstochter, Meisterin. Aber für wen hat sie diesmal ihre Kunst aufgeboten? Sonst bäckt sie doch nur, wenn sie sich bei den reichen Damen, die sie kennt und die ihr hie und da Wohltaten erweisen, bedanken will. Ganz verlegen ist Frau Fiala jetzt, da sie doch auch etwas sagen muß und ihr die feierliche Jause, auf die sie sich den ganzen Tag gefreut hat, selbst ganz merkwürdig vorkommt.

»No, Karl, weils dein Namenstag ist!«

Aber plötzlich scheint ihr die Begründung nicht mehr stichhaltig genug zu sein, denn sie schüttelt über sich selber den Kopf. Es war ihr der Einfall und die Lust ganz plötzlich gekommen. Die gute Wäsche besitzt sie ja noch. Und der Mann plagt sich, kommt immer traurig nach Hause. Nie geht er aus, nie verlangt er etwas. Er raucht nicht, er trinkt nicht. Das war ihr alles nahegegangen heute Vormittag. Der Mensch muß doch auch einmal seine Freude haben, selbst wenn er alt ist. Vielleicht aber wars nicht nur dieser Gedanke. Vielleicht hat auch sie einen Blick auf die Gruppenphotographie geworfen und das Ihre dabei empfunden.

Herr Fiala hat sich noch immer nicht erholt. Er blinzelt wie aus dem Schlaf seine Frau an. Was ist das für eine schwarze Seidenbluse mit Jettknöpfen? Die stammt auch noch aus jener Zeit! Und ihr falsches Gebiß hat die Frau im Munde, was doch sonst nicht vorkommt, da es ihr mittlerweile zu groß geworden ist.

Herr Fiala sieht die Seinige im längstvergessenen Staat. Er hört, daß sein Namenstag heute gefeiert wird. Zehntausend Karle gibts. Und alle Karle feiern den Tag. Das erfüllt ihn mit wohltuendem Stolz. Denn wenn andere Karle feiern, darf auch er noch feiern! Das Geheimnis fällt ihm ein und verwandelt sich sogleich in eine verschollene Polka. Ungeschickt geht er dem alten Takt nach, den er in sich verspürt und berührt die ärmliche Hüfte und Schulter der Frau. Zu einem Kuß reichts nicht mehr.

Sie sitzen nun am Tisch und genießen. Auf dem Kaffee schwimmt eine dicke Haut. Mit einer kleinen Hemmung des Zugriffs werden jeder Tasse zwei Stückchen Zucker geopfert. Auch das Zimmer spielt für einen Augenblick die Idylle des Behagens mit. Es mildert die hohläugige Krankheit des Lichts und lügt die Armut um zu einer behäbigen Dumpfigkeit, als würde es vorübergehend anerkennen, daß Karl Fiala und der ehemalige pelzvermummte Türhüter der k. k. Finanzlandesprokuratur ein und dieselbe Person seien.

Solange keines von beiden etwas spricht, dauert diese Verwandlung an. Aber leider läßt sich Herr Fiala zu einer aufrichtigen Bemerkung hinreißen, die dem Alltag sofort eine Tür öffnet.

»Gott sei Dank, daß die Klara nicht zu Hause ist.«

Frau Fiala hat zwar vor ihrer Schwester Furcht und solange das Wort nicht ausgesprochen war, hat auch sie sich des Alleinseins mit ihrem Alten gefreut, aber jetzt ist sie leider in die ewige Verteidigungsstellung gedrängt. Denn Klara bildet das Streitobjekt zwischen den Gatten. Auch Herr Fiala hat Angst vor seiner Schwägerin. In der Nacht liegt er oft da und fühlt ein Grauen vor dem Weib nebenan in der Küche. Hat sie nicht zweimal mit dem Besen gegen ihn ausgeholt? Und wenn er einmal alt und schwach sein wird, sie würde zuschlagen, erbarmungslos! Er kann die Vorstellung nicht loswerden, daß sie ihn wütend mit dem Besenstiel gerade ins rechte Auge trifft. Er fühlt genau, wie das Auge anschwillt und brennt, während seine Gute daneben ihre altbekannten Milderungsgründe erschöpft: daß Klara eine Enttäuschte sei, daß sie dieses Bedienerinnenleben heruntergebracht habe, daß alle alten Jungfern Bisgurn wären, und daß sie schließlich ein gutes Herz und noch bessere Arbeitsarme besitze.

Herr Fiala lenkt von dem unerquicklichen Schicksal ab, gegen das sich nichts mehr wird tun lassen:

»Wo ist Franzl?«

»Um Holz ist er.«

Da läutet es an der Wohnungstür. Es ist Herr Schlesinger, der Versicherungsagent. Öfters kommt er auf einen Plausch zu Fialas. Denn erstens ist auch er ein Kralowitzer und zweitens wohnt er auf dem gleichen Gang. Er bleibt in der Tür stehen und schnalzt mehrmals mit der Zunge, ehe er seine Frage stellt, mehr an sich selbst, als an die alten Leute:

»Was tut sich?«

Fiala ist erregt über den Besuch. Seine etwas starren blauen Augen blicken verlegen den Agenten an, der Herr über sein eigenwilliges Geheimnis ist. Frau Fiala kann hingegen den Hausfrauenstolz nicht unterdrücken, einem Kenner und besseren Menschen Servietten, feines Geschirr und edle Bäckerei vorsetzen zu dürfen. Sie bringt eine neue Tasse, sie schenkt Kaffee ein, sie weist den Platz an, wie sichs gehört.

Aber ehe Schlesinger sich hinsetzt, gestikuliert er vielsagend mit dem ausdrucksreichen Kopf:

»Da sieht man, wo das Geld wohnt.«

Auch er ist schon Fünfzig, hat eine spiegelglatte Glatze und einen ganz kleinen an der Oberlippe grau-klebenden Schnurrbart. Er läßt sich nicht gehen und hält sich proper. Befriedigt mustert er das Gebotene. Auch zeigt er sich im Bilde über die Herkunft Frau Fialas. Der Name der Zuckerbäckerfamilie Wewerka ist ihm geläufig. Doch geht die Achtung vor diesem Namen nur so weit, daß er das Stichwort abgeben darf für einen andern, den seinen nämlich. Das Thema liegt ihm. Man spürts an der fast wehleidig gestellten Frage:

»Die Firma Markus Schlesinger, Kralowitz, Ringplatz, haben Sie gekannt?«

Frau Fiala bejaht lebhaft.

»Wirkwaren, Schnittwaren, Tuchwaren, Delikatessen, Südfrüchte, Lebensmittel, Tabaktrafik. Ein Warenhaus schon damals, ich bitte! Ohne meinen seligen Vater wäre ganz Kralowitz und Umgebung erschossen gewesen. Was, hab ich recht?«

Die Alte blickt entzückt in ihre Vergangenheit.

»War mein Vater der angesehenste Kaufmann am Platz, oder nicht? Sagen Sie's selbst, Frau Fiala?«

Frau Fiala hat niemals eine andere Meinung gehabt. Schlesinger aber senkt seine Stimme zu einer weichen und bitteren Melodie:

»Und jetzt frag ich Sie, Frau Fiala, ist mein Vater nicht ein Schlemihl gewesen, daß er das große Unternehmen verkauft hat? Nach Wien hat er müssen übersiedeln und das Kapital an der Börs' verspielen!!«

Herr Fiala hätte etwas Einschlägiges zu bemerken. Auch für ihn wäre es vielleicht besser gewesen, niemals den Heimatort zu verlassen. Aber Schlesinger winkt ihm ab. Er läßt sich in der Aufzeigung seiner Tragödie nicht stören:

»Vor meiner großen Auslage könnt ich jetzt stehn am Ringplatz. Vier Spiegelscheiben und dahinter alles prima arrangiert! Stehn könnt ich und auf den Platz schaun. Wenn die Kunde kommt, brauch ich mich nicht zu rühren. Dazu ist das Personal da ... Schön schau ich jetzt auf den Platz hinaus? Weil mein seliger Vater ein Schlehmil war, bin ich ein Schnorrer.«

Schlesinger beißt verzweifelt mit seinen breit auseinanderstehenden Schneidezähnen die Spitze einer Kuba ab, saugt an ihr gierig von allen Seiten und zündet sie an:

»Ein Beruf, den ich da hab! Immer bei der Kunde einbrechen! Und die Kunde ist hart wie Müllers Esel. Die Menschen glauben, der Tod ist ein Schwindel. Warum sollen sie das Leben versichern lassen? Recht haben sie!«

Fiala schickt einen erstaunten Blick aus. Das veranlaßt Herrn Schlesinger, seinen geschäftlichen Zweifel gutzumachen, indem er jovial lächelnd ausruft:

»Ja, unser Herr Fiala da. Der hats mit mir getroffen!«

Da dieser Ausruf aber nicht recht verständlich ist, fügt er nach seiner Art unvermittelt und ächzend hinzu:

»Photograph wär ich lieber geworden!«

Niemand fragt, warum der Seufzende lieber Photograph geworden wäre. Er läßt sich auch auf keine weitere Erklärung ein, sondern erhebt sich von seinem Stuhl und redet, während er in dem kleinen Raum hin und her geht, unruhig an den Dingen rückt oder mit dem Ärmel drüberwischt:

»Wieviel Stiegen, glauben Sie, steig ich im Tag? Wenn ich um acht Uhr ins Kaffeehaus komm, bin ich kaputt, so kaputt, daß ich keine Karte mehr anrühren kann. Dabei sollten Sie die Provision kennen, die ich zu beanspruchen hab. Früher war das alles keine Last. Aber jetzt! Manchmal kann ich den linken Arm vor Schmerzen nicht mehr schleppen. Und bei jedem zehnten Schritt muß ich stehn bleiben, weil ich nicht mehr jappen kann. Ein Schnorrer bin ich und alt bin ich. Was will man mehr?«

Die Fiala widerspricht und rühmt singend die Jugendlichkeit Schlesingers. Er aber hält im Gehen inne:

»Wissen Sie was, Frau Fiala!? Ein Mann von Fünfzig ist älter als ein Mann von Siebzig. Mit Fünfzig, ich spürs, da wirds gefährlich. Der Ihrige, der hat den Punctus Spundus schon überstanden. Bis Hundert!«

Sagt es und hält das Schnapsglas, das ihm die Frau indessen eingeschenkt hat, salutierend hoch. Dann setzt er sich und stöhnt:

»Wir Juden rauchen zuviel.«

Sofort aber korrigiert er:

»Pardon! Ich bin gar kein Jud, wenn Sie das zur Kenntnis nehmen wollen. Ich habe für die heilige Jungfrau optiert.«

Schlesinger erschrickt sichtlich über seine Worte. Er wird sehr ernst und duckt sich zusammen. Aber die Fialas haben seinen gefährlichen Zynismus gar nicht verstanden. Sie blinzeln ihn an. So murmelt er mit plötzlicher Demut zum Abschluß:

»Ja! Es ist besser fürs Fortkommen!«

Dann schweigt er ahnungsvoll vor sich hin. Fiala ist unruhig, denn er hätte noch manche Frage an den Agenten zu stellen. Die Frau ist aus dem Zimmer gegangen, aber ihm bleibt zum Fragen keine Zeit, schon ist sie wieder zurückgekehrt. Schlesingers Kralowitzer Prahlereien haben ihre eigene Prahlsucht angestachelt. Man kann unschwer bemerken, daß sie in aller Stille ihr Gebiß wieder abgelegt hat; doch bringt sie jetzt eine schwarze Holzschachtel mit. Ihre verschrumpelten Finger wühlen eilig ein Knäuel von Samtbändern, Seidenresten, Jettschnüren hervor, sie klimpern mit Schnallen und zerbrochenem Glasschmuck. Aber die Hauptschätze ruhen auf dem Boden der Familienschatulle. Auch Marie Fiala ist nicht von der Landstraße und hat Angedenken an Kralowitz und ihre Verwandten vorzuweisen. Und schon muß Herr Schlesinger eine Photographie entgegennehmen, was er mit unverhohlener Nachlässigkeit und gemessener Ermattung tut. Fialas, Mann und Frau, haben immer das Bedürfnis gehabt, die feierlichen, ach, so seltenen Momente des Lebens im Bilde fest zuhalten. In ihrer Existenz erfüllt die photographische Kunst einen hohen Sinn. Er hat sein Herzensbild, sie hat ihr Herzensbild, dasselbe, welches der Vertreter der ›Tutelia‹ jetzt nervös und gleichgültig hin und her fächelt. Frau Fiala erklärt:

»Das Grab meiner Eltern, bitte, am Friedhof von Kralowitz.«

In der Tat, dieses Bild in Kabinettgröße zeigt ein Grabmonument und selbst der absprecherische Sinn Schlesingers muß zugeben, daß es ein wohlhabendes Grab ist, ein prächtiger Rasen von ernsten und ehrenhaften Ketten umzirkt. Achtungsvoll wiegt er den Kopf und meint in seiner unpräzisen Art, die immer ein Dunkel über die Worte breitet:

»Am Zentralfriedhof könnten S' zuschaun ...«

Aber das Bild zeigt noch mehr. Es zeigt Frau Fiala selbst in einem stolzgepufften Kleide mit einem Federhut, von dem ein Schleier niederhängt. Es zeigt sie zwischen der ebenfalls geschmückten und noch hochbusigen Klara und Karl, der ihr den Arm gereicht hat und Handschuhe sowie einen steifen Hut trägt.

Schlesinger denkt zwar bei sich ›Gusto das‹, tut aber gutmütig eine leichte Anerkennung kund. Plötzlich kreischt Frau Fiala auf, als würde sie jetzt zum erstenmal den Schimpf und Spott entdecken, den man ihr angetan hat. Ihre Stimme überschlägt sich:

»Der Lausbub, der Lausbub!!«

Und wirklich, man kann die Schmach nicht übergehen und wegtäuschen. Auch ein Lausbub hat sich zu gleicher Stunde auf dem Friedhof von Kralowitz eingefunden, und hinter dem schönen Grabmal hervor, im Rücken der sich verewigenden Familie, bleckt er eine höhnische Fratze und Zunge dem Photographen entgegen. Nun und in alle Ewigkeit, wie das Schicksal!

Was bleibt Herrn Schlesinger anderes übrig, als den tückischen Gassenbuben auch zu verurteilen und das Bild in die Hände der Besitzerin zurückzulegen? Diese klappt die schwarze Schachtel eilig zusammen, denn an der Wohnungstüre hat es geklopft. Keine Zeit mehr ist übrig, dem Besuch das Bild der beiden schönen und luftiggekleideten Nichten anzubieten, die als Varietétänzerinnen große Karriere gemacht haben und jetzt nach Südamerika engagiert sind.

Grußlos ist Franzl eingetreten, geht mit unbeteiligtem Blick an dem Alten vorbei in die Küche, wo er die Holzlast von seinen Schultern auf den Boden poltern läßt. Franzl wird der lange, trübe Mensch genannt, der seine Zweiunddreißig zählt. Frau Fiala behauptet, daß die Fraisen an allem schuld seien. Denn Franzl ist Epileptiker, hat häufig Anfälle, vergißt, was man ihm aufträgt, und ist daher in keinem Beruf brauchbar, wenn er auch tagelang herumstreift, um eine Arbeit zu finden. Derartiger Geschöpfe entledigt man sich zu allgemeinem Vorteil, indem man sie den dazu bestimmten, gemeinnützigen Anstalten anvertraut. Es muß gesagt werden, daß Franzls Mutter des öfteren schon willens war, für ihr Kind die öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen in Anspruch zu nehmen. Sie hätte gehört, so erklärte sie bei solchen Anwandlungen ihrem Mann, daß jetzt, nachdem die roten Stadtväter das Regiment über den Steinhof führen, das Essen ausgezeichnet sei, besser, als der Bub es zu Hause bei ihr haben könne. Aber da versteht Herr Fiala keinen Spaß, da kann er, der Sanftmütige und Geduckte, zurückfinden in die grobe Rolle von ehemals. Hierbleiben wird der Franzl. Solange er selber noch Atem hat, wird er für den Buben sorgen, und wer weiß, auch noch länger!

Inzwischen bietet Frau Fiala ihrem Sohne von den Speisen an:

»Willst was haben, Franzl? Kaffee oder Bäckerei?«

Franzl aber sieht die Alte nur an, stumm, mit einem toten Blick, als wollte er sagen: ›Hab ich mir das verdient?‹ Dann setzt er sich in die Küche auf eine Kiste und starrt, wie alle Tage, in das Werden der Dämmerung. Zugleich mit der Dämmerung überschleicht Frau Fiala Angst. Jetzt wird die Klara nach Hause kommen. Sie huscht mit dem Geschirr in die Küche, wo sie Tassen und Kannen umsichtig versteckt. Mit gejagten Händen faltet sie die feine Wäsche zusammen und trägt sie ins Kabinett.

Auch Herrn Schlesinger wandelt Ungemütlichkeit an. Die Erscheinung Franzls beraubt ihn immer aller Suada. Er kann kein Leid sehen. Er ist persönlich gekränkt, wenn in seiner Gegenwart Tod und Krankheit sich vordrängen. Schließlich ist es sein Beruf, die Menschen vor diesen Schäden der Natur zu versichern. Schnell bedankt und verabschiedet er sich von Herrn Fiala. Der aber folgt ihm gierig auf den Hausflur nach. Dort kann er beruhigt nun seine Fragen stellen, denn er behält die Übersicht der Treppe, auf der Klara kommen wird. Mit erregter Hand tastet er die Assekuranzpolizze aus der Brieftasche.

»Alsdann, ist es gut so und in Ordnung, Herr Schlesinger?«

Der Agent setzt für alle Fälle einen ausgedienten Zwicker auf und wechselt aus dem persönlichen in den Geschäftston hinüber, der das Werkzeug ist, mittels dessen er alltäglich ›bei der Kunde einbricht‹:

»Lieber Herr Fiala! Versicherungstechnisch gesprochen, haben Sie einen Haupttreffer gemacht.«

Der Alte hängt an dem geschwinden und wortbegabten Munde. Er bekommt zuerst ein paar gewiegte ›versicherungstechnische‹ Wissenschaftlichkeiten zu hören. Dann packt ihn Schlesinger beim Knopf:

»Sie haben sich ein paar mistige Millionen zusammengekehrt. Millionen ist gut! Nicht einmal Hellerwert hat das Glumpert. Wenn Sie zu mir gekommen wären und hätten gefragt: Schlesinger, soll ich das Geld aufessen? Was, glauben Sie, hätt ich Ihnen gesagt!«

Fialas trübblaue Augen erwarten gespannt die Antwort, die er auf solche Frage bekommen hätte.

»Ich hätte Ihnen gesagt: Essen Sie das Geld auf! Denn was wollen Sie damit anfangen? Auf eine Bank legen, den Bettel? Fett wären Sie schon von den Zinsen geworden! Aber, mein Lieber, alle Banken gehen heute zu grund. Das ist eine Zeit, wo die größten Menschen Gottes ihre Zahlungen einstellen! Also erstens hätten Sie nichts von dem Geld gehabt und zweitens wären Sie darum gekommen!«

Herr Fiala ist von dieser Beweisführung restlos ergriffen. Er blickt mit großer Zustimmung drein.

»Nur aus Freundschaft hab ich mich für Sie interessiert, Fiala! Denn an Ihnen verdien ich nichts. Gott behüte! Schämen müßt ich mich. Also! Sie sind ein rüstiger Mensch in den besten Jahren. Sie haben nichts, wie man sagt, aber sie können davon leben. Ganz gut leben. Man siehts. Heute und morgen werden Sie sich und Ihre Familie ernähren. Also wozu wollen Sie Ihr armseliges Gerstl aufessen oder es auf schlechte Zinsen verlieren? Jetzt geht alles gut, aber, mein Lieber, wenn Sie einmal nicht mehr kriechen können? Und wenn es noch schlimmer kommt ...?«

Der alte Mann fühlt sich im Tiefsten durchschaut. Er beginnt leidenschaftlich zu Schlesingers Worten zu nicken.

»Was dann, Herr Fiala? Ja, für das ›was dann‹ hab ich schon gesorgt. Dann geschieht das Wunder. Sie haben Ihren Bettel nicht aufgegessen und nicht bei einer Bank oder Sparkassa verloren. Sie haben eine mäßige Summarprämie eingelegt. Die Tutelia ist da und gibt Ihren Angehörigen nicht zehn und zwanzig Prozent Zinsen, sondern zweihundert, fünfhundert, tausend Prozent! Ein Kapital gibt sie zurück für Ihren Bettel!!«

Fialas Verklärung ist vollkommen. Das Dokument in seinen Händen vibriert. Mit mühsamer Zunge will er noch die letzten Erkundigungen einziehen:

»Und wann ... wird dann ... das Geld ausgezahlt?«

Sachlich, indem er den Finger näßt, beginnt Schlesinger in dem Pakt zu blättern.

»Da muß es stehn ... Hier: ... Und verpflichten wir uns, wenn das Ableben nach vollendetem fünfundsechzigstem Lebensjahr erfolgt ...«

Schlesinger blickt begeistert von dem Blatte auf. Er lacht:

»Vierundsechzig sind Sie alt, hundert Jahr werden Sie werden. Und nach vollendetem Fünfundsechzigstem erfolgt schon die Auszahlung. Einjährige Lauffrist ist effektiv hochanständig. Überhaupt! Kulante Abschlüsse, Sie können mirs glauben, macht heut nur die Tutelia!«

Die Windung der Stiege wandert ein scharrender Schritt empor. Hastig steckt Fiala den Kontrakt ein und verschwindet in seiner Wohnung. Herr Schlesinger zieht ächzend den Schlüssel zur seinigen aus der Tasche.

III

Das erste, was Klara tut, wenn sie nach Hause kommt, ist Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Sie geht daheim, um Schuhwerk zu schonen, grundsätzlich nur barfuß. Ihre Füße sind verbeult und schreckenerregend. Keine andere Stiefelnummer taugt für diese Füße als die des unförmigen Zahnarztes, bei dem sie dient. Klara darf auch immer die abgetragenen Stiefel des kolossalen Mannes erben. Ihr Busen, auf den nicht nur sie, sondern auch die ältere Schwester einst so stolz waren, ist längst dahingeschwunden und hat die Haare ihres Hauptes zum größten Teil mitgenommen. Klara legt ihr schmutziges Kopftuch, das am Halse schief zusammengeknotet ist, niemals ab. Unter diesem Kopftuch spielt eine lange, knochige Physiognomie alle Farben und Mienen. Niemand kann so freundlich-scheinheilig blinzeln wie sie, wenn ihre Herrschaften sie dabei überraschen, wie gerade eine Näscherei des Tafelaufsatzes in ihrem Mund verschwindet. Wenn in einem der Häuser ihrer Bedienung eine Geldnote oder ein Schmuckstück in Verlust geraten ist, macht sich niemand leidenschaftlicher, ja verzweifelter auf die Suche als Klara. Doch auch niemand hat tückischere Wutausbrüche. Klara ist aus der Art geschlagen. Sie hegt in ihrem Herzen keine großen Lebensaugenblicke und deren Photographien. Sie kennt keine Sehnsucht nach feiner Wäsche und besseren Sachen. Ihr großer Holzkoffer, über dessen Schätze sie dann und wann Andeutungen macht, ist seit Jahrzehnten nicht ausgepackt worden. Sie täte nie, was ihre Schwester Marie heute getan hat, in einer heimlichen Schönheitsanwandlung dem armen Manne den Jausentisch seines Namenstags decken. Hingegen ahnt jetzt Klara etwas Außergewöhnliches und schnuppert und blinzelt:

»Was hast heut gekocht? Kaffee?«

Frau Fiala ist zu Tode erschrocken und ganz kleinlaut:

»Aber, Klarinka, Tee hab ich gekocht, dünnen Tee wie immer!«

Die unsichere Antwort ruft Klaras gefährlichen Zorn wach. Sie preßt die Lippen zusammen und beginnt die Küche ihren Gemütszustand fühlen zu lassen. Mit lautem Knall feuert sie dies und das in die Ecken. Auf den Herd rückt sie die Töpfe, als wolle sie ihren Anteil von dem der Familie wütend separieren. Die Schwester lebt nicht mehr für sie. Endlich knotet sie das Bündel auf, das sie mitgebracht hat. Dinge kommen zum Vorschein, namenlose, wie sie sonst nur auf Abfallsorten zu finden sind: zwei vertrocknete Äpfel, Porzellanscherben, ein paar leere Sardinenbüchsen Kerzenreste, Zigarettenschachteln, Bindfaden und als Hauptstück ein altes, schadhaftes Herrenhemd. Mit wildem Ruck schichtet Klara die Beute in ihrem Winkel auf, dem bei Lebensgefahr niemand nahe kommen darf. Um sich einzuschmeicheln und ihre Bewunderung erkennen zu lassen, fragt Frau Fiala nach der Herkunft dieser Schätze. Die alte Jungfer fährt scharf herum:

»Gestohlen hab ichs! Was? Eine Diebin bin ich! Eine Diebin nennst du mich, eine Diebin, wenn ich Geschenke bekomm ...«

Ihr Mund verzerrt sich, Augen, Nase röten und nässen sich, in kurzen Stößen bricht Geheul aus und während sie Tränen und Schnupfen zurückschnaubt, hebt ihre Klage an: Unter böse Menschen sei sie geraten. Lange werde sie's nicht mehr aushalten. Es werde sich auch anderswo ein Schlafplatz finden. Keine Diebin sei sie, aber von Dieben allorts umgeben. Mit Verschwendern und Durchbringern müsse sie leben, die heimlich Kaffee kochen und Gugelhupf backen, der ihr vorenthalten, dem Juden aber angeboten werde. Diese Verschwender hätten keine Ahnung mehr vom Leben. Nichts gelernt haben die Durchbringer in diesen Jahren. Dumme Leute, dumme Verschwender, wissen nicht, was die Sachen wert sind. Wenn sie ihre Geschenke nach Hause bringt, lachen sie die dummen Leute aus. Das hat sie davon, weil sie sparsam ist und die Preise kennt ...

Frau Fiala, die schon weiß, daß jetzt nichts zu wollen ist, schleicht sanftmütig ins Kabinett.

Kaum weiß sich Klara allein, so stürzt sie sich auf die Verstecke, wo sie die verschleppten Süßigkeiten mutmaßt. Beim ersten Zugriff sind sie entdeckt. Drei Bäckereien nimmt sie vom Teller, eine läßt sie übrig. Ihren Raub aber versteckt sie in einer der vielen Sardinenbüchsen, die ihren Eigentumswinkel zieren. Dort wird auch dieses Gebäck vermodern, wie so vieles andere.

Damit aber niemand auch nur einen zweifelhaften Blick gegen sie unternehme, beschließt sie, ihre Diktatur heute furchtbarer auszuüben, denn je. Zu diesem Zwecke schlägt sie einen neuen Lärm: Man habe ihren Koffer erbrochen! Nach einer Weile schrillen Geschreis hat Frau Fiala die Flennende zwar beruhigt, aber nicht überzeugt. Ihr Koffer ist und bleibt von frechen Händen entheiligt. Jeder Blinde sieht es deutlich an den Stricken, mit denen er verschnürt ist.

Dieweil sitzt Herr Fiala im finstern Zimmer. Licht wird nicht gemacht. Licht gibt es nur zum Imbiß und beim Schlafengehen. Wozu braucht er auch Licht jetzt? Die rosa Glückswolke schwebt immer noch um sein Haupt. So zärtlich hüllt sie ihn ein, daß er Klaras altgewohntes Keifen gar nicht mehr hört. Wer einer Lebensgefahr entgangen ist, wer eine schwere Mühsal überwunden hat, muß Ähnliches empfinden. Denn Fiala fühlt sich durch das Schriftstück in seiner Tasche wahrhaft gerettet. Keine grausame Zukunft droht mehr, kein tückischer Zufall lauert in jedem Haustor. Mag ruhig die Lainzer Elektrische nun des Weges fahren. Der Anblick ihres Schaffners und Motorführers wird ihn nicht mehr bis ins Herz erschrecken. Geborgenheit nach so vielen entsetzlichen Jahren, Geborgenheit, mit wollüstiger Schwerkraft zieht sie ihn auf den Armstuhl nieder, der beim Nähtisch steht.

Die Menschen! Wenn mans bedenkt, selbst aus dem Tode holen sie ihren Gewinn! In diesem Augenblick geht durch Fialas Kopf ein Staunen und fast so etwas wie Hochachtung vor menschlichem Fortschritt. Franzl wird nicht auf der Straße liegen. Franzl wird nicht in den Steinhof gesperrt werden. Dies ist ja die Hauptsache! Bleibt sonst noch etwas zu wünschen? Nichts! ... Oh doch! Eine kleine Kleinigkeit, aber eine süße Kleinigkeit. Die Gruppenphotographie an der Wand ist erloschen. Fiala kann sich nicht mehr sehen in seinem einstigen Pomp und auch die dürftigen Hofräte nicht, zwischen denen seine Herrlichkeit thront. Aber einen andern sieht er jetzt ganz deutlich, ihn, der ihn einst um die Stellung gebracht, seinen einzigen Feind, den Inbegriff aller Erzfeindschaft, ihn, den Personaldirektor und Oberoffizial, ihn, Herrn Pech! Möchte Herr Pech doch Zeuge sein, daß ein anständiger Mensch, dem Unrecht geschehen ist, der mit sechzig Jahren Krieg und Hunger überleben mußte, dennoch anständig seinen Weg zu Ende gehen kann. Gewiß ist der Oberoffizial längst schon ein Bewohner von Lainz. Noch Mächtigere als er, Hofräte und Majore, gehen im Winter ohne Überzieher blaß und scheu in die Häuser betteln. Herr Fiala möchte mit Marie und Franzl durch den Garten des Versorgungshauses wandeln, an Herrn Pech, der elend auf einer Bank hockt, ganz langsam vorüberwandeln und auf sich und die Seinen zeigen: ›Sehen Sie!‹

So beglückend die Phantasie ist, auch dieser Traum wird unterbrochen von dem Skandal, der sich jetzt draußen auf dem Hausflur erhebt. Klara spielt ihren letzten Trumpf aus. Die gicksende Stimme der Bösen Sieben beschuldigt die Mietsparteien desselben Ganges, sie beraubt zu haben. Wie in alten Häusern so oft, müssen sich mehrere Mieter in die Benützung eines notwendigen Ortes teilen, der außerhalb der Wohnungen den Gang abschließt. Klara behauptet, daß sie gerade an diesem Ort ein Versteck ausfindig gemacht habe, wo sie die Schachtel immer verberge, die nun geraubt sei. Kein Plätzchen des Hauses wäre vor diebischen Händen sicher, darum hätte sie jenen Raum gerade erwählt. Viele Stimmen lachen und schreien zu Klaras Diskant. Ein ordnungsstiftender Baß erkundigt sich milde, was für Pretiosen die so eigenartig deponierte und nunmehr entwendete Schachtel denn enthalte. Klara schreit:

»Vorkriegsspagat!«

Daraufhin löst sich der gefährliche Skandal in eine wilde Heiterkeit auf. Frau Fiala schlüpft ins Zimmer zu ihrem Gatten. Sie selbst erträgt willig jede Unbill durch Klara, aber wenn der Krach auf den Gang und unter die Leute getragen wird, da schämt sie sich der Schwester, da möchte sie sich verkriechen. Sie erwartet jetzt, daß auch der Mann sie wegen der Schwägerin anjammern werde. Sie ist sogar gewillt, in seinen Jammer einzustimmen, den Streit zu lassen, und ihm endgültig Recht zu geben. Aber was ist mit Fiala, er jammert nicht, er tröstet sie. Mit wegwerfender Geste sagt er: »Laß sie gehn!«

Er erhebt sich, er steht stramm und feierlich da, wie ein junger Mensch, wie der Türhüter bei der Finanzlandesprokuratur vorzeiten. Er entfaltet in der Finsternis ein Papier, als ob er ihr etwas vorlesen wolle. Dann nimmt er ihre alte Hand und dem Schweigsamen fließen die Worte von den Lippen, wenns auch nur die Worte Schlesingers sind. Alles erklärt er nun der Frau. Das Geheimnis und das Wunder der Versicherung. Gerettet sind sie Beide für ewige Zeit. Nach seinem Tode wird Marie ein Vermögen ausbezahlt bekommen, ein Kapital, zweihundert, fünfhundert, tausend Prozent von dem mistigen Erlös aus der alten Wohnung und den überflüssigen Möbeln.

Es ist dies wahrhaft ein Fest- und Namenstag. Nicht ohne tiefere Ahnung hat Marie das rote Kaffeetuch aufgebreitet. Jetzt aber weint sie. Sie weint auch bei minder großen Gelegenheiten. Solche Freudentränen aber sind selten:

»Mein Mannerl!« schluchzt sie.

Doch schon nach einer Weile tut Klaras Schwester eine naheliegende Frage:

»Und wann wird ... das Geld ... ausbezahlt?!«

Gut nur, daß es jetzt finster ist. Fiala aber findet die Neugier der Seinigen selbstverständlich. Er deklamiert:

»Wenn das Ableben nach vollendetem fünfundsechzigstem Lebensjahre erfolgt ...«

Und mit dem ganzen Selbstgefühl eines machthabenden Erblassers befiehlt er:

»Der Franzl, hörst, der bleibt hier! Der Franzl kommt nicht aus dem Haus!«

Der Franzl ist dem Geschrei seiner Tante entflohen. Er steht vor dem Haustor und sieht dumpf auf die Straße und auf die Stadt, die abgeschabt und geschunden von langem Leid, schlecht beleuchtet, der frischen Nacht sich anheimgibt. Unfreundlich und scharf klingeln die Elektrischen. Die Wagen, die nach dem inneren Wien fahren, sind leer, die zurückkehrenden dicht besetzt. Franzl ist müde. Den ganzen Tag hat er sich vor Auskunftsorten für Arbeitslose und bei Stellenvermittlungen herumgetrieben. Er weiß, daß er keine Arbeit finden wird, daß all sein Umherstehen sinnlos ist. Aber die Zeit, die lange, böse, bringt er um damit. Bei der Weiche, wo die Schienen zum Gürtel abbiegen, schreit ein Wagen hoch auf wie ein gemartertes Tier. Da zuckt auch durch Franzls schwachsinniges Hirn ein wilder Krampf. Fragen, Urfragen wollen empor, entsetzliche! Aber nicht einmal Fragen zu bilden, nicht einmal zur Frage, ›Warum muß ich leben‹, langt die Kraft. Den armen Menschen schüttelt Sucht, zu rennen, über den Gürtel, durch die äußern Bezirke, vor die Stadt, weiter, zu rennen, immer weiter in die Nacht hinaus, bis der Körper tot zusammenstürzt.

Aber Franzl schleicht nur mürrisch ins Haus zurück. Zu gut kennt er die verfluchte Befreiungssucht, die stets einen Anfall meldet.

IV

Zeit war vergangen, November da! Nichts hatte sich seit jenem Namenstag ereignet, das der Aufzeichnung also würdig wäre, wie die heimliche und feierliche Jause, die Frau Fiala ihrem Manne zugedacht.

Allabendlich kehrte Klara heim, geladen wie immer. Ihre Erfindungsgabe, Welt und Menschen stets von Neuem in Anklagestand zu versetzen, wuchs von Mal zu Mal. Am Ende aller Tage wird sie noch ihre Rechnung präsentieren, und wer weiß, ob man mit ihr fertig werden wird. Ihre Schwester aber hatte sich längst abgefunden und stritt für sie wider jedermann. Herr Fiala seinerseits stand Tag für Tag von acht Uhr früh bis zwei Uhr nachmittags im zugigen Magazin seiner Firma und notierte die abgehenden und remittierten Waren in ein fleckiges Journal. Wenn er dann heim in sein Zimmer kehrte, begann er den gewohnten Rundgang, der bei der Gruppenphotographie endete. Auch Franzl hatte die sinnlose Stellungssuche noch nicht aufgegeben, die immer damit abschloß, daß er auf die Frage, ›Sind Sie gesund?‹, schwieg. Kam die Dämmerung, so saß er unweigerlich in der Küche auf seiner Kiste.

Nur S. Schlesinger war eines Tages verzogen, unbekannt wohin.

Niemand konnte an Herrn Fiala eine Veränderung wahrnehmen. Keiner seiner Kontorgenossen, kein Fremder, und die Bewohner des Hauses schon gar nicht. Nur Franzl hatte seinen Vater ein- oder zweimal aufmerksam angesehen. Es war auch nichts Besonderes zu bemerken an ihm, es sei denn eine wachsende Wortkargheit – manche Tage sprach er überhaupt nicht – und eine neue Art von steifer Entschlossenheit, die sich in seiner Haltung kundgab. Vielleicht aber hatte Franzl seinen Grund gehabt, den Alten ein- oder zweimal aufmerksam anzusehen. November wars. Und wie an einem Vormittag dieses Monats am Lande draußen das nächste Haus – nicht zwanzig Schritt weit – durch einen ganz bestimmten grauen Nebel undeutlich gemacht und entrückt ist, so war auch Herrn Fialas Gesicht durch einen ganz bestimmten grauen Nebel undeutlich gemacht und entrückt.

Da geschah es, daß eines Nachmittags die Frauen nicht in der Wohnung waren. Was hatte auch Frau Marie Fiala und Fräulein Klara Wewerka am Allerseelentage zu Hause zu suchen? Nicht Weihnachten, nicht Ostern, nicht Fronleichnam, nicht Pfingsten bedeuteten Kalenderfeste nach dem Herzen der beiden Schwestern. Allerseelen allein war ein Freudentag. Leider besaßen sie in Wien kein angehöriges Grab, es dort draußen auf dem Simmeringer Plan mit Blumen und Lichtern zu schmücken. So groß auch diese Entbehrung war, sie hinderte die Beiden nicht, sich am frühen Nachmittag des Festes vor den Toren des Wiener Riesenfriedhofes einzufinden. Schon die Fahrt mit der Trambahn mutete anders und aufregender an als sonst: Ein Schaugepränge von Kränzen schwankte in allen Gelegenheiten des überfüllten Wagens. Von der Rückseite, Nummer und Scheinwerfer schön umrahmend, prahlte ein Riesenkranz weißer Astern die staunenden Fußgänger an. Von diesem strahlenden Totenopfer der Reichen bis zu den billigen Gewinden aus immergrünen Blättern und haltbarem Kunstlaub gab es alle erdenklichen Abstufungen des blühenden Weihegeschenks. Im Innern des Zuges selbst qualmte unerträglich der Geruch der Leichenflora. Denn Grabesblumen duften so dick und gellend, weil sie von der Verwesung angezogen haben, die sie laut verbergen wollen. Aber noch ein anderer Geruch preßte gegen die ratternden Wände und Fenster des engen Raumes. Dies war der Geruch von schlechten schwarzen Stoffen, regendurchnäßt bei vielen Grabbesuchen, der Geruch von muffigen Hüten, Schleiern, Maschen, Trauersachen, die man von einem Todesfall zum andern eingekampfert in dumpfen Kästen bewahrt, und über all diesen Gerüchen der Geruch von Schnupfen, Husten, Halsschmerz und Katarrh. Marie Fiala und Klara ließen sich durch nichts in ihrer aufgeregten Erwartungsfreude stören. Jegliches Gedränge liebten sie ja. Massenansammlungen versprachen immer wilde Schauspiele. Und ein riesiges Massenschauspiel bot der Platz vor dem Zentralfriedhof. In endlosen Zügen klirrten, schellten, schrien die roten elektrischen Wagen heran, machten die Schleife und klirrten, schellten, schrien in endlosen Zügen, entlastet, wieder zurück. Berittene Wachleute versuchten die regellose Flutung der Menge vergebens in Kanäle zu leiten. Hartnäckig und blöde wie ein Element, das sie ja ist, brauste sie immer wieder gegen die verstopften Eingänge. Auch der Verkehrsschutzmann, dem die Gemeinde eigens einen Turm errichtet hatte, konnte nichts anderes tun, als durch pathetische Signale die ratlosen Gefährte verwirren. Hinter einer Barriere stand eine dichte Kolonne von Sanitätswagen. Auf dem Jahrmarkt der Toten, bei der gut frequentierten Herbstmesse der Seelen ging es hoch her, und dem und jenem Schwachmatikus mochte da ein Unfall zustoßen, so daß er das nächstemal sich nicht mehr unter den Feiernden fand, sondern bei den Gefeierten dort unten.

Die Schwestern waren dank Klaras scharfen Ellbogen und erbarmungslosen Tretern bald durchs Tor gedrungen. Sie zwängten sich durch die Nobelallee der Toten, durch die strotzende Vorhalle wohlsituierter Mausoleen, traten für einen Augenblick in die Kirche, um sich schnell zu besprengen, zu bekreuzen und Gott anzuknixen, durchwanderten die Parkwege auf krachendem Welklaub und strebten weit hinaus, wo der Friedhof feldhaft im Nebel dalag und die jungen Bäume noch nicht viel höher standen als die dichtgestaffelten Schwarmlinien der Kreuze und Grabtafeln. Dort hofften sie ihre Bekanntschaft zu finden, andere alte Weiber, aus Böhmen gebürtig, denen sie ihre Visite machen wollten.

Denn alle kleinen Leute hielten heute Empfang. Sie gaben einander den großen Verwesungsrout. In gestrafft-lächelnder Gesellschaftshaltung Grüße tauschend, trat man zu dem geheiligten Ort einer befreundeten Familie. Gern und oft fiel von Seiten des Besuches die höfliche Bemerkung: ›Schön liegt er da!‹ und dann senkten alle interessiert und höflich das Haupt, hinabzusehen auf das Rasengeviert, das für sie keinen Schauder barg. Auch Kuchen und Schinkensemmeln wurden gastfreundlich verteilt und aus gemeinsamer Flasche ein Rundtrunk angeboten. Die Hausfrau der Grabstätte lächelte entzückt, als hätte man ihren Tisch oder ihre Einrichtung gelobt. Sie strich wohl über das Blumenarrangement mit der Hand hin, zupfte noch leicht an einer Masche und rückte die Lampen zurecht, um dem Ganzen die letzte Fasson zu geben. Aber alle warteten nur auf die große Stunde. Und bald kam sie, die große Stunde. Der Nebel wurde kaffeebraun und körperlich, daß man ihn hätte kauen können. Und über der weiten flüsternden Fläche tauchten langsam, eins fürs andere die schwächlichen Lampen und Lichte auf, unzählige, ein geheimnisvolles Feuerwerk der Tiefe, eine zärtlich-mystische Illumination, dicht am Boden hinkriechend, Grubenlampen vor dem Eingang des Bergwerks, Irrlichter eitlen Erinnerns, zuckend im Qualm der Jahreszeit.

*

Zu gleicher Stunde etwa saß Herr Fiala zu Hause in der Küche und trank dünnen Tee, den diesmal Franzl zubereitet hatte. Fiala hielt die Schale auf den Knien und brockte, langsam träumend, ein Stück Brot in den ungesüßten Aufguß. Sehr lange dauerte diese Mahlzeit, und weder Vater noch Sohn sprachen ein Wort.

Da erhob sich plötzlich Fialas Stimme gleich etwas Fremdem und klang hart, entschieden, wie ein Befehl:

»Franzl, geh hinüber ins Allgemeine Krankenhaus. Spring zum Wotawa, der bei der Verwaltung ist! Weißt eh schon! Frag ihn, ob ein Bett frei ist. Lauf aber, daß du gleich zurück bist ... eh die Weiber kommen.«

Es kam nie vor, daß Franzl von seinem Vater einen Auftrag erhielt. Nichts verlangte er von dem Buben. Keinen Weg und keine Handreichung. Diesmal aber hatte er befohlen, kurz und barsch fast. Aber Franzl war gar nicht erstaunt. Es sah fast so aus, als hätte er lang schon diesen oder einen ähnlichen Auftrag erwartet. Es sah aus, als würden die Befehlsworte des Vaters eine dumpfe Spannung lösen, die zwischen Beiden lag, dem Unausgesprochenen endlich Namen geben und das Brütende bannen. Der Epileptiker nahm seine Kappe, ging, ohne zu grüßen, ohne sich umzusehen.

Fiala aber zündete mit neuartig festen Händen eine Kerze an –, durfte er heute so kühn sein? – und begab sich ins Zimmer nebenan. Diesmals verzichtete er auf den Rundgang, er hob die Kerze nicht zum angestaunten Bilde einstiger Kraft hoch, sondern setzte sich zum Sofatisch und zog den Kalender, den er mitgebracht hatte, aus der Tasche. Bedächtig riß er Blatt für Blatt von dem unberührten Block, in jeden Tag und seine schwarze oder rote Nummer umsichtig sich vertiefend, als hätten diese fettgedruckten Daten waswunder welche Ereignisse und Bedeutungen seinem Leben zugetragen. So gelangte er allmählich zum Novemberfest, darauf der gegenwärtige Tag lautete. Jetzt aber, da er nichts mehr abzureißen hatte, wurden seine Hände träger, seine Augen starrten minutenlang auf jeden neuen Tag, der mit schwarzer oder roter Ziffer im Kalender anbrach. Umzublättern fiel ihm mit jeder Seite schwerer, wie wenn er mit dem Fetzen Papier die ganze Müh und Last der Zeit umwenden müßte. Nicht einfach war es so, weiterzögernd, den einunddreißigsten Dezember zu erreichen. Aber er ward erreicht, wie ein schweres Wanderziel. Zum Schluß nahm Herr Fiala noch ein paar Anfangstage des laufenden Jahres und fügte sie, unbekannten Zwecks, dem Abreißblock nach Jahresende an. Viel Zeit war damit vergangen, und kaum mehr konnte der Aufbrechende in eine kleine alte Tasche ein paar Stücke stopfen, als Franzl dastand und meldete, Herr Wotawa, Fialas Bekannter, stehe zu Diensten.

Sie gingen mit lauten Schritten die Treppe hinab. Sie betraten die Straße. Der Sohn machte eine Wendung zur Haltestelle der Trambahn hin. Der Vater verschmähte es, zu fahren, er schlug vielmehr einen gestreckten Gang an, achtete aber wohl, daß er nicht aus dem Tempo falle, das er mit gesteiftem Rückgrat behauptete. Jetzt begann er sogar zu reden, dieses und jenes, wozu die Straße aufforderte, aber kein Wort, das zur Sache gehörte, kein Wort von Krankheit, Spital, etwaigen Folgen und Verfügungen. Selbst ein Auftrag an die Mutter erübrigte sich. Auch Franzl fragte nichts, was an des Vaters Befinden rühren mochte. Die Unterhaltung drehte sich darum, daß die 175er Linie heute nur mit zwei, anstatt mit drei Beiwagen fahren durfte, weil alle überflüssigen Waggons auf die Zentralfriedhofstrecke geleitet wurden. Sie drehte sich ferner um das aufgerissene Pflaster, um die Abkürzung des Weges, um das Problem, ob zur Stunde die Trafiken offenhielten. Als die beiden an einer solchen vorüberkamen, bat Fiala, Franzl möchte ihm die ›Kronen-Zeitung‹ kaufen. Und Franzl kaufte sie. Aber der Vater hatte nicht gewartet, sondern schritt schnell und gleichmäßig vorwärts, als hätte er Angst oder vermöchte es gar nicht, innezuhalten.

Bald waren sie an der Alser Straße. Sie durchquerten die Höfe der Krankenstadt. Sie fanden Herrn Wotawa in einer Kanzlei. Das war ein ehemaliger Kollege aus der Finanzlandesprokuratur. Er prüfte Fiala mit zweifelndem Blick:

»Sie kommen daher wie ein Husar und wollen aufgenommen werden. Mein Lieber, heutzutage möchten alle Leute zur Belohnung für einen Schnupfen drei Wochen lang Kost und Quartier mit erster Diät bei uns haben. Was fehlt Ihnen denn? ... Leicht wirds nicht sein! No, wir werden sehen. Kommen Sie mit!«

Der Macht Herrn Wotawas gelang immerhin einiges. In der Aufnahmskanzlei wurde Fialas Name in die Standesliste eingetragen. Das Aufnahmeblatt sollte ausgefertigt werden. Der Beamte fragte nach Geburtsdatum und Jahreszahl. Dabei machte er die mißgelaunte Bemerkung, daß alte Menschen Tag und Jahr ihrer Geburt meist selbst nicht wissen. Doch da hatte er sich in Herrn Fiala gründlich getäuscht. Mit metallener, bei ihm ganz ungewohnter Stimme machte er seine Angaben und wiederholte sie unaufgefordert, damit ja kein Irrtum unterlaufe:

»Geboren am fünften Januar 1860 bei Kralowitz in Böhmen. Seit fünfunddreißig Jahren wohnhaft in Wien. Jetzt optierter österreichischer Staatsbürger. Katholisch.«

Streng sah er auf die Hand des Schreibers:

»Am fünften Januar.«

Nach dieser Prozedur wurde der Patient in das ärztliche Dienstzimmer geführt, wo die Entscheidung über seine Aufnahme fallen sollte. Der diensthabende Arzt war ein ganz junger Mensch, der sein erstes klinisches Jahr abdiente. Als jüngster Sekundar war er, wie er es nannte, die ›Feiertagswurzen‹, das heißt, wenn ein freier Tag winkte, wollte es immer der Zufall, daß sich die Diensteinteilung ihn aussuchte.

Herr Doktor Burgstaller lag auf dem Sofa, die tabakgebräunte Hand mit der toten Zigarette weit von sich gestreckt, und schlief. In der peinlichen Voraussicht, während der Nacht öfters gestört zu werden, war er gerade dabei, ›Schlaf zu sammeln‹.

Fiala trat vor ihn hin, wie er als Soldat vor dreißig Jahren dem Regimentsarzt entgegengetreten war, Kopf hoch und Hände an der Hosennaht. Herrn Doktor Burgstaller verwirrten solche Vorfälle. Unsicher umkreiste er den Mann. Die gelassene ärztliche Gleichgültigkeit hatte er noch nicht heraus. Er sah in Fiala einen der alten Burschen, die seine Autorität des öfteren verhöhnten. Etwaiger Nichtachtung zuvorkommend, fuhr er ihn an:

»Was gibt es da? Was wollen Sie? Was haben Sie? Was fehlt Ihnen?«

Fiala murmelte etwas und zeigte auf die Brust. Der Doktor befahl:

»Ziehen Sie sich aus!«

Da er aber sogleich erkannte, daß Diagnosenstellen ein gefährliches Wagestück sei, widerrief er:

»Bleiben Sie angezogen!«

Doch etwas Medizinisches mußte jetzt geschehen. Burgstaller griff daher nach Fialas Puls. Der Puls des alten Burschen schien, wenn der junge Mann seiner Uhr trauen sollte, über die Maßen beschleunigt. Er beschloß daher nach einem finsteren Blick auf den Störer, in seiner Pflicht fortzufahren, und legte Fiala ein Fieberthermometer unter die Achsel.

Während der Wartezeit tat er barsche Fragen an den Patienten, die das müßige Personal, das sich im Raum versammelt hatte, von seiner Überlegenheit und medizinischen Kombinationsgabe in Kenntnis und Respekt setzen sollten. Gleichmäßig und laut antwortete Fiala, mit jener steifen Entschlossenheit, die seit einiger Zeit sein Wesen angenommen hatte.

Endlich hielt Burgstaller das Thermometer unter die Lampe. Da wurde sein Gesicht auf einmal ganz kindlich aufmerksam:

»Mensch! Sie haben ja 39.3 Grad Fieber!!«

*

Und jetzt erst beginnt eigentlich unser Bericht von einem Tod. Denn wir hätten es nicht gewagt, den Leser in solch trübe und gleichgültige Welt zu führen, wenn unser Geschehnis nicht seine Absonderlichkeit hätte.

V

Im Augenblick, da Fiala das weiße Bett in einem dumpfdurchatmeten Saale der internen Klinik berührte, im selben Augenblick erst schienen die schweren Krankheiten seines Körpers auszubrechen, und es waren ihrer nicht wenige. Das Bett hatte sie wohl hervorgezogen, dieses schmale weißlackierte Metallding, das kein Bett ist, in dem man ruht, schläft, träumt, liebt, sondern eine sinnreich knappe Maschine zum Kranksein. Es war nur zu verwundern, daß ein Mensch mit diesem Leiden im Leib sich wochenlang aufrechthalten, seinem Berufe nachgehen und die Nahestehenden über den wahren Zustand seines Lebens so gründlich täuschen konnte. Es wurden von Anfang an mehrere Befunde nebeneinander aufgestellt und die schwarze Kopftafel zu seinen Häupten war mit Kreideschrift dicht bekritzelt, wie keine andere im Saal.

Nachdem Frau Fiala sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, faßte sie einen ernsthaften Groll gegen ihren Gatten, weil sie selbst nicht bemerkt hatte, daß er so lange schon krank war. Als ihr irgend jemand Unachtsamkeit vorhielt, verstärkte sich dieser Groll in ihr. Verschlossen und tückisch war er immer, der Karl. Und aussehn tut er, als könne er nicht bis Drei zählen. Wer weiß? Diese Männer! In ihrem Unmut wurde sie von Klara lebhaft unterstützt. Für diese war es ausgemacht, daß sich hinter Bettlägerigkeit, Fieber, Hausflucht, eine verschlagene Absicht verberge, ein raffinierter Eigennutz, ein wohlüberlegter Plan, etwas Wertvolles in Sicherheit zu bringen. Wer geht denn so ohne jegliche Beratung aus dem Hause und legt sich ins Spital? Ein Mann dazu, der gestern noch wies Leben ausgesehen hat? Auch Frau Fiala war der Meinung, sie könnte ihren Mann trotz Enge und Armut daheim besser pflegen. Ihr Groll schlug über aufs Krankenhaus. Es war ja ringsum bekannt, daß die Ärzte, um ihre Studenten zu belehren, die Kranken der öffentlichen Kliniken gar nicht gesund machen wollen. Ganz im Gegenteil! Sie präparieren mit Fürsorge die Krankheiten im Leibe der Opfer, um sie säuberlich dann den Schülern vorführen zu können.

In der ersten Zeit legte Fiala unverwandelt seine entschlossene Geduld an den Tag. Er sah nicht verfallener aus als er am Allerseelentage ausgesehen hatte. Still und fast angespannt lag er in seinem Bette da, als wäre die Stille eine Arbeit, der man sich aufmerksam hingeben müsse. Wenn es notwendig war, stand er auf, auch zu den Mahlzeiten. In seinem blauweißen Kittel saß er dann am Tisch mit den andern ›Beweglichen‹ und aß langsam mit fester Willensanspannung seine Portion bis zum letzten Löffel auf. Täglich kam die Seinige zur erlaubten Zeit. Er sah sie freundlich und abwesend an. Täglich brachte sie einen anderen Tee, einen anderen Absud in ihrer Markttasche, die sie mit übertriebener Ängstlichkeit an den Wärtern vorüber ins Zimmer paschte. Auch diese Tränke, Zaubermittel, in den Hexenküchen der Vorstädte gebraut, leerte Fiala gehorsam. Manchmal kam Klara mit. Aber sie begnügte sich nicht, am Bette des Schwagers Trübsal zu blasen, sondern scheinheilig-süß begann sie den Kopf hin und her zu drehen, den Sitz erregt zu lüften, bis es sie nicht mehr hielt und sie sich erhob, bei anderen Kranken zu hospitieren. Auf Zehenspitzen falscher Sachlichkeit trat sie näher und in ihren Mienen lag das Lächeln bitteren Mehrwissens und gründlichen Durchschauthabens der Dinge, das all die Ausgebeuteten ringsum zu gemeinsamer Verschwörung einlud. Und sehr bald war sie über eine Menge schändlicher Vorfälle in Kenntnis und Klarheit. Sie hatte gesehen, daß die Wärter das Beste vom Nachmittagskaffee wegtranken und den Rest mit Wasser verpantschten. Sie hatte andere Wärter beobachtet, die untereinander den Krankenkuchen teilten. Den Oberwärter hatte sie betreten, wie er einen Patienten schlug und im nächsten Augenblick eine hübsche Schwester auf dem Gang abknutschte.

»Ich will nichts sagen. Ich habe nichts gesehen. Gar nichts! Was geht es mich an?!«

So pflegte die Spionin zu versichern, während sie mit zischender Zunge entsetzten Ohren ihre peinlichen Entdeckungen anvertraute.

Man weiß, daß Klara nicht ertrug, irgendein Ding nutzlos und nicht in ihrer Obhut verkommen zu lassen. Einmal mußte sie hier lange Qualen leiden. Vor ihren Augen stand ein Brett mit Speiseresten. Auf einem Teller war die Mahlzeit eines armen Kranken unberührt stehen geblieben. Die alte Jungfer bot ihre ganze Strategie auf, um endlich unbemerkt ein Stück Fleisch und drei kalte Kartoffeln in ihre Kleidtasche zu praktizieren. Fiala hatte es bemerkt, aber er sah fest und ruhig drein, denn zu anderem Kampfe sammelte er die Kräfte jetzt.

Bis gegen Ende November etwa hielt dieser Zustand an. Das Fieber sank und stieg wechselnd. Doch dann kam die doppelseitige Lungenentzündung und die des Rippenfells. Wie zwei Tigerkatzen prankten sie den Mann nieder. Er war verloren. Die Ärzte waren mit diesem Patienten fertig und ordneten seine Überführung in ein bestimmtes Krankenzimmer an.

Frau Fiala wurde in die Kanzlei des Primarius beschieden. Der Professor saß am Schreibtisch. Der erste Assistent stand bei ihm. Unwillig fetzte der klinische Machthaber seine Unterschriften vor sich hin. Er brummte zum Assistenten:

»Die Angehörigen?«

»Die Frau von dem Fiala, Herr Professor! Auf Nummer Drei ...«

Der Primarius beschrieb auf seinem Drehstuhl einen Halbkreis und nahm die Fiala in Augenschein.

»Ja, liebe Frau ...«

Da sah er den Unterkiefer der Alten in einem demütigen, ja kriecherischen Entsetzen herunterhängen. Er – ein schöner Mann noch immer – litt an körperlichem Ekel vor Altweiberphysiognomien. Und schon hatte er sich weggewendet zu seinen Schriftstücken, dem Assistenten bedeutend:

»Reden Sie!«

Der Assistent lächelte. Dann korrigierte er seine Miene zum Ausdruck resignierender Ohnmacht:

»Liebe Frau! Sie müssen sich gefaßt machen. Es ist ja alles Notwendige und Mögliche geschehen und soll weiter geschehen. Acht, höchstens zehn Tage wird der arme Mann noch leiden müssen. Seien Sie gewiß, es wird nichts versäumt werden. Aber gefaßt müssen Sie sich machen, wie gesagt ...«

Die Alte starrte den Herrn an. Noch immer hing ihr in demütigem, kriecherischem Entsetzen der Unterkiefer herab.

Da sich der Assistent nicht zu helfen wußte, reichte er ihr die Hand: »Guten Tag!«

Mit einem langgezogenen, respektvollen Winseln kroch sie zur Tür. Aber draußen schlug ihr Jammer empor und wuchs zu einem Geheul.

In jeder Spitalsabteilung gibt es ein paar kleinere Zimmer mit wenigen Betten, die für die Moribunden bestimmt sind. Man separiert gerne die Sterbenden von den übrigen Kranken. In ein solches Zimmer trugen die Wärter Herrn Fiala. Vier Betten standen darin den Todgeweihten zur Verfügung. Eines davon war leer. Im zweiten lag, kaum von dem Kissen zu unterscheiden, ein jüngerer Mensch, der nicht bei Bewußtsein schien. Aber im Nachbarbette, dicht neben dem Neuangekommenen, lag – so wollte es Gott – Herr Schlesinger. Der Agent hatte recht gehabt: ›Die Juden rauchen zuviel!‹ Nun, das Rauchen wird nicht die Schuld allein haben an seinem verfallenen, versagenden Herzen, dem zersetzten Muskel des Lebens, an den entarteten Gefäßen. Er hatte sein Ende vorausgespürt, als der linke Arm immer lahmer und schmerzhafter wurde. Eher schon mochten die vielen Treppen Schuld tragen, die ›zur Kunde‹ emporführen. Aber, Gott, da müßten viele Menschen mit Fünfzig sterben! Vielleicht wars die gierige Unruhe, die Angst, die krampfhafte Sucht, immer in Bewegung, immer auf Wanderschaft zu sein, und wäre es nur, daß man von einem Fuß auf den anderen tritt. Hols der Teufel, was immer am Krepieren die Schuld trägt!

Weder Herr Fiala noch Herr Schlesinger waren erstaunt, einander hier zu begegnen. Kaum, daß sie einen Gruß tauschten. Und dann lagen nebeneinander der Versicherer und der Versicherte. Und etwas abseits lag ein Dritter. Alle Drei hatten das Gefühl, in einem Schiff oder Automobil dahinzurasen, und sie gaben sich eifrig dieser Fahrt hin.

Wenn aber ein Gesunder in das Zimmer tritt und sieht die drei braungelb verschrumpfenden Antlitze, und hört diesen dreifachen Atem, einen Atem, der voll Arbeit ist, dann glaubt er plötzlich zu ahnen, daß die drei Atmenden an etwas nähen. Ja, ihr Atem ist der Faden, ein schwerer fetter Faden, sie bohren die Nadel in einen harten Stoff und ziehen den Faden durch diesen rasselnden, kreischenden Stoff. So nähen sie an ihrem Tode. Und dieser Tod ist ein Hemd oder ein Sack, aus dem gröbsten, gemeinsten Stoff der Unsichtbarkeit gewoben. Stundenlang nähen sie, unermüdlich, gleichmäßig.

Nur Schlesinger unterbrach hie und da seine Arbeit. Außer der ›Neuen Freien Presse‹, die ihm täglich gebracht wurde, lagen noch drei Bücher auf seinem Bett-Tisch. Zwei dieser Bücher waren pikante Romane aus den Beständen einer Leihbibliothek, das dritte eine große Ausgabe der Heineschen Gedichte in Goldschnitt und mit Illustrationen, wie sie vor Jahrzehnten sehr beliebt waren. Dieser Band bildete Schlesingers Erinnerung an die Jugend. Er hatte einmal neben Gebetbüchern die Bibliothek seiner Eltern in dem kleinen böhmischen Städtchen vorgestellt.

Nun griff er nach der Zeitung, nach den Büchern, aber er konnte nicht lesen und legte alles wieder zurück, nur den schweren Band voll Gedichten ließ er länger auf seiner Decke ruhen.

Da auf einmal öffnete sich die Tür und von einem mächtigen Wärter geführt, erschien auf der Schwelle ein ganz kleines Weib, das uralt sein mußte. So klein war die Greisin, daß ihr verschlissener Samtpompadour, den sie in der Hand schleppte, fast den Boden berührte. Schlesinger machte eine Bewegung. Er hatte seine Mutter erkannt. Der Wärter führte die zwerghafte Alte behutsam zum Bette und rückte ihr den Stuhl. Es vergingen Minuten, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Endlich erklang eine dünne, fast kindhafte Stimme in singendem Tonfall:

»Mein Kind! Ich seh nicht, wie du aussiehst!«

Und wieder eine endlose Pause, ehe der Sohn seinen Gruß sprach.

»Mammerl, was gibt es Neues?«

»Was wird es Neues geben?«

Mit fragender Antwort erledigt die singende Stimme alle Fragen nach Neuem in der Welt, so.

Frau Schlesinger nestelte aufgeregt an dem Pompadour:

»Hast du auch gut zu essen, mein Kind?«

Endlich öffnete sich der Verschluß und die hilflosen Hände in schwarzen Halbhandschuhen von Zwirn zogen ein Päckchen hervor:

»Kücherln hast du gern gegessen. Kücherln hab ich dir mitgebracht.«

Der Sohn gab keine Antwort. Lange Minuten der Stille.

»Mein Kind, du sollst essen! Iß, mein Kind!«

Doch jetzt kam ein fast jammernder Laut vom Bett her:

»Kann ich denn essen, Mutter?«

»Du sollst essen, essen ist gesund!«

Die Kinderstimme hallte ein wenig nach. Dann erhob sich neuerdings das Schweigen und nur der Atem der Sterbenden arbeitete emsig. Plötzlich aber ergriff Schlesinger den Gedichtband und gab ihn der Mutter in die Hand:

»Mammerl! Siehst du? Das ist noch aus Kralowitz.«

Und da geschah etwas Unbeschreibliches und Grauenhaftes. Die Alte befühlte das Buch von allen Seiten, fing mit sich selbst unverständlich zu reden an, glitt auf einmal von ihrem Stuhl und während sie erbärmlicher, verwachsener, ja kleiner jetzt erschien als im Sitzen, begann ihre Kinderstimme altklug wie in der Schule aufzusagen:

»Ich bin die Prinzessin Ilse
Und wohne am Ilsenstein,
Komm mit mir mein Geliebter,
Und laß uns glücklich sein.«

Umgebung, Krankheit, Sterben, alles war ungegenwärtig. Stolz und erheitert von dem Klingklang blickte die Mutter drein. Aber nicht genug damit. Von dem dritten Bette her, dort, wo der Unbekannte fleißig atmete, wieherte jetzt ein scharfes, fassungsloses Lachen her, ein Lachen höllischen Amüsements, das in pfeifende Laute und endlich in Wehrufe überging. Die Uralte war der Meinung, dieses Lachen fordere noch andere Strophen von ihr, doch nichts mehr fiel ihr ein, als ein böhmischer Kinderreim, den sie nun mit Ernst aufsagte:

»Houpaj, Cistaj, Kralowitz,
Unser Burscherl is nix nütz!«

Sie setzte sich nieder. Und wieder erhob sich die schweigende Pause endlos. Und es schien, Schlesingers Mutter beteilige sich nun auch an der Atemarbeit der sterbenden Männer. Als der dicke Wärter sie abholte, war es schon recht finster. Sie aber sagte jetzt:

»Mein Kind! Ich seh, daß du sehr schlecht aussiehst!«

*

Die Erscheinung war fort. Die Fiebernden glaubten wieder, in einem erbarmungslosen Blitzfahrzeug über aufdonnernde Straßen und Brücken zu jagen. Und Stich für Stich, Atemzug um Atemzug nähten sie weiter am Sack ihres unsichtbaren Todes.

Noch war das Zwielicht nicht aus dem Zimmer gewichen, als eine Stimme wiederum die Stille zerstörte, schleunige Fahrt und Arbeit unterbrach. Diesmal aber war es Fialas Stimme und sie klang gar nicht fiebrisch und benommen, sie klang sehr deutlich, sehr bei Sinnen. Diese Stimme rief Herrn Schlesinger an und oft mußte sie ihren Ruf wiederholen, ehe der Angeredete aufschrak und eine verzerrte Fratze hinüber zu Fiala wandte. Zu unrechter Zeit hatte die Stimme ihn aus dem Abgrund geholt, in dem er nicht die von neun Geburten schwachsinnige Greisin, sondern seine Mutter suchte. Aber dem Landsmann und Sterbegenossen war das ganz gleichgültig. Er sah ihn nicht einmal an, sondern formulierte streng und wohlüberlegt seine Frage, wie für ein Protokoll. Dabei lag auf der Decke seines Bettes kein Buch mit Gedichten, sondern ein Abreißkalender:

»Und wenn der Tod vor Vollendung des fünfundsechzigsten Lebensjahres erfolgt, was erhalten die Angehörigen dann?«

Diese Worte waren wahrlich die Frucht juristischer Überlegung und viele Tage lang geschliffen worden in Fieber und Schmerzen. Aber Herrn Schlesinger erfaßte, als er sie hörte, Tollwut, wie er sie nie bei gesundem Leib gekannt hatte. Wozu er aus Schwäche nicht fähig gewesen, er fuhr auf, er warf die Decke ab, er kniete im Bette. Die Augen quollen hervor, und seine Zähne schlugen aufeinander vor Haß. Denn dort im Nachbarbette lag nicht irgend ein Herr Fiala, dort lag solch ein Schwächling, wie er selbst, dort lag sein verpfuschtes Leben, dort lag der Mißerfolg, dort lag die stickige Wohnung, der er selber nie entronnen war, dort lag das Elend, die Fessel, die Sinnlosigkeit, das alltägliche Ersticken! Und trunken von diesem Haß, von gieriger Rachsucht, seine Worte nicht mehr kennend, schrie er auf:

»Vollenden Sie ... vollenden Sie ... gefälligst Ihr fünfundsechzigstes Lebensjahr! Widrigenfalls erfolgt ein Dreck, ein Dreck, ein Dreck!! Wenn Sie auch zu Rothschild und Gott beten ... ein Dreck erfolgt ...!«

Nun aber wälzte sich Schlesinger zurück und begann leise zu jammern, zu flehen und um Hilfe zu rufen. Der Wärter kam. Der Arzt kam. Eine Injektion machte dem Weinkrampf ein Ende. Nach einer Stunde nähte er wieder, aber jetzt mit sehr eiligen Stichen, an seinem unsichtbaren Sack. Doch Fiala nähte nicht. Noch immer lag der Kalender auf seinen Knien. Das vom Fieber und von der Auflösung grauenvoll gezeichnete Altmännergesicht starrte, nun schon erhaben, auf die Glühbirnen oben. Aber zwischen den Brauen verschärfte sich deutlich die gewaltige Falte, ein düsteres Willensmal, das an dem Gesunden niemand je wahrgenommen hatte.

VI

Das Wunder ereignete sich, nachdem an Fiala schon die Sterbesakramente gespendet waren. Er hatte sie mit vollem Bewußtsein, doch mit kühler Sachlichkeit entgegengenommen wie eine Arznei, wenn auch eine himmlische. In der Nacht darauf schien er in Agonie zu verfallen und der verantwortliche Arzt gab den Auftrag, ihn ruhig sterben zu lassen. Bis zur nächsten Mittagsstunde werde sich der exitus wahrscheinlich vollzogen haben. Dies geschah in der zweiten Dezemberwoche. Man ließ Fiala ungeschoren und bei der Visitation am Vormittag widmete der Professor dem Sterbenden keinen Blick mehr.

Nach dem Mittagessen endlich ging der Wärter ins Zimmer, um nachzusehen, ob man den Assistenzarzt holen könne, damit er den Tod konstatiere. Der Mann liebte derartige Scherereien nicht und war entschlossen, nach Vorschrift die Leiche so schnell wie möglich sich vom Halse zu schaffen.

Tatsächlich trat er auch zehn Minuten später ins Zimmer des Assistenten ein, aber er meldete, der Kranke sei nicht tot, sondern säße selbsttätig im Bett und habe mit vernehmlicher Stimme Milch verlangt. Der Arzt war ernsthaft ungehalten über die Renitenz des Sterbenden. Es kam natürlich manchmal vor, daß man sich in der Zeitbemessung irrte. Aber Wohlwollen erzeugte solche Unpünktlichkeit der Natur keineswegs. Der Assistent sah drein, wie ein hoher Staatsbeamter, der einer Partei gegenüber sich irgend einen Formfehler hat zuschulden kommen lassen, und eine ungezwungen ablehnende Haltung einnimmt, um ja keine Betretenheit zu zeigen. Es war ihm, als sei nicht nur die Medizin, sondern die Autorität schlechtweg blamiert. Er fand den Moribunden natürlich nicht im Bette sitzend vor, das mußte der Wärter geträumt haben -, aber es war nicht zu leugnen, daß eine deutliche Stimme um Milch bat. Der Assistent stellte sich sogleich auf die neue Tatsache ein. Ein seltener Fall zwar war's, daß ein Mensch in diesem Alter so dicht vor der Pforte des Hades wieder umkehren wollte, aber dafür war's ein Fall, und an dem ›Fall‹ konnte sich die verletzte Autorität schadlos halten. Der Doktor – nur nebenbei sei bemerkt, daß er am Anfang einer großen Karriere stand und übers Jahr die Dozentur erwartete -, der Doktor gab allerhand brummende Laute mutigen Zuspruchs und derber Erinnerung von sich, wie er sie sonst nur bei einer Privatpraxis verwandte. Er stellte fest, daß Atmung, Herztätigkeit, Kräftezustand, wenn auch am äußersten Rand des Verfalls, so doch immerhin vorhanden waren, und daß zum Überfluß die Pupillen scharf reagierten, die Zunge sprach, das Sensorium also nicht für getrübt zu gelten hatte. In dem künftigen Dozenten erwachte eine wohlige Neugier, der wissenschaftliche Spieltrieb und während er fast leidenschaftlich allerlei Labe-, Kraft-, Anregungs-, Aufpeitschungsmittel und deren Verwendung aufs Papier warf, durchblitzten seinen Kopf eigenartige Gedanken zu diesbezüglichen Publikationen. Der Assistent war jung und in seinem Gemüt hielt der literarische dem praktischen Ehrgeiz noch die Waage.

Während der nächsten Woche hatte es wirklich den Anschein, daß durch weise Injektionen, Kräftigungs- und Ernährungsmethoden das Leben des Verlorenen zu fristen, ja vielleicht zu retten sei, da auch die Symptome seiner Leiden abzuklingen schienen. Die Täuschung endete damit, daß einige Tage vor Weihnachten sich eine allgemeine Sepsis einstellte: Vergiftung des Blutes, Verwesung bei schlagendem Herzen.

Und jetzt wurde Fialas Organismus ein wirklicher ›Fall‹ und fast eine Sensation. Denn noch immer starb er nicht.

Von Tag zu Tag wuchs das ärztliche Interesse und jeden Morgen wurden auf den Gängen Bulletins verlautbart, so, als kämpfe nicht Herr Fiala, sondern ein Held dieser Erde mit dem Tode. Einzelheiten sogar wurden mit größter Teilnahme angehört und weitergegeben:

Es hieß, der Kranke wehre sich selbst bei größten Schmerzen gegen Morphium. In den Stunden, da sein Bewußtsein umschleiert sei, strebe er immer aus dem Bette und mache den Eindruck eines Suchenden. Nahrung verweigere er niemals, trotzdem sein Inneres nur mehr eine Wunde, ein tobender Eiterherd sei. Unter diese wahren Tatsachen mischten sich natürlich auch Legenden, die beim Wartepersonal besonderen Anklang fanden. Sie schrieben dem Ärmsten herkulische Kräfte zu. Einer Krankenschwester habe er mit umklammerndem Griffe der Skeletthand fast das Gelenk gebrochen. Sie selbst könnte es jederzeit bestätigen.

Herr Wotawa, der durch so viele Jahre mit dem Kranken bekannt war, mußte immerzu den Kopf schütteln:

»Wenn mans bedenkt: Ein Simandl! Hat sich immer vor seinen Weibern gefürchtet und will nicht sterben!«

Indessen lag das brennende und faulende Fleisch da, unwissend seines Ruhms, ein Museumsstück des Todeskampfes. Gerne hätten ihm Mitleidige den Rest gegeben. Aber selbst der Bewußtlose schlug noch um sich, wenn er die Nähe einer Morphiumspritze spürte.

Während des Vormittags wollte das Zimmer dieses Museumsstückes nicht leer werden. Neugierige, Spitalsbrüder, Ärzte kamen und gingen, Professoren sogar führten ihre Studenten herbei und suchten den absonderlichen Todesprozeß zu definieren. Auch die Psychiater ließen sich nicht nehmen, einen Blick auf Fiala zu werfen, ob etwa sein phantasierender Mund aus dem dunkelsten Dunkel der so langsam absterbenden Seele nichts Brauchbares zutage fördere. Man erlebte ja hier den Tod unter Zeitlupe gleichsam.

Damals lehrte an der Universität ein alter Herr, ein Skandinavier, namens Cornelius Caldevin, ein sehr beliebter und gesuchter Herzspezialist. Er gab seinen Patienten unerklärlichen Mut, ganz jenseits ihres guten oder schlechten Zustands. Diese mutspendenden Kräfte mochten ein seelsorgerisches Talent in Caldevin sein. Denn tatsächlich war er ein in die Medizin entsprungener Theologe und dieser unterjochte Theologe meldete sich im Alter. Die Kollegen belächelten die leichte Salbung und die frei-angefrömmelten Allgemeinheiten seines Vortrages. Er war ein genialer Diagnostiker, eine Leuchte des Fachs, ein erfolgreicher Forscher, ein Arzt von reichster Erfahrung, so daß man ihm gern seine »unwissenschaftlichen« Nebenbemerkungen nachsah. Auch Caldevin kam mit einigen Studenten an das Lager Fialas. Und es war eine höhere Schönheit in der Geste, mit der dieser alte Arzt seine Hand auf die Stirn des Elenden legte, von der er sie erst wieder löste, als er davonging. Auch sprach er leise, fast flüsternd, während es allgemeine Gepflogenheit in diesem Zimmer war, laut zu sprechen, da man nicht glaubte, hörende Ohren vor sich zu haben. Dies waren die Worte Caldevins, soweit sie verständlich wurden, denn er flüsterte nicht nur, sondern hatte auch eine unklare und stockende Sprechweise:

»Sehen Sie nur ... meine Herren ... Sehen Sie nur dieses Herz!« Und er lauschte dem Puls:

»Wohl, es arbeitet noch ... Etwas arbeitet noch ... Meine Freunde ... Das Herz des Menschen ... Das ist nicht nur ... Nun ja ... Das anatomische Herz ... Das funktionelle Organ ... Die Maschine, wie wir gelernt haben ... Angekurbeltes Leben, unabhängig vom Willen ... und so weiter ... Meine Herren ... Da ist etwas in uns ... was König des Herzens ist.«

»Herzkönig!«

Eine gemeine Stimme unter den Studenten hatte diesen Witz gemacht. Der alte Herr schwieg plötzlich ganz eingeschüchtert. Auch hatte ihn jetzt der Blick jenes strebsamen Assistenten getroffen. Das verwirrte ihn, und er konnte kein Wort mehr sagen.

Der Assistent aber fühlte eine unerklärliche Wut und zischte in sich hinein:

»Trottel.«

*

Zu gleicher Zeit traten zwei junge Leute aus dem Tor in die Alserstraße: Doktor Burgstaller wars, derselbe, der am Allerseelentage Fiala ins Spital aufgenommen hatte, und sein Jahrgangskollege Doktor Kapper. Sie entschlossen sich, in ihr Stammcafé hinüber zu gehen. Kapper trank kleine Schlückchen von der Milch, die er bestellt hatte:

»Widerlich die Geschichte mit diesem Unsterblichen!«

Burgstaller war nicht einer Meinung mit seinem Kollegen. Andere Menschen stürben auch nicht auf Befehl der Fakultät. Kapper fühlte sich mißverstanden:

»Hörst du! Ich meine etwas anderes. Schau einmal echten Proletariern beim Sterben zu. Das ist einfach erhebend. Sie haben keine Angst und keine Forderungen. Die Sache ist abgeschlossen. Sie sind ergeben, zufrieden, ruhig. Alle Proletarier sterben einander gleich. Nur die Spießer sterben differenziert. Die kleinsten selbst. Jeder Spießer hat seine eigene Art, nicht sterben zu wollen. Das kommt daher, weil er noch etwas anderes zu verlieren fürchtet mit dem Leben. Ein Bankkonto, ein schmieriges Sparkassabuch, einen angesehenen Namen, oder ein wackliges Sofa. Überhaupt: Bürger ist, wer ein Geheimnis besitzt ...«

Kapper blickte überrascht und triumphierend vor sich hin. Eine dunkle aber schlagende Sentenz war ihm geglückt. Burgstaller stülpte den zweiten Kognak hinunter, ehe er mahnte:

»Obacht, Kapper! Du kommst ins politische Fahrwasser und warum sollen wir schon um elf Uhr raufen?«

»Das ist gar nicht politisch!«

»Dann ist es literarisch! Und davon verstehe ich nichts.«

Zur Erklärung muß bemerkt werden, daß der junge Doktor Kapper in radikal schöngeistigen Zeitschriften manche Stücke seiner Feder schon veröffentlicht hatte. Sehr gedrechselte Gedankenprodukte von glänzendem Stil. Burgstaller schaute ihm, während er jetzt das Wort ergriff, gutmütig ins Gesicht:

»Mein Lieber, weil du schon von der Moral des Sterbens sprichst! Ich wenigstens habe bisnun erfahren, daß wirklich ungern nur eine Menschengattung stirbt. Willst du wissen welche? Ihr Juden!«

Kapper sah in seine Milch. Er fühlte sich nicht in der Laune, dieses Thema aufzunehmen. Was verstand auch Burgstaller davon. Nicht, daß er, Kapper, hätte ausweichen wollen! Das war nicht seine Art! Er hatte alle seine Arbeiten mit seinem wahren Vornamen: ›Jonas‹ gezeichnet, wo doch die leichte Abänderung in ›Josef‹ nahe genug lag. Gleichgültig überging er also den Angriff Burgstallers und begann von dem zu erzählen, was ihm nachstellte:

»Gestern war ich selbst zehn Minuten lang bei diesem Fiala drin. Es hat mich interessiert, den Fall zu beobachten. Ein kleiner Spießer! Nichts als ein muffiger kleiner Spießer! Aber einen Kopf hat er bekommen. Michelangelo, denke ich mir, und daß die kleinsten Spießer in diesem Zustand ›plastisch‹ werden. Da fängt er, natürlich bewußtlos, zu reden an. Und was er sagt!! Ich war starr, mein Ehrenwort!«

Burgstaller trank den dritten Kognak.

»›Es ist vollendet!‹ Ich kann nicht schwören, obs nicht gelautet hat: ›Vollendet‹, oder ›Vollendung‹, oder ›Nach Vollendung‹. Ach was! Hundertmal hat er geröchelt: ›Es ist vollbracht.‹«

Da haute Burgstaller ingrimmig mit der flachen Hand auf den Tisch:

»Altes Weib, jetzt schweig endlich! Laß mich aus mit dem Schwesterngewäsch und den Wärtermärchen! Ruh will ich haben! Nichts hören will ich heute mehr von dieser gräßlichen Klinik. Schau lieber hinaus!«

Und wirklich! Auf der Straße strömte das Leben hin. Kein Schnee, kein Schmutz behinderte den Verkehr. Und das Leben hatte die Gestalt von aberhundert bis zum Knie entblößten Frauenbeinen angenommen, deren üppigwarmer Melodie Burgstaller mit zitternden Lippen nachhing. Es fiel ihm nicht ein, beim Sprechen den Blick abzuwenden:

»Was machst du heute abend?«

»Ich? Heute abend? Wieso?«

Burgstaller schaute und schaute durchs Fenster:

»Mensch! Bist du verrückt? Es ist doch Silvester! Heil, Sieg und Rache! Morgen bin ich nicht die Feiertagswurzen. Kapper! Weißt du was? Komm mit heut abend!«

Aber Doktor Kapper schlug hochmütig und trist die Augen nieder:

»Ich kann nicht. Ich muß arbeiten.«

*

In diesen Tagen floh Frau Fiala gern die Einsamkeit ihrer Küche. Sie besuchte Nachbarn, sie saß bei der Hausbesorgerin, sie stand bei der Greißlerin, und je mehr Mitleid sie fand, je mehr weinte sie. Allen erzählte sie von den schrecklichen Erlebnissen, die ihr Tag und Nacht begegneten. Einmal hatte sie sein Hut angeschaut als wie mit wilden Augen. Ein andermal war sein Rock dagehangen, still und leer, aber plötzlich verwandelte sich der vorwurfsvolle Rock, und sie sei in Ohnmacht gefallen. Auch war er ihr schon ›erschienen‹.

Man sieht, noch während der lange und seltsame Todeskampf wogte, glaubte Frau Fiala ihren Mann schon abgeschieden. In gewissen Stunden wiederum schaute sie die Leute höhnisch an und rief, ganz aufgebracht, man werde schon sehen, das Mannerl könne noch sehr leicht gesund werden und der ganzen bösen Welt einen Possen spielen. Wie aber auch immer die Stimmung war, sie weinte, weinte mechanisch und regelmäßig.

Weniger regelmäßig und mit der Zeit immer seltener wurden ihre Krankenbesuche. Sie konnte ja nicht helfen, der Weg war weit, sie alt, die Elektrische teuer; Speisen zu bringen hatte keinen Sinn, und vor allem, sein Anblick erschütterte sie so fürchterlich, daß sie selbst vor Gram jedesmal krank ward.

Von den drei Nächsten wars also nur Franzl, der Tag und Nacht im Spital verbrachte. Anfangs hatte man ihn fortweisen wollen, aber er verstand es, sich nützlich zu machen, so nahmen denn die Wärter, wenn Inspektion kam, ihn selbst unter ihren Schutz.

Ein Glück war es, daß Fialas Gehalt weiterlief und die Firma aus eigenem Antrieb eine Remuneration von drei Millionen gesandt hatte. Die Alte verwandte bei ihren Unterhaltungen einen Teil dieses Geldes schon für das Begräbnis. Denn es war klar, daß dem Ihrigen ein schönes Begräbnis dritter Klasse gebühre, und daß trotz Ungunst der Zeit sein Grab kenntlich gemacht werden müsse.

Der Geist Frau Fialas war leider ebenso kurzsichtig wie ihre Augen weitsichtig waren und zum Lesen nicht taugten. Jetzt, da sie mit Klara allein lebte, da sie die Schwester nicht mehr verteidigen mußte, jetzt wuchs die Angst vor ihr namenlos und auch ein hilfloser Haß: denn das spürte sie doch, daß sie der Bösen nun ohne Schutz für immer verfallen war.

Sie hatte Klara bisher nicht eingeweiht. Aber so schwer zu entziffern war die Schreibmaschinenschrift, so schwer zu verstehen die klauselreiche Sprache der ›Tutelia‹. Stundenlang saß sie in der Küche und buchstabierte. Doch wie sehr sie auch die Brille rückte und an der Schürze putzte, sinnlos wolkte der Schriftsatz vor ihren Augen. Klara war jünger, hatte bessere Augen und einen besseren Kopf. ›Hat ja immer gut gelernt und gerechnet, die Kluge!‹ Aber gerade diese Klugheit war die Gefahr. Frau Fiala kämpfte noch eine Weile um ihre Selbständigkeit. Doch von Tag zu Tag unwiderstehlicher ward Klaras Übermacht, wenn sie heimkam, ihren Beute-Pack in die Ecke schleuderte, wie ein Teufel um die Küche fuhr, wild in die Töpfe guckte, Diebstahl und Koffereinbrüche feststellte und schallenden Skandal auf den Gang trug.

Eines Abends konnte Frau Fiala Unsicherheit und Geheimnis nicht länger ertragen. Und sie zeigte der Schwester die Polizze. Klara ging vor die Wohnungstür und hielt das Papier unters Stiegenlicht. Schief, fast beim Ohr saß der Knoten ihres schmutzigen Kopftuches, ihre Augen blinzelten, die Nase schnaubte und im offenen Munde zeigte sich eine begehrliche Zunge. Sie las das Dokument zweimal und dreimal, dann steckte sie es ein:

»Gleich gehe ich damit zu meinem Herrn Doktor!«

Frau Fiala wurde mißtrauisch:

»Was willst du, Klarinka?«

Klarinka aber lachte auf und machte empörte Anstalten, ihrer Schwester das Papier ins Gesicht zu werfen:

»Da! Glaubst du, ich will deinen Schmutz behalten! Kriegst ja eh nichts dafür!«

Marie Fialas Stimme begann demütig zu zittern:

»Was sagst du? Warum kriege ich nichts?«

Klara aber verbarg den gehässigen Triumph nicht:

»Weils da steht! Wenn der Karl vor dem fünften Jänner stirbt, kriegst nichts ...«

Eine tiefe Kränkung wandelte Klara an, als sie den Kontrakt wieder zu sich steckte:

»Nur weil ich brav bin, nur weil ich eine Gute bin, gehe ich zu meinem Herrn Doktor.«

Frau Fiala kehrte in ihre Küche zurück. Sie setzte sich auf die Kiste, dort wo immer Franzl sitzt, und versuchte einen Gedanken, den Gedanken zu fassen. Nach einer halben Stunde etwa dämmerte es in ihrer grauen Seele. Wie ein elektrischer Strom ging ein Schreck ihr durch den Körper, so stark, daß sie Metall auf der Zunge schmeckte. Es war der erste und einzige Schreck vor Gott, den sie in ihrem Leben empfand.

Etwas Ungeheures ging vor. Man konnte es gar nicht erdenken. Ihr Mann, der schon längst tot war, starb nicht. Wegen der Versicherung erzwang er das Leben. Ihretwegen, die ihn längst aufgegeben und vertan hatte! Sie taumelte auf, kleine sinnlose Schreie stieß sie aus, und wie sie war, ohne Umhang, lief sie in den Winter. Hausbesorger und Greißlerin starrten ihr nach.

VII

Fiala aber steht fest und eisern da im Tor, in seinem Wappentor. Für keinen steht er als für sich allein. Das Tor ist breit und hoch. Er füllt es aus. Gewaltig warm umwuchtet ihn der Pelz. Sein Dreispitz stößt oben an den Bogen. Der Stab in seiner Hand hat große Kraft. Hier hat er auszuharren. Wer den Befehl gegeben, weiß er nicht mehr. Aber Befehl ist Befehl. Und was nicht vollendet ist, hat zu erfolgen. Es ist herrlich, unter Befehl zu stehn. Es ist herrlich, einen Auftrag zu haben. In Küchen bei den Weibern wird man alt. Fiala ist nicht alt, nicht müde. Frisch und lustig ist er wie ein junger Bär. Um Fünf wird er abgelöst werden. Mit dem Schlage der Uhr kommt die Ablösung. Die Uhr auf dem Kirchturm flammt und wie beim Lottospiel springen die schwarzen und roten Nummern der Stunden heraus. Schnell hintereinander, ungeduldig springen sie heraus: Zwölf und Siebzehn, Acht und Hundertsechsundzwanzig. Tausende Stunden verkündet so eine Uhr, nur die fünfte Stunde nicht. Fiala kennt begeistert seine Pflicht: Hüter sein und sich nicht fortlocken lassen! Von Niemand! Hüter sein und Niemandem den Eintritt gewähren! So lautet der Befehl! Weiß der Himmel, was sie oben im Sitzungssaal beraten. Den Herrn Oberoffizial hat er schon abfahren lassen. Kommt da Herr Pech:

»Treten Sie zur Seite, Fiala!« – »Das ist mein Platz!« – »Ich muß doch ins Amt!« – »Haben Sie einen Passierschein?« – »Ich gehöre ja zum Amt!« – »Das geht mich gar nichts an. Befehl ist Befehl!« ...

Und immer wieder kommt Pech, manchmal allein, manchmal mit einem kleinen Jungen, den er durchs Tor schwindeln will. Aber Fiala ist auf seinem Posten. Pech zieht einen Gulden aus der Tasche, einen runden Silbergulden. Fiala kennt keine Bestechung. Nur das Seine, das Seine will er haben, die Gebühr und basta! Aus der Uhr springen die Stunden, schwarz und rot. Wie Schwimmer erscheinen sie oben auf dem Trampolin, sich in den Fluß zu stürzen. Und die Straße fließt hin mit ihrem Leben, das er kennt vom Anfang her. Scheu blicken die Schulkinder, die vorüberziehenden, auf zu seiner Macht. Aber er bewegt keine Miene. Sie sind für ihn nicht da, die Fratzen. Sie wollen seine Aufmerksamkeit erregen. Sie klappern mit ihren Schlittschuhen, sie stoßen kleine Bälle vor sich her. Mögen sie nur! Den Mädchen schenkt er keine Beachtung, die dicht und innig an ihm vorbeistreichen, ihn anflüstern. Das kennt er schon. Das kitzelt und bedrängt ihn nicht. Alles zu seiner Zeit! Schwer wird es nur, schwer, wenn das Regiment vorbeizieht: K. u. k. Infanterie-Regiment Nr. II, graue Aufschläge! »Bataillon ha-a-alt!« Der Herr Oberst Swoboda selbst hebt, im Sattel sich spreizend, den gezogenen Säbel zum Kommando. Tannenreisig trägt er auf der Kappe. Alle Doppelreihen strotzen von Tannenreisig. Dann gellt der Ruf die Straße entlang: »Zugführer Fiala!« Aber Fiala ruft nicht: »Hier!« Er weiß: nicht melden darf er sich. Und immer weiter hallt der Schrei! »Zugführer Fiala!« Die Regimentsmusik formiert sich. Sie spielen den Hausmarsch, sie spielen: ›O du mein Österreich‹. Fiala erkennt das Maultier, welches die große Trommel zieht. Die Musik setzt sich in Bewegung. Die Burschen schwenken und schlenkern die Instrumente im Takt. Und die Glieder der Kompagnien schwenken und schlenkern im Marschtritt, sonnenüberglänzt. Mit Tschinellenkrach ziehen sie dahin. Zur Schießstätte, zum Manöver, vielleicht auch nur zu einer Lustbarkeit. Seine Freunde hat er wohl erkannt. Diesmal darf er mit ihnen nichts ausfressen: Nicht Karten spielen, nicht zum Tanz gehen, nicht beim Bier die Nacht durchschwärmen. Er muß stehen und stehen in seinem Tor. Weit sind sie schon dahin. Und nur der wachsende Tschinellentakt! Er pocht in seinem Leib und Blut.

Aber oft auch ist es Nacht. Immer wieder ist es Nacht. Und dann springen die Stunden, rot und schwarz, nicht mehr aus der Kirchturmuhr wie die Krampusse. Der Kirchturm steht nicht da. Aber vor allen Toren, die ganze Straße entlang, sind Aschenbutten aufgestellt. Asche ist hingestreut überall. Fiala hält Wacht. Schwer, entsetzlich angstvoll lastet der Befehl auf seinem Herzen. Er steht im dicken Pelz wie in einem Faß ohne Boden, das ihn aufrecht hält. Die goldenen Borten sind erloschen. Hut, Fell, Gewand bedecken und hüllen ihn ein wie Gram. Franzl kommt und schleppt eine Markttasche. Franzl ist ein kleines hohlwangiges Kind, ein Krüppel und er ist sein Vater. Deshalb auch muß er für den armen Krüppel etwas Furchtbares tun. Er muß zu jeder Zeit den Tee austrinken, den ihm der Bub in der schwarzen Markttasche bringt. Aber das ist kein heißer Tee, es ist ein siedender Tee, nein nein, es ist bläuliches Feuer, ungesüßtes Feuer, das er nicht in einem Zug, sondern Schluck für Schluck hinabschlingt. Und die Spiritusflämmchen beginnen an den Innenwänden seines Leibes zu lecken, zu fressen. Doch die Außenwände, die Haut bleibt eiskalt. Könnte er die Augen jetzt schließen, würde er von nichts mehr wissen. Aber er soll ja wissen, weiter wissen, solange die Ablösung nicht da ist. War er nicht Wachtposten oft genug beim Elferregiment? Und jetzt ist es ihm, als sei eine Strafe über ihn verhängt wegen schlechten Dienstes, schlechten Lebens. Torarrest muß er abbüßen. Wer hat nur den Befehl gegeben? Doch auch das Denken ist ja verboten. Denn wer denkt, schläft ein. Wieder steht Pech neben ihm: »Ich verstehe Sie nicht, Fiala! Strecken Sie sich doch einfach aus! Sogleich ist alles gut. Das ganze ist ja so leicht!« Für ihn ist es gar nicht leicht. Nicht mit der Miene darf er zucken zu solchen Unordentlichkeiten und Aufwiegelungen. Da schon lieber hinausschauen auf die aschgraue Straße. Beklemmendes zieht dahin. Er sieht den Dechanten Kabrhel, den Priester seiner Heimat. Er ist dick und hinkt. Kabrhel trägt wie beim heiligen Umgang den Leib des Herrn im silbernen Strahlenschrein. Zwei Kapläne gehen ihm zur Seite. Voran aber wandelt der Lehrer Subak, eine Kirchenfahne hoch in der Hand. Und hinterher ein paar Fromme. Sie tragen Bauerntracht. Fiala schaut willentlich zur Seite. Den Anblick dieser Gestalten mit ihren großen Hüten und silbernen Knöpfen fürchtet er, als stünden diese alten Bauern in väterlich-drohender Beziehung zu ihm und seiner Strafe. Aber im Zuge gehen auch fromme Tiere hinterdrein. Die schwarzen Ochsen und Kühe des Verwalters, die Fiala genau kennt. Nun wendet sich der Dechant gegen das Tor. »Kniet!« befiehlt er. Und die Prozession kniet nieder auf offener Straße. Auch die Ochsen und Kühe knien andächtig. Da hebt Hochwürden Kabrhel das Heiligtum gegen den ungehorsamen Firmling und seine Stimme zittert: »Kniet alle!« Aber Fiala, so gern er es täte, er darf nicht knien. Er weiß: Noch muß erfolgen, was nicht vollendet ist. Ach, eine große Sünde hat er damit begangen, daß er nicht mit den anderen auf die Knie gesunken ist. Dafür auch wird er von den frechen Tieren gestraft. Die ärgsten sind die Gänse, die aus dem Dorfteich plötzlich zu Hunderten heranwatscheln, seine Füße umdrängen und ihn jähzornig anschnattern. Er weiß, wie gefährlich diese gereizten Bestien sind. Vielleicht würde er davonlaufen, wenn er die Beine bewegen könnte. Aber dann fängt die Straße an zu rauschen und ist das Flüßlein seiner Heimat. Er erkennt genau die Büsche, die Angelplätze, die Badeplätze, die Krebsplätze. Aber warum ist jetzt das andere Ufer so weit? Das wundert ihn nicht. Soll denn die Donau am Praterspitz schmäler sein? Es ist schön, daß ihre kleinen Wellen an sein Tor drängen. Doch der Strom meint es nicht gut mit ihm. Die Fischpest ist ausgebrochen. Tausende von Hechten, Karpfen und noch größeren Fischen schwimmen auf dem Wasser mit schuppenlosen scheußlichen Bäuchen. Der Geruch des Aases durchdringt die Welt bis zu den Wolken. Da beginnt der Geprüfte zu Gott zu beten:

»Lieber Gott! Ich stehe hier, weils befohlen ist. Nicht weil ich für mich etwas will, stehe ich hier, nicht um Lohn. Ich hab mir von Kind auf doch ein kleines Haus gewünscht. (Aber Sonnenblumen müssen im Garten sein.) Das Haus wirst du mir nicht schenken. Keine Freude werde ich gehabt haben. Ach, warum muß ich so viel erdulden, ich, der Fiala, und kein anderer!?«

Fiala weiß es längst, daß innige Gebete im richtigen Augenblick immer helfen. Er hat gut getan, zu beten. Denn jetzt fällt der Nebel ein. Guter Herbstnebel liegt über nackten warmen Äckern, so dicht, daß man die Kartoffelfeuer nicht sehen, sondern nur riechen kann. Und der gute Nebel dringt auch in das Schicksalstor. Und das beruhigt des Türhüters Seele. Denn nichts mehr sieht er ringsum. Groß und einsam darf er nun mitten in Gottes unsichtbarer Welt stehen und ausharren. Sein Stab mit der Kugel an der Spitze stützt ihn, sein starrer Pelz hält ihn aufrecht. Nichts mehr muß erfolgen. Wenn er noch ein Lied kennte, ein altes böhmisches Lied, er würde es singen, denn wohlig ist es zu stehen im Nebel und Erdrauch, süß ist es stehend zu liegen im Raum. Da schläferts ihn. Da schließt er die Augen ...

Aber nicht so ist es gewollt. Man ruft ihn an. »Fiala!« glaubte er zu hören, aber es gellt »Tutelia!« Der Schreck eines ertappten Verbrechers durchzischt ihn! »Zu Befehl!« Und er reißt die Augen auf. Die Kirchturmuhr ist fort. Das kreisrunde Loch läßt eine Scheibe roten Himmels sehen. Von allen Seiten Trompetensignale. Die Manöver werden abgeblasen mit den letzten Rufen des Zapfenstreichs. Und ein wildes Getrappel kommt näher. Er kennt das lustigmajestätische Getrappel, die festliche Fahrt, die von Schönbrunn her die Mariahilferstraße herabbraust. Voran die berittene Polizei, dann die Leibgarden und zwischen ihnen der schimmelbespannte Hofwagen mit goldenen Rädern und Laternen. Die Volkshymne schmettert durch fahnenberauschte Lüfte. Ein grüner Federbusch schwankt leutselig fern. Fiala weiß, daß die Ablösung näherdonnert. Jetzt heißt es, sich zusammenreißen, im richtigen Augenblick vortreten und dem erstbesten Vorgesetzten entgegenschreien:

»Melde gehorsamst, Ableben erfolgt!«

Man wird ihm seinen Ort anweisen im goldenen Zug, der durch die Straßen fliegt.

Höchste Zeit ist es schon. Der Nebel hat sich verwandelt. Im Hausflur herrscht er als dicker Rauch, von Glut und Flammen durchflochten. Aber wer vertritt jetzt den Weg? Die Straße hat frei zu sein! Hier wird kein Spalier geduldet. Zwischen ihm und dem Herannahenden, dem Herrlichen, muß offene Bahn sein. Doch die Menge umtanzt ihn. Sie will den Erlösten zurück ins qualmende Tor stoßen, wohin er nicht mehr gehört. Und jetzt sieht er die Menge. Da kocht sein ganzes Leben auf in Zorn und Verzweiflung. Hundert Maries und fünfhundert Klaras drängeln ihn in sein Gefängnis zurück, da er doch ausgeharrt und längst gesiegt hat. Alle Maries tragen Kränze in der Hand und weinen. Alle Klaras schwingen tückische Besen gegen sein Gesicht. Sie versuchen heimlich seine Hände mit Vorkriegsspagat zu fesseln. Die Hexen sind schuld. Immer haben sie ihn eingesperrt. Jetzt, wo die Ablösung näher und näher dröhnt, auch jetzt wollen sie flennend und fluchend ihm den Weg verstellen. Aber Gott sei Dank! Sein Arm ist wieder stark und die Kugel seines Stabes blitzt ...

*

Zusammengesunken auf dem Stuhl sitzt Frau Fiala und starrt auf das Grauen des Todes, der nicht kommen will. Mit Gewalt mußte man die Schreiende in den letzten Tagen, wenn der Abend kam, aus dem Zimmer zerren. Jetzt ist Fiala längst kein »Fall« mehr. Auch diese Sensation hat sich abgebraucht. Ein Herzmuskel ist stärker, der andere schwächer, und Roßnaturen sind selten, aber noch lange kein Wunder. Das Weib starrt regungslos auf den Hügel Verwesung dort unter der Decke, der mit jagendem Atem in seiner eigenen Jauche liegt, ohne daß jemand ihn reinigt. Auf dem Kissen aber ruht das gelbe Haupt, die Riesenstirn eines Kirchenvaters. Die Frau kennt dieses fremde Haupt nicht mehr. Manchmal zuckt der Dulder zusammen und versucht, Bewegungen zu machen. Die Hände wollen unters Kissen fahren, und die Beine rühren sich unter dem Tuch.

Klara ist eingetreten und beginnt der versteinerten Schwester eine Standpredigt zu halten, sie solle jetzt endlich nach Hause gehen, das Sitzen und Schauen bringe nichts ein. Alle drei Minuten erscheint Franzl in der Tür. Seine Augen starren vorwärts, als müsse er mit sich kämpfen, den Vater anzuschaun. Plötzlich, im Verlauf ihrer Rede, erhebt Klara nach gewohnter Art scharf ihre Stimme. Da ist es, als ob das Wesen, das den Namen Fiala trägt, erwachen würde. Aufgerissene Augen stieren die Weiber an und es sind fremde Augen nicht mehr. Der Körper bäumt sich im Bette und jäh, mit einem Ruck unmöglicher Kraft, fahren grau behaarte Stöcke unter der Decke hervor und versuchen heldenhaft Boden zu fassen. Und jetzt, einen kehligen Siegeslaut ausstoßend, steht hoch aufgerichtet ein wüster Riese da, der die Spinnenarme hebt wie zum Schlag. Ein stampfender Schritt gelingt noch, dann stürzt die Gestalt in sich zusammen, ein Knochenhaufen.

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Hier endet der Bericht vom Sterben des Kleinbürgers Karl Fiala. Zwei Tage über sein Ziel war er hinausgerannt wie ein guter Läufer. Denn man schrieb den siebenten Januar schon. Unverzüglich schaffen die Wärter, nach flüchtiger Todesfeststellung, die Leiche an den Ort, wohin sie gehörte, gleich einem Unrat, der allzu lange im Wege gelegen war.

Als die Witwe das fremde Gesicht nicht mehr sah, konnte sie zu ihrem Glück wieder weinen. Das Sterbebett stand nun leer. Klara, die so oft bemerkt hatte, daß die Hand des Gequälten etwas unterm Kissen suche, und die, wenn sie ein Traum nicht täuschte, einmal ein Goldstück hervorblinken sah ..., sie trat nun, Tränen hinaufschnaubend, wie unversehens an die Lagerstatt. Laut klagend und mit schmerzzuckenden Fingern begann sie das verödete Kissen zu streicheln. Da fühlte sie plötzlich die suchenden Gelenke ehern umkrallt. Sie keifte auf: »Du verdammter Bub! Ich will dir nichts nehmen! Marinka! Gib Achtung!«

Franzl hob stumm das Kissen auf und steckte die beiden wertlosen Gegenstände in seine Tasche. Es war ein leerer Kalenderblock und die schmutzige Borte irgend einer verschollenen Uniform.


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